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Carsten Quesel, Netkey Safi (Hrsg.)

Schulentwicklung im Spannungsfeld von Daten und Taten

Standortbestimmungen und Perspektiven in der Schweiz

ISBN Print: 978-3-0355-0629-7

ISBN E-Book: 978-3-0355-0881-9

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Carsten Quesel & Netkey Safi

Einleitung

Teil 1: Standortbestimmungen

Carsten Quesel

Evidenz, Governance und Schulentwicklung. Ansatzpunkte «harter» und «weicher» Steuerung

Einleitung

1Evidenz

2Governance

3Zwei Seitenblicke in die USA

4Rahmenbedingungen der Schulentwicklung in der Schweiz

Fazit

Sara Mahler

Externe Schulevaluation – Ansätze und Entwicklungen im deutschen Sprachraum

1Einführung externer Evaluationen

2Evaluationsverfahren und intendierte Wirkungen

3Die aktuelle Situation der externen Schulevaluation

4Zukunftsszenarien der externen Schulevaluation

Fazit

Stephan Marti

Interne Schulevaluation – Ansätze und Entwicklungen im deutschen Sprachraum

1Konzepte der internen Schulevaluation

2Entwicklungen interner Schulevaluation in Deutschland und Österreich

3Interne Schulevaluation in der Schweiz

Fazit

Peter Steiner

Evaluationssynthesen als Beitrag zur Kontextsteuerung – vom Nutzen und Nachteil der Vogelperspektive

Einleitung

1Evaluationssynthesen und Kontextsteuerung

2Zwei Praxisbeispiele von Evaluationssynthesen

3Merkmale der analysierten Evaluationssynthesen

4Kernpunkte von nützlichen Evaluationssynthesen

Fazit

Teil 2: Empirische Befunde

Carsten Quesel, Andrea Höchli, Sara Mahler & Kirsten Schweinberger

Schulqualität und externe Evaluation. Wahrnehmungen von Schulleitungen und Lehrpersonen

Einleitung

1Forschung zur Schulqualität

2Kantonale Konzepte der Schulqualität

3Wirkungen der externen Schulevaluation

4Fragestellungen

5Erhebungsdesign

6Analyse

7Diskussion

Fazit

Carsten Quesel, Sara Mahler, Netkey Safi & Kirsten Schweinberger

Von der Krisendiagnose zum Turnaround. Schulentwicklung im Anschluss an kritische Evaluationen

Einleitung

1Theoretische Bezugspunkte

2Failing Schools und Turnaround

3Die externe Schulevaluation im Kanton Aargau

4Erhebungsdesign

5Ergebnisse

Fazit

Carsten Quesel, Marianne Kunz, Martina Rüefli & Susanne Meier

Von der Standortbestimmung zur Selektion. Eine multimethodische Fallstudie zur Sicht von Lehr- und Leitungspersonen auf Leistungsvergleiche in der Primarschule

Einleitung

1Hintergrund

2Leistungsdaten und Nutzungsperspektiven

3Forschungsstand

4Erhebungsdesign

5Quantitativer Zugang

6Qualitative Studie

7Ratingkonferenzen

Fazit

Kirsten Schweinberger & Brigitte Huber

Aktiv, verbindlich und kooperativ – Lehrpersonen als Mitarbeitende

Einleitung

1Theoretischer Hintergrund

2Methode

3Resultate

4Fallstudie: Einsatz des Fragebogens an einer Primarschule

5Diskussion

Fazit

Teil 3: Sichtweisen der Schulpraxis

Jürg Brühlmann

Erwartungen von Lehrpersonen an die datengestützte Schulentwicklung. Anmerkungen aus einer berufspolitischen Perspektive

1«Datenexplosion»

2Interessenkonflikte bei der Datennutzung

3Rechtfertigungsdruck in der Öffentlichkeit

4Heutige Herausforderungen der Schulen

5Aufarbeitung der Daten für die Praxis

6Divergenz zwischen Schulpraxis und Bildungsforschung

7Blinde Stellen der Schulentwicklungsforschung

8Medien und Forschung – Defizite und Perspektiven

9Kooperative Forschung und Evaluation

10 Praxisunterstützende Schulentwicklungsforschung

Fazit

Jean-Bernard Etienne

Das Qualitätsmanagement lebendig halten

1Entstehung des Qualitätsmanagements an der Fallschule

2Entwicklung als Daueraufgabe

3Einblicke in den Alltag der Schulentwicklung

Fazit

Peter Wunderlin

Das Zusammenspiel von Schulleitung und Kollegium bei der Nutzung von Qualitätsdaten an einer kleinen Schule

1Vorgeschichte

2Das Beurteilungskonzept im Überblick

3Zur Evaluation des Konzepts

4Einordnung des Konzepts in theoretischer Hinsicht

Fazit

Franziska Matter-Glanzmann

Nutzung von Daten der externen Schulevaluation an einer grossen Schule – Erarbeitung einer systemischen Entwicklungsplanung

Einleitung

1Theoretische Gesichtspunkte

2Externe Schulevaluation im Kanton Aargau

3Ausgangslage und Vorgeschichte

4Wandel der Organisationskultur: Ein systemisches Entwicklungsprojekt

5Zwischenbilanz zum Organisationswandel

Fazit

Ewald Keller

Interne Schulevaluationen und die Nutzung von Daten für eine periodische Schulentwicklung. Ein Praxisbeispiel

Einleitung

1Zum Hintergrund

2Phasen der internen Evaluation

3Der Dreijahresrhythmus der internen Evaluation

Fazit

Carsten Quesel & Netkey Safi

Schlusswort. Schulentwicklung als Patchwork

1Aspekte des schweizerischen Patchwork-Modells

2Was spricht gegen das Patchwork-Modell?

3Der Blick über den Tellerrand

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Carsten Quesel & Netkey Safi

Einleitung

Der Wandel von Organisationen vollzieht sich oft ohne Absicht und Plan; im Unterschied zu solchen ungerichteten Veränderungen geht es bei der Entwicklung von Organisationen darum, die bestehende Praxis im Hinblick auf einen bestimmten Zweck zu verbessern. Dabei kommt unweigerlich die Erwartung ins Spiel, als Akteur über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen, der es erlaubt, zumindest Mittel und Wege, vielleicht aber auch Themen oder Ziele auszuwählen. Solche auf einen Zweck bezogenen Verbesserungsversuche setzen voraus, dass sich die Akteure ein Bild der Ausgangslage verschaffen – sei es alltagsnah durch einen Austausch über praktische Erfahrungen, oder sei es distanziert in der Form systematischer Beobachtungen. In beiden Fällen ergeben sich die Ausgangspunkte der Versuche aus Prozessen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger & Luckmann, 1987).

Als Ausgangspunkte für die Organisationsentwicklung sind Daten mithin nicht a priori «gegeben», sondern gehen selbst aus Taten hervor. Ein Spannungsfeld von Daten und Taten ergibt sich allerdings daraus, dass diese Ausgangspunkte zwar eine orientierende, aber keine determinierende Kraft entfalten können: Weder beim alltagsnahen Austausch über Erfahrungen noch bei distanziert angestellten Beobachtungen ergibt sich ein Automatismus, der zu bestimmten Lösungen oder Konsequenzen führt. Wer ein Projekt zur Organisationsentwicklung startet, muss Entscheidungen treffen, die sich immer auf eine mehr oder minder unklare Zukunft beziehen. Die Rezeption und Interpretation der Ausgangspunkte findet in einer Zone der Ungewissheit statt, die das Risiko der Fehleinschätzung in sich birgt – aber ohne dieses Risiko gäbe es auch gar keinen Gestaltungsspielraum (Simon, 1993).

Je komplexer die Umwelt einer Organisation, desto schwieriger ist es, intendierte Wirkungen zu prognostizieren und nicht intendierte Wirkungen zu verhindern. Zu den hochkomplexen sozialen Umwelten gehört auch das Bildungssystem: An seiner Gestaltung sind unzählige Akteure beteiligt, und trotz elaborierter politischer oder professioneller Programme hat niemand seine Dynamik wirklich im Griff – was auch damit zusammenhängt, dass dieses System nicht autark ist, sondern neben politischen und kulturellen etwa auch durch ökonomische Faktoren beeinflusst wird (vgl. Fend, 2006). Auch wenn Gesetze und Verordnungen die formale Struktur des Bildungssystems ziemlich akkurat definieren, kommen sehr unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche ins Spiel, wenn es um die Frage geht, welche Aufgaben Bildungseinrichtungen zu erfüllen haben.

Mithin geht es bei der Schulentwicklung nicht nur darum, welche Daten sinnvolle empirische Ausgangspunkte des Handelns bilden, sondern auch darum, welche normativen Kriterien den Zweck des Handelns bestimmen. Vor diesem Hintergrund nimmt die Praxis der Schulentwicklung die Form einer Intervention an, die dazu dient, die Schulqualität zu sichern oder zu steigern (zu Begriffsbestimmungen im deutschen Sprachraum vgl. Altrichter, Schley & Schratz, 2016; Dedering, 2012; Maag Merki, 2008; Rolff, 2007). Um exogene Schulentwicklung handelt es sich dann, wenn die Steuerung von aussen über ein politisches oder theoretisches Programm erfolgt; hingegen handelt es sich um endogene Schulentwicklung, wenn die Initiative von Leitungs- und Lehrpersonen im Vordergrund steht und das interne Zusammenspiel von Führung und Kooperation die Agenda bestimmt.

In diesem Band steht die endogene Schulentwicklung im Mittelpunkt, wobei sich die Aufmerksamkeit auf die obligatorischen Schulen konzentriert. Tatsächlich gehört aber ein Prozess der exogenen Schulentwicklung zur Vorgeschichte: Erst durch die politisch-administrative Einführung der schulischen Teilautonomie, die in der Schweiz kurz vor der Jahrtausendwende begann, wurde eine endogene Schulentwicklung im eigentlichen Sinne des Wortes möglich. Denn zum einen rückte die Schulleitung in den Rang einer professionellen Funktion auf, und zum anderen ergaben sich neue Anforderungen an die kollegiale Partizipation und Kooperation. Der Akzent verschiebt sich mit der Teilautonomisierung dahingehend, dass durch das Zusammenwirken von Lehr- und Leitungspersonen eine Eigendynamik entstehen soll, die der jeweiligen Schule ein eigenes Profil verleiht.

Schulische Teilautonomie ist in vielen Ländern ein Thema, und bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass es hier sowohl um rechtliche oder betriebswirtschaftliche als auch um pädagogische Fragen geht (Altrichter & Rürup, 2010; Eurydice, 2007). Ein wichtiger Anstoss ging hier vom New Public Management (NPM) aus: Schulen sollten ähnlich wie andere öffentliche Einrichtungen leistungsfähiger werden, indem sie flexibler und stärker nach unternehmerischen Gesichtspunkten organisiert werden (Pollitt & Bouckaert, 2000; Schedler & Proeller, 2000). Als Gegenstück zur grösseren organisatorischen Freiheit innerhalb der Schule fungiert beim NPM die outputorientierte Steuerung anhand von Leistungsdaten: In diesem Sinne müssen die Schulen anhand von vergleichenden Tests oder Prüfungen den Nachweis führen, dass sie diese Freiheit wirkungsvoll nutzen. Mit einer solchen Steuerungsphilosophie lässt sich ein kompetitives Konzept der Schulentwicklung verbinden, das konsequent die Daten dieser Tests und Prüfungen zum höchsten – und vielleicht sogar alleinigen – Massstab der Schulqualität macht, wobei dann auch das Spektrum an zukünftigen Taten relativ eng umrissen werden kann: Es geht darum, die Resultate zu verbessern oder aber eine Spitzenposition zu verteidigen. Diese Bedingung kann politisch dahin zugespitzt werden, dass Lehr- und Leitungspersonen ihre Stelle verlieren, wenn sie wiederholt an der Aufgabe scheitern, adäquate Leistungszuwächse bei den Schülerinnen und Schülern nachzuweisen. An dieser Fixierung auf Testdaten ist etwa am Beispiel der USA kritisiert worden, dass sie zu einer Verarmung der Schul- und Unterrichtsqualität führt und unter Umständen einen so starken Konkurrenzdruck im Bildungssystem auslösen kann, dass es zu korrumpierenden Effekten kommt (Nichols & Berliner, 2007; Ravitch, 2010).

Die Schweiz steht zu diesem Paradigma der «harten» Steuerung anhand von Leistungsdaten in einem scharfen Kontrast: Zwar hat sich auch hier in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel zur outputorientierten Steuerung des Bildungssystems vollzogen, jedoch ist es weder bei dieser Steuerung noch im Bereich der Schulentwicklung zu einer mehr oder minder exklusiven Fokussierung auf Testdaten gekommen. Es gibt zwar eine Vielfalt von schulübergreifenden Leistungstests (vgl. als Übersicht EDK/IDES, 2018), diese spielen aber als Orientierungspunkt der politischen Ziele von Bund und Kantonen für den Bildungsraum Schweiz keine nennenswerte Rolle (vgl. exemplarisch WBF/EDK, 2015).

Das bedeutet keineswegs, dass Leistungsvergleiche für die bildungspolitische Steuerung und die Schulentwicklung in der Schweiz völlig bedeutungslos wären. Sie sind aber nur ein Teil eines Patchworks, bei dem neben dem Output an nachweisbaren Kompetenzen auch die Qualität der sozialen Prozesse in pädagogischen Kontexten eine wichtige Rolle spielen. Mehr noch: Gerade bei der Schulentwicklung ist zu beobachten, dass sich die Aufmerksamkeit hierzulande sehr stark auf diese sozialen Prozesse konzentriert, gestützt etwa auf

a)ein starkes Hintergrundvertrauen, dass die erfolgreichen Übertritte in höhere Schulstufen und der erfolgreiche Übergang vom Schulabschluss in die berufliche oder akademische Bildung einen soliden Beleg für die Qualität des Outputs liefert, wie auch

b)die Feststellung, dass die Schweiz im Rahmen von internationalen Schulleistungsstudien wie PISA recht gut und teilweise sogar sehr gut abschneidet, obwohl ein sehr grosser Anteil der Lernenden einen Migrationshintergrund hat, der eine sprachliche Hürde beim Eintritt in die Schule darstellt.

Indes liefert das nationale Bildungsmonitoring (SKBF, 2014, 2018) auch eine Vielzahl von Hinweisen, dass das schweizerische Bildungssystem alles andere als perfekt ist. So sind etwa Kinder aus bildungsfernen Familien immer noch gravierenden Nachteilen ausgesetzt, wobei diese herkunftsbedingten Disparitäten nicht nur bildungspolitische Fragen aufwerfen, sondern – unter Bedingungen der Teilautonomie – eben auch die Frage, welche Optionen sich bei der Schulentwicklung ergeben, um diesen Problemen auf der lokalen Ebene zu begegnen.

Freiräume auf der lokalen Ebene eröffnen Spielräume für unterschiedliche Lösungen, die im ungünstigen Fall Disparitäten verstärken und dann die Klage hervorrufen können, das Ganze sehe wie ein Flickenteppich aus und müsse dringend anhand eines Masterplans bereinigt werden. Aus einer föderalistischen Perspektive ist indes zu betonen, dass es sich eben nicht um eine statische Verbindung fest vernähter Teile handelt, sondern um ein variables Arrangement, das Korrekturen und Lernprozesse ermöglicht – und in diesem Sinne erscheint es uns angemessen, den Begriff des Patchworks aufzugreifen.

Das für die Schweiz typische Patchwork-Modell der Schulentwicklung basiert auf der Hintergrundannahme, dass weder numerische noch verbale Daten eindeutig vorgeben können, was als Nächstes zu tun ist, und deshalb situativ nach alltagstauglichen Kompromissen zwischen Lehr- und Leitungspersonen sowie externen Anspruchsgruppen zu suchen ist. Grosse Entwürfe sind unter solchen pluralistischen Vorzeichen nicht ausgeschlossen, bei der Entscheidungsfindung und bei der Implementation ist aber mit Fragmentierungen zu rechnen. Auf den Prozess der Normierung des Soll-Zustands wirken widersprüchliche Kräfte ein, die sich etwa in politischen Debatten, akademischen Diskursen in der Scientific Community oder Diskussionen innerhalb des Leitungsteams oder des Kollegiums einer Schule bemerkbar machen.

Damit aber nicht genug: Das Ausbalancieren dieser Kräfte betrifft nicht nur die Normierung des Soll-Zustands, sondern berührt auch die Diagnose des Ist-Zustands. In das Patchwork-Modell der Schulentwicklung gehen heterogene Daten ein, bei denen es sich (zum kleineren Teil) um «härtere» soziale Konstrukte in numerischer Form und (zum grösseren Teil) um «weichere» soziale Konstrukte handelt, die aus dem intersubjektiven Austausch über Beobachtungen und Erfahrungen erwachsen. Bei der Interpretation der Daten stellt sich die Aufgabe, zwischen unterschiedlichen konzeptionellen Gesichtspunkten zu vermitteln, wobei politische, administrative und pädagogische Normen im Spiel sind.

Das sieht auf den ersten Blick nach wenig Systematik und wenig Kohärenz aus – handelt es sich eventuell einfach um eine Praxis des Sich-Durch-Wurstelns, die eben kein wirkliches Reform- oder Entwicklungsprojekt darstellt (und die dann akademisch vielleicht den schönen Namen «Inkrementalismus» erhält, vgl. Lindblom, 1959)? Wichtig ist hier festzustellen, dass das Handeln ohne Plan überhaupt nicht in Gang käme – auch wenn die Interaktion zu unzähligen Selbstkorrekturen und häufig auch zu schmerzlichen Erfahrungen des Scheiterns führt (Dörner, 1989; March, 2006; Simon, 1993). Am Ende entsprichen keine Reform und kein Projekt dem anfänglichen Plan – aber ohne einen solchen Plan gäbe es weder Anfang noch Ende. Bei einer pluralistischen Konstellation entsteht daraus ein Patchwork von Reformen und Projekten, das von gescheiterten Plänen durchsetzt und eben doch anschlussfähig ist. Manche Teile des Patchworks können sich als ziemlich langlebig erweisen, andere Teile verschwinden ziemlich schnell wieder; Handbücher können bei der Bastelei helfen, aber kein Handbuch kann den Verlauf der Schulentwicklung vorhersagen.

Die Beiträge dieses Bandes behandeln verschiedene Aspekte des skizzierten schweizerischen Patchwork-Modells der Schulentwicklung. Der Blickwinkel erstreckt sich auf die Deutschschweiz; das Hauptaugenmerk liegt auf der obligatorischen Schule, die jeweils der kantonalen Gesetzgebung und einer kantonalen Schulaufsicht unterliegt, aber weitgehend in den Gegenstandsbereich der Gemeindeautonomie oder der kommunalen Selbstverwaltung gehört. In grösseren Städten führte diese Konstellation bereits im 19. Jahrhundert zu einer administrativen Hierarchisierung, wobei die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag jedoch üblicherweise wie ein «Staatsoberhaupt» im eigenen Klassenzimmer regierten. Noch mehr galt dies für Schulen in kleineren Orten: Hier standen weitgehend autarke Lehrpersonen einer demokratisch gewählten lokalen Schulbehörde gegenüber, die sich um organisatorische Fragen kümmerte, während sich das kantonale Inspektorat mal mehr, mal weniger sporadisch um die pädagogische Supervision kümmerte.

Durch die Einführung der schulischen Teilautonomie änderte sich dieses Bild radikal. Die Schule wurde nun stärker von ihrer politisch-administrativen Umwelt entkoppelt, was mit einer gleichzeitigen inneren Kopplung durch professionelle Führung und professionelle Zusammenarbeit einherging. Die Schule wurde dadurch zu einer Einheit mit eigenen Zielen und einer eigenen Agenda – wobei dieser Autonomiegewinn auf der Ebene der Organisation unter Umständen als Autonomieverlust auf der Ebene der individuellen Lehrpersonen erlebt werden kann. Diese Problematik wirkt sich immer noch auf die Schulentwicklung in der Schweiz aus, auch wenn die Einführung professioneller Schulleitungen inzwischen zumeist ein Jahrzehnt oder länger zurückliegt. Zum Patchwork gehört auch, dass manche Haltungen sich als ziemlich zählebig erweisen können, auch wenn sie nach der Einführung der schulischen Teilautonomie als obsolet gelten mögen.

Der vorliegende Band widmet sich dem Patchwork-Modell der Schulentwicklung in drei Teilen. Der erste Teil nimmt Standortbestimmungen vor: Wer nur die Schweiz kennt, kann die Schweiz nicht wirklich kennen. Der erste Beitrag von Carsten Quesel zum Stichwort «Evidenz» zielt darauf ab, die Unterscheidung von «harten» und «weichen» Daten zu präzisieren und die Implikationen von unterschiedlichen Evidenzen für die Schulentwicklung zu erörtern. Die Standortbestimmung erfolgt in diesem Fall mit zwei «Seitenblicken» auf die USA. Sara Mahler (Beitrag 2) und Stephan Marti (Beitrag 3) nehmen jeweils Standortbestimmungen zur externen und internen Schulevaluation vor, wobei sie die Entwicklung in der Schweiz in einen Bezug zu den deutschsprachigen Nachbarländern stellen. Peter Steiner behandelt im vierten Beitrag die Frage, ob und wie Evaluationssynthesen zur Kontextsteuerung der Schulentwicklung beitragen können, wobei ein Ausgangspunkt seiner Studie ein Vergleich von ersten schweizerischen Anfängen mit dem Beispiel des Bundeslandes Hessen war.

Der zweite Teil konzentriert sich auf empirische Studien zu Aspekten der Schulentwicklung, die in den vergangenen Jahren am Zentrum Bildungsorganisation und Schulqualität der Pädagogischen Hochschule der FHNW stattfanden. Carsten Quesel, Andrea Höchli, Sara Mahler und Kirsten Schweinberger befassen sich im fünften Beitrag in einer kantonsvergleichenden Perspektive auf der Basis von Interviews damit, welche Effekte Lehr- und Leitungspersonen der externen Evaluation im Hinblick auf die Schulqualität zusprechen. Im sechsten Beitrag widmen sich Carsten Quesel, Sara Mahler, Netkey Safi und Kirsten Schweinberger speziell der Schulentwicklung im Anschluss an kritische Evaluationen; dieser Beitrag stützt sich ebenfalls auf qualitative Daten, wobei sich die Fallstudien auf den Kanton Aargau konzentrieren.

Einen multimethodischen Ansatz verfolgt die Studie zu vergleichenden Leistungstests im Kanton Solothurn, die von Carsten Quesel, Martina Rüefli, Marianne Kunz und Susanne Meier durchgeführt wurde (Beitrag 7): Auch hier geht es um die Perspektiven von Lehr- und Leitungspersonen, wobei eine für die Schweiz einzigartige Kombination von formativen und selektionswirksamen Vergleichstests behandelt wird.

In den vorher genannten Beiträgen tritt jeweils der Aspekt hervor, dass Führung für gelingende Schulentwicklung von zentraler Bedeutung ist. Leadership ist aber durchaus nicht die ganze Wahrheit – und das ist ein Anlass, sich auch mit ihrem «Gegenstück» zu beschäftigen, das bislang von der Forschung eher vernachlässigt wurde: Kirsten Schweinberger und Brigitte Huber erörtern im achten Beitrag anhand quantitativer Daten von Lehrpersonen aus obligatorischen und berufsbildenden Schulen, wie es um den Aspekt der Followership bestellt ist.

Der dritte Teil behandelt das Spannungsfeld von Daten und Taten aus dem Blickwinkel der Schulpraxis. Jürg Brühlmann formuliert aus der Perspektive des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) berufspolitische Erwartungen an die datengestützte Schulentwicklung (Beitrag 9). Jean-Bernard Etienne berichtet aus der Schulleitungsperspektive über seine Erfahrungen beim Versuch, das schulische Qualitätsmanagement (QM) lebendig zu halten (Beitrag 10). Auch die folgenden Beiträge sind aus der Schulleitungsperspektive verfasst: Peter Wunderlin behandelt im elften Beitrag das Zusammenspiel von Schulleitung und Kollegium beim QM an einer kleinen Schule, während Franziska Matter-Glanzmann als ehemaliges Mitglied des Leitungsteams einer grossen Schule darstellt, wie dort kritische Resultate von externen Evaluationen als Impuls genutzt wurden, um ein Projekt zum Wandel der Organisationskultur zu lancieren (Beitrag 12). Den dritten Teil rundet Ewald Keller mit einem Beitrag zur Nutzung von Daten aus internen Schulevaluationen ab, die auf Fragebogenerhebungen bei den Lernenden, den Eltern und den Lehrpersonen basieren (Beitrag 13). Der Band schliesst mit einem kurzen Fazit, bei dem das Stichwort des Patchwork-Modells der Schulentwicklung nochmals aufgegriffen wird.

Schulen werden in den Beiträgen zu diesem Band anonymisiert, sofern sie nicht selbst öffentlich in Erscheinung treten. Alle Autorinnen und Autoren beachten den Gesichtspunkt gendergerechter Sprache. Teilweise findet aus Gründen der Vereinfachung das generische Maskulinum Verwendung; gemeint sind dann Personen jeden Geschlechts.

Unser Dank gilt allen Mitgliedern des Zentrums Bildungsorganisation und Schulqualität, die im Zeitraum von 2006 bis 2018 an den verschiedenen Projekten beteiligt waren oder diese Projekte durch Anregungen in Workshops, Kommentare zu Entwürfen und durch zahllose informelle Gespräche beflügelt haben. Ein spezieller Dank gilt Norbert Landwehr, der das Zentrum seit 2006 für zehn Jahre als Ko-Leiter geführt und der seine Rolle als Mentor auch danach weiter ausgefüllt hat. Birgit Volk danken wir für ihr Lektorat und Laura Volken für die Vereinheitlichung der bibliografischen Angaben.

Ein weiterer Dank geht an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Bildungsdepartementen, die ganz und gar unbürokratisch zu Gesprächen bereit waren, durch zahlreiche Feedbacks die Forschung in vielen Punkten ideell gefördert und sich des Öfteren trotz wachsender Budgetzwänge auch für die finanzielle Forschungsförderung eingesetzt haben. Ähnlich erfreulich wie der Austausch mit Expertinnen und Experten aus den Bildungsdepartementen waren verschiedene Gespräche mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der Berufsverbände von Lehr- und Leitungspersonen, die ebenfalls gerne Auskunft gaben. Dasselbe gilt für unzählige Gespräche in einzelnen Schulen der Deutschschweiz.

Literatur

Altrichter, H. & Rürup, M. (2010). Schulautonomie und die Folgen. In H. Altrichter & K. Maag Merki, (Hrsg.), Handbuch neue Steuerung im Schulsystem (S. 111-144). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Altrichter, H., Schley, W. & Schratz, M. (2016). Handbuch zur Schulentwicklung. Innsbruck: Studien Verlag.

Berger, P. L. & Luckmann, T. (1987). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer.

Dedering, K. (2012). Steuerung und Schulentwicklung. Bestandsaufnahme und Theorieperspektive. Wiesbaden: Springer.

Dörner, D. (1989). Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

EDK/IDES (2018). EDK/IDES-Kantonsumfrage, Stand Schuljahr 2017-2018: Standardisierte Leistungstests Primarstufe. Bern: Informationszentrum IDES der EDK. Abrufbar unter https://www.edudoc.ch/static/strukturdaten/pdf_rohdaten/121.pdf.

Eurydice (2007) School Autonomy in Europe: Policies and Measures. Brüssel: Eurydice European Unit. Abrufbar unter: https://publications.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/102bb131-8105-4599-9367-377946471af3/language-en [04.03.2019].

Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Lindblom, C. E. (1959). The Science of Muddling-Through. Public Administration Review, 19(2), 79-88.

Maag Merki, K. (2008). Die Architektur einer Theorie der Schulentwicklung. journal für schulentwicklung, 2, 22-30.

March, J. G. (2006). Rationality, foolishness, and adaptive intelligence. Strategic Management Journal, 27(3), 201-214.

Nichols, S. L. & Berliner, D. C. (2007). Collateral Damage: How High-Stakes Testing Corrupts America’s Schools. Cambridge. Massachusetts: Harvard Education Press.

Pollitt, C. & Bouckaert, G. (2000). Public Management Reform. A Comparative Analysis. Oxford: Oxford University Press.

Ravitch, D. (2010). The Death and Life of the Great American School System: How Testing and Choice Are Undermining Education. New York: Basic Books.

Rolff, H.-G. (2007). Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung. Weinheim und Basel: Beltz.

Schedler, K. & Proeller, I. (2000). New Public Management. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt.

Simon, H. A. (1993). Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben. Frankfurt a. M. und New York: Campus.

SKBF (2014). Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

WBF/EDK (2015). Chancen optimal nutzen. Erklärung 2015 zu den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz. Bern: Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) – Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Abrufbar unter https://www.edudoc.ch/static/web/aktuell/medienmitt/erklaerung_18052015_d.pdf [04.03.2019].

Teil 1:
Standortbestimmungen

Carsten Quesel

Evidenz, Governance und Schulentwicklung. Ansatzpunkte «harter» und «weicher» Steuerung

Einleitung

Dem Vorschlag, für Entscheidungen in pädagogischen Kontexten die besten vorliegenden Daten als Grundlage zu nutzen, ist kaum zu widersprechen. Allerdings zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass Daten auf Handlungsbedarf hinweisen können, aber nicht wirklich sagen, was nun genau von Lehr- oder Leitungspersonen als Nächstes zu tun ist. Hier kommen normative Fragen nach Guter Schule und Gutem Unterricht ins Spiel, die im historischen, soziokulturellen und theoretischen Vergleich zu sehr unterschiedlichen Antworten geführt haben.

Vielleicht sind die unterschiedlichen Antworten aber auch darauf zurückzuführen, dass die Datenbasis in früheren Zeiten unübersichtlich oder unzulänglich war? Der Ansatz der evidenzbasierten Steuerung des Bildungssystems besagt, dass die Qualität pädagogisch bedeutsamer Entscheidungen sich deutlich verbessere, wenn sie dem Beispiel der Medizin darin folgt, die Behandlung von Problemen streng am Stand der besten quantitativen Studien zum jeweiligen Thema auszurichten, wobei es darum geht, die eigenen professionellen Erfahrungen sorgfältig mit den wissenschaftlichen Daten abzugleichen (Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes & Richardson, 1996).

Diese Anregung soll im Rahmen dieses Beitrags im Hinblick auf Ansätze und Perspektiven der Schulentwicklung erörtert werden. Diese Erörterung setzt beim Begriff der Evidenz an: Einerseits ist hier eine starke Tendenz zu beobachten, diesen Begriff auf die Überzeugungskraft numerischer Daten zu reduzieren, andererseits gibt es vielleicht gute Gründe, eine solche Gleichsetzung zu vermeiden. Aus der Positionierung zu dieser Alternative lassen sich zwei unterschiedliche Paradigmen der Steuerung herleiten:

Das Paradigma der «harten» Steuerung zeichnet sich dadurch aus, dass anhand von Testdaten ein Rechenschaftsdruck erzeugt wird, der sich mit dem Imperativ der Leistungssteigerung verbindet und der die berufliche Existenz von Lehr- und Leitungspersonen infrage stellt, die diesem Imperativ nicht genügen.

Das Paradigma der «weichen» Steuerung zeichnet sich dadurch aus, dass sich Entscheidungen auf eine grosse Vielfalt von Erfahrungen und Beobachtungen stützen, die in Diskussionen verdichtet werden, bei denen es darum geht, die Chance auf einen Konsens auszuloten und nach Kompromissen zu suchen.

Die beiden Paradigmen markieren Pole, zwischen denen eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten der Education Governance praktiziert werden können. Unter Governance ist dabei die Verhaltenskoordination in komplexen Systemen zu verstehen (Mayntz, 2009; Scharpf, 2000). In den Bereich der Education Governance fallen Mechanismen der Verhaltenskoordination, die zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen auf der Ebene einzelner Bildungsorganisationen führen (zu Aspekten des Wandels der Education Governance in der Schweiz vgl. u. a. Quesel & Bauer, 2011; Quesel, Näpfli, Buser & van der Heiden, 2015).

Auch die Schulentwicklung stellt mithin einen Aspekt der Education Governance dar, weil es um zielgerichtete Interventionen geht, die einen verbindlichen Charakter haben und deren Resultate nicht allein von Leitungspersonen, sondern zumindest teilweise auch von Lehrpersonen verantwortet werden. Es ist möglich, dass solche Interventionen durch exogene Faktoren ausgelöst und gleichsam von oben angeordnet werden; im Hinblick auf die schulische Teilautonomie stehen aber endogene Faktoren der professionellen Selbststeuerung über Mechanismen der Führung, Partizipation und Kooperation im Vordergrund (vgl. Dedering, 2012; Rolff, 2007).

Die These dieses Beitrags lautet, dass das Paradigma der «harten» Steuerung ein hohes Mass an Präzision und einen permanent wirksamen Optimierungsdruck verspricht, die damit verbundene Komplexitätsreduktion für die Schulentwicklung allerdings mit dem Risiko verbunden ist, dass sich schematische und rigide Praktiken durchsetzen, die vielen Vorstellungen von guter Schule und gutem Unterricht zuwiderlaufen. Mehr noch: Es kann unter Umständen sein, dass die nicht intendierten Effekte der harten Steuerung ihre intendierten Effekte durchkreuzen. Das Paradigma der weichen Steuerung stellt in dieser Hinsicht eine substanzielle Alternative dar, weil es die Nutzung von Testdaten als eine Option beinhaltet, ohne diesen Daten einen Primat bei der Schulentwicklung einzuräumen.

Exemplarisch soll in dieser Hinsicht die Schweiz den USA gegenübergestellt werden: Einerseits sind sich beide Länder bei der Education Governance im Hinblick auf föderale Strukturen und eine stark ausgeprägte lokale Autonomie ähnlich, andererseits kontrastieren sie maximal als Konsens- und als Konkurrenzdemokratie (Lijphart, 1999). Die hier präsentierten skizzenhaften Ausführungen zu den USA stützen sich auf mehrere Vorarbeiten, die detaillierte Ausführungen zu einer Vielzahl von Quellen enthalten (vgl. Quesel, 2011, 2015, 2018; Quesel & Husfeldt, 2013). Hier geht es lediglich darum, die Rahmenbedingungen der Schulentwicklung in der Schweiz anhand des Kontrasts zu den USA zu verdeutlichen. Insofern handelt es sich um einen sehr bescheidenen komparativen Versuch, der die Frage nach systematischen Aspekten aufwirft, aber nicht beantwortet.

Eingangs sei darauf hingewiesen, dass es sich hier um keinen einfachen Dualismus handelt: Die Education Governance in den USA ist relativ stark durch das harte Paradigma bestimmt – in der amerikanischen Schulentwicklung gibt es aber starke und wichtige Traditionen, die eher dem weichen Paradigma entsprechen. Und auf der anderen Seite wird sich zeigen, dass es auch für die Schweiz etwas zu simpel wäre, von einem konsistenten weichen Paradigma zu sprechen.

Der Beitrag ist folgendermassen aufgebaut: Der erste Abschnitt ist dem Begriff der Evidenz gewidmet, der zweite Abschnitt stellt den Bezug zur Governance-Thematik her und umreisst die beiden Paradigmen der harten und weichen Steuerung. Im dritten Abschnitt geht es darum, für die USA zu zeigen, dass die starke bildungspolitische Fokussierung auf numerische Evidenz in der Epoche des Programms No Child Left Behind in einem starken Widerspruch zu einer langen und vitalen Tradition der Schulentwicklung stand und starke problematische Effekte ausgelöst hat. Der vierte Abschnitt führt aus, welche Rahmenbedingungen und Perspektiven sich für die Schulentwicklung in der Schweiz aufgrund der eher weichen bildungspolitischen Steuerung ergeben. Im Fazit soll die Andeutung aufgegriffen werden, dass weder für die USA noch für die Schweiz eine simple Dualisierung von harter und weicher Steuerung angemessen erscheint – bis hin zu der Ironie, dass die weiche Steuerung in einer pädagogischen Binnenperspektive als ziemlich hart erscheinen kann.

1Evidenz

Der Begriff der Evidenz ist mehrdeutig: Dem lateinischen Ursprung nach verweist er auf etwas, das offensichtlich oder unmittelbar einsichtig ist. In Anknüpfung an diesen Wortsinn haben sich im philosophischen Sprachgebrauch Traditionen entwickelt, bei denen sich der Begriff der Evidenz auf Sachverhalte bezieht, die empirisch als unbezweifelbar wahr anzuerkennen sind (Kelly, 2016). Dem stehen skeptische oder konstruktivistische Ansätze gegenüber, die betonen, dass der Beweiswert von Evidenzen von subjektiven und sozialen Faktoren abhängt: Evidenzen sind nicht gegeben, sie werden vielmehr durch kognitive Prozesse erzeugt (als Anregung aus der – durchaus umstrittenen – Perspektive des radikalen Konstruktivismus vgl. Glasersfeld, 1996; des Weiteren im Hinblick auf soziale Wirklichkeitskonstruktionen Berger & Luckmann, 1987; Searle, 2011).

Während im Deutschen die Behauptung, etwas sei evident, die Erwartung der Unbezweifelbarkeit zum Ausdruck bringt, hat es sich im Englischen eingebürgert, diese Erwartung durch die Bekräftigung auszudrücken, etwas sei «self-evident» (vgl. Heinrich, 2010). Ohne diese Bekräftigung steht der englische Begriff «evidence» für einen Beleg, dessen Beweiswert mehr oder minder heftig bestritten werden kann – und insofern im deutschen Sprachgebrauch am ehesten die Bezeichnung «Indiz» verdient.

Aber auch der rhetorische Anspruch, etwas sei absolut unbestreitbar, wird immer im Kontext eines potenziellen oder realen Streitfalls formuliert: Wer auf Evidenz pocht, will Recht bekommen. Von daher ist zu betonen, dass es immer um Evidenz für oder gegen etwas geht: Gegnerische Positionen sollen widerlegt, eigene Positionen verteidigt werden – ob der Streit nun in der Wissenschaft, vor Gericht, in einer politischen Arena oder im Alltag stattfindet. Mithin geht es bei Evidenzen um Beobachtungen, die mit einem Geltungsanspruch vorgetragen werden. Dabei sind drei Varianten zu unterscheiden, die hier als anekdotisch, indexikalisch und numerisch gekennzeichnet werden sollen.

1.Anekdotische Evidenz: Der Begriff der anekdotischen Evidenz steht für Erfahrungsberichte, die keiner unabhängigen Überprüfung zugänglich sind und insofern einen subjektiven Status haben. Dementsprechend wird er in der Regel in der Absicht verwendet, individuelle Beobachtungen als unwissenschaftlich und deshalb irrelevant zu kritisieren. Tatsächlich verlangt empirische Forschung zwingend danach, dass Befunde der intersubjektiven Überprüfbarkeit zugänglich sind. Gleichwohl kann die Gefahr bestehen, dass die Forschung durch die «Verachtung» von Anekdoten wichtige Aspekte sozialer Wirklichkeit aus dem Blick verliert (Carr, 2015). Anekdoten können unwahr sein, sie sind es aber nicht per se.

2.Indexikalische Evidenz: Während das Gedächtnis die Quelle anekdotischer Evidenz darstellt, stützt sich die indexikalische Evidenz auf aktuelle Beobachtungen, die von Anwesenden aufgrund eigener Wahrnehmungen bestätigt oder bestritten werden können. Es handelt sich mithin um eine Form der Evidenz, die geeignet sein kann, Wahrheitsansprüche situativ durch den Verweis auf den Augenschein zu bestätigen oder zu verneinen. Dieser Prozess kann ein Teil der alltäglichen Kommunikation sein, er findet aber auch im Rahmen professioneller Kommunikation statt, etwa bei klinischen Diagnosen oder juristischen Auseinandersetzungen; im schulischen Kontext sind kollegiale Unterrichtsbeobachtungen im Rahmen von Professional Learning Communities eine wichtige Option (vgl. Hord, 1997). Indexikalische Evidenzen können in Ist-Aussagen gefasst werden, die unter Umständen geeignet sind, eine Ungewissheit oder einen Streitfall zu erledigen. Es kann sich indes bei komplexen Problemen zeigen, dass einzelne Beobachtungen eine unzulängliche Basis für einen Befund sind, selbst wenn diese Beobachtung unstrittig ist.

3.Numerische Evidenz: Der Verweis auf Häufigkeiten ist ein probates Mittel, um der Unzulänglichkeit einzelner Beobachtungen zu begegnen. Numerische Evidenzen stellen eine Abstraktion vom Augenschein und anderen Sinnesdaten dar, indem sie Beobachtungen quantifizieren. Diese Praxis hat im Kontext der Moderne eine solche Bedeutung erlangt, dass die Statistik zuweilen als höchste Form der Evidenz erscheint. Ein solches Verständnis liegt etwa im Fall der evidenzbasierten Medizin nahe, die sich an randomisierten und kontrollierten klinischen Studien als «Goldstandard» orientiert (zu den Herausforderungen mit Blick auf die Psychotherapie vgl. Sternberg, 2006). Während es im Bereich der pädagogischen Psychologie viele Möglichkeiten gibt, solch ein klinisches Design zu adaptieren, ist in der Forschung zur Schul- und Unterrichtsqualität in der Regel keine Randomisierung und keine klinische Kontrolle der Rahmenbedingungen möglich, sodass dort Leistungsvergleichsstudien und Meta-Analysen die beste Annäherung an den «Goldstandard» darstellen (vgl. Hattie, 2009). Unstrittig sind diese Transformationen des Augenscheins indes nicht: Der Vorwurf lautet, dass die Fixierung auf Testdaten wichtige Aspekte der Schul- und Unterrichtsqualität verfehlt. Das Messbare ist in diesem Sinne nicht immer das Wesentliche.

In den folgenden Ausführungen steht die numerische Evidenz im Zentrum, weil dieser Aspekt die internationale Diskussion über Schulentwicklung relativ stark beeinflusst. Punktuell soll dann allerdings angedeutet werden, dass auch anekdotische und indexikalische Evidenzen für die Schulentwicklung wichtig sein können – nämlich gerade dann, wenn es darum geht, quantitative Daten auf den Kontext der eigenen Erfahrungen zu beziehen (vgl. zum Stichwort der Rekontextualisierung auch Fend, 2008).

Numerische Evidenz resultiert aus einem Prozess der Abstraktion: Tatsächlich geht es hier um die Beobachtung von Artefakten und nur noch indirekt um Sinnesdaten. Diese Artefakte sind in soziale Prozesse eingebettet – ihre Beobachtung verlangt bei aller technischen und mathematischen Raffinesse letztlich nach einer sozialen Verankerung: Welche Werte als signifikant anzuerkennen sind, geht nicht aus den Daten selbst hervor, sondern aus der Etablierung von Konventionen innerhalb einer Scientific Community.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Nicht nur, dass die Beobachtung statistischer Artefakte einer sozialen Einbettung bedarf – auch der Blickwinkel dieser Beobachtungen ist von sozialen Prozessen beeinflusst. Von daher lässt sich argumentieren, dass jeder Evidence-based Policy unweigerlich eine Policy-based Evidence zugrunde liegt, weil Präferenzen und Interessen in die Definition von Programmen eingehen (vgl. Scharpf, 2000). Verschiedene Player zielen darauf, jeweils der eigenen Perspektive und den mit dieser Perspektive verknüpften Relevanzkriterien Deutungshoheit zu verschaffen – was sich im Bereich der Medizin etwa an der Verknüpfung von Forschungs- und Vermarktungsstrategien pharmazeutischer Grossunternehmen illustrieren lässt.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die an numerischen Evidenzen orientierte medizinische Forschung zu erstaunlich klaren und präzisen Befunden gelangen kann, die mitunter enorme Erkenntnisfortschritte bewirken und vollkommen neuartige therapeutische Chancen bieten. Es soll aber angedeutet werden, dass es bei klinischen Diagnosen nicht immer nur um Wahrheit, sondern oft auch um andere Interessen – zum Beispiel kommerzieller Natur – geht. Solche Interessen beeinflussen die Definition von Themen und Problemen wie auch das Spektrum möglicher Konsequenzen, die aus Evidenzen abgeleitet werden. Was für klinische Diagnosen gilt, lässt sich etwa auf die pharmazeutische Forschung übertragen: Wer etwa als Forscherin oder Forscher Medikamente entwickelt, hat unter Umständen ein starkes Interesse daran, dass sich diese Medikamente verkaufen (Lundh & Bero, 2017). Und wer ein Modell für Schulentwicklung publiziert, hat möglicherweise ein analoges Interesse, von Schulen Beratungsmandate zu erhalten – auch wenn sich in diesem Bereich kein grosser Reichtum anhäufen lässt.

Dabei ist zunächst einmal zu betonen, dass aus Evidenzen – verstanden als Beobachtungen, die mit einem Geltungsanspruch vorgetragen werden – keine Handlungsanweisungen hervorgehen: Das «Sein» determiniert das «Sollen» nicht; es bedarf der Diskussion und Interpretation, um die Befunde einzuordnen und zu würdigen. Der Schritt vom Befund zur Konsequenz ist immer mit Risiken des Irrtums und des Scheiterns verbunden, auch wenn diese Risiken durch professionelle Sorgfalt minimiert werden können. So zeigt sich in den anwendungsorientierten Feldern naturwissenschaftlicher Disziplinen, dass gerade numerische Evidenzen sehr erfolgreich genutzt werden können, um technische Probleme zu lösen – wobei die Einsicht gewachsen ist, dass die Evidenz unter Umständen nicht ausreicht, um Nebenwirkungen vollkommen unter Kontrolle zu bringen.1

Bei der Frage der Nutzung numerischer Evidenzen für die Lösung sozialer Probleme ergeben sich weitaus gravierendere Bedenken: Hier steht die Frage im Raum, ob diese Nutzung von statistischen Daten zu einem technokratischen Missbrauch wissenschaftlicher Expertise führt. Die mit dieser Frage verbundene Besorgnis kommt in Campbell’s Law zum Ausdruck: Demnach ist die Ausrichtung von politischen oder organisatorischen Steuerungspraktiken an quantitativen Daten mit der Gefahr verbunden, dass die Instrumentalisierung dieser Daten sich verzerrend und verfälschend auf die sozialen Prozesse auswirken, deren Beobachtung sie dienen sollen (Campbell, 1979).

Im Lichte dieser Pointe, mit der ein Experte für quantitative Methoden vor der Überschätzung dieser Methoden warnt, ergeben sich Zweifel, wie stark die Steuerung von Bildungssystemen und die Steuerung von Bildungsorganisationen an numerischer Evidenz ausgerichtet werden kann. Anhand des Konzepts der Education Governance lässt sich allerdings illustrieren, dass diese Zweifel nicht allgemein geteilt werden und sich folglich unterschiedliche Pfade der Nutzung von Daten für Steuerungszwecke ergeben.

2Governance

Das Konzept der Governance hat in einer analytischen Perspektive in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, weil sich bei vielen gesellschaftlichen Problemen gezeigt hat, dass es unklug ist, den Blickwinkel auf die Rolle des Staates als Entscheidungsinstanz und als Garanten der öffentlichen Ordnung zu fokussieren (vgl. Mayntz, 2009): Teils wachsen die Probleme im Zuge der Globalisierung über die Grenzen einzelner Staaten hinaus, teils ist die Komplexität innerhalb der staatlich organisierten Gesellschaften so gross, dass sie nicht durch politisch-administrative Hierarchien anhand von Vorschriften bewältigt werden kann. Das hat zunächst einmal dazu geführt, den Blickwinkel durch die Kontrastierung von Hierarchie und Markt als alternativen Mechanismen der Verhaltenskoordination zu erweitern; und im Zuge der sich entfaltenden Diskussion über Governance sind dann weitere Stichworte ins Spiel gebracht worden, um zu verdeutlichen, dass der Dualismus von Hierarchie und Markt kaum ausreicht, um alle Optionen der Verhaltenskoordination abzudecken: Als weitere Mechanismen sind dann etwa normativ begründete Gemeinschaften und informale Netzwerke ins Spiel gebracht worden, wobei sich diese Netzwerke unter Umständen zu formalisierten Partnerschaften oder Assoziationen entwickeln können (vgl. Benz & Dose, 2010; Benz, Lütz, Schimank & Simonis, 2007). Das Bild wird schnell unübersichtlich, weil die Aufzählung von weiteren Vorschlägen nicht vollständig ist und weil erkennbar ist, dass die genannten Stichworte sich nicht ohne weiteres einer Systematik fügen.

Hinzu kommt, dass die genannten Grössen miteinander interagieren. Märkte unterliegen zumindest teilweise der politischen Regulierung, und die Spitzen von demokratisch fundierten Hierarchien werden über Wahlen bestimmt, die sich aufgrund ihres Wettbewerbscharakters mit guten Gründen auch als politische Marktkonstellation beschreiben lassen. Für Netzwerke und die daraus resultierenden Partnerschaften und Assoziationen ist darauf hinzuweisen, dass sie in vielen gesellschaftlichen Bereichen selbstregulierte Kräfte entfalten, sich dabei aber im «Schatten der Hierarchie» (Scharpf, 2000, S. 326 f.) befinden – die Selbstregulierung steht unter Erfolgsdruck, weil bei gravierenden Unstimmigkeiten ein politisch-administrativer Eingriff «von oben» droht.

Das Problem der Systematik von Mechanismen der Verhaltenskoordination soll hier nicht behandelt werden: Im Sinne einer vereinfachenden heuristischen Annäherung wird im Hinblick auf die Education Governance die Strategie gewählt, zwischen direkten Mechanismen (Hierarchien), diskursiven Mechanismen (Gemeinschaften, Netzwerke u. a.) sowie kompetitiven Mechanismen (Märkte) zu unterscheiden (vgl. Quesel & Bauer, 2011). Je nachdem, welches Gewicht diesen Mechanismen zukommt, nimmt das Spannungsfeld von Daten und Taten, das die Schulentwicklung prägt, unterschiedliche Formen an. In einer ersten Annäherung kann das folgendermassen skizziert werden:

a)Es ist möglich, dass dieses Spannungsfeld von einer wohlfahrtsstaatlichen Bildungsplanung dominiert wird, die (recht optimistisch) darauf baut, über die direktive Zuteilung von Ressourcen die Schul- und Unterrichtsqualität sicherstellen zu können. Wenn es in dieser Hinsicht um Daten geht, dann handelt es sich vornehmlich um die staatliche Bildungsstatistik; Zeugnisse gelten als verlässliche Nachweise für Lernfortschritte und Qualifikationen. Die schulische Praxis wird mehr oder minder sporadisch inspiziert; die Frage, ob zentrale Prüfungen sinnvoll sind, kann unterschiedlich beantwortet werden.

b)Geraten wohlfahrtsstaatliche Mechanismen aufgrund von finanziellen Krisen unter einen starken Druck, so ergeben sich Ansatzpunkte für die neoliberale Argumentation, es sei ratsam, das Bildungssystem ähnlich wie andere Bereich des öffentlichen Sektors durch die Verstärkung des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Anbietern zu flexibilisieren und zu mobilisieren. In dieser Hinsicht geht es bei Daten vor allem Dingen um die Performanz: Eltern müssen als Kunden in die Lage versetzt werden, die Leistungsfähigkeit von Schulen einzuschätzen, und die Schulen müssen sich anhand ihres eigenen Leistungsnachweises auf dem Bildungsmarkt positionieren können.

c)Gemeinschaften, Netzwerke und Assoziationen können auf unterschiedliche Weise in die Verhaltenskoordination im Rahmen der Education Governance einbezogen werden: Zum einen gilt das etwa für die Anerkennung von Lehrergewerkschaften oder Schulleitungsverbänden als Partner im Rahmen der Ausarbeitung von neuen schulischen Lehrplänen, zum anderen aber auch für akademische Professionen, die zum Beispiel über Prüfungsordnungen oder Expertisen auf das Bildungssystem einwirken. Darüber hinaus kommen hier weitere gesellschaftliche Interessengruppen ins Spiel, so etwa wirtschaftliche Verbände, die Anforderungen für berufsrelevante Kompetenzen formulieren.

Wie eingangs des Beitrags angedeutet, lassen sich für die Education Governance zwei Paradigmen der Steuerung gegenüberstellen, die sich jeweils durch eine spezifische Kombination von direktiven, diskursiven und kompetitiven Mechanismen auszeichnen. Das harte Paradigma der Steuerung zeichnet sich durch eine kompetitiv-hierarchische Kombination, das weiche Paradigma durch eine diskursiv-hierarchische KombinationMost Different Casetel quelBildungsraums Schweiz