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Konrad Paul Liessmann

Sören Kierkegaard zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 1993 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
E-Book-Ausgabe Januar 2019
ISBN 978-3-96060-073-2
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-625-5
6., ergänzte Auflage Juli 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Kierkegaards Aktualität

1.Der Denker und sein Leben – eine Warnung

2.Jener Einzelne

3.Die Kunst der Verführung und die Sittlichkeit der Ehe

4.Die Suspension der Moral

5.Schuldig? – Nicht schuldig? – eine Wiederholung

6.Der Schwindel der Freiheit

7.Das Paradox des Glaubens, der Gang der Geschichte und die Nöte der Existenz

8.Verzweiflung als Bestimmung des Menschen

Nachklang: Denken am Abgrund

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Einleitung: Kierkegaards Aktualität

Dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, einem Denker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht nur ungebrochene, sondern gerade im ausgehenden 20. Jahrhundert eine besondere Aktualität zu konzedieren scheint auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich. Zu sehr ist Kierkegaard schon Bestandteil klassischer Philosophiegeschichten, zu sehr ist sein Platz als Vorläufer des Existentialismus und als radikaler Kritiker eines amtskirchlich degenerierten Christentums durch Rezeption und Forschung festgelegt, als daß man seinem Werk noch unmittelbare Wirksamkeit zutrauen könnte. Wollte man Kierkegaard aber ernst nehmen, ginge es genau darum: um eine Mitteilung, die sich einfach an den Leser wendet, nicht gebrochen durch Rezeptionsgeschichte, Forschung und Interpretation. Wie kaum ein Philosoph vor oder nach ihm hat Kierkegaard versucht, sich an den Einzelnen zu wenden, in einer Direktheit, die nur die Indirektheit der eigenen Methode gelten lassen konnte und auf die Vermittlungen von Forschung, Wissenschaft oder Deutung wohl gerne verzichtet hätte. Natürlich ist dieser Wille Kierkegaards nicht mehr vollziehbar. Die Geschichte, die auch noch die singulärsten Anstrengungen zu Momenten in komplexen Entwicklungen reduziert, hat auch mit Kierkegaard keine Ausnahme gemacht. Auch er spricht nicht mehr unmittelbar zu uns. Aber seine Ranküne gegen jede Form der Vermittlung sollte bei jedem Versuch einer Lektüre seiner Werke mitreflektiert werden, die Form ihrer Aneignung mitbestimmen. Um sich den Schemata zu entziehen, in die die Sekundärliteraturen Kierkegaard gepreßt haben, muß der Däne erst gar nicht gegen den Strich gelesen werden – es genügt, ihn wieder einmal zu lesen, ihn in all seiner Zwiespältigkeit wirken zu lassen.

Darüber hinaus aber haben die Zeitläufte selbst einiges dazu beigetragen, daß man mit Kierkegaard nicht die geistigen Konstellationen einer vergangenen Epoche, sondern die aufbrechenden Konflikte unserer Gegenwart wenn nicht lösen, so doch in vielem erst adäquat thematisieren kann. Kierkegaard, man darf es nicht vergessen, ist Zeitgenosse von Karl Marx und mit diesem und als sein Antipode Erbe und Kritiker der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Im Jahre 1843, als Marx in seiner genialischen Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie die Kritik der Religion für beendet erklärt und die Transformation der theoretischen Kritik in jene revolutionäre Praxis fordert, durch die sich die Philosophie verwirklichen sollte, in jenem Jahre erscheint Kierkegaards nicht minder genialische Erstlingsschrift Entweder/Oder. Ging es bei Marx um die Kritik der reinen Kritik und ihre Umwandlung in eine kollektive revolutionäre Praxis, so bei Kierkegaard um die Kritik einer theoretisch-ästhetischen Lebensform durch die Ansprüche einer durch die Ethik bestimmten Praxis, wodurch aber für Kierkegaard die Frage nach dem religiösen Glauben als entscheidende Kategorie noch gar nicht berührt war. Aber anders als bei Marx, der im Proletariat jenen naiven Volksboden sehen wollte, der, schlägt nur der Blitz des Gedankens in ihn ein, sich erheben und die Menschheit schlechthin revolutionieren und erlösen sollte, bleibt bei Kierkegaard die Frage einer Entscheidung untrennbar an das Individuum gebunden. Während Marx aus seiner Kritik Hegels das Proletariat als materielles Substrat gewann, das die Philosophie in sich aufnehmen sollte und auf dem nun die Last der Weltgeschichte ruhte, die es als einzig revolutionäre Klasse nach den Gesetzen der Geschichte zu tragen gehabt hätte, gewann Kierkegaard aus seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegel die Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Individualität und Kontingenz – wie immer Geschichte ansonsten auch gedacht werden mochte. Gegen Hegel und gegen Marx dachte Kierkegaard nicht das System und nicht das Ganze, sondern den Einzelnen in seiner Existenz. Mit dem welthistorischen Scheitern der Marxschen Hegel-Kritik durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus, mit der Abdankung des Weltproletariats als revolutionärer Klasse, mit dem pointierten Ende der Geschichte im Marx-Hegelschen Sinne bleibt nicht nur die bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung die bis auf weiteres einzige sinnvolle und praktikable Perspektive, sondern muß auch die Frage nach dem Individuum als dem Träger dieser Perspektive neu gestellt werden. Kierkegaard, der sich wie kaum ein anderer die Analyse der Existenzmöglichkeiten des Einzelnen zum Gegenstand gemacht hat, kommt unter diesen Bedingungen tatsächlich eine ungeahnte Aktualität zu. Wenn das Leben des Einzelnen als Einzelner eines der Fundamente einer modernen Zivilisation ist, dann müßte Kierkegaards Analyse desselben – mit welchen Zielsetzungen er selbst diese Analyse auch immer verbunden haben mag – auf erregendes und erregtes Interesse stoßen.

Daß Kierkegaards Intention, wie er sie selbst sehen wollte, in der Klärung der Frage lag, was wahres Christsein bedeutet, ändert nichts an diesem Befund – denn die Möglichkeit von Christsein war für ihn untrennbar an die Kategorie des Einzelnen gebunden und dessen Analyse für ihn überhaupt erst aus der ersten Frage notwendig geworden. Das Verfahren, das Kierkegaard allerdings bei der Beantwortung dieser Frage seinem Leser gegenüber anwandte, läßt noch eine andere Facette seiner Aktualität aufleuchten. Kierkegaard wäre nämlich gerne ein Mäeutiker gewesen, der seinen Leser in das wahre Christentum hineinbetrügt und hineintäuscht. Immer wieder, nicht nur in seiner Dissertation, ist deshalb eine »ständige Rücksicht auf Sokrates« zu spüren, auf jenen »heidnischen« Philosophen also, der für Kierkegaard wohl die äußerste Grenze markierte, an die menschliche Vernunft für sich gelangen kann. Indem Kierkegaard diese Vernunft bis zu jenem Abgrund hin analysiert, über den für ihn nur der Sprung in den Glauben retten kann, analysiert er, radikal wie wenige, die Grundbefindlichkeiten und Grundprobleme des modernen Subjekts. Die ironische Distanz, die Kierkegaard, nicht zuletzt durch das raffinierte Spiel mit den Pseudonymen, unter denen er seine wichtigsten Schriften publizierte, zwischen sich und den Leser legt, unterstreicht nicht nur seine Modernität, sondern erlaubt es, seinen Reflexionen auch dann mit Genuß zu folgen, wenn man weder deren Prämissen noch deren Konsequenzen teilen will. Gerade weil dieses ironische Moment oft unterschlagen oder nur unter dem Gesichtspunkt einer mäeutischen Ethik gesehen wurde, wurden auch jene Dimensionen an Kierkegaard übersehen, die so gar nicht ins tradierte Bild des christlichen Denkers passen wollten: Ästhetik und Erotik. Auch diese Einführung kann nur andeuten, daß Kierkegaard nicht nur als Ästhetiker ernster zu nehmen ist, als man bislang gewohnt war, sondern als einer der großen Erotiker des modernen philosophischen Denkens überhaupt erst zu entdecken wäre.

Nicht nur der Erotiker Kierkegaard muß angedeutet bleiben, auch der Verfasser Erbaulicher Reden, auch der publizistische Kämpfer gegen die dänische Kirche, letzten Endes auch der christliche Schriftsteller. Wenngleich es unstatthaft ist, Kierkegaards Werk nach äußeren und schematischen Gesichtspunkten zu trennen, mußten für eine Einführung angesichts eines derartig umfangreichen Œuvres Akzente gesetzt und Schwerpunkte gefunden werden. Da eine umfassende Darstellung des gesamten Kierkegaard den Umfang und die Intention des Bandes bei weitem gesprengt hätte oder in einer oberflächlichen Zusammenschau hätte versanden müssen, fiel der Entschluß nicht schwer, sich auf jene Schriften und Perioden der Kierkegaardschen Schriftstellerei zu konzentrieren, die nicht nur den Zugang zu diesem Denker leicht eröffnen, sondern auch jene Problemkonstellationen entfalten, auf denen einerseits die christliche Schriftstellerei Kierkegaards selbst aufbauen konnte, andererseits sich aber auch die philosophische Rezeption Kierkegaards entzündete. Es sind also die pseudonymen Schriften von Entweder/Oder bis zur Krankheit zum Tode, die im Zentrum dieser Einführung stehen.

Diese Einführung hat weder den Anspruch, einen Überblick über die Formen, in denen Kierkegaard rezipiert wurde, oder über die verschiedenen Deutungsmodelle, die die Kierkegaard-Forschung im Laufe der Zeit produziert hat, zu geben, noch will sie diesen eine weitere Interpretation hinzufügen – wenngleich nicht verschwiegen werden soll, daß wir mit einem Zugang sympathisieren, der es erlaubt, Kierkegaards religiöse Kategorien als Chiffren für die Grundbefindlichkeiten des modernen Menschen zu lesen. Es soll in dieser Einführung aber auch nicht versucht werden, Kierkegaard zu systematisieren. Das widerspräche der innersten Intention seines Denkens genauso wie den Formen, die er diesem Denken gegeben hat. Aufregend an Kierkegaard ist die Bewegung des Denkens selbst, nicht dessen nachträgliche Subsumtionen unter philosophiehistorisch verbürgten Begriffen oder vermeintlichen Resultaten. Deshalb wurde versucht, eng an den Texten zu bleiben und diese nicht in allgemeinere Fragestellungen zu integrieren oder von diesen her zu beleuchten. Erst diese Nähe zu den Texten, so die These, erlaubt es, die Spannungen jenes Denkens in Paradoxien zu spüren, die charakteristisch für Kierkegaard sind. Jedes abstrahierende Referat müßte etwas von dieser Spannung nehmen. So gesehen möchte sich das vorliegende Buch weniger als Einführung in Kierkegaard verstehen, sondern will vielmehr zu Kierkegaard hinführen. Sein Ziel hat es erreicht, wenn es dem Leser Lust auf Kierkegaard gemacht hat.

1. Der Denker und sein Leben – eine Warnung

Es gibt wohl kaum einen Philosophen, bei dem das Denken so eng mit dem Leben verknüpft ist wie bei Sören Kierkegaard. Nicht nur Motive und Problemkonstellationen seines Denkens erklären sich aus den Wechselfällen seines Lebens, die Tatsache, daß er überhaupt zum Schriftsteller wurde, verdankt sich der Beziehung zu seinem Vater ebenso wie seiner unglückseligen Verlobungsgeschichte. Wenige haben wie Kierkegaard ihre persönlichen Probleme und inneren Notlagen zum Gegenstand eines öffentlich geführten Diskurses gemacht, wenige haben wie er das Öffentliche privatisiert und das Private veröffentlicht. Daß er Liebesbriefe und intimste Tagebuchaufzeichnungen unverblümt in seine ästhetisch-philosophischen Schriften einarbeitete, daß manches seiner Bücher als Botschaft für eine einzige Person gedacht war, daß die seltsame Geschichte seiner Verlobung von ihm immer wieder thematisiert und philosophisch reflektiert wird, läßt auf eine außergewöhnliche Einheit von Leben und Werk schließen. Kein Wunder, daß die Versuchung nahelag, Kierkegaards Denken und Schreiben als Ausdruck seines Lebens zu werten und damit – zu entwerten. Gerade bei Kierkegaard ist davor zu warnen, die Bewegungen und Ergebnisse seines Denkens durch die Aufklärung der biographischen Hintergründe zu relativieren. Auch wenn vieles erst durch die Lebensgeschichte verständlich wird und aufgehellt werden kann, geht die Triftigkeit und Bündigkeit seines Denkens über die Kontingenz eines Lebenslaufes weit hinaus. Der nun folgende kurze biographische Abriß fühlt sich deshalb in keiner Weise dem Anspruch verpflichtet, damit etwas vom Werk des Philosophen zu erklären, sondern möchte nur soviel vom Leben Kierkegaards mitteilen, wie zum Verständnis des folgenden unerläßlich zu sein scheint.

Geboren wurde Sören Aabye Kierkegaard am 5. Mai 1813 in Kopenhagen. Sein Vater Michael Pedersen Kierkegaard stammte von einem ärmlichen Hof in Westjütland und hatte in Kopenhagen eine erfolgreiche Laufbahn als Kaufmann hinter sich gebracht, die es ihm schon in seinem vierzigsten Lebensjahr erlaubte, sich aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen und bis zu seinem späten Tode im Jahr 1838 als Rentier zu leben. Kierkegaards Mutter war Michael Pedersens zweite Frau und seine ehemalige Dienstmagd, die er ein Jahr nach dem Tode seiner ersten Frau geheiratet hatte. Schon vier Monate nach der Hochzeit wurde sie von einer Tochter entbunden, der noch sechs Geschwister folgen sollten. Sören war das jüngste Kind, fünf Geschwister starben im Kindesalter. Während Kierkegaard seine Mutter kaum je erwähnt, übten Charakter, Erziehungsstil und das Leben seines Vaters einen entscheidenden Einfluß auf ihn aus, wahrscheinlich war die auch für sein Denken entscheidende Grundkonstellation das Verhältnis zu seinem Vater. Michael Pedersen galt als schwermütiger Pietist, der seinen Kindern eine überaus strenge christliche Erziehung angedeihen ließ. Im Rückblick auf seine »vita ante acta«, sein Leben, bevor er Schriftsteller wurde, schrieb Kierkegaard: »Als Kind ward ich strenge und mit Ernst im Christentum erzogen, menschlich gesprochen, auf wahnsinnige Weise erzogen: bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich verhoben an den Eindrücken, unter denen der schwermütige alte Mann [i. e. der Vater], der sie auf mich gelegt hatte, selber zusammensank – ein Kind, auf wahnsinnige Weise dazu verkleidet ein schwermütiger alter Mann zu sein. Fürchterlich ! Was Wunder denn, daß Zeiten kamen, da mir das Christentum vorkam als die unmenschlichste Grausamkeit […].«1

Die restriktive Erziehung des Vaters forcierte allerdings die Imaginationskraft des Knaben. In dem philosophischen Romanfragment De omnibus dubitandum est schildert Kierkegaard die geistige Entwicklung eines sensiblen jungen Mannes, Johannes Climacus, in einer Weise, daß an ihrem autobiographischen Gehalt nicht gezweifelt werden kann. Darin heißt es: »Sein Zuhause bot nicht viele Zerstreuungen, und da er so gut wie niemals herauskam, wurde er es früh gewohnt, sich mit sich selber zu beschäftigen und mit seinen eignen Gedanken […]. Wenn Johannes zuweilen um Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren […]. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hingehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem naheliegenden Lustschlößchen, oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, alles gemäß dem wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre.«2 Kierkegaards Phantasie hat vielleicht in diesen »Spaziergängen« in der Diele ebenso ihre Wurzeln wie die Konzentration auf sein Inneres, auf die Bewegungen seines Gemüts und, vor allem, seines Bewußtseins. Später hat er dies durchaus auch als Defizit beschrieben: »Gelebt habe ich eigentlich nicht, ausgenommen im Bereich der Bestimmung Geist; Mensch war ich nicht gewesen, Kind und Jüngling denn am allerwenigsten.«3 Seine Imaginationskraft wird zu einem Reflexionsvermögen gesteigert, zu einer oft wohl selbstquälenden Nötigung des Denkens, die jeden ungebrochenen Lebensvollzug unmöglich erscheinen läßt: »Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt, schlecht und recht menschlich verstanden, nicht gelebt; ich habe alsogleich mit Reflexion begonnen, habe nicht erst in späteren Jahren ein bißchen Reflexion gesammelt, sondern ich bin eigentlich Reflexion von Anfang bis Ende.«4

Reflexion von Anfang bis Ende – der hohe Preis, den Kierkegaard dafür zu zahlen hatte, war eine Mischung aus Einsamkeit und Melancholie, war eine Schwermut »bis zur Grenze des Irrsinns«5, die er in Anlehnung an ein Bibelwort als seinen »Pfahl im Fleische«6 bezeichnete, der ihn ein Leben lang schmerzte. Dennoch faßte er diesen Pfahl im Fleische als Bedingung und Ausdruck seines Schaffens auf, wie eine späte Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1849 zeigt: »Zuweilen erbaut es mich zu bedenken, daß eben der Dorn oder Pfahl, den ich im Fleische habe, und dessen Pein ich geduldig zu ertragen mich mühe, mir helfen soll, daß ich der Welt ein Dorn im Auge werde.«7 Sein nahezu manischer Reflexionszwang, seine Unfähigkeit zu leben, drängen Kierkegaard fast mit unerbittlicher Folgerichtigkeit in die Position eines Beobachters, der alles sieht, aufnimmt, notiert und reflektiert, ohne selbst am Geschehen teilnehmen zu können: »Mein Martyrium ist das Reflexions-Martyrium, oder das Martyrium, wie es sich in der Welt zeigen kann, nachdem die Reflexion an Stelle der unmittelbaren Leidenschaft getreten ist.«8 Er nimmt dieses Martyrium auf sich, denn er weiß, daß die Zeit die Leidenschaft nötig hat »wie der Skorbutkranke das Gemüse«, er weiß, daß »Verstand und Reflexion« das Unglück der Zeit sind – aber deshalb muß ein Mensch her, »der alle Reflexionen bis ans Ende durchreflektieren könnte«, ein Verstandesmensch, der unter der »Maske des Spottes und des Witzes« eine »Begeisterung von erster Güte« tragen sollte.9

Wo sich Kierkegaard also ins Leben stürzt, tut er dies zum Schein. Die Täuschung – andere zu täuschen und sich in sie hineinzutäuschen – gehört in mannigfacher Hinsicht ganz wesentlich zum Leben und zum Denken des dänischen Philosophen. Kierkegaard ist sich dessen sehr wohl bewußt: »So lange ich zurückdenken kann, bin ich über eines mit mir selbst einig gewesen, daß für mich keinerlei Trost oder Hilfe bei andern zu suchen war […]. So trieb ich mich um im Leben – eingeweiht in allen möglichen Lebensgenuß, eigentlich aber niemals genießend, eher, und das war gemäß dem Schmerz der Schwermut meine Lust, daran arbeitend den Schein zu erzeugen, daß ich genieße – im Umgang mit allen möglichen Menschen, aber daß ich an einem von ihnen meinen Vertrauten hätte, ist mir nie beigekommen, und gewiß auch keinem beigekommen, daß er mein Vertrauter sei, d.h.: ich mußte werden und ward Beobachter, ward als solcher und als Geist durch das Leben außerordentlich reich gemacht an Erfahrungen, bekam jenen Inbegriff von Lüsten, Leidenschaften, Stimmungen, Gefühlen usw. ganz nahebei zu sehen, Übung darin, in einen Menschen hinein und wieder hinaus zu gehen, dazu denn ihn nachzumachen.«10

Kierkegaard hat es im Rückblick verstanden, mit wenigen Worten jene Faktoren zu benennen, die ausschlaggebend für seine Entwicklung gewesen sind: »Einen Pfahl im Fleisch hatte ich, geistige Begabung (besonders Einbildungskraft und Dialektik) und Bildung im Überfluß, eine gewaltige Entwicklung als Beobachter, eine in Wahrheit seltene christliche Erziehung, ein ganz eigenes dialektisches Verhältnis zum Christentum.«11

Nach der Reifeprüfung beginnt der junge Sören 1830 in Kopenhagen Theologie zu studieren, jedoch scheinen ihn die Philosophie des deutschen Idealismus und die Ästhetik der Romantik weit mehr beschäftigt zu haben. Kierkegaard schließt sein Studium nicht wie vorgesehen ab, sondern gerät 1834/35 in eine tiefe Krise: »Was mir eigentlich fehlt, ist, daß ich mit mir selbst ins reine darüber komme, was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll […] es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«, notiert sich der 22jährige am 1. August 1835.12 Im Herbst dieses Jahres erlebt er eine gravierende Erschütterung, das »große Erdbeben«. In einer rückblickenden Selbstbesinnung aus dem Jahre 1839 heißt es bei Kierkegaard: »Damals war es, daß das große Erdbeben eintrat, die furchtbare Umwälzung, die mir plötzlich ein neues, unfehlbares Deutungsgesetz sämtlicher Erscheinungen aufzwang. Da ahnte ich, daß meines Vaters hohes Alter kein göttlicher Segen sei, sondern eher ein Fluch; daß die hervorragenden Geistesgaben unserer Familie nur da seien, um einander gegenseitig aufzureiben; da fühlte ich die Stille des Todes um mich wachsen, wenn ich in meinem Vater einen Unglücklichen sah, der uns alle überleben sollte, ein Grabkreuz auf dem Grabe all seiner eigenen Hoffnungen. Eine Schuld mußte auf der ganzen Familie liegen, eine Strafe Gottes über ihr sein; sie sollte verschwinden, ausgestrichen werden von Gottes gewaltiger Hand […].«13 Kierkegaard, der wohl auch vom sexuellen Fehltritt seines Vaters – dem vorehelichen, womöglich sogar mit Gewalt erpreßten Geschlechtsverkehr mit seiner vormaligen Dienstmagd – wußte, hatte erfahren, daß sein Vater, als er in jungen Jahren allein und einsam Schafe hüten mußte, in seiner Not und Verlassenheit einmal Gott verflucht haben soll. Er ist überzeugt davon, daß dieser Fluch nun auf der Familie lastet und daß alle Kinder, also auch er, vor dem Vater sterben werden. Er zieht am 1. September 1837 aus dem Hause seines Vaters aus und führt – zumindest vordergründig – das Leben eines Kopenhagener Bohemiens. Nichtsdestotrotz übernimmt der Vater die Bezahlung der Schulden seines Sohnes: 1262 Reichsbanktaler, darunter 235 für den Konditor und 381 für den Buchhändler. Ob in diese Zeit, womöglich in den November des Jahres 1836, auch ein Bordellbesuch Kierkegaards fällt, der sich im Tagebuch mit den Zeilen »Mein Gott, mein Gott […] Das tierische Gelächter«14 niedergeschlagen haben soll, ist allerdings höchst umstritten.15

Am 11. August des Jahres 1838 geschieht, was nicht hätte geschehen sollen: Michael Pedersen stirbt, und Sören lebt. Das Vermögen, das der Vater dem Sohn hinterläßt und von dem Kierkegaard bis zu seinem Tode leben wird, ohne es gewinnbringend anzulegen, beläuft sich auf 16 797 Reichsbanktaler. Zwar hatte Kierkegaard sich kurz zuvor mit dem Vater wieder versöhnt, aber erst dessen Tod bewirkt, daß er ein gegebenes Versprechen nun rasch einlöst: Er beendet sein Studium, legt 1840 das erste theologische Examen ab und beginnt mit der Arbeit an einer Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. In enger, aber schon kritischer Anlehnung an Hegel hat Kierkegaard in dieser Arbeit versucht, die Ironie des Sokrates als Standpunkt einer unendlichen absoluten Negativität zu beschreiben, die in der Antike die Artikulation von Idealität und Subjektivität, damit die Begründung von Moral, möglich machen sollte und deshalb historisch gerechtfertigt gewesen war. Im zweiten Teil der Schrift setzt sich Kierkegaard kritisch mit der Ironie der Romantiker auseinander und kommt zu einer Bestimmung des Ironikers, die ihn wohl nicht allein aus theoretischen Gründen fasziniert und abgestoßen haben mag: »Stolz verschlossen in sich selbst steht der Ironiker da, er läßt […] die Menschen an sich vorüberziehen und findet keine ihm angemessene Gesellschaft. Dadurch gerät er nun fortwährend in Widerstreit mit der Wirklichkeit, der er zugehört. Deshalb wird es ihm wichtig, dasjenige, das da das die Wirklichkeit Begründende ist, das sie ordnet und trägt, nämlich Moral und Sittlichkeit, zu suspendieren […]. Alles in der gegebenen Wirklichkeit Bestehende hat für den Ironiker lediglich poetische Giltigkeit; denn er lebt ja poetisch.«16 Und diese Suspension der Sittlichkeit gelingt dem Ironiker, indem er die Moral selbst ästhetisiert: »Er begeistert sich an aufopfernder Tugend, so wie ein Zuschauer im Theater sich daran begeistert […]. Er bereut sogar, aber er bereut ästhetisch, nicht moralisch. Er ist im Augenblick der Reue ästhetisch über seine Reue hinweg, prüft, ob sie poetisch richtig sei, ob sie geeignet sei zur dramatischen Erwiderung im Munde einer poetischen Figur.«17 Damit skizziert Kierkegaard das Bild einer ästhetischen Existenz, wie sie in seinen späteren Schriften immer wieder thematisiert werden wird.

Schriftstellerisch versucht hatte Kierkegaard sich bereits vor seiner akademischen Abschlußarbeit. 1838 ließ er eine kleine Schrift auf eigene Kosten drucken: Aus eines noch Lebenden Papieren, wider seinen Willen herausgegeben von Kierkegaard. Dahinter verbarg sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dichter und Märchenerzähler Hans Christian Andersen, vor allem mit dessen Roman Nur ein Spielmann. In diese Zeit fällt aber auch die vielleicht wichtigste und folgenschwerste Entscheidung in Kierkegaards Leben: Am 10. September 1840 verlobt er sich mit der siebzehnjährigen Regine Olsen, der Tochter eines Dezernenten in der Finanzhauptkasse.

Kierkegaard hatte das Mädchen schon zwei Jahre zuvor kennengelernt und nun nahezu überfallartig, nach einer Jütlandreise, auf der er diesen Entschluß gefaßt hatte, um ihre Hand angehalten. Regine willigt sofort in die Verlobung ein: »Ich habe nicht ein einziges Wort gesagt, um zu betören – sie sagte ja«, erinnert sich Kierkegaard später.18 – und beschließt dann, aus dem »Verhältnis als ein Schurke [herauszukommen], womöglich ein Erzschurke«20