Ich widme dieses Buch meinen Eltern,

die mir mit ihrer Liebe die Basis gaben;

meinem Mann,

der mein Leben unendlich bereichert;

meinen Kindern,

die meine Tage mit Glück erfüllen;

und meinen Lehrerinnen und Lehrern,

die mir die Fähigkeit eröffneten, diese Fülle zu leben.

Vorwort

Atemlos durch Tag und Nacht oder lieber: Mehr Achtsamkeit und Mitgefühl für Erwachsene und Kinder im Schulalltag?

Haben Sie auch das Gefühl, dass der Lebenstakt zu schnell geworden ist für unsere Seele? Immer seltener werden die kostbaren Momente des Bei-uns-selbst-Seins und des wirklichen Miteinanders. Zunehmende Ruhelosigkeit, Überstimulation durch virtuelle Medien, Naturentfremdung sowie fehlende Balance zwischen Aktivitäts- und Erholungsphasen prägen den Alltag vieler Erwachsener. Und wir ziehen die Kinder mit in dieses atemlose Leben! Wollen wir das wirklich? Es ist anstrengend, kostet Kraft, macht unzufrieden und krank. Und es droht etwas Wesentliches auf der Strecke zu bleiben: das Verbundensein, Verbundensein mit uns selbst und miteinander.

Das Leben in sozialen Gemeinschaften hat über die letzten 400.000 Jahre die Potenziale und Fähigkeiten hervorgebracht, die heute unser Menschsein charakterisieren: Aufmerksamkeit füreinander, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Kooperation, Fürsorge, Liebe und Humor. In nahen, bedeutsamen und fruchtbaren Beziehungen können wir diese Potenziale ausformen und stärken. Auch die Haltung uns selbst gegenüber kann, wenn alles gut geht, von diesen Qualitäten geprägt sein. Dann sind wir in der Lage, für uns, füreinander und für die Welt so zu sorgen, dass lebendiges Wachstum und Entfaltung stattfinden können, ohne dass die Ressourcen in unserem Innern und in der Natur um uns herum unwiderruflich verbraucht und zerstört werden. Wenn wir das wollen, gilt es JETZT aufzuwachen und bewusste Entscheidungen zu treffen.

Schulen sind die Orte, wo bewusste Entscheidungen für die Ermöglichung und Förderung bedeutsamer und nährender Beziehungen und für die Kultivierung von Beziehungsfähigkeit, Fürsorge und Verantwortung am nachhaltigsten wirken können. Susanne Krämers Buch bietet eine Fülle an Anregungen und Inspirationen dafür. Das Interesse an diesen Themen im pädagogischen Kontext wächst in Deutschland. Viele Menschen spüren, dass wir in der Schule beginnen müssen, die menschlichen beziehungs- und lebensstärkenden Fähigkeiten zu erhalten und zu kultivieren. Doch im konservativen Schulsystem ist das Beharren auf dem Status quo dominant. Überforderung, Herzlosigkeit, Außenorientierung, Abwertung und Aussonderung, um das gängige Machtsystem in der Gesellschaft zu erhalten, prägen noch immer viele Schulen – und somit viele Kindheiten. Der vielbeklagte (zu) große Einfluss der Wirtschaft auf die Inhalte und das Tempo der Schulbildung scheint dabei den Spielraum für die Bildung und Kultivierung von Interessen, Begabungen, Begeisterung und Engagement, das von Herzen kommt, fundamental einzuschränken. Der möglichst effiziente Erwerb von Kompetenzen und vermarktbaren Skills ist an die Stelle der Bildung von Persönlichkeiten und Charakter getreten. Zugleich beklagen die Unternehmen, dass viele der Berufsanfänger nicht über basale Fähigkeiten wie Eigeninitiative, Motivation, Begeisterung, Kreativität und Kooperationsfähigkeit verfügen. Innovative Arbeit heute und in Zukunft braucht genau diese Eigenschaften, die den Kindern im antiquierten, streng hierarchisch organisierten Schulbetrieb abtrainiert werden.

Dazu kommt eine weitere entscheidende Fähigkeit, auf die zu wenig fokussiert wird: die gesundheitliche Selbstregulation. Denn unter den zunehmend entgrenzten Arbeitsbedingungen erhalten nur die Menschen langfristig ihre Arbeitsfähigkeit und -freude, ihre Kreativität und Gesundheit, die spüren, wenn es Zeit ist für Pause, Kontemplation und Regeneration, und die sich Raum lassen für Erholung, Spiel und Familie. Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, das Spüren und Wissen um die eigenen inneren Impulse, Bedürfnisse, Interessen und Leidenschaften sowie die Fähigkeit, auch die inneren Welten der Mitmenschen zu spüren, mit ihnen in Resonanz zu treten und nährende Beziehungen zu pflegen, sind die Qualitäten des Menschseins, die sich durch bewusste Achtsamkeit und Mitgefühl kultivieren lassen.

Susanne Krämer gehört zu den Pionierinnen, die diese „not-wendige“ Entwicklung im deutschen Schulsystem voranbringen. Mit ihrem Buch teilt sie die Früchte ihrer persönlichen Entwicklung und Erfahrung mit allen Interessierten. Dabei macht sie immer wieder deutlich, dass Achtsamkeit keine neue Masche ist, kein weiterer Punkt auf der To-do-Liste der angesagten Interventionen, sondern eine zutiefst humanistische Qualität, die es wert ist, in der Schule und im Leben mit Kindern verkörpert und gelebt zu werden. Am schönsten und wirkungsvollsten lassen sich Achtsamkeit und Mitgefühl gemeinsam fördern, in der Beziehung zu uns selbst, zu den Menschen um uns herum, im Kreis von Kolleg*innen, Kindern, Eltern und darüber hinaus: Der Bezug zu den natürlichen Ressourcen für unser Menschsein, zur Natur, den Tieren, Pflanzen und zur Erde, erweitert diesen Lebenskreis. Wie wäre es, wenn Schulen zu Häusern des Lernens und Bildens würden, die zugleich Achtung, Fürsorge, Lebendigkeit, Mitgefühl und Verantwortung für alles, was lebt und Leben nährt, stärkten? Jedem Kind und jeder Familie könnten wir damit die Hoffnung auf ein friedliches, gesundes und lebendiges Leben vermitteln.

Möge dieses Buch viele Menschen erreichen, die in diesem Sinne wache Schulen gestalten, erleben und fördern möchten!

Dr. Nils Altner Essen,
im Frühjahr 2018

Dr. Nils Altner engagiert sich für und forscht zu Achtsamkeit und Mitgefühl im Kontext von Gesundheit, Bildung und Entwicklung u. a. an der Universität Duisburg-Essen.

Einleitung

„Es geht in der Schule darum, mich mit meinem Idealismus und mit meiner Freude am Tun voll und ganz einzubringen und für die Sache zu brennen – und das so zu gestalten, dass es gut für mich ist und ich nicht verbrenne.“

(Lehrerin einer Berliner Gemeinschaftsschule im Interview)

Wie viele Kolleg*innen1 würden ihre Bemühungen ähnlich beschreiben wie diese Berliner Lehrerin? Zwischen dem persönlichen Engagement, das der Arbeit Sinn und Tiefe verleiht, und dem Aufreiben angesichts der unzähligen Anforderungen des Schulalltags liegt nur ein schmaler Grat, und oft braucht es spezielle Ressourcen, um sich sicher auf ihm zu bewegen:

„Ich habe gespürt, wie gut es tut, einer regelmäßigen Achtsamkeitspraxis nachzugehen. Die morgendlichen Meditationen sind mir sehr wichtig geworden, auch als Unterstützung im Umgang mit den Kolleg*innen, in der Mitarbeitervertretung (Betriebsrat), in Konfliktsituationen. Ich bleibe in solchen Situationen sehr bei mir, kann gelassener reagieren. Und ich nehme die Themen auch nicht mehr so intensiv mit nach Hause, die Dinge relativieren sich. Ich merke, dass ich in schwierigen Situationen oder auch wenn ich nicht einschlafen kann, mehr und mehr lerne, mich nicht wegschwemmen, wegtragen zu lassen von den überfordernden Gefühlen, sondern einen Schritt zurücktreten und einfach wahrnehmen kann. Eine größere Gelassenheit in der Schule stellt sich ein.“

Um diese Haltung, die Sie befähigt, mit mehr Wohlbefinden durch den Schulalltag zu gehen und Ihre Umwelt mit Gelassenheit und Klarheit wahrzunehmen, soll es auch in diesem Buch gehen. Nicht um Extras, die Sie Ihren ohnehin schon vollen Arbeits- und Lebenswelten noch hinzufügen. Nur Sie stehen hier im Mittelpunkt. Denn die Basis für den gelungenen Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen, mit denen Sie Tag für Tag zusammenarbeiten, ist Ihr eigenes Da-Sein, Ihre Präsenz und die Fähigkeit, selbstbestimmt mit den eigenen Emotionen, den eigenen Gedanken umzugehen.

Aus diesem Grund möchte ich den Schwerpunkt nicht auf komplexe Theorien und empirische Studien legen – dazu gibt es bereits hervorragende Literatur –, sondern ausgehend von Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung den Versuch wagen, Ihnen den „Duft der Praxis“ zu vermitteln. Es geht um alltagstaugliche Übungen, die Ihnen ermöglichen, eigene Erfahrungen zu machen. Nur was Sie selbst kennenlernen, was Sie am „eigenen Leibe“ erfahren, wird Spuren in Ihrem Denken und Verhalten hinterlassen. Kommen Sie selbst auf den Geschmack! Oder wie der Neurowissenschaftler Gerald Hüther es formuliert: „Haltungen kann man nur verändern, indem man das verändert, was die Haltung hervorgebracht hat, nämlich die Erfahrung – Haltungen sind das Ergebnis von Erfahrung, bestimmen ganz entscheidend darüber, wie Menschen die Welt und das Geschehen um sie herum bewerten“ (Sobiray-Hüther & Hüther 2011).

Achtsamkeit leben und vermitteln

Wie sieht es mit Ihrer Gelassenheit aus, wenn Ihnen ein Elternteil mit dem Rechtsanwalt droht? Können Sie Ihre eigenen Impulse auch in eskalierenden Konflikten zwischen Schüler*innen kontrollieren, um mit Klarheit zu handeln? Können Sie mit Enttäuschung, Wut, Hilflosigkeit umgehen? Und ist es Ihnen möglich, auch für sich selbst einen „fehlerfreundlichen“, fürsorglichen Blick zu kultivieren?

Ihre eigene authentische Haltung ist die wichtigste Voraussetzung dafür, Achtsamkeit in die Schule zu bringen – wach zu werden für eine neue (Schul-)Kultur des Miteinanders.

Schule soll unsere Kinder auf das Leben vorbereiten. Als Pädagogin oder Pädagoge werden Sie daher auch das Anliegen haben, Ihren Schülern und Schülerinnen über die fachlichen Inhalte hinaus etwas fürs Leben mitzugeben. Denn auch sie brauchen in der zunehmend schneller werdenden Welt die Fähigkeit, innezuhalten, mit sich in Kontakt zu kommen. Wenn Sie ihnen die Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit eröffnen, können Schülerinnen und Schüler für sich selbst Verantwortung übernehmen und darüber hinaus für ihre Klassenkamerad*innen, ihre Mitmenschen und schlussendlich für die Gesellschaft.

„Was Achtsamkeit wirklich bedeutet? Dass ich selbst für mein Leben, für mein Wohlbefinden, für meine Stimmung zuständig bin“ (Lehramtsstudentin aus Leipzig). – Ich hoffe, dass Sie und Ihre Schüler*innen dieses Fazit nach dem „Genuss“ des Buches auch ziehen können!

Wege der Vermittlung

Bei den Formen der Weitervermittlung des Achtsamkeitskonzeptes in der Schule gibt es zwei unterschiedliche Ansätze:

Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile und können auch miteinander kombiniert und ergänzt werden. Im ersten Fall kann die Einführung durch eine noch nicht bekannte Person geschehen, zu der noch keine eventuell vorbelastete Beziehung besteht und die weder durch das Kollegium noch durch die Schüler*innen bereits in eine Schublade gesteckt wurde. Hier ist jedoch die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung, dass zumindest eine Lehrperson der zu schulenden Klasse die Achtsamkeitspraxis gutheißt und sie weiterführt.

Dieser entscheidende Faktor der Wertschätzung und Weiterführung ist natürlich bereits gegeben, wenn die zweite Vermittlungsvariante gewählt wird. Auch kann in dieser Form die Vermittlung an die Schüler*innen in einer ganz anderen Bandbreite erfolgen: von dem Vorleben einer achtsamen Haltung im Schulalltag, welche das Lernen am Vorbild ermöglicht, über die Integration von kurzen Elementen in den bestehenden Lehrplan bis hin zur expliziten Unterweisung in Achtsamkeit.

Ein 14-köpfiges Autorenteam, unter ihnen einige der führenden Entwickler*innen von Achtsamkeitsprogrammen an US-amerikanischen Schulen (Meiklejohn et al. 2012), untersuchte anhand der vorhandenen Programme eben diesen Ansatz. Ihr Fazit war, dass der entwickelte Sinn für Präsenz, verkörpert von der Lehrperson in den alltäglichen Klassenzimmeraktionen und Lernstrategien, eine weitergehende und nachhaltigere Wirkung auf das Bildungssystem hat.

Dieser zweite Ansatz entspricht auch dem Weg, den ich als Achtsamkeitslehrende seit 2006 gehe und 2013 im Rahmen der Lehrer*innenausbildung am Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung in Leipzig im Bereich Kommunikation implementieren konnte. Die eigene Achtsamkeitspraxis bietet die Basis für eine gelungene Vermittlung: Mein Verhalten ist Vorbild für meine Student*innen. Dies ist Anspruch und Chance zugleich, denn das Schöne ist: Auch das eigene Lernen hört nie auf! Ich begebe mich mit jedem Schüler und jeder Schülerin gemeinsam immer wieder neu auf eine „Forschungsreise“. Gerade die Weitervermittlung von Achtsamkeit ist eine sehr tiefgehende Praxis, bei der man auch vor großen Herausforderungen steht, an denen man jedoch nur wachsen kann. Sie werden es erleben, denn ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen Kompass für Ihre eigene Forschungsreise an die Hand geben.

In diesem Sinne ist das vorliegende Buch – im Kontrast zu dem wissenschaftlichen Kontext der Universität, in dem ich mich sonst bewege – ein sehr persönliches. Ich möchte Sie an den Erkenntnissen, die ich im Laufe meines „Forschungsexperiments“ gewonnen habe, teilhaben lassen. Dieses Experiment durchdringt alle Bereiche meines Alltags seit nun bereits mehr als 18 Jahren und bereichert mein Leben. Ich schreibe im Wissen, dass ich erst ganz am Anfang des immer weitergehenden Erkenntnisprozesses stehe. Wie wunderbar, dass es noch so viel zu entdecken gibt, und auf diese Entdeckungsreise möchte ich Sie mitnehmen.

Zu meinem Weg gehörte es immer, dass mich viele Menschen in direkter Begegnung oder durch ihre Schriften inspiriert haben. Und so möchte ich die Stimmen von Lehrerinnen und Lehrern, die ich auf Lehrer*innenfort- und -weiterbildungen kennenlernen durfte, von Kindern und Jugendlichen, die ich auf Retreats in Achtsamkeitskursen begleitet habe, von den bereits über 800 Lehramtsstudierenden, die mein Seminar „Kommunikation und Achtsamkeit“ besucht haben, und von den Teilnehmer*innen meiner MBSR-Kurse und anderer achtsamkeitsbasierter Fortbildungen mit einfließen lassen. Mir war es ein Anliegen, hier ein breites Spektrum aufzuspannen, und so führte mich dieses Buchprojekt, neben der Sichtung der bestehenden qualitativen Interviewstudien, auch zu zahlreichen Interviews mit Lehrer*innen und Schüler*innen, die bereits Achtsamkeit in ihr Leben integriert haben. Ihre Aussagen und die Zitate aus den seminarbegleitenden „Lerntagebüchern“ meiner Student*innen (Portfolios)2 sollen Ihnen ein lebendiges Bild gelebter Achtsamkeit vermitteln.

Ich möchte jene zu Wort kommen lassen, die durch ihr Dasein das Gesicht einer „wachen Schule“ prägen.

„Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.“

Albert Einstein

Wie dieses Buch Sie begleiten kann

Ziel des Buches ist, Ihnen einen klaren Übungsweg aufzuzeigen und die Motivation zu wecken, diesen individuell in Ihr Alltagsgeschehen einzubauen. Nur was Sie selbst erfahren haben, können Sie fundiert und authentisch weitervermitteln.

So wird in Teil I die Haltung der Achtsamkeit in all ihren Facetten (Umgang mit schwierigen Emotionen, Stressbewältigung, Wohlbefinden stärken, Empathie und Mitgefühl, Humor, Kommunikation) erläutert und mit Beispielen des schulischen Alltags verknüpft. In den jeweiligen Kapiteln werden konkrete Übungsmöglichkeiten vorgestellt und durch Erfahrungsberichte und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung ergänzt.

Die Übungen sind unterteilt in

So ist ein guter Überblick gewährleistet und Vorschläge zur Einbindung in den Alltag sowie Kurzvarianten (MINI) ergänzen die Übungspraxis. Abgerundet wird Teil l mit Möglichkeiten, Achtsamkeit im Kollegium zu leben („Netzwerke bilden – sich in der Praxis unterstützen“).

Teil II erweitert den Übungskanon durch spezifische Angebote für Kinder und Jugendliche. Dabei werden eine allgemeine Herangehensweise erläutert (Haltung des Lehrenden, Wege der Implementierung) und konkrete Übungen vorgestellt, um im Sinne eines flexiblen, situationsadäquaten Umgangs dem individuellen Entwicklungsniveau und dem Klassenklima gerecht zu werden. Aus diesem Grund habe ich auch bewusst auf die Gestaltung eines Wochenmanuals verzichtet. Die Icons
(, , ) werden weiterhin zur Verdeutlichung der Übungsstruktur gesetzt. Alle Übungen aus Teil II sind natürlich für das Gruppensetting einer Klasse oder einer AG / GTA beschrieben. Die Icons machen eine schnelle Zuordnung, ob es sich um eine Gruppen- / Partner- oder Einzelübung handelt, möglich.

Der Zugang zu einer Haltung der Achtsamkeit ist vergleichbar mit einem Haus, das durch viele Türen zu betreten ist. Das Erleben der Selbstwirksamkeit fängt bei der Wahl der Schlüssel an.

Zu einigen Themen gibt es Zusatzmaterialien, die Sie unter http://www.junfermann.de (Mediathek zum Titel) downloaden können. Sie erkennen diese Dokumente an diesem Symbol .


1  Um eine durchgängige Nennung beider Geschlechter zu vermeiden, nutzen wir die an der Universität Leipzig geläufige Sternchenform. Um der Lesbarkeit willen richtet sich die grammatikalische Fortführung des Satzes nach der femininen Form, da diese zuletzt vom Auge erfasst wird.

2  Aus datenschutzrechtlichen Gründen werden diese Portfolioauszüge (im Text jeweils kenntlich gemacht durch den Begriff „Portfolio“) und Interviews (im Text jeweils kenntlich gemacht durch den Begriff „Interview“), die mit freundlicher Genehmigung der Teilnehmenden freigegeben sind, großenteils anonym zitiert. Die Interviews wurden mündlich geführt, transkribiert und der besseren Leserbarkeit willen von Füllwörtern, Wortwiederholungen etc. gereinigt.

9. Netzwerke bilden – sich in der Praxis unterstützen

„Ich als Lehrerin habe oft erfahren, dass die Klassenzimmertür zugeht und ich dann alleine bin. Die Kollegialität, eine Verbundenheit mit und eine Offenheit gegenüber Kolleg*innen sind nicht unbedingt gegeben. Ich bin in vielen Schulen gewesen und kann sagen, dass eine gepflegte Kollegialität ein großer Wert ist“, berichtet Karin Krudup (Grundschulpädagogin und MBSR-Ausbilderin). Eine gemeinsame Achtsamkeitspraxis kann eine kostbare Basis für ein unterstützendes Miteinander sein. Wirkliches Zuhören bereitet den Boden, um sich vertrauensvoll kollegiales Feedback geben zu können, Weiterentwicklung zu fördern und sich gegenseitig in Krisen zu stärken. Falls Sie an eine Vermittlung in den Klassen denken, werden Sie gemeinsam die besten Ideen zur Implementierung entwickeln können, eine Übungsgruppe zum Anleiten und Ausprobieren neuer Übungen haben und von den bereits gemachten Erfahrungen profitieren. Zudem werden Sie so auch den starken Gewohnheitsenergien, die insbesondere unsere Arbeitsfelder prägen, etwas entgegenzusetzen haben: Ein wöchentliches Treffen, bei dem Sie gemeinsam praktizieren, bereitet den Boden für den Alltag. Schon ein verständnisvolles Lächeln kann Sie dann wieder daran erinnern, die im Verlauf des Vormittags entstandenen Spannungen zu lösen.

Zum Implementieren von Achtsamkeitsgruppen im Kolleg*innenkreis sollten Sie gemeinsam die Häufigkeit und Länge der Treffen abstimmen. Schauen Sie, welche Länge realistisch ist: natürlich wäre eine Doppelstunde wunderbar, um wirklich in die Praxis einzutauchen, aber wenn dies regelmäßig nicht möglich ist, beschränken Sie das Treffen lieber auf 45 Minuten. Die Machbarkeit hat Vorrang und in vielen Schulen verkürzt sich die regelmäßige gemeinsame Praxis nach einer intensiveren Einführung auf eine „Achtsame Pause“ (s. Abschnitt 9.3).

Es ist gut, den Treffen eine einfache, wiederkehrende Form zu geben, z. B. zu Beginn eine Achtsamkeitsübung (Sitzmeditation, Bodyscan, Gehmeditation, sofern ein Park in der Nähe ist …) und dann einen Achtsamen Austausch (Abschnitt 9.1) oder einen Kontemplativen Dialog. Beenden Sie das Treffen mit einem Atemraum.

9.1 Achtsamer Austausch

Das Format des Achtsamen Austauschs bietet die Möglichkeit, sich inhaltlich miteinander auszutauschen und zugleich das achtsame Zuhören und Sprechen zu üben. Dazu wird hier eine Form gewählt, welche ganz bewusst die gewohnte Struktur der Diskussion – Argument → Gegenargument – auflöst.

Im Vorfeld sollten sich alle Beteiligten bereit erklären, die ausgesprochenen Themen vertraulich zu behandeln. Es wird nichts nach außen getragen, es wird nicht heimlich untereinander über eine Person gesprochen und es werden keine Grenzen überschritten. Wenn Sie das Bedürfnis haben, über ein Thema noch einmal zu sprechen, dann fragen Sie die Person, die es eingebracht hat, ob das auch von ihr so gewünscht ist.

  

Setzen Sie sich im Kreis zusammen. Sie können als Auftaktinspiration einen kurzen Text nutzen, der z. B. ein grundlegendes Praxiselement erläutert. Dann besteht die Möglichkeit, Inhalte aus seinem Erfahrungsspektrum zu „teilen“, das heißt, die sprechende Person achtet bewusst darauf, sich nicht mit angelesenem Wissen zu profilieren, sondern teilt mit, was sie an diesem Thema berührt, welche Erfahrungen sie damit gemacht hat und welche Fragen dazu oder allgemein zu der eigenen Praxis bestehen. Dazu gibt es einen klaren Sprechraum: Durch Handzeichen oder das Aufnehmen eines Sprechsteins (oder eines anderen Objektes) signalisiert jeder seinen Beitrag, und erst, wenn zu Ende gesprochen wurde, gibt die Person dies auch durch ein Zeichen oder durch das Zurücklegen des Sprechsteins zu erkennen. Das gibt den Sprechenden die Möglichkeit, sich ohne Unterbrechungen auszudrücken. Zum achtsamen Sprechen gehört auch das Bewusstsein dafür, wie viel Raum ich mir und meinem Thema gebe. Dazu werden keine festgelegten Zeiten bestimmt, denn sicher gibt es Themen, die sehr viel Raum bedürfen. Aber wenn Sie als Initiator*in des Austauschs das Gefühl haben, es tritt ein extremes Ungleichgewicht auf, können Sie der entsprechenden Person nach dem Treffen eine Rückmeldung geben oder ein Signal für alle festlegen, das einen dazu einlädt, mit dem eigenen Beitrag zum Ende zu kommen.

Wenn Sie möchten, dass sich möglichst viele zu einer Thematik äußern, können Sie auch den Stein im Kreis herumgeben. Hier ist es wichtig, auch die Funktion als Schweigestein einzuführen, d. h., jeder hat durch das Herumgeben die Möglichkeit, etwas beizutragen, wer dies aber nicht möchte, kann ihn auch weitergeben („Prinzip Freiwilligkeit“).

Die Zuhörenden üben achtsames Zuhören, indem sie sich der ganzen innerlichen Kommentare, Wertungen, entstehenden Emotionen bewusst sind und die eigene Aufmerksamkeit immer wieder zu dem Gesagten zurückbringen. Als Zeichen, dass sie die Aufmerksamkeit ganz der sprechenden Person schenken und auch als Dankbarkeit für die geteilten Worte kann ein Kopfnicken zu Beginn und Ende verabredet werden.

Es ist wichtig, dass der Austausch auch immer Raum lässt, über den Text hinausgehende Themen zu teilen, Problematiken des Schulalltags, des Lebens. Wenn jemand dazu explizit eine Frage oder den Wunsch nach Erfahrungsaustausch ausspricht, können Sie Ihre Eindrücke zu dem Thema hinzugeben. Es geht aber nie darum, jemanden mit Rat zu überhäufen oder in Diskussionen über richtige Verhaltens- / Denkweisen zu verfallen. Bereits die eigenen Redeanteile und die Qualität, dabei wertfrei gehört zu werden, bringen Klärung und eröffnen eine neue Perspektive auf die berichteten Situationen. „Fremder“ Rat würde nicht weiterhelfen. Es ist eher das eigene Weiterspinnen von Gedanken, die einen berühren, so wie eine Billardkugel durch eine andere angestoßen wird. Sie können aber auch eine „neue“ ins Rollen bringen.

9.2 Die „Aufmerksamkeit des Tages“

  

Bauen Sie gemeinsame Erinnerungsstützen (Reminder) in den Schulalltag ein, indem Sie eine der „Übungen im Alltag“ als Hauptfokus wählen.

Die Lehrerin eines Hamburger Gymnasiums, die mit einigen Kolleg*innen eine gemeinsame Achtsamkeitspraxis etabliert hatte, berichtete, dass sie sich für jede Woche eine Tätigkeit aussuchten, bei der sie sich bewusst achtsam verhalten wollten. Es gab eine Dose, in der sich zahlreiche Kärtchen befanden, auf denen mögliche Aktivitäten zur achtsamen Ausführung notiert waren (achtsames Treppensteigen, Zuhören, Begrüßen der Klasse etc.), und Anfang der Woche wurde immer von der Ersten / dem Ersten, die bzw. der in die Schule kam, eine neue Karte gezogen und aufgestellt. Sie beschrieb, dass sich der Spaß, den alle an dieser kleinen Überraschung hatten, das „Motto“ der Woche zu lesen und sich dann gemeinsam im achtsamen Treppensteigen / Zuhören / Begrüßen der Klasse … zu üben, bald sogar auf andere Lehrpersonen übertrug. Die Karte im Regal des Lehrerzimmers wurde auch von den unbeteiligten Kolleg*innen neugierig betrachtet und es gab immer wieder Gelächter, wenn die Türen sich mit einem Rums schlossen, obwohl der Fokus eigentlich auf dem achtsamen Türenschließen liegen sollte.

9.3 Achtsame Pausen sind erlaubt

Wie wohltuend wirkliche Pausen im Schulalltag sind, wurde bereits mehrmals erläutert. Sich diese wirklich zu erlauben, ist in einem gemeinsamen, formellen Rahmen sehr viel leichter als alleine. Als Basis dieses Kurzformats eignen sich die Anleitungstexte aus Kapitel 2, die Sie mit der Zeit immer weiter reduzieren können zu einem „stillen Sitzen“ oder einem „fragmentarisch“ angeleiteten Bodyscan. Aber auch ein achtsames (Zwischen-)Mahl bietet sich an. Mit einem Blitzlicht können Sie das kurze Treffen abrunden.

Babette Kaiser, Grundschullehrerin und Fortbildnerin des Teams Fokus Achtsamkeit, berichtet von ihren Erfahrungen mit einer zehnminütigen Achtsamkeitsübung, die sie in der großen Zwanzig-Minuten-Pause nach der vierten Unterrichtsstunde einmal wöchentlich für Kolleg*innen in einem ruhigen Raum anbietet: „Die Gelassenheit nach diesen Übungen mit den verschiedenen Achtsamkeitstechniken ist gegenüber einer normalen Pause im Lehrerzimmer deutlich spürbar. Wir gehen als Lehrkräfte wie ‚frisch aufgetankt‘, freundlich gestimmt und gelassen in die fünfte Unterrichtsstunde“ (Quelle: https://www.fokusachtsamkeit.de/zielgruppen/schule/). Und ihr Kollege Adrian Bröking berichtet aus der weiterführenden Schule, wie „wir Lehrerinnen und Lehrer die ‚Achtsamen Viertelstunden‘, kurze Meditationen in der Mittagspause, als willkommene Momente des Durchatmens und Herunterkommens genießen. Zehn Minuten gemeinsam schweigend sitzen, bei uns bleiben, während auf dem Gang und unten im Schulhof der Bär tobt, das ist eine wohltuende Erfahrung, die ausstrahlt auf viele andere Momente unseres anstrengenden Alltags“ (ebd.).

Schaffen Sie auch für sich solche Ruheinseln im Schulalltag. Es ist eine Wohltat – für Sie und Ihre Kolleg*innen.

9.4 Blumen gießen und neu beginnen

In einer kollegialen Praxisgemeinschaft ist es wichtig, die Zusammengehörigkeit zu stärken und auch adäquate Möglichkeiten zu haben, um Missverständnisse oder Konflikte zu lösen sowie diesen vorzubeugen. Wertschätzung und Anerkennung bilden hier die notwendige Basis. Im Alltag kommt es jedoch viel zu selten vor, dass wir diese unserem Gegenüber ausdrücken. Vieles ist für uns als Selbstverständlichkeit schon gar nicht mehr wahrnehmbar. Ich möchte Ihnen hierzu die „Übung des Neubeginns“ (nach Hanh 2010) vorstellen. Sie gibt einen formellen Rahmen, aus dem Sie auch einzelne Aspekte für den Alltag herausgreifen können: Wir können uns immer wieder positives Feedback geben und uns sofort entschuldigen, wenn wir glauben, jemanden verletzt zu haben.

Diese Übung besteht aus drei Schritten, und es ist gut, wenn eine Person die Anleitung übernimmt, um die einzelnen Abschnitte anzusagen oder mit einem Tonsignal (Klangschale, Glocke, Zimbel …) anzuzeigen.

  

Setzen Sie sich in einen Kreis und stellen Sie eine Vase mit Blumen in die Mitte. Nehmen Sie sich zu Beginn einen Atemraum, um in Kontakt mit sich selbst zu kommen.

Als ersten Schritt wird das Blumengießen praktiziert. Ist jemand bereit zu beginnen, nimmt er als Zeichen die Vase aus der Mitte und stellt sie vor sich hin, und erst, wenn diese zurückgestellt wird, endet sein Sprechraum. Benennen Sie einer Person ihre positiven Qualitäten. Nehmen Sie sich Zeit, wirklich auszudrücken, was Sie an ihr schätzen. Sie können dann zu weiteren wechseln, zu jedem Einzelnen in der Gruppe sprechen oder durch das Zurückstellen der Vase signalisieren, dass Sie für dieses Mal enden.

Dieses Ausdrücken von Wertschätzung stärkt sowohl die heilsamen Eigenschaften der anderen Person als auch der Sprechenden. Gerade wenn Sie in einem Konflikt stehen, werden Sie sich durch die Ausrichtung des Fokus auf die Qualitäten des Gegenübers eine neue Perspektive eröffnen. Wie eine Blume durch das Gießen lebensnotwendiges Wasser erhält, so brauchen wir diese Anerkennung, um unsere Beziehung zu stärken. Es bietet sich deshalb an, in gerade erst „erblühten“ Gemeinschaften die erste Zeit ausschließlich beim Blumengießen zu bleiben. Voraussetzung für die weiteren Schritte sind eine starke Beziehung und fortgeschrittene Praxiserfahrung.

Im zweiten Teil wird das Bedauern über das eigene (!) ungeschickte Verhalten ausgedrückt. Vielleicht haben Sie gemerkt, dass Sie jemanden verletzt haben, oft auch aus einem Missverständnis heraus. Darüber Ihr Bedauern zu äußern und Ihre Absichten zu beschreiben kann sehr heilsam sein, und viele Konflikte werden so geklärt, ohne dass Sie überhaupt ausgetragen werden müssen.

In diesem Schritt können die Blumen als Zeichen der Entschuldigung vor Ihr Gegenüber gestellt werden. Sicher gibt es hier nicht immer etwas zu teilen. Bieten Sie den Raum für eventuelle Anliegen und gehen Sie dann zum nächsten Schritt weiter.

Im dritten Teil geht es darum, eine eigene Verletzung zu benennen, wenn Sie spüren, dass es wichtig für Sie ist, diese auszusprechen. Dieser Prozess ist sehr kraftvoll und deshalb auch mit Vorsicht zu genießen, da es schnell zu Schuldzuweisungen kommen kann oder sich jemand bloßgestellt fühlt. Nutzen Sie diesen Raum in der Gruppe nur, wenn Sie bereits eine tiefe, nichtwertende Praxis aufgebaut haben. Zuvor kann diese Form im Zweiersetting geübt werden.

Verletzungen aussprechen zu können ist ein wichtiger Bestandteil der eigenen Beziehungskompetenz. Oft halten wir uns aus Stolz zurück, wollen nicht zeigen, dass uns etwas gekränkt hat. Und doch belastet die Verletzung unsere Verbindung. Es entstehen „innerliche Knoten“, die oft erst nach Jahren in einem Konflikt aufplatzen. Dann werden daraus lange zurückgehaltene Vorwürfe, die eine Situation emotional eskalieren lassen. Deshalb ist es wichtig, unseren Verletzungen in einer Weise Ausdruck zu verleihen, die nicht fordert oder anklagt, sondern nur unsere Sicht der Situation und die in uns entstandenen Gefühle beschreibt. Schauen Sie sich dabei ganz ehrlich an, aus welcher Intention Sie sprechen. Geht es Ihnen wirklich um die Verbesserung der Beziehungsqualität, um sich mitzuteilen, oder stehen hier die Forderungen des Egos im Vordergrund, um recht zu behalten.

Wenn Sie im Rahmen dieser Übung hören, dass Sie jemanden verletzt haben, nehmen Sie dies erst einmal an. Ganz schnell ist der Impuls da, diese unangenehme Tatsache beseitigen zu wollen und richtigzustellen, wie Sie es gemeint haben. Aber bedenken Sie: Es ist die Wirklichkeit dieser Person, und sie kann sich von dieser Verletzung nur lösen, wenn sie ihr Ausdruck verleiht und ihr Gehör geschenkt wird. Die Art, wie sie fühlt, ist nicht „falsch“, sondern beruht auf der ihr eigenen Perspektive, und diese können Sie durch das Zuhören anerkennen.

Wenn Sie Ihre Perspektive hinzugeben wollen, dann sprechen Sie denjenigen in einigen Tagen darauf an und klären Sie die Situation im privaten Rahmen.

Manchmal kommt es vor, dass zwei Personen in derselben Situation verletzt wurden und vorhaben, dies zu teilen. Es ist eine sehr wertvolle Möglichkeit, wirklich nur die eigene Wahrnehmung zu schildern, frei von Schuldzuweisungen. Manche Teilnehmenden fragen sich, ob sie das Recht hätten, ihre Sicht einzubringen, wenn die andere Person ihnen „zuvorgekommen“ ist. Seien Sie in diesem Fall ehrlich zu sich: Sie wissen selbst am besten, ob Sie einem Impuls der schnellen Erwiderung oder Rechtfertigung nachgeben oder vorhatten, Ihre Perspektive zur Klärung und Heilung einer stattgefundenen Verletzung in die Mitte zu geben.

Manchmal entsteht auch der ganz natürliche Impuls, sich zu entschuldigen. Kommt dieser aus ganzem Herzen, nutzen Sie ruhig den Moment. Wenn allerdings ein Aber und weitere Klärungen damit verbunden sind, nehmen Sie den Impuls erst einmal mit, ohne tatsächlich zu handeln. Dieses vordergründig unangenehme Gefühl nicht direkt auflösen zu können, ist sehr anstrengend. Aber es braucht eine genaue Betrachtung der Situation und kein schnelles Reagieren, um eine Veränderung zu bewirken.

Um diesen dritten Schritt durchführen zu können, sollten auch alle Zuhörenden eine nichtwertende Haltung kultiviert haben. Noch einmal: Was hier geteilt wird, ist die Wahrheit einer bestimmten Person. Vielleicht hätten Sie selbst die Situation ganz anders erlebt, wenn Sie dabei gewesen wären. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, jemandem Erleichterung zu verschaffen und nicht das Verhalten der beiden Seiten zu bewerten, also auch nicht einer Meinung zuzustimmen oder sie zu übernehmen.

Seien Sie sich Ihrer Gedanken und Ihrer Impulse sehr bewusst. Es ist eine sehr intensive Gelegenheit, unsere eigenen Wertungen zu beobachten und uns von ihnen zu lösen. Sind wir dazu noch nicht in der Lage, rate ich von der Durchführung des dritten Schrittes ab, da sonst neue Verletzungen entstehen können.

Geben Sie abschließend noch einen Raum der Stille, in dem alles, was gesagt wurde, sowie die darauf entstandenen Impulse nachklingen können.

Beenden Sie die Übung des Neubeginns, indem Sie Ihren Dank für das Vertrauen und das Zuhören aller Teilnehmenden ausdrücken. Das kann durch den Anleitenden verbal oder durch eine Geste geschehen (z. B. im Kreis wandernder Händedruck). Sie können aber auch eine Abschlussrunde machen, in der jeder die Möglichkeit hat, die für ihn positiven Aspekte des Neubeginns zu nennen (Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Offenheit, Heilung von Verletzung …). Oft werden Aussagen getroffen wie „Ich fühle mich jetzt sehr verunsichert, bin aber froh, zu wissen, wie sehr dich die Situation noch bedrückt“ oder „Es hat sehr gutgetan, meine Enttäuschung aussprechen zu können“.

Das Wissen, dass die Übung einen hilfreichen Prozess angeschoben hat, motiviert dazu, auch eigene schwierige Emotionen zu akzeptieren und offene Themen mitzunehmen, um sie dann mit dem Einverständnis der Betroffenen in Ruhe zu klären.

Sie werden feststellen, wie stark die Übung unseren alltäglichen Umgang beeinflusst. Wir warten dann nicht mehr auf den nächsten „Neubeginn“, sondern drücken sowohl unsere Anerkennung als auch die zwischenmenschlichen Reibungen direkt aus, bevor es zu tiefer gehenden Konflikten kommt. Wir haben eine neue Gewohnheit im Umgang miteinander geschaffen, die uns trägt und die an Schülerinnen und Schüler weitervermittelt werden kann.

„Wenn es mir gut geht, dann kann ich auch etwas geben und dann kann ich auch für Schüler, für das Kollegium, für die Schule da sein. Und insofern ist natürlich das Achtsam-zu-sich-selbst-Sein der erste Schritt“ (Zitat einer Lehrerin in Gouda 2017, S. 295).

Und nun sind Sie so weit, auch den zweiten Schritt zu gehen …

17. Empathie und Mitgefühl

„Liebe kann man lernen. Und niemand lernt besser als Kinder.
Wenn Kinder ohne Liebe aufwachsen, darf man sich nicht wundern, wenn sie selber lieblos werden.“

Astrid Lindgren

 

„Das kollektive Miteinander der Schüler und Schülerinnen ist kaum noch da“, so beschreibt eine Leipziger Gymnasiallehrerin den Wandel der Atmosphäre in der Schule. Stattdessen zeige sich ein anderes Bild:

„Konkurrenz ausschalten, indem man Sachen erzählt, die nicht der Wahrheit entsprechen, oder indem man beispielsweise versucht, jemandem, der krank ist, nicht zu sagen, dass in der nächsten Stunde ein Test geschrieben wird, oder ihm die Mitschriften verweigern – also ganz triviale Geschichten. Die Sorte ‚beste Freundin‘ / ‚bester Freund‘, die stirbt aus. Schon in der Schule herrscht Konkurrenzdenken. Man hat kaum noch das Prinzip Geben und Nehmen.“

(Interview)

In diesen Ausprägungen spiegelt sich Konkurrenzdenken der Gesellschaft. Steigen Leistungsdruck und Selektion, rückt die Wahrnehmung der Defizite in den Fokus. Und dies nicht nur in der Bewertung unserer Mitmenschen, sondern auch in der Haltung zu uns selbst. Sich selbst Liebe und Verständnis zukommen zu lassen und von dieser Basis aus mit Mitgefühl auf unsere Umwelt zu blicken, ist ein revolutionärer Schritt, den Sie gemeinsam mit den Kindern vollbringen können.

Um die Ausgrenzung eines Kindes zu verhindern, führte die im Folgenden zitierte Lehramtsstudentin und Yogalehrerin in einem Ferien-Yoga-Camp die Mitgefühlsmeditation ein und war von den Auswirkungen selbst überrascht:

„Wir hatten in diesem Jahr ein Kind in unserem Camp, das mit Grenzen nur schwer umzugehen wusste. Während wir an ihm unsere Geduldsübungen, aber auch unsere Freude über dieses grenzenlos überraschende Temperament hatten, wurde er von den Kindern schnell zum Sündenbock gemacht: ‚Der macht alles kaputt!‘ oder ‚Er ist alles schuld!‘. Gerade um dieser Stigmatisierung entgegenzuwirken, habe ich die Mitgefühlsübung in einer kleineren, abgewandelten Version in die morgendliche Yogastunde mit meiner Gruppe (wozu dieses Kind nicht gehörte) eingebaut. Die Kinder wurden dazu eingeladen, dabei auch die Qualitäten und Stärken eines jeden – als Erstes von sich selbst, dann von einem Freund und dann auch von jemandem, der einen manchmal im Camp nervt oder ärgert – zu bedenken und sich dafür zu bedanken. Zu Beginn saßen viele Kinder mit rollenden Augen dabei und schnitten Grimassen. Am letzten Morgen aber sangen sie in der Abschlussrunde freudig mit und gaben sich danach einen Applaus. Ich hörte sie sich danach darüber unterhalten, welche Qualitäten sie an sich selbst und anderen entdeckt hatten. Die selbe Entwicklung fand auch in Bezug auf das ‚schwierige‘ Kind statt: Während sich viele Kinder am Anfang mit einem ‚Nee, bei dem bedanke ich mich nicht, der ist immer doof‘ aus der Runde zogen, kamen wir schnell zu einem ‚Er hat immer viele gute Ideen für Spiele und kann total gut schnitzen‘ an. Die Vermittlung, dass jeder mit seinen Macken seinen Platz hat und auch für die Gruppe seine Qualitäten mitbringt, war für mich eine spannende Aufgabe und schließlich ein Erfolgserlebnis. Es rief mir selbst wieder ins Gedächtnis, wie schnell man in seinem Umfeld und im Alltag stigmatisiert und mit Vorurteilen agiert und wie wichtig es ist, an diese Situationen achtsam heranzugehen.“

(Portfolio)

Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr die Wahrnehmung und Entwicklung der eigenen Stärken nicht zu Selbstüberschätzung, sondern zur Wertschätzung der Stärken unseres Gegenübers führen.

Neben einem Einstieg und der Anleitung der Mitgefühlsmeditation möchte ich Ihnen in diesem Kapitel noch einige Übungen zum „Stärkenstärken“ im Klassenkontext vorstellen. Als Transfer in den Alltag können Sie Schüler*innen zu den Ihnen bereits bekannten Übungen „Liebesbrief“, „Bitte lächeln“ und „Stärkung des (Selbst-)Mitgefühls“ einladen.

17.1 Mut zur eigenen Liebesfähigkeit

Gute Wünsche (1. – 3. Klasse)

In dieser Variante, zu der mich Daniel Rechtschaffen (2016) inspirierte, wird das haptische Element des Sichumarmens und Die-ganze-Welt-Umarmens ergänzt. Diese archaischen Gesten haben eine große Kraft und unterstützen durch den Einbezug des Körpers, was gesagt wird. Werden Sie in Ihren Formulierungen jedoch nicht „heilig“, und falls Sie das Gefühl haben, es passt nicht zu Ihnen, lassen Sie die Umarmungen einfach weg!

  

„Setzt euch wach, aber entspannt hin, mit geschlossenen oder abgesenkten Augen, und spürt euren Körper. Dann nehmt euch einmal ganz fest in die eigenen Arme. Es ist ein großes Wunder, dass wir so, wie wir sind, hier sitzen können. (…) Schenkt euch jetzt selbst einige gute Wünsche: Möge ich gesund sein. Möge ich in Frieden leben. Lasst es euch dabei richtig gut gehen, ihr seid perfekt, so, wie ihr seid. Möge ich glücklich sein. Und vielleicht entstehen in euch noch weitere Wünsche (…). Sprecht sie nun innerlich für euch aus.

Dann überlegt, welche Wünsche ihr den anderen Kindern in der Klasse schicken wollt: Mögest du viele Freunde haben, mögest du dich sicher und geborgen fühlen. Und vielleicht gibt es jemanden, dem du nicht oft etwas Gutes wünschst, überlege dir jetzt einen Wunsch, den du ihr oder ihm schicken kannst. (…)

Denke jetzt über den Klassenraum hinaus, an deine Eltern, Geschwister, Großeltern, alle Menschen auf dieser Welt. Öffne ganz weit die Arme, so groß ist die Welt mit all ihren Menschen und Tieren. Und wünsche allen Lebewesen, möget ihr glücklich sein. Möget ihr sicher und gesund sein und in Frieden leben. Und vielleicht willst du noch andere Wünsche in die Welt senden (…).“

Lassen Sie die Kinder unmittelbar danach aufschreiben, welche Wünsche in ihnen entstanden sind: „Nehmt euch diese Wünsche mit, ihr könnt sie immer wieder für euch und andere sprechen und so euer Herz ganz groß und stark machen.“

Die Mitgefühlsmeditation (4. – 12. Klasse)

Diese Anleitung ist recht eng an der Mitgefühlsmeditation, wie Sie sie kennengelernt haben, ausgerichtet. Versuchen Sie, bei der Formulierung der Wünsche nah an den Bedürfnissen und Formulierungen Ihrer Schüler*innen zu sein. Es ist gut, wenn Sie als Vorbereitung bereits in der Einheit zuvor dem Thema Mitgefühl einen Boden bereitet haben. Es kann hilfreich sein zu betonen, dass es wirklich Mut und Stärke braucht, zur eigenen Liebesfähigkeit zu stehen. Jemanden abzulehnen und auszugrenzen ist so viel einfacher.

  

„Ich lade euch heute zu einem besonderen Experiment ein: Wir wollen erforschen, ob wir auch mit unseren Emotionen selbstbestimmt umgehen und ganz bewusst ein positives Gefühl in uns stärken können.

Nehmt dazu eure wache, aber entspannte Sitzposition ein, damit ihr euren Forschergeist aktivieren könnt, und nehmt euch einen Atemraum. (…) Dann denkt an eine Situation, in der euch jemand unterstützt hat, euch etwas Nettes gesagt hat oder euch beschenkt hat. Lasst diese Situation vor eurem inneren Auge ablaufen und lächelt diesem Menschen innerlich zu. Was könntet ihr ihm Gutes wünschen? Ich wünsche dir, dass du glücklich bist, dass dir auch immer jemand helfen wird … Schau, welche Wünsche in dir entstehen. (…)

Lenke nun deine Aufmerksamkeit auf die Herzregion und spüre, wie du dich gerade fühlst. (…) Vielleicht sind da Wohlwollen und Wärme, vielleicht hast du auch andere Empfindungen, alles ist o. k.

Wende dich nun auch dir selbst zu. Du bist perfekt, so, wie du bist. Schenke dir selbst auch gute Wünsche: Möge ich Anerkennung bekommen, möge ich mich selbst so annehmen, wie ich bin, möge ich glücklich sein. Möge ich sicher sein und in Frieden leben. Und vielleicht hast du noch Wünsche, die du dir selbst zusprechen willst? (…)“

Auch hier ist es möglich, eine Person einzubeziehen, die einem Schwierigkeiten bereitet. Diese Praxis der „Vergebung“ kann das Klassenklima entscheidend verändern. Für diesen Schritt ist es gut, wenn bereits der Umgang mit schwierigen Emotionen eingeführt ist.

„Wende dich nun innerlich jemandem zu, der für dich schwierig ist, den du nicht magst, und schau einmal, ob du auch dieser Peron einen Wunsch zukommen lassen kannst, z. B.: ‚Ich wünsche dir, dass du lernst, gut für dich zu sorgen und die Gründe zu erkennen, warum du manchmal wütend wirst. Ich wünsche dir, dass du glücklich bist.‘ Schau einmal, welchen Wunsch du diesem Menschen schicken kannst …“

Wenn Sie feststellen, dass dabei starke Widerstände aufkommen, begleiten Sie diese:

„Wenn du merkst, dass du selbst dabei traurig oder wütend wirst, dann wende dich diesen Gefühlen zu: Wo spürst du sie im Körper? Und beruhige sie mit deinem Atemanker: Möge ich ruhig und gelassen sein.“

Erweitern Sie dann den Bezugsradius, bis Sie auch hier alle Lebewesen in Ihre guten Wünsche mit aufnehmen.

„Dann stelle dir die Gesichter deiner Mitschüler*innen vor und wünsche ihnen Freude – und vielleicht willst du sie unterstützen in dieser Übung, sich selbst anzunehmen: Ich wünsche euch, dass ihr euch mit Verständnis und Mitgefühl begegnet. Ich wünsche euch Glück.

Weitet dann immer mehr den Fokus aus, auf alle Menschen hier in diesem Gebäude: Möget ihr immer jemanden haben, der euch hilft.

Und weiter über den Stadtteil hinaus, lass deinen inneren Blick über die Natur und die umgebenden Dörfer schweifen und immer weiter. (…) Vielleicht kannst du schließlich alles Leben auf unserer Erde mit einbeziehen: ‚Möget ihr sicher und ohne Verletzungen leben, ich wünsche euch Frieden und Freiheit‘.“

Zum Abschluss lenken Sie die Aufmerksamkeit zum eigenen Empfinden zurück:

„Kommt zum Abschluss zu eurem Körperempfinden zurück. Nehmt wahr, wie ihr euch fühlt. (…) Hat sich etwas geändert seit dem Beginn der Übung? Bleibt noch einige Atemzüge bei dieser Empfindung und kommt dann mit der Aufmerksamkeit nach außen.“

Schließen Sie dann eine direkte Reflexion über die eigenen Erfahrungen an, insbesondere über die Körperempfindungen während der Meditation. Oft stellen die Schüler*innen fest, dass es viel leichter war, anderen etwas Gutes zu schenken als sich selbst. Ein wunderbares Lernziel: Selbstmitgefühl fördern!

17.2 Lass es Komplimente regnen!

Den Charakterstärken auf der Spur

Als Einführung zum „Komplimenteregen“, einer Übung aus der Positiven Psychologie (auch „Warme Dusche“ genannt), sollten Sie ein Brainstorming darüber machen, was Charakterstärken sind und welche positiven Verhaltensweisen sie mit sich bringen. So kann z. B. Kreativität zu spannenden Spielideen führen oder Ruhe und Gelassenheit einen guten Zuhörer auszeichnen. Verteilen Sie ggf. als Grundlage einer intensiveren Auseinandersetzung eine Liste der Charakterstärken nach dem Begründer der Positiven Psychologie Martin Seligman (2011) in der Klasse oder legen sie diese (bzw. bei jüngeren Schüler*innen eine Auswahl) auf dem Boden aus. Seligman ordnet den folgenden sechs Grundtugenden jeweils bestimmte Charakterstärken zu:

  1. Weisheit und Wissen: Neugier, Liebe zum Lernen, Urteilsvermögen, Einfallsreichtum (Kreativität), soziale Intelligenz, Perspektive
  2. Mut: Tapferkeit, Ausdauer, Integrität
  3. Menschlichkeit: Freundlichkeit, Liebe (Bindungsfähigkeit)
  4. Gerechtigkeit: Gemeinschaftssinn, Fairness, Führungsvermögen
  5. Mäßigung: Selbstkontrolle (Selbstregulation), Besonnenheit, Demut
  6. Transzendenz: Wertschätzung von Schönheit, Dankbarkeit, Hoffnung, Spiritualität, Vergebung, Humor, Begeisterung

 Komplimenteregen (1. – 12. Klasse)

Lassen Sie die Kinder überlegen, welche Stärken sie selbst haben, und diese dann aufschreiben oder malen. Bei Älteren ist es auch möglich, die Übung „Liebesbrief an sich selbst“ (S. 139) zu nutzen.

Als Übergang zur Übung fragen Sie: „Wie geht es euch, wenn ihr eure Stärken von anderen benannt bekommt?“ Sie werden sicher auf positive Rückmeldung stoßen. Schließen Sie dann an:

„Und deshalb wollen wir jetzt beginnen, jedem Einzelnen unserer Gruppe seine Stärken zu benennen. Das heißt nicht, dass dieser Mensch nicht auch Schwächen hat – die gehören immer dazu –, aber selbst wenn ihr die Person deshalb manchmal schwierig findet, versucht in diesem Moment, das zu sehen und zu benennen, was wirkliche Stärken sind. Wir werden heute mit zwei bis drei Personen beginnen und gehen dann die ganze Klasse durch. Das ist eine große Aufgabe, da ihr Verantwortung füreinander übernehmt, aber ich bin sicher, dass ihr sie gut hinbekommt. Es gibt eine ganz klare Regel: Es darf nur Positives gesagt werden!“

Versuchen Sie auf Ihre Weise, den Schülern und Schülerinnen die Größe der Verantwortung klarzumachen, um Verletzungen und Kränkungen zu vermeiden.