Hillert Bracht Koch Lüdtke Ueing Sosnowsky-Waschek Lehr

Arbeit und Gesundheit im Lehrerberuf (AGIL)

Das individuelle Arbeitsbuch

Impressum

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM40006

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird überwiegend die männliche Form verwendet, diese schließt selbstverständlich stets die weibliche ein.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Adobe Stock/Kzenon

Zeichnungen: Andrea Schraml; S. 115 Lilo Gerl; S. 191 Sebastian Molkenbur

Lektorat: Marion Drachsel, Berlin

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40006-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11520-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20414-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Anschriften der Autoren

Dipl.-Psych. Maren Bracht

Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin

Schön Klinik Roseneck

Am Roseneck 6, 83209 Prien am Chiemsee

mbracht@schoen-kliniken.de

Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert

Facharzt für Psychotherapeutische Medizin,

Psychiatrie und Psychotherapie

Chefarzt

Schön Klinik Roseneck

Am Roseneck 6, 83209 Prien am Chiemsee

ahillert@schoen-kliniken.de

Dr. Dipl.-Psych. Stefan Koch

Psychologischer Psychotherapeut und

Supervisor

Schön Klinik Roseneck

Am Roseneck 6, 83209 Prien am Chiemsee

skoch@schoen-kliniken.de

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Dirk Lehr

Gesundheits-Psychologe

und Psychologischer Psychotherapeut

Institut für Psychologie

Professur für Gesundheitspsychologie und

Angewandte Biologische Psychologie

Leuphana Universität Lüneburg

Universitätsallee 1, 21335 Lüneburg

dirk.lehr@leuphana.de

Dipl.-Psych. Kristina Lüdtke

Psychologische Psychotherapeutin

Schön Klinik Roseneck

Am Roseneck 6, 83209 Prien am Chiemsee

kluedtke@schoen-kliniken.de

Prof. Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek

Professorin für Gesundheits- und

Klinische Psychologie, Studiengangsleiterin

BSc Gesundheitspsychologie und Prodekanin

der Fakultät für Angewandte Psychologie

SRH Hochschule Heidelberg

Maria-Probst-Str. 3, 69123 Heidelberg

nadia.sosnowsky-waschek@hochschule-heidelberg.de

Dr. Stefan Ueing

Facharzt für Psychosomatische Medizin

und Psychotherapie, Supervisor,

Dozent für VT-Gruppentherapie

Praxis: Psychosomatik im Achental

Bahnhofstr. 1A, 83250 Marquartstein

dr.ueing@psychosomatik-achental.de

1 Einleitung

»Was kann ich tun, um meinen Stress zu reduzieren und AGIL zu bleiben?«

Im Studium lernen angehende Lehrkräfte das, was sie in der Schule den Schülern vermitteln sollen, also »ihre Fächer«. Zum anderen lernen sie Pädagogik und pädagogische Psychologie, also die Art und Weise, wie Schülern der Lernstoff am besten zu vermitteln ist. Dass sie dabei zum einen das zentrale Bildung vermittelnde Instrument und zum anderen als Person ständig gefordert sind, insbesondere auch mit ihren Ressourcen angemessen umzugehen, um den »unmöglichen«, de facto grenzenlosen Beruf (wann hätte ein Lehrer je genug getan?) ein Lehrer-Leben lang mit Spaß auszuüben, klingt im Rahmen der modernen Lehrerausbildung gelegentlich an. Im engeren Sinne vermittelt wird es nicht.

Wie die eigene Wahrnehmung funktioniert, woran man seine individuellen Belastungsgrenzen erkennt und mit welchen Strategien man wie zurechtkommt, das lässt sich nicht im Rahmen von Vorlesungen erlernen. Man muss es immer wieder reflektieren und ausprobieren … In einer Lehrerausbildung, in der individuelle Betreuung und Kleingruppenarbeit aus ökonomischen Gründen, besonders in den ersten Studiensemestern, kaum stattfindet, lässt sich diese Dimension der Lehrer-Professionalisierung kaum unterbringen. Und prüfen lassen sich solche Qualitäten, zumindest in schriftlichen Prüfungen oder bei Hospitationen, kaum.

Also lassen wir es lieber? Lernen nicht die meisten Lehrer quasi nebenbei, im Referendariat und spätestens im Schulalltag, wie man dort am besten über die Runden kommt?

Eine solche, zugegebenermaßen pragmatische Einstellung hat Vorteile: Sie ist kostengünstig. Für alle Beteiligten. Sie hat aber auch Nachteile. Dass der Lehrerberuf ein »Stressberuf« ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Sollte man die Frage, wie »Lehrkörper« am besten mit diesem »Stress« umgehen, dem Zufall überlassen? Es gibt eine ganze Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen zur Frage, wie es Lehrern gelingt, den Beruf trotz seiner vielfältigen Belastungen – zwischen unmotivierten Schülern, Helikopter-Eltern und Konflikten im Kollegium – langfristig bei guter Gesundheit und hoher Lebensqualität auszuüben. In diesem Rahmen wurde auch erforscht, welche Erlebens- und Verhaltensmuster für die betreffenden Lehrpersonen ein hohes Risiko bergen, wenn nicht krank, so doch stressbelastet und unglücklich zu sein bzw. zu werden. Dass dies im Lehramtsstudium bislang kaum bis gar nicht thematisiert wird, ist umso erstaunlicher, als erschöpfte, ausgebrannte und aufgrund von seelischen Erkrankungen in Frühpension gehende Lehrer nicht nur selbst eben diese Probleme haben und leiden, sondern absehbar auch schlechteren Unterricht geben und, durch hohe Krankheitszeiten und Frühpensionierungen, dem Staat bzw. den Steuerzahlern teuer zu stehen kommen. Befriedigende Erklärungen für diese mehrdimensional unbefriedigende Situation gibt es nicht, abgesehen von politischen und finanztechnischen. Diese wiederum sind, zumindest für nicht in den Kategorien des Beamten-Systems denkende Zeitgenossen, schlicht grotesk: Wenn Lehrkräfte in Frühpension gehen, dann zahlt dafür nicht das Kultusministerium, sondern das jeweilige Finanzministerium. Für Prävention ist dort allerdings niemand zuständig. Beihilfestellen zahlen dann, wenn Lehrkräfte erkranken, den gesetzlich vorgeschrieben Anteil. Wobei sie sich nach dem richten, was die Krankenkassen bezahlen. Darüber hinausgehende Prävention gehört nicht zu den Aufgaben der Beihilfestellen. Also müsste das Gesundheitsministerium zuständig sein. Dort hat man aber in der Regel keine »Ressourcen« für Lehrergesundheit, leider. Je mehr ein Bundesland unter Lehrermangel leidet, umso einsichtiger werden derzeit die Kultusministerien, sich aktiv mit dem Thema Lehrergesundheit auseinanderzusetzen; wobei, von Bundesland zu Bundesland verschieden, noch ein wenig bis sehr viel Luft nach oben ist.

Die immanent subjektive Qualität unserer Wahrnehmung, in der sich neben individueller »Veranlagung« unsere Lerngeschichte spiegelt, wird uns üblicherweise nur dann bewusst, wenn dies reflektiert wird. Supervision, die systematische Reflexion eigener Muster, ist in allen anderen Sozialberufen längst etabliert und ein unabdingbarer Bestandteil der Ausbildung von Sozialtherapeuten, psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten. Warum Lehrer dies nicht nötig haben sollen, läuft wiederum auf politische Dimensionen heraus: Es würde schlicht Geld kosten, das der Staat als Ausbilder und Dienstherr nicht hat bzw. nicht dafür ausgeben will. Damit handelt er ähnlich wie die Mehrzahl der deutschen Lehrkräfte, die derzeit selbst auch nicht bereit ist, eigenes Geld und Freizeit für Supervision auszugeben. Das ist menschlich aber kurzsichtig. Vor allem dann, wenn Lehrer »unter Druck geraten«, wenn der Stress zunimmt, Burnout droht und der Beruf zur Qual wird, sitzen sie absehbar in der Falle. Wer keinen professionellen Umgang mit sich selbst, seinen Mustern und Strategien gelernt hat, dem fällt es doppelt schwer, dies in sowieso schon belasteten Konstellationen nachzuholen.

AGIL – Arbeit und Gesundheit im Lehrerberuf – wurde ursprünglich als Gruppenprogramm für manifest psychosomatisch erkrankte Lehrkräfte entwickelt, die in der Schön Klinik Roseneck seit vielen Jahren die größte Berufsgruppe sind. Die meisten erkrankten Lehrer gingen und gehen davon aus, dass ihre schulischen Belastungen maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung der jeweiligen Symptomatik, zumeist depressiver Art, beitragen. Insofern wäre es naiv, zu glauben, dass die Verbesserung der Symptome und Erholung während des stationären Aufenthaltes alleine ausreichend sein könnten, um anschließend wieder unbeschwert in den Beruf zu starten. Was sollte man diesen Kollegen ergänzend zur Behandlung der zur Aufnahme führenden Symptome als angemessene Vorbereitung auf den Schulalltag anbieten?

Über einige Jahre hinweg und mittels diverser Fragebögen haben wir die erkrankten Lehrkräfte mit vom Alter, Geschlecht und Schultyp parallelisierten gesunden Kollegen verglichen. Die Frage war: Worin, in welchen Einstellungen und Strategien, unterscheiden sich überlastete bzw. erkrankte und ihren Beruf soweit gut bewältigende Lehrkräfte? Die Antworten, die sich ergaben, wurden dann die Basis von AGIL, das – entsprechend den praktischen Gegebenheiten einer im Durchschnitt sechs Wochen dauernden stationären Psychotherapie – als acht Doppelstunden umfassendes Gruppenprogramm konzipiert wurde. Nachdem dies in der Klinik etabliert war – wobei Befragungen drei und zwölf Monate nach Entlassung zeigten, dass es funktioniert –, lag es nahe, AGIL in modifizierter Form auch als Präventionsprogramm für nicht erkrankte, im Beruf stehende Lehrkräfte einzusetzen. Dies wurde ebenfalls in einer großen Studie wissenschaftlich evaluiert.

Bereits belastete Lehrkräfte können AGIL gut für sich nutzen. Das praktische Problem liegt nur darin, dass sich gerade belastet erlebende Lehrkräfte im Alltag schwertun, überhaupt an solchen Angeboten teilzunehmen. In dem für AGIL-Gruppenleiter geschriebenen Manual, dass vor Kurzem in der zweiten Auflage erschienen ist (Hillert et al., 2016), finden Sie die zusammenfassenden Ergebnisse und alle Literaturhinweise zu den hier genannten Studien.

Kurz und bündig: AGIL ist keine Lehrerfortbildung, in der es primär um Informationsvermittlung geht, sondern ein recht kompaktes, auf (zumindest) acht Doppelstunden hin angelegtes Gruppenprogramm, in dessen Rahmen interaktiv das vermittelt werden soll, was Lehrkräfte, die mit 65 Jahren weiter Freude im Beruf haben, von Kollegen unterscheidet, die sich bereits mit 30 Jahren ausgebrannt fühlen. AGIL beinhaltet somit das, was im Rahmen der Lehrerausbildung bislang fehlt. Ziel ist eine »Professionalisierung«, bei der sich die Betreffenden systematisch selbst reflektieren und nicht zuletzt mit ihren Ressourcen haushalten lernen.

Aktuell wird AGIL als Gruppen-Präventionsprogramm in vielen Bundesländern, in der Regel von geschulten Schulpsychologen, Psychologen und Ärzten angeleitet, angeboten. Dass AGIL eine solche Verbreitung gefunden hat, was die Autoren natürlich sehr freut, hat sicher viele Gründe. Wenn man Kursteilnehmer befragt, dann geben diese spontan zumeist folgende Antwort: AGIL macht Spaß, es macht »Sinn«, man lernt sich selbst besser kennen, entwickelt sich weiter … und erfährt nebenbei, dass viele Kolleginnen und Kollegen ganz ähnliche Probleme haben.

Wie gesagt, primär war und ist AGIL als Gruppenprogramm angelegt. Die Relativität unserer eigenen Muster wird dann am deutlichsten, wenn uns unsere Perspektiven und Grenzen (mitunter auch unsere »Scheuklappen«) durch Mitmenschen »gespiegelt« werden. Ein zentraler AGIL-Wirkfaktor sind jeweils die Mitglieder der AGIL-Gruppen, die sich miteinander auf die Suche nach »individuellen Stressverstärkern« und nach alternativen, potenziell entlastenden Strategien machen.

Wenn es für Sie die Möglichkeit geben sollte, an einer solchen Gruppe teilzunehmen, dann los, auch wenn es zunächst Überwindung kostet, sich und seine Probleme offen mit anderen auszutauschen.

Das vorliegende AGIL-Arbeitsbuch war zunächst als begleitende Lektüre für AGIL-Teilnehmer gedacht, um die Inhalte zu vertiefen. Soweit die Theorie. Selbst in Bundesländern, in denen offiziell (wie derzeit in Bayern, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern) AGIL angeboten wird, ist es weiterhin schwer bis, je nach Wohnort, fast unmöglich, zeitnah an einer AGIL-Gruppe teilzunehmen. Weil Ressourcen fehlen, zu wenige Gruppenleiter vorhanden sind und/oder sich Ihre Schule in einem diesbezüglich »unterversorgten« Gebiet befindet. In solchen Fällen können die Lektüre und die intensive Bearbeitung des vorliegenden Buches auch ohne begleitende AGIL-Gruppe sinnvoll und hilfreich sein. Sei es alleine mit diesem Buch, sei es begleitend zu einer AGIL-Gruppe, die Autoren wünschen Ihnen eine spannende Expedition zu einem der spannendsten Themen des Lehrerberufes: »Was kann ich tun, um meinen Stress zu reduzieren und AGIL zu bleiben?«

Wir danken allen Lehrkräften, den (ehemaligen) Patientinnen und Patienten der Schön Klinik Roseneck sowie den gesunden Kolleginnen und Kollegen in vielen Bundesländern, die uns durch das Ausfüllen von Fragebögen und aktive Rückmeldungen zu AGIL-Kursen geholfen haben, das Programm zu entwickeln, zu erweitern und zu verbessern. Nicht zuletzt sind wir dem Schattauer-Team, Herrn Dr. Wulf Bertram, Frau Dr. Nadja Urbani und »unserer« Lektorin Frau Marion Drachsel zu Dank verpflichtet. Ohne sie hätte es dieses Buch – zumal so schön – nie gegeben.

Die Autoren würden sich sehr freuen, wenn auch Sie von AGIL profitieren … wobei dies dann weniger unser Verdienst als das Ergebnis Ihrer Arbeit mit und an sich selbst wäre. Hierzu wünschen wir Ihnen den nötigen Mut, eine angemessen große Portion Durchhaltevermögen und vor allem und nicht zuletzt viel Spaß in Ihrem unmöglichen, interessanten, anregenden und idealerweise erfüllenden Beruf!

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird überwiegend die männliche Form verwendet, diese schließt selbstverständlich stets die weibliche ein.

2 Am Anfang war der Stress …

Was ist das zentrale Anliegen des Kapitels?

Mit »Stress« umgehen können bzw. weniger »Stress« zu haben, dürfte das zentrale Anliegen der Leser dieses Buches sein. Damit dieses gelingt, ist es wichtig, hinter die Kulissen dieses ubiquitär verwendeten Begriffes zu schauen. Ausgehend von der Begriffsdefinition werden Stressoren und Stressreaktionen unterschieden und dann erläutert, inwieweit das persönliche Stresserleben von den individuellen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern abhängt. Im Anschluss hieran geht es vor allem um die psychischen Folgen von chronischem Stress. Wir begegnen dabei dem (subjektiven) Burnout-Phänomen und werden, ausgehend von der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das häufige Krankheitsbild der Depression kennenlernen.

Wer sollte sich angesprochen fühlen?

Um eine Klärung der für das Thema Lehrergesundheit zentralen Begriffe – Stress, Stressor, Stressreaktion, Burnout und Depression – kommt niemand, der sich mit AGIL beschäftigen will, herum. Wie will man seinen Stress reduzieren, wenn unklar bleibt, ob man Stressoren und/oder individuelle Stressreaktionen meint?

Wie sieht der Fahrplan aus? Was sind die wichtigsten Inhalte dieses Kapitels?

Einerseits werden die genannten Begriffe definiert und deren medizinischer und psychologischer Hintergrund skizziert. Andererseits ist Stress ein immanent subjektives Phänomen. Als ein erster Schritt der Selbstreflexion und Selbsterfahrung im gesundheitsförderlichen Umgang mit Stress werden relevante Verhaltens- und Bewertungsmuster in mehreren praktischen Übungen veranschaulicht.

2.1 Stress und Stressbewältigung: Theoretische Überlegungen und Ihr höchstpersönlicher Einstieg

Wenn Sie eine Unterrichtseinheit zum Thema »Stress« vorbereiten oder über das Stress-Phänomen diskutieren, ist es wichtig, Definitionen parat zu haben. Wenn es um Ihr bzw. unser höchstpersönliches Erleben und Empfinden geht, dann sind abstrakte Definitionen kaum mehr als Schall und Rauch. Wir empfinden und erleben Freude, Ärger, Liebe, Wut … und (leider) nicht selten »Stress«, ohne uns darum zu scheren, ob das, was wir gerade erleben, nun tatsächlich dem entspricht, was in Lehrbüchern steht; und welche »wissenschaftlich anerkannten« Definitionen es diesbezüglich geben mag. Und das ist zunächst einmal gut so und ohne Alternative. Unser Gehirn bzw. unsere Wahrnehmung geht elementar von »Ganzheiten« aus, also von Begriffen bzw. Bildern, die unseren Zustand für uns greifbar machen und uns mit anderen kommunizieren lassen

Übung

Stress

Wenn Sie das Wort »Stress« langsam aussprechen, es quasi auf der Zunge zergehen lassen: Welche Bilder und Gefühle stellen sich dabei ein? Schließen Sie hierzu kurz die Augen!

Meine spontanen Bilder und Gefühle zum Thema Stress:

Der Betriff »Stress« …

… kommt vom englischen »stress« oder »to stress«. Die etymologische Bedeutung verweist auf die Begriffe Druck, Belastung bzw. belasten, beanspruchen.

Wenn Sie sich mit Freunden oder im Kollegium über Ihre Belastungen in der Schule unterhalten und das Wort »Stress« verwenden, wie wahrscheinlich ist es, dass diese ähnliche Bilder, Gefühle und Vorstellungen verbinden?

Dies kann man im Kollegium leicht ausprobieren: Geben Sie in der Pause (oder besser bei passender, entspannterer Gelegenheit) eine kurze Instruktion, teilen Sie Papier und Stifte aus … und vergleichen Sie die Ergebnisse!

Wozu das Ganze? Selbst wenn die Kollegen mehr oder weniger andere Bilder, Gefühle und Konzepte mit dem Wort »Stress« verbinden würden, kommunizieren Sie miteinander! In der Regel kommt dann bei solchen Gesprächen das gute Gefühl auf, mehr zu verstehen und verstanden zu werden.

Was liegt dem zugrunde? Letztlich haben wird uns buchstäblich einen Begriff bzw. ein Bild von etwas gemacht, das eigentlich unendlich schwer zu beschreiben ist. Unser Gehirn, in der Kommunikation mit unserer Umwelt (und damit mit uns selbst), hat offenkundig die Fähigkeit, komplexe Angelegenheiten und Phänomene, über die Wissenschaftler Bibliotheken schreiben, auf einen alltagstauglichen Nenner zu bringen. So konstruieren wir Bilder von vielem, was sich eigentlich jeglicher Begrifflichkeit entzieht – von Wahrheit und Gerechtigkeit bis hin zur wahren Liebe. Wir empfinden, denken und leben realiter selbstverständlich mit und in solchen Bildern. Sie sind in unserem sozialen Umfeld, auch im Kollegium, etabliert. Jeder versteht sie sofort und weiß, was Sie mit »Ich bin total im Stress« meinen.

Aber weiß sie oder er es wirklich? Die mit dem Begriff »Stress« einhergehenden Bilder können sehr verschieden sein. Wenn man näher hinschaut, was im Alltag aber niemand tut, weil ja alle verstanden haben, worum es geht, sind Worte wie »Stress« kaum mehr als eine Oberfläche, hinter der sich ein weites Spektrum an Inhalten und Aussagemöglichkeiten eröffnet. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) nannte solche Begriffe »generalisierte Kommunikationsmedien«. Ihr Vorteil ist, dass sie eine Verständigung über komplexe Phänomene im Alltag möglich machen. Ihr Nachteil besteht darin, dass die Verständigung zunächst zwangsläufig auf oberflächlicher Ebene bleibt und damit den Sachverhalt massiv vereinfacht (ohne dass es den Beteiligten auffällt). Unangenehmerweise fallen auf diesem Wege mitunter jene Aspekte weg, die nötig wären, um das mit dem jeweiligen Begriff einerseits prägnant und andererseits unvollständig bezeichnete Problem lösen zu können. Dafür ist »Stress« – in jeder Hinsicht – ein ideales Beispiel!

Diese einführenden Überlegungen waren zu trocken und zu theoretisch?

Pardon!

Wenn es um professionellen Umgang mit den Belastungen Ihres Lehrer-Alltags gehen soll, ist leider ein wenig Theorie, vor allem aber ein systematisches, mitunter hartnäckiges Hinterfragen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, eben die, die uns, unsere Wahrnehmung, unserer Denken und unser Empfinden lenken und prägen, unabdingbar. Und das fängt bei den Worten und Begriffen an.

Ein paar im Lehrerzimmer aufgeschnappte Original-Zitate führen unmittelbar zurück in die Praxis.

Bitte stellen Sie sich nun Ihr Lehrerzimmer vor, so wie es in der Pause üblicherweise abläuft. Kommen Ihnen die folgenden Szenen bekannt vor?

Die Kolleginnen und Kollegen reden durcheinander, es riecht nach kaltem Kaffee, es wird hin und her gelaufen, in Papieren gekramt, gesucht, geschimpft, erzählt, hektisch gelacht – in Erwartung dessen, dass die Pause gleich vorbei ist.

Dabei fallen dann Sätze wie:

»Die 8c war heute wieder unmöglich. Bis ich heute mit dem Unterricht anfangen konnte, war totaler Stress angesagt …«

»Die im Kultusministerium haben keinen Schimmer davon, was hier bei uns los ist. Das macht mich richtig wütend! Wann soll man denn diese Flut von Mitteilungen und Mails lesen?«

»Ich habe schon totalen Stress zu Hause – mein Sohn ist voll in der Pubertät. Und wenn ich dann vor der 7a stehe, geht es gerade genauso weiter …«

»Du, Rainer [zum Schulleiter], das stresst mich wirklich, dass ich praktisch jeden Tag am Nachmittag antreten muss. Ich mache die halbe Stelle, weil ich selbst Kinder zu Hause habe!« Dann, zur Kollegin, die wenige Augenblicke später kommt: »Ich werde hier gemobbt!«

»Muss das sein? Jetzt vor den Ferien, wenn die Zeugnisse geschrieben werden müssen und dann auch noch drei Kollegen krank sind! Jedes Mal ist das der totale Stress!«

»Wenn ich die Klassenarbeiten der 9d vor mir habe, wird mir schlecht. Das macht mir Stress. Nach solchen Korrektursitzungen kann ich kaum einschlafen. Das Niveau ist katastrophal. Soll ich jetzt beide Augen zudrücken? Und was passiert, wenn ich das nicht mache?«

»Wenn Eltern mit mir sprechen wollen, dann wollen sie eigentlich immer nur, dass ich ihren Kindern bessere Noten und eine Empfehlung für das Gymnasium gebe. Und wenn ich das nicht tue, macht mir das echt Stress …«

»Heute lernen die Kinder zu Hause noch nicht einmal, wie man Schuhbänder bindet. Das soll ich dann auch noch machen? Wenn die wenigstens Höflichkeit lernen würden. Früher war das alles ganz anders … heute ist das einfach nur ätzender Stress.«

Soweit alles klar? Jedem, der eine »Pause« in einem Lehrerzimmer verbracht hat, dürfte das, was die Kolleginnen und Kollegen bewegt, sofort anschaulich vor Augen geführt worden sein. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass Sie zumindest einige der von den Kollegen beschriebenen Konstellationen aus eigener Erfahrung kennen. Auf jeden Fall lässt sich mit dem Wort »Stress« offenbar problemlos, emotional und sehr intensiv kommunizieren. Man versteht sich auf Anhieb. So weit, so gut …

Nur hat alles, was eine Wirkung hat, in der Regel auch Nebenwirkungen. Der vermeintlich selbstverständliche und so kommunikationsfördernde Stress-Begriff wird dabei selbst zum Problem. Warum?

Dazu müssen wir noch einmal zurück ins Lehrerzimmer in der großen Pause. Sie hören die oben wiedergegebenen Sätze der Kolleginnen und Kollegen. Welche Gefühle löst dies bei Ihnen aus, wie reagieren Sie?

Sie könnten z. B. den Betreffenden tief in die Augen schauen und dann ganz ruhig sagen:

»Du, das kenne ich auch. Mach dir einfach keinen Stress!«

Bingo! Welche Reaktion erwarten Sie?

»Das weiß ich doch selbst!«,

wäre vermutlich noch eine freundliche Antwort darauf.

Stress ist offenbar ein guter Begriff, um über Problem-Phänomene zu reden, die kausal etwas mit dem Erleben von Belastungen und Konflikten zu tun haben und im subjektiven Erleben mit einem gewissen »Anspannungsgefühl« (daher kommt der Begriff ja ursprünglich) und oftmals auch »Unwohlsein« einhergehen. Wenn es aber darum geht, Möglichkeiten zu finden, die hinter dem Stressempfinden liegenden Belastungen, Probleme und Konflikte zu lösen, ist der Begriff »Stress« offenbar nicht viel mehr als heiße Luft.

Jedem, der angesichts beruflicher, stressbezogener Belastungen Entlastungsmöglichkeiten sucht, bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als hinter die Kulissen des Stress-Begriffes zu schauen. Das ist zugegebenermaßen mühsam. Aber anders geht es nicht. Zumindest, wenn wir nicht auf der Ebene wohlklingender, wenig hilfreicher guter Ratschläge bleiben wollen, nach dem Motto: »Entspannen Sie sich, denken Sie an Ihre Bedürfnisse, machen Sie sich einfach keinen Stress!« Das geht auch anders! AGIL will (und kann) viel mehr!

»Jetzt lese ich schon zehn Minuten in Ihrem AGIL-Buch … und ich weiß immer noch nicht, wie ich meine Probleme lösen und meinen Schulstress reduzieren kann! Bla-bla-bla …«

Falls dieses Zitat von Ihnen stammen sollte, haben wir dafür Verständnis! Ganz offenbar stehen Sie »unter Stress« und suchen, wie wir alle in unserer hektischen Gesellschaft, nach schnellen und effektiven Lösungen, also nach »Tools«, mit denen sich unser Leben und/oder unsere Performance umgehend optimieren lassen. Niemand hat Zeit zu verschenken!

»Also kommen Sie zum Punkt … oder ich lege das Buch beiseite!«

Falls das eine Drohung gewesen sein sollte: Stress ist leider ein Phänomen, das man, wenn man es mit dem Kopf durch die Wand lösen will, nur weiter eskaliert. Das Zitat »Ich muss mich jetzt ganz schnell entspannen« müsste zum »Unwort des Jahres« erklärt werden. Es gehört zu den zentralen Paradoxien des beginnenden 21. Jahrhunderts!

Wenn wir uns hier etwas Zeit nehmen und versuchen, dem Stress-Begriff auf den Grund zu gehen, dann weniger, weil es wichtig wäre, vom Säbelzahntiger über die Ratten-Experimente von Hans Selye bis zu transaktionalen Stressmodellen, auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zu sein (was aber durchaus spannend ist), sondern weil es darum geht, den Fuß in die Tür zu bekommen und handlungsfähig zu werden. Nur dann lässt sich das, was Sie und wir gemeinhin als Stress erleben, tatsächlich reduzieren.

Im Folgenden wird es darum gehen, herauszufinden, was Sie bzw. Ihr Gehirn quasi automatisch mit dem Begriff »Stress« assoziieren. Das ist wichtig, weil es zum einen ein wenig Selbsterkenntnis beinhaltet. Zum anderen hilft es uns, ein gemeinsames Sprachverständnis zu finden. So kommen wir in der Sache voran bzw. bekommen den Fuß in die Tür.

2.2 Stressoren und Stressebenen

Beginnen wir mit einer kleinen Übung, die Sie (wie alle Übungen in diesem Buch) natürlich nicht machen müssen. Sie wissen vermutlich sowieso sofort, worauf die Übung hinausläuft!? Womit Sie aber wahrscheinlich verpassen, worum es in AGIL geht: um Schritte in Richtung eines möglichst professionellen Umgangs mit den Belastungen des Schulalltages. Und dazu gehört eben nicht nur Wissen, sondern auch von Emotionen getragene Dimensionen, die etwas mit Selbsterfahrung und Reflexion zu tun haben. Selbsterfahrung ist nicht delegierbar und nur bedingt im Schnellverfahren, unter Verwendung von Abkürzungen, zu erreichen. Selbsterfahrung kann man, wie der Name sagt, nur selbst machen.

Merke

Nehmen Sie sich Zeit für sich, lassen Sie sich darauf ein, Dinge neu zu denken, um AGILer zu werden!

Also, versuchen wir es.

Übung

Stress

Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie das Wort »Stress« in Bezug auf Ihren Lehrerberuf hören?

Die folgende Liste ist das Ergebnis einer Umfrage im Kollegium eines Gymnasiums. Die Punkte sind nach Häufigkeit der Nennung in absteigender Reihenfolge aufgeführt. Folgendes assoziierten die Befragten mit dem Begriff »Stress«: