Nika Hemoger ist Jahrgang 1965. Sie lebt mit ihren drei jüngsten Kindern und ihren Tieren in einem kleinen Häuschen im Süden des Habichtswälder Berglandes. Sie ist nicht nur glückliches Landkind, sondern auch eine große Pferdenärrin mit dem Gespür für Übersinnliches. Ihre Unabhängigkeit und die Natur sind ihre Kraftquellen.

Nika Hemoger

Seele in
Flammen

Roman

Von den vielen Welten, die der Mensch nicht von

der Natur geschenkt bekam,

sondern sich aus eigenem Geist erschaffen hat,

ist die Welt der Bücher die größte.

Hermann Hesse (1877-1962)

Prolog

Ich bin legendär, weil ich trotz Kriegswahn nicht zerstört wurde. Welten und Zivilisationen wurden zerstört, immer wieder. Der Kriegswahnsinn erstreckt sich über Jahrtausende. Noch immer müssen wir lernen: man kann den Krieg nicht gewinnen. Hegen sollte man den Frieden! Für jeden kommen nachdenkliche Zeiten im Leben, in denen man sich mit vielem auseinandersetzen muss. Alles scheint sinnlos, alles wird geprüft. Angst vor dem Kommenden schleicht sich ein, man erstarrt, findet keinen Schlüssel zur Lösung. Erst dann macht man sich auf die Suche nach mir. Mein Wissen ist unendlich und tiefgründig… mein Speicher ist voll, schon immer. Uraltes Wissen, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges… vieles davon ist noch nicht geschrieben.

Ich bin da, wo ich schon immer war. Im Verborgenen warte ich geduldig auf mein Wiederentdecken. Für den, der mich findet, ist alles möglich, sowohl das Zurückfallen in Vergangenes als auch das Ausschreiten in die Zukunft.

Ich weiß, gute Zeiten wechseln sich mit schlechten ab, die Zeit und das Schicksal sind ständig in Bewegung. Es geht um die eigene Bestimmung, die Einstellung zum persönlichen Schicksal und die Sinnfrage. Jede Geschichte erinnert uns auch daran, dass es immer eine Chance und Lösungen gibt, die wir selbst gar nicht beeinflussen können und müssen. Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.

Ich weiß, dass die Zerstörung der alten Bibliotheken der Vergangenheit als Verlust empfunden wurde. Die Menschheit hat diese Verluste mehrere tausend Jahre immer wieder betrauert. Das Ziel war seit Menschengedenken die Sammlung von Erkenntnissen jeder gelebten Seele auf Erden. Die Menschen meinen, das Wissen sei für immer verloren, doch das Wissen ist noch da! Leider suchen viele an der falschen Stelle.

Ich bin der Ort, an dem man auf jede Frage eine Antwort erhält. Inzwischen erinnere ich mich täglich an das ein oder andere Buch. Ereignisse, die niedergeschrieben wurden, nach und nach verstaubten und in Vergessenheit gerieten. Sie wurden mit Worten zu einer Geschichte geformt, doch selten gelesen. Die Vergangenheit ist uralt und wurde von Schriftgelehrten mit großer Hingabe geschrieben. Mein Gedächtnis lässt Raum für einige Verzerrungen und manchmal sind die Gefühle der Schreiberlinge zu stark.

Ich versuche jedoch immer, die Ereignisse zuverlässig aufzuzeichnen. Mancher Einband besteht aus feinstem Leder, verziert mit goldenen Buchstaben. Manches wurde noch auf Tontafeln verewigt und auch einige Papyrusrollen liegen in meinen Regalen. Die Gegenwart findet Ihr in Romanen und Kinderbüchern, in Gedichtbänden und gesammelten Zitaten, in Liederbüchern, Sach- und Fachbüchern, Schulbüchern, Wörterbüchern, Biografien und Tagebüchern, Manuskripten und Drehbüchern. Die Zukunft steht nur zum Teil geschrieben, viele Bücherseiten sind noch leer. Bücher sind Geschichten der Seelen. Es liegt an Euch, welches Buch Ihr braucht, welches Ihr herauszieht aus dem großen Fundus meines Wissens. Das Rätsel des Lebens stellt Dich vor Herausforderungen. Stelle Dich diesen Herausforderungen! Dann läuft immer alles rund.

Ich persönlich kenne sehr viele Seelen, die mein Wissen für ihre weitere Entwicklung nutzen. Es gäbe so viele Dinge, die man anders machen könnte. Man würde eine völlig neue Inspiration für sein Leben erhalten. Man hätte die Möglichkeit, aus vergangenen Geschehnissen zu lernen und zu wachsen. Man würde mit Sicherheit Vergangenes aus einem anderen Blickwinkel beurteilen können. Dinge, die man bis jetzt vielleicht nie verstanden hat. Der Zugang zu meinen Geheimnissen hat nur eine Eigenart, man muss viele Fallen überwinden, um an die Fülle meines Wissens zu gelangen. Sie ist für die meisten Augen unsichtbar. Wer also seinen Geist auf der Suche nach mir nicht zur Ruhe bringen kann, gerät dort ziemlich schnell in Panik und ist bald von der Verkörperung seiner persönlichen Albträume umgeben.

Ich bin weder vollständig noch fehlerfrei. Ich bin bemüht, Lügen zu erkennen und als solche zu kennzeichnen. Vieles, das man vorher schon wusste, tritt hervor und scheint unglaublich wichtig, einfach so… Allerdings sind viele Teile in Zeiten des Krieges, der Not und verheerender Naturkatastrophen in Vergessenheit geraten oder zerstört worden, so dass ich nicht in allen Fällen herausfinden konnte, wie es wirklich war. Außerdem weisen auch heute noch viele Seiten Lücken auf. Ich werde mich weiterhin bemühen, Fehler herauszufinden, sie zu korrigieren und die Lücken zu vervollständigen.

Die Unsterblichkeit der Literatur ist abstrakt
und heißt Bibliothek.

Octavio Paz (1914-1998)

 

Für meine Kinder! Ihr seid das Beste, was mir passieren konnte.
Ich liebe euch.

 

 

 

 

 

 

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind nicht beabsichtigt

 

Plötzlich stand ich vor einem alten Tor. Es war weit geöffnet und lud mich ein, näher zu treten. Nach jahrelangem Suchen fand ich nun die Bibliothek so unerwartet, dass ich es kaum fassen konnte. Silvia, eine meiner damaligen Freundinnen, hatte mir einst von ihr erzählt. Sie wollte diesen Ort unbedingt finden. Diese Bibliothek umfasse, so hatte sie mir erklärt, alle Weisheitsliteratur der Welt. Mich ließ ihr Wunsch damals ziemlich kalt, denn mein innerer Ruf war bis dahin noch nicht an mein Herz gedrungen. Einer spontanen Eingebung folgend ging ich hinein. Es war, als beträte man eine andere Welt, so unfassbar fremd und doch irgendwie die eigene Welt. Still stand ich da und dachte an Silvia. Die Bibliothek sei auch eine Hochschule, an der man sich einschreiben lassen könne, hatte Silvia gesagt, um in sämtliche Geheimnisse des Universums eingeweiht zu werden. Da es keine Anzeichen dafür gab, dass dies der Realität entsprach, schob ich diese Äußerungen ihrem schweren Leben zu, der Trauer und dem Schmerz, die sie zu verarbeiten hatte. Das Leben trennte uns, wie man so schön sagt, und ich hörte nie wieder etwas von ihr. Ich überflog die Buchrücken. Oh mein Gott, es mussten tausende sein! Meine Hand zitterte leicht, als ich nach einem Buch greifen wollte. Das Buch schien von innen heraus aufzuleuchten. Erschrocken zog ich meine Hand zurück und gehorchte dem Befehl, es stehen zu lassen. Doch nicht nur das Buch leuchtete, der ganze Raum schien von einem wärmenden Licht erfüllt zu sein. Ich wollte mehr! Ich brauchte mehr! In mir gärte die Sehnsucht nach einem Sinn, nach wahrer Offenbarung der Geheimnisse des Lebens. Tausend Fragen trieben mich um: Wer bin ich? Was soll ich auf dieser Welt? Wer hat Recht, Materialismus oder Mystik? Was ist Erkenntnis, was ist Wahn? Es roch nach Papier, Staub und Leder - und nach Geheimnisvollem. Manche Bücher waren alt, das Papier war vergilbt und bröckelte schon. Es schien, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen. Gänsehaut kroch mir über die Wirbelsäule. Langsam schritt ich durch die Regalreihen. War es vermessen, davon zu träumen, sie alle zu lesen? Das würde wahrscheinlich keinem menschlichen Wesen je gelingen.

Mit welchem sollte ich anfangen? Eines schien so warm zu leuchten, dass ich intuitiv stehen blieb, um danach zu greifen. Mein Herz klopfte bis zum Hals. War es Einbildung oder wurde der Raum tatsächlich kälter? Ich wischte den unheimlichen Gedanken beiseite. „Unmöglich, jetzt lasse ich mir schon von einem Buch Angst machen, nicht zu fassen", hörte ich mich flüstern. Mit zitternder Hand zog ich es heraus und schlug es auf. Fast zärtlich strich ich über die erste Seite. Schon die ersten drei Zeilen zogen mich in ihren Bann. Einmal möchte ich wie ein Buch jedes Wort in mich aufnehmen können. Ein einziges Mal nur möchte ich ein Buch sein! Ich möchte jede Geschichte, jeden gelesenen Buchstaben für immer in meinem Wesen verankern, niemals vergessen und mich trotzdem auf neue Wege machen können.

1

Die Uhr zeigte wenige Minuten vor zwölf an.

Mit drei Einkaufstüten bepackt überlegte die siebzehnjährige Terry gerade, ob sie sich der wartenden Schlange am Aufzug anschließen oder doch lieber das Treppenhaus nehmen sollte. Wie auf Kommando kündigte ein leises „Pling!“ die Ankunft eines Fahrstuhls an, die Tür öffnete sich und ein Schwall Menschen strömte ihr entgegen. Noch immer löste der Gedanke, in einen Aufzug zu steigen, eine undefinierbare Panik in ihr aus. Terry trat einen Schritt zurück und rempelte jemanden an.

„Entschuldigung…“, nuschelte sie. Die Tür schloss sich ein weiteres Mal und sie stand immer noch steif davor. Orientierungslos! Sie trat noch einen Schritt zurück. Allmählich verschwand der elende Schleier in ihrem Kopf. Klarheit kehrt zurück! Lange Zeit hatte sie Albträume gehabt, in denen sie viele Male mit einem Fahrstuhl in die Tiefe stürzte, in eine unbekannte, bodenlose Tiefe. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich wieder im Griff und auch diese Träume hatten nachgelassen. Was war nur heute mit ihr los?

Wie jedes Jahr hatte sich ihre Tante voller Vorfreude auf die Adventszeit vorbereitet. Sie hatte liebevoll allerlei Kekse und ihre traditionellen Zimtschnecken gebacken und die Wohnung geschmackvoll mit Tannenzweigen dekoriert. Und die Küche roch vorweihnachtlich nach Orangen, Nelken und Zimt. Ihr Onkel hatte Urlaub genommen und sie hatte endlich Ferien. Die Weihnachtszeit war für Terry immer die schönste Zeit im Jahr, dennoch war sie dieses Jahr mit sich unzufrieden. Auch die Stadt war geschmückt und auf den Straßen, zwischen den Ständen des Weihnachtsmarktes und in allen Geschäften herrschte reges Treiben. Ein verkleideter Nikolaus stampfte Glöckchen läutend die Straße auf und ab. Weihnachten war schön, aber dieses Jahr war ihr alles zu laut und zu hektisch. Dennoch freute sie sich, endlich alle Geschenke für das kommende Weihnachtsfest beisammen zu haben, sogar die handgetöpferte Vase für ihre Großmutter.

Terry fröstelte und auf ihrer Stirn bildete sich Schweiß. Da war wieder diese Vorahnung! Oder hatte sie sich nur eine Grippe eingefangen, da sich ihr Magen einfach nicht beruhigen wollte. Der Schweiß lief ihren Rücken runter und gleichzeitig kroch die Angst ihren Nacken empor. Sie hasste es, wenn diese Unruhe sie überfiel. Aus irgendeinem Grund machte ihr der Aufzug heute besonders viel Angst und sie wandte sich in Richtung Treppenhaus, als lautes Sirenengeheul zu hören war. Übelkeit überkam sie. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte. Sekunden vergingen, dann meldete sich eine Stimme: „Theresa?“

So nannte sie nur ihre Großmutter, dachte sie und schluchzte.

„Theresa, was ist los?“, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Terry zögerte, sie wusste keine Antwort. Sie machte drei weitere Schritte in Richtung Treppenhaus, als der Boden unter ihr wie unter einer weit entfernten, schweren Explosion zu erzittern begann. Das Beben schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen, es war überall. Ein Erdbeben? Als hätte jemand die Zeit angehalten, wurde es einige Sekunden mucksmäuschenstill.

Die wartenden Menschen schauten mit verängstigten Gesichtern, unschlüssig, was sie tun sollten. Niemand wusste was passiert war. Dann, als sich der Boden unter ihren Füßen bewegte, geriet die Menge in Panik und vor Terrys entsetzten Augen stürzte ein großer Teil der Decke auf alle vor dem Fahrstuhl wartenden Menschen. Nur einen Augenblick später krachte eine komplette Wand des Einkaufszentrums in einer Wolke aus Staub und Trümmern in sich zusammen.

Terry stand starr vor Entsetzen. Noch immer hielt sie ihr Handy in der Hand. Mit aufgerissenen Augen stand sie unfähig zu irgendeiner Bewegung vor der Tür zum Treppenhaus.

„Die Wand! Geh‘ da weg, die Wand bricht ein!“, brüllte sie jemand an. Sie blieben stehen und sahen ihn an. Die Luft war angefüllt mit einem furchtbaren Donnern, in das sich das Klirren von zerbrechendem Glas und das Krachen von einstürzenden Mauern mischten. Sie rührte sich nicht vom Fleck und zitterte mit offenem Mund. Nichts ließ sich mit dem vergleichen, was sie jetzt sah: das Gebäude schwankte, überall prasselten Steine, Zementbrocken und Metallteile von den oberen Stockwerken herab. Menschen schrien in hilfloser Panik. Das Getöse war kaum zu ertragen, aber noch schlimmer war das lähmende Entsetzen, das sich in Terry ausbreitete.

Was geschah hier? Sie musste träumen! Das konnte gar nicht echt sein.

„Kommen Sie! Wir müssen weg!“, schrie sie jemand an. Sie schüttelte geschockt den Kopf.

„Ich kann nicht…“, stotterte Terry. Sie hielt noch immer ihr Handy in der Hand.

„Oh doch, sie können! Das ist die einzige Chance, die wir haben!“, laut hustend packte sie jemand an der Schulter und zog sie ins Treppenhaus. Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, dass starke Arme sich um sie legten und mit lautem Wimmern vergrub sie sich in diese schützenden, unbekannten Arme.

Genau in diesem Augenblick krachte über der Stelle an der Terry gestanden hatte, die Decke herunter. Staub und Schutt folgten den Betontrümmern. Sie konnte durch die geöffnete Tür erkennen, wie die Decke in sich zusammenfiel, bevor jemand die Tür zuwarf.

Sie nahm verschwommen wahr, das ein Feuerwahrmann in sein Funkgerät schrie: „…sofortiger Rückzug…, wir müssen sofort hier raus. Das Gebäude wird einstürzen…“ Ihre Augen tränten. Der Mann der sie festhielt, atmete kurz durch.

„Wir müssen weiter…“

Plötzlich erzitterte das Gebäude, ein tiefes Grollen war zu hören und dann wurde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Der Lärm und die Zerstörung setzten sich endlos lange fort. Terry fiel in die Tiefe und hörte sich selbst aufschreien.

Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, waren die vielen entsetzlichen Todesschreie, die ihr bis ins Mark drangen, als das Gebäude endgültig aufgab und einstürzte.

2

Aus irgendeinem Grund konnte Terry ihren rechten Arm nicht mehr bewegen, ihre Lunge fühlte sich an, als wollte sie bersten und ihre Rippen schmerzten. Es war dunkel und ihr war kalt. Warum bloß war es so dunkel? Was war eigentlich passiert? Wenn doch nur diese unerträglichen Schmerzen in der Brust nicht wären, vielleicht könnte sie sich dann erinnern, was passiert war. In drei Tagen war doch Weihnachten!

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie wirklich schreckliche Angst. In der bedrückenden Stille um sie herum war außer ihrem Herzschlag nur ein leises Poltern zu hören. Steine lösten sich irgendwo und rieselten auf die Erde. Zuerst waren die Stimmen undeutlich, eher ein Gemurmel in der Dunkelheit. Terry lauschte angestrengt, um die Worte auszumachen und zu verstehen. Dabei hörte sie sich selbst stöhnen.

„Hallo, ist da jemand?“, fragte eine hustende Männerstimme im Dunkel gar nicht weit von ihr entfernt.

„Jannik, bist du das?“ Mike hatte einiges abbekommen, aber sein eiserner Wille zum Überleben ließ ihn mühsam aufstehen.

„Ja, alles klar bei dir?“, antwortete der gepresst. Aus mehreren Ecken vernahm Terry, die mit geschlossenen Augen dalag, jetzt ganz deutlich verschiedene Stimmen. Sie wollte schreien, rufen, sich irgendwie bemerkbar machen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ein Mann brüllte irgendwo im Dunklen.

„Macht Meldung, verdammt! Ich will wissen wo ihr seid.“

„Alles in Ordnung. Reg dich ab Jay.“ Eine Stimme aus einer dunklen Ecke. Sie klingt jung. Verzweifelt schloss sie wieder die Augen, die sie zuvor aufgerissen hatte, um irgendetwas zu erkennen. Doch es war zwecklos, es war sowieso stockdunkel. Sie konnte die Stimmen hören, doch sie konnte ihnen nicht folgen. Sie war unendlich müde! Terry schluchzte erschöpft.

„Mike, hast du eine Taschenlampe? Ich kann meine nicht finden und hier ist noch jemand.“

Terry spürte wie eine Hand ihr Bein ertastete. Vor Freude hätte sie heulen können, nur hatte sie keine Kraft mehr dazu. Sie versuchte ihre Beine zu bewegen, aber es ging nicht. Die Muskeln verweigerten ihr einfach den Dienst. Jemand schaltete eine Taschenlampe ein und richtete den Strahl direkt in Terrys Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, weil das grelle Licht der starken Taschenlampe sie blendete. Das reichte dem Mann offenbar als Lebenszeichen.

„Hey, hier lebt noch jemand, Jungs! Helft mir mal, sie ist eingeklemmt.“ Er robbte sich vorsichtig tastend unter dem Balkengewirr entlang, bis er neben Terry zum Liegen kam.

„Hallo, ich bin Jannik. Und wie heißt du?“ Terry wollte ihm antworten, doch der Staub brachte sie nur zum Husten und die Schmerzen setzten erneut ein.

„Tu mir den Gefallen und schlaf jetzt nicht ein! Du musst uns gleich helfen.“ Sie schloss die Augen, um abzuwarten, was da noch auf sie zukam. Überall hörte sie Stöhnen, Stimmen und leise Gespräche. Ihr Mund war trocken, staubtrocken und sie hatte Durst, einen solchen Durst…

Etwas Feuchtes lief ihr über die Wange, doch sie konnte es nicht fortwischen. Sie dachte an ihre toten Eltern, an ihre Oma, die in jeder Lebenssituation eine passende Weisheit parat hatte. Männer sprachen durcheinander und hin und wieder leuchtete eine Taschenlampe durch die mit Staubwolken versetzte Luft. Terry drehte ihren Kopf soweit es ging nach links, ohne dass die Schmerzen erneut kamen. Sehen konnte sie nichts, als ein markerschütternder Schrei durch das Dunkel schallte.

Sie zuckte vor Schreck zusammen und stöhnte, ohne dass sie es wollte. Der Mann neben ihr murmelte beruhigende Worte. Sie hatte solche Angst! Irgendwie kam ihr alles wie ein böser Traum vor.

„Wie heißt du?“, fragte der Mann neben ihr noch einmal.

„Terry!“, flüsterte sie, wusste aber nicht, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Im Grunde war es ihr auch egal, sie wollte nur noch schlafen.

„Wir holen dich jetzt erst einmal hier weg.“

Terry schreckte aus ihrem Dämmerzustand auf.

„Ich lege dir jetzt etwas auf dein Gesicht, nicht erschrecken.“

Taschenlampen leuchteten auf. Terry schluchzte und nickte
in einem. Sie wollte *NEIN* schreien, konnte aber nur husten. Irgendetwas wurde ihr aufs Gesicht gelegt, dass sie dachte, sie müsste darunter ersticken. Entschlossen ergriff Mike einen dicken Pfosten und zerrte ihn hin und her. Staub und Mörtel fielen von ihm ab, doch mit einem Ruck hatte er ihn locker. Gebückt schleppte er ihn zu dem Schutthaufen, unter dem Terry lag. Gemeinsam mit Manuel zwängte er den Pfosten unter den Balken, so dicht wie möglich an Terrys Kopf. Jannik, der noch neben Terry lag, legte die Taschenlampe zur Seite.

„Wenn du merkst, dass der Balken sich hebt, dann zieh sie raus!“, wies ihn Mike an.

„Wir müssen erst den Arm befreien“, meinte Jim.

Terry, die längst ihr Bewusstsein verloren hatte, bekam nicht mehr mit, wie Jannik den Arm vorsichtig auf sie legte. Gleichzeitig warfen sich Mike und Manuel mit aller Kraft auf das Ende des Pfostens. Er knirschte und einen Augenblick lang passierte überhaupt nichts. Noch einmal warfen sich die beiden auf das Pfostenende und schnauften vor Staub und schlechter Luft. Dann knarrte es, Staub und kleine Steinchen prasselten auf die Erde und der Balken hob sich um einige Zentimeter. Terry spürte nicht mehr, wie sie Stück für Stück aus dem Schutt gezogen wurde. Mit äußerster Mühe gelang es den vier Männern, sie zu bergen. Dann blieben auch die Retter mehrere Minuten lang keuchend und nach Luft ringend liegen.

„Wie geht es ihr?“, fragte Jannik besorgt.

Mike hob die Taschenlampe und nahm das Tuch von Terrys Gesicht.

„Sie ist bewusstlos. Ist vielleicht gut so. Sie muss nur dringend medizinisch versorgt werden. Der ganze Staub ist gar nicht gut.“

„Bleib du bei ihr Mike, wir schauen nach den anderen und ich schick dir Ted. Er soll sie untersuchen“, entschied Jannik und ging gebückt und vorsichtig zu den anderen Männern. Nur langsam kam Terry zu sich. Angst beherrschte sie und sie rang panisch nach Luft.

„Hallo, da bist du ja wieder“, hörte sie eine fremde Stimme sagen. Sie konnte nicht antworten, denn sie rang noch nach Sauerstoff und schaute nur mit großen Augen in die aufleuchtende Taschenlampe. Tränen liefen ihr über die staubbedeckten Wangen und hinterließen helle schmierige Spuren. Ihre Arme und Beine waren völlig gefühllos. Sie versuchte sich zu bewegen, aber nichts passierte. Panik machte sich in ihr breit. Ihr Atem kam stoßweise. Im nächsten Moment legten sich zwei Arme unter ihre Schultern und zogen sie vorsichtig in eine sitzende Position. Sie bekam endlich Luft und japste bei jedem Einatmen.

„Besser so?“, fragte Mike und legte stützend seine Arme um sie.

„Ich kann gar nichts fühlen. Ich kann mich nicht bewegen!“, flüsterte sie heiser und zitterte.

„Ruh dich aus, das kommt wieder. Wir warten hier auf Hilfe und dann sehen wir weiter“, bekam sie zur Antwort. Doch die Worte hörten sich längst nicht so beruhigend an, wie Mike das erhofft hatte. Terry sagte darauf nichts - was auch! Sie versuchte das Klappern ihrer Zähne in den Griff zu bekommen und konzentrierte sich darauf, so flach wie möglich zu atmen, um die Schmerzen erträglicher zu machen.

Mike spürte einen dumpfen Schmerz an seinem Kopf und kämpfte mühsam gegen die Schwärze die sich wie ein Schleier um seine Augen schloss. Es würde nichts ausmachen, die Augen einen Moment zu schließen, es war sowieso stockfinster. Sein Helm hatte eine tödliche Verletzung verhindert. Ihm war schlecht und sein Kopf pochte mit dem Rhythmus seines Herzschlags. Er hustete.

„Mike!“

„Ja“, antwortete der Mann, der Terry mit seinen Armen stützte. Eine Taschenlampe leuchtete kurz zur Orientierung auf.

„Elf unserer Männer haben den Einsturz überlebt. Eine kurze Atempause entstand.

„War Ted hier? Wie geht’s der Kleinen?“

„Ja, er hat kurz nach ihr geschaut. Ihr Arm ist gebrochen. Sie hat eindeutig eine Gehirnerschütterung und ihre Rippen sehen auch nicht gut aus. An der linken Hüfte ist eine offene Wunde, die sollte so schnell wie möglich genäht werden.“ Der Mann brummte etwas, das Terry nicht verstand.

„Marco ist schwer verletzt, hat sich die Schulter ausgerenkt und muss auch dringend versorgt werden. Ansonsten nur ein paar Schürfwunden und Prellungen, was ich persönlich als Wunder bezeichne… Jack hat es nicht geschafft“, fügte er eine Tonlage leiser hinzu. Die vier Männer, die um Terry herum saßen, schwiegen. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Es vergingen einige Minuten.

„Habt ihr keine lebenden Zivilisten gefunden?“, fragte Mike müde.

„Nein“, kam die erschreckende Antwort.

„Wir hatten Glück im Unglück, wir können uns recht gut bewegen, doch einen Ausgang haben wir nicht gefunden.“

Terry hörte dem Gespräch nicht mehr zu. Mit dem Rücken an Mike gelehnt schlief sie irgendwann ein und träumte davon zu tanzen… sich der Musik hinzugeben, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie probierte mehrere schnelle Drehungen, ihre Haare wirbelten nur so um sie herum. Es gab nichts Schöneres als zu tanzen. Ihre Eltern schauten zu. Sie tanzte im Sonnenlicht auf einer grünen Lichtung im Rhythmus der Musik. Plötzlich verdunkelte sich die Sonne und die Musik verstummte. Angst befiel sie und sie zitterte, als der Boden unter ihnen zu erzittern begann. Terry sah erschrocken auf und verbarg den Kopf instinktiv in Mikes Armen. Ihr Herz raste. Staub und Geröll lösten sich und rieselten erneut auf sie herab. Als es ruhiger wurde, öffnete Terry vorsichtig die Augen und blinzelte den Staub weg. Sie konnte etwas sehen! Mehrmals blinzelte sie, als könnte sie es nicht glauben, dass Licht ins Dunkel fiel. Ein Lichtblick! Freude machte die Runde.

„Los jetzt Leute! Lasst uns zusehen, dass wir hier raus kommen!“, rief einer der Männer.

„Ich möchte wissen, was da draußen los ist“, sagte Mike zu dem Sprecher.

„Die Funkgeräte haben keinen Empfang, ich weiß nicht, ob man uns sucht. Mike, bleib du hier bei der Kleinen. Robin kümmert sich um Marco“, ordnete Jay an.

„Terry“, murmelte Terry. „Ich heiße Terry.“

Jay schaute sie kurz an.

„Terry“, wiederholte er ihren Namen, nicht gewohnt, dass man ihm ins Wort fiel.

„Vermutlich wird der Rest des Gebäudes auch einstürzen. Seid bloß vorsichtig! Wir müssen schleunigst raus“, murmelte er mehr zu sich selbst.

„Was ist mit Jack?“, fragte jemand von hinten aus dem Dunklen. Jay schüttelte im Dämmerlicht den Kopf.

„Jack müssen wir später holen.“ Ein junger Mann trat hektisch nach vorne, so dass Terry ihn sehen konnte.

„Wir können ihn doch nicht hier lassen.“

„Robin, ich weiß es ist schwer für dich, aber erst mal gibt es andere Prioritäten. Wir holen ihn später“, antwortete Jay bestimmt. Robin sah Terry feindselig an. Sie konnte seinen kalten Hass auf sie spüren. Was hatte sie ihm nur getan? Terry konnte sich keinen Reim darauf machen.

„Geh zu Marco und hilf ihm“, sagte Mike besänftigend an Robin gewandt, denn er spürte, wie Terry unter Robins Blick erschauderte. Irgendwann döste Terry ein, ohne Zeit-gefühl. Früher hatte sie nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, jetzt war alles ganz anders. Sie fühlte eine eisige Kälte, die durch jede Faser ihres Pullis drang. Ihr Herz raste bei dem Gedanken, sich bewegen zu sollen. Sie hörte wie die Männer sich lautstark einen Weg durch das Geröll bahnten. Mehrmals erzitterte der Boden unter ihnen. Es war ein unheimliches Szenario. Terry konnte sich nicht vorstellen, was geschehen war und wollte sich darüber auch keine Gedanken machen. Jetzt noch nicht! Langsam spürte sie ihre Beine wieder. Es beruhigte sie, dass ihr Blut neu zirkulierte, doch auch die Schmerzen machten sich jetzt bemerkbar. Jeder kleinste Huster, den der aufwirbelnde Staub verursachte, steigerte ihre Schmerzen ins Unerträgliche. Ihre Arme und Beine, ihr ganzer Körper schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen. Sie schluchzte, denn sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, am Rande ihres Bewusstseins zu stehen. Und sie hasste es, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren.

„Das wird schon wieder, bleib einfach ruhig liegen“, versuchte Mike sie zu beruhigen. „Sobald wir hier raus sind, kommt Hilfe.“

„Was ist bloß passiert?“, fragte Terry, die gar nicht auf die Idee gekommen wäre, irgendeinen Teil ihres Körpers zu bewegen. „Wir hatten eine Bombendrohung. Es hieß ein Terroranschlag. Deswegen kamen wir überhaupt hierher ins Einkaufszentrum“, erzählte Mike. „Wir sind nicht weit gekommen, um zu evakuieren. Genau genommen nur bis in dieses Treppenhaus“, murmelte er mehr zu sich selbst.

„Wir haben einen Weg nach draußen!“, hörten sie Jay nach einiger Zeit rufen. Erschöpft setzte der sich neben Mike nieder. „Die Luft wird besser, also lasst uns die beiden Verletzten rausbringen.“

„Ist schon irgendetwas von den Rettungsmannschaften zu sehen?“, fragte Robin. Jay antwortete nicht, aber etwas an seiner Körperhaltung ließ Robin schweigen.

„Die Entscheidung, uns selbst zu helfen, war richtig. Es gibt noch immer keinen Funkkontakt“, sagte Jay gezwungen, „und die Akkus geben den Geist auf.“ Mit einem Ächzen stand er auf, ging zu seinem toten Kameraden und gab ihm die letzte Ehre.

„Nein!“, schrie Robin. „Kommt nicht in Frage! Ich lasse ihn nicht in diesem Drecksloch!“

Jay stand da und schaute Robin fest ins Gesicht. Terry starrte Jay mit aufgerissenen Augen an, ein Fremder mit kalten Augen und hartem Mund. Er war gewohnt, Befehle zu erteilen. Terry hatte Angst vor ihm, gleichzeitig strahlte er eine gewisse Sicherheit aus. Er sah aus, als ob er wüsste, was zu tun war. Mike drückte sie leicht an sich, um sie zu beruhigen. In Robins Augen jedoch blitzte die pure Mordlust.

„Ich entehre keinen Toten!“, schnappte er.

Jay schaute fassungslos.

„Was sagst du da? Wir entehren deinen Vater nicht! Er hätte es nicht anders gewollt und das weißt du! Er ist gestorben, um anderen Menschen zu helfen. Das war sein Leben, das ist unser Leben und…“, er stockte kurz, „wenn es nicht dein Leben ist, solltest du dir überlegen, ob du in der Feuerwehr richtig bist“, antwortete Jay mit knurrender Stimme.

„Geh zu den anderen, die können deine Hilfe brauchen“, schickte er Robin keinen Widerspruch mehr duldend weg.

Terry hatte gar nicht bemerkt, dass sie während dieser Auseinandersetzung die Luft angehalten hatte. Nun machte sie einen tiefen Atemzug und musste gleich darauf husten. Jay bückte sich, um Mike zu helfen und Terry schaute ängstlich zu ihm auf. Der zwinkerte ihr nun aufmunternd zu.

„Pass auf den Arm auf!“, mahnte Mike. Die beiden Männer bewegten die Verletzte sehr vorsichtig, Terry konnte trotzdem ihre Panik kaum unterdrücken. Als Jay sie im Arm hielt und vorwärts ging, konnte sie ein Stöhnen nicht verhindern, so tapfer sie auch sein wollte. Tränen schossen in ihre Augen. Hinter sich hörte sie den verletzten Mann ebenfalls ächzen, dem es anscheinend nicht besser erging. Immer wieder rieselte Staub auf sie nieder, viele Male bebte die Erde, waren Explosionen zu spüren. Und immer wieder, wenn sie ein Stöhnen nicht verhindern konnte, flüsterte ihr irgendjemand ermutigende Worte ins Ohr. Sie wurde weitergereicht wie eine Puppe, ihre Brust schmerzte und Staub brachte sie immer zum Husten. Ihre Kehle fühlte sich trocken und blutig an. Wie sollte sie das schaffen? Ihre Lider flatterten, aber sie biss die Zähne zusammen und versuchte angestrengt, die Augen offen zu halten. Sie wollte nicht aufgeben! In der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins erschien ihre Oma, lächelte und hüllte sie in einen dicken, wärmenden Mantel.

3

Fünf Monate vorher in einer Tageszeitung

Virologen ist es gelungen, Mutanten des H7N9-Erregers im Labor zu erschaffen. Bisher haben sich die Grippeerreger zwar vornehmlich unter Vögeln ausgebreitet, doch in diesem Fall wurde ein Mutant entwickelt, der für uns Menschen gefährlich werden könnte. Das Experiment einer genetisch veränderten Variante des Erregers, so heißt es, sei geglückt. Anschließend solle der Virus an Frettchen oder Meerschweinchen getestet werden. Beide Tierarten gelten als gute Modellorganismen, weil ihr Immunsystem dem menschlichen ähnelt. Wenn die Experimente gelingen, werden sich die Erreger rasant unter den Tieren ausbreiten und diese womöglich töten. Die Virologen inszenieren also einen realistischen Fall, um alle potenziellen Risiken einschätzen zu können, die die Viren für den Menschen darstellen. Die Bevölkerung fragt sich jedoch, wozu dies gut sein soll.

Die Wissenschaftler sind inzwischen vorsichtiger geworden, wenn es um Versuche mit gefährlichen Virusmutanten geht. In den vergangenen Jahren ist es ihnen gelungen, mehrere Virenstämme genetisch so zu manipulieren, dass auch Menschen sich anstecken können. Was die Wissenschaft als Erfolg verbucht, versetzte die Öffentlichkeit jedoch in Panik. Medien bezeichneten schon vor Jahren die mutierten Erreger als „Superviren“. Dr. Damon Bormann, der renommierteste der Wissenschaftler, war auf diesem Gebiet der führende Kopf. Die Fachmagazine zögerten sogar, Bormanns Ergebnisse zu publizieren, weil sie befürchteten, dass sie Terroristen in die Hände fallen könnten. Seit den Achtzigerjahren, nach dem großen Chemieunfall in Österreich, wurde es jedoch ruhig um ihn. Noch heute sind einige seiner größten Kritiker davon überzeugt, dass er als Mitverantwortlicher an diesem Unfall und den in der Folge auftretenden verheerenden Auswirkungen auf Flora und Fauna hätte angeklagt werden müssen. Doch man konnte Dr. Bormann nie etwas nachweisen. Die Katastrophe rüttelte Öffentlichkeit und Politik wach. Menschenketten demonstrierten damals gegen die Umweltkatastrophe und machten Druck auf die Politik, schnell aktiv zu werden.

*

Unruhe und Aufruhr greifen um sich. Die Möglichkeit einer neuen Biowaffe im Besitz von Terroristen hat in den vergangenen Wochen die öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Trotz Genfer Protokoll forschen Deutschland und andere Staaten an Abwehrmechanismen, um für den Fall eines terroristischen Bio- oder Chemieanschlags gewappnet zu sein. Die Biowaffenkonvention erlaubt die Erforschung potenziell waffentauglicher Erreger, wenn dies durch Vorbeugungs- und Schutzmaßnahmen oder sonstige friedliche Zwecke gerechtfertigt ist. Es ist eine Tatsache, dass sich noch immer zahlreiche Terroristen weltweit bewegen und die Gefahr scheint immer größer zu werden. Es geht um den Rückzug der USA nicht nur aus der arabischen und islamischen Welt, sondern aus der Weltpolitik insgesamt. Der Kampf gegen den Westen dauert an. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass rund zweihundert Personen, die einen Bezug zu Deutschland aufweisen, einen terroristischen Hintergrund haben und es werden immer mehr. Seitdem bekannt wurde, dass Behörden in Marokko eine Terrorgruppe festgesetzt hatten, die über biologische Waffen verfügte, klingeln in allen Staaten die Alarmglocken. Die Frage nach den in diesen Waffen enthaltenden Stoffen konnte nicht endgültig geklärt werden. Es war von einem Virus die Rede, der das Nervensystem angreifen und schwere Umweltschäden verursachen könnte. Weiter hieß es, dass diese Terrorgruppe Verbindungen zu Terrormiliz IS haben soll. Aus Angst vor Bioterrorismus haben Wissenschaftler ihre Forschungen an einem im Labor entwickelten Supervirus gestoppt.

Die Experimente mit der neuen Variante des Vogelgrippe-Erregers wurden sofort eingestellt und die Behörden informiert. Gesundheitspolitiker arbeiten nun unter Hochdruck an geeigneten Maßnahmen, damit der Erreger nicht in falsche Hände gerät. Die USA und andere Länder befürchten, dass Terroristen mit diesem gefährlichen und hochansteckenden Virus Biowaffen bauen könnten. Nach der Freisetzung einer derartigen biologischen Waffe ist keine vollständige Kontrolle mehr möglich. Die Erreger können sich als lebende Organismen in allen Lebewesen eigenständig vermehren und durch Mutation spontan verändern. Selbst Täter können so zu Opfern werden. Der Einsatz solcher Erreger hat unabsehbare Folgen für die Umwelt und den Menschen. Viele Bakterienstämme sind zudem resistent gegen Penicillin und andere Antibiotika.

Antibiotika sind nicht gegen Viren wirksam, da Viren keinen Stoffwechsel besitzen. Aus diesem Grund ist nur unser eigenes Immunsystem in der Lage, die Viren zu bekämpfen. Einer Virusinfektion kann vorgebeugt werden, indem das Immunsystem auf die Bekämpfung des Virus vorbereitet wird. Dagegen steht die Impfmüdigkeit der Bevölkerung, wie bei der Schweinegrippe zu sehen war. Wissenschaftler sind besorgt über die Existenz einiger mutierter Virenstämme. Überdies widerspricht der Einsatz solcher Waffen im Sinne des internationalen Rechts auch ethischen Grundsätzen. Wozu also solche Experimente? Wer sind die Auftraggeber?

Zwar wollten die Forscher mit ihren Versuchen die Voraussetzung schaffen, wirksamere Impfstoffe gegen Vogelgrippe und andere Viren zu entwickeln und Infektionen zu verhindern, doch das Ergebnis könnte ungewollt genau den gegenteiligen Effekt haben. Auf jeden Fall ist der mutierte Vogelgrippe-Erreger eine tödliche Bedrohung für die Weltbevölkerung, zumindest sieht das die Regierung der USA so. Die zerstörende Wirkung, die von dieser Bedrohung ausgeht, kann in Raum und Zeit weit über das eigentliche Ziel hinausgehen. Die Bedrohung von Mensch und Umwelt durch biologische Waffen hat zu einem weltweiten Verbot dieser Waffen geführt.

Der US-Geheimdienst sah es als erwiesen an, dass das syrische Regime Chemiewaffen gegen das eigene Volk eingesetzt hatte. Warum forscht man an biologischen Kampfstoffen, wenn man bereits weiß, welchen Schaden solche Waffen anrichten können?

Abschließend rufen wir die verantwortlichen Regierungen auf, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um das weltweite Verbot biologischer Waffen durchzusetzen. Gerade die Gentechnologie kann auf unterschiedliche Weise für biologische Waffen eingesetzt werden. Milzbrand oder Pest können durch Genforschungen noch tödlicher werden. Für eine Welt in Frieden! Für heute können wir noch Entwarnung geben, morgen wird sich die Situation möglicherweise schon geändert haben. Zum einen aufgrund bedenklicher politischer Entwicklungen, zum anderen aufgrund ständiger Fortschritte in der Biomedizin. Der Terrorismus stellt auch in Zukunft eine sehr reale Bedrohung dar, auch für Deutschland.

4

Er faltete grinsend die Zeitung zusammen und legte sie ordentlich auf den Tisch neben sich. Alles was im Fernsehen lief, im Radio gesendet und in den Zeitungen stand, waren Schreckensbilder, aber nur Ahnungen dessen, was sie tatsächlich erwartete. Als ob sich alles nur um Religion, die USA oder gar die Weltpolitik drehen würde. Er schüttelte unbewusst den Kopf. Sollten sie nur noch eine Weile Angst schüren. Er war Mediziner, jedoch vor allem Wissenschaftler.

Er, Dr. Damon Bormann. Er und sein Team hatten ein großes Ziel. Die Elite der Welt arbeitete schon so lange an diesem ihrem Ziel. Gut, er war Mitglied der Elite, doch er teilte viele ihrer Grundsätze nicht. Sein Ziel war es, die Erde zu retten! Manch andere würden vielleicht behaupten, er spiele Gott. Nun, er war nicht Gott, eher ein Helfer. In gewisser Weise war er ein Engel.

Er schmunzelte über diesen Gedanken. Doch selbst ein wohlwollender Gott setzte bisweilen Gewalt und Zerstörung ein, um seinem Willen Nachdruck zu verleihen. Schon mit der Sintflut setzte er den Menschen ein Zeichen. Auch in der Offenbarung hieß es: Und der erste Engel blies seine Trompete. Und es entstand ein Hagel und Feuer, mit Blut vermischt, und er wurde zur Erde geschleudert und ein Drittel der Erde wurde verbrannt, ein Drittel der Bäume wurde verbrannt, und die ganze grüne Pflanzenwelt wurde verbrannt.

Zuerst würden der Schmerz kommen und die Verluste. Um die Weltordnung zu bewahren, mussten Opfer gebracht werden! Am Ende aber würde es die Sache wert sein. Seine Philosophie würde den Menschen die Möglichkeit geben, wieder in Freiheit und in Harmonie miteinander zu leben. Die Menschen, die sich geistig von der Außenwelt abschotteten, mit all‘ der hochmodernen Technik, Musikplayern oder Handys werden wieder den Blick auf ihre Mitmenschen richten. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nun, sollten doch alle glauben, Terroristen wären am Werk. Eines Tages würden die Überlebenden zwar die Wahrheit erkennen, das ließ sich nicht vermeiden, aber dann wäre es sowieso zu spät. Pech für die Menschheit mit ihren vernichtenden Energien… Korruption, Manipulation und Bestechung beherrschten die Welt und das alles ganz legal. Die Erde wurde schamlos missbraucht. Er würde jedenfalls nur einen kleinen Teil der Menschheit retten, damit die Erde genesen konnte. Seit es Menschen gab, wurde die Macht der besseren Waffen genutzt. Die Menschen lernten einfach nichts dazu, sie würden sich unweigerlich irgendwann selbst zerstören.

Die letzten Tests waren alle positiv verlaufen, es blieb nichts zurück, was zusätzliche Arbeit machte oder Krankheiten hervorrief. Damit war das Risiko der Seuchengefahr durch zu viele Leichen zu achtzig Prozent eingedämmt. Der einfachste Weg, die menschliche DNA zu verändern, war durch einen Virus. Infolgedessen waren Viren nicht unbedingt negativ. Er wollte einen Menschen kreieren, der frei war von allem Übel.

Er lachte kurz auf. Die Menschen wussten nicht, was wirklich auf sie zukam. Nun war es soweit, sein Virus war bereit…er würde dazu beitragen, dass es nicht zur Überbevölkerung kam. Die Entschlüsselung dieses besonderen Proteins war das Beste! Er hatte das dazugehörige Gen geklont und wieder eingefügt. Die Experimente, die er damit betrieben hatte, waren alle erfolgreich abgeschlossen und er hatte nur die Besten mitgenommen. Sie kannten nun die genetische Basis, die ja bereits von einigen Wissenschaftlern analysiert wurde und die sie nun nach Belieben änderten und weiterentwickelten.

Keiner würde sich mehr um Terroristen, irgendeinen Machthaber oder um einen Religionskrieg Gedanken machen. Sein Virus war perfekt. Er rieb sich unbewusst die Hände. Und er konnte ihn steuern. Er hatte die Kontrolle! Ärgerlich war nur, dass das syrische Lager nun die öffentliche Aufmerksamkeit auf chemische Kampfstoffe lenkte und damit auch auf sein Projekt.

Ob nun in einem oder in zehn Jahren, sobald es eine neue Waffe gab, würde man sie - im Namen des Guten - benutzen. In den letzten Jahren hatte er seine Macht häufiger genutzt, im Sinne der Wissenschaft natürlich, unauffällig aber wirksam. Seine Auftraggeber bezahlten gut. Hier und dort mal einen Erreger, eine kleine, fast harmlose Seuche unter die Menschheit bringen und zuschauen, wie Panik aufkommt. Dass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihr Leben hatten, bemerkten sie gar nicht. Die meisten Menschen, die die kurze Krankheit mit einem Virus durchlaufen, ändern sich, haben einen neuen Beruf, eine neue Denkstruktur. Sie sind sicher in dieser Zeitperiode sehr krank, müde oder hoffnungslos. Die psychischen Auswirkungen waren zwar nicht abzusehen, aber zumindest abzuschätzen. Trotzdem ist es ein Geschenk. Das Einsetzen von C-Waffen dagegen rüttelte die Öffentlichkeit auf. Das wollte er vermeiden. Schweinegrippe, Vogelgrippe, Ehek andere kleinere Virenstämme, mit denen er auf der ganzen Welt experimentiert hatte, alles nur kleine Übungen. Das beste Experiment war, die Inhaltsstoffe von Pflegemitteln mit manipulierten Genen zu vermischen, um mittels Hautkontakt über einen längeren Zeitraum die DNA der Menschen zu verändern. Es dauerte leider nur zu lange.

Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze der Heiterkeit und etwas Irres trat in seinen Blick. Es hatte ihm mehr Freude bereitet, als er zugeben mochte. Er hatte sich diszipliniert an seinen Zeitplan gehalten und es hat funktioniert. Ein Teil seines Plans bestand darin, Chaos zu stiften. Über ein halbes Jahr hatte er die Menschen in dieser Stadt in Atem gehalten. Er hatte mehrere Feuer in der Skyline, in der Börse und im Kaufhaus am Römer in Auftrag gegeben, die Feuerwehren und Rettungsdienste waren am Ende. Lang anhaltende Stromausfälle müssten behoben werden, die zum Teil zu Plünderungen führten und die Polizei auf Trab hielt. Und immer war sein Virus mit dabei.

Er bewunderte seine Wissenschaftler sehr, ihre Logik und ihre Visionen. Die Genforschung hatte ihnen in den letzten Jahren einen rasanten Entwicklungssprung ermöglicht. Die Angst der Menschen vor der Genforschung war berechtigt. Vor kurzem wurde sein Virus im Labor ein weiteres Mal verbessert, indem ein Resistenzgen eingepflanzt wurde. Ja, er war stolz auf sein Team. Es war ein gutes, ein herrliches Gefühl. Es war Macht. Und diesmal hatte er die Macht. Mehr als jeder Politiker oder die Presse meinte, dass ein Mann an Macht besitzen dürfe.

Der Unterschied war, ihm ging es nicht um Geld, jedenfalls jetzt nicht mehr. In den letzten fünfundzwanzig Jahren war er in vielen Geschäften tätig gewesen. Mit Hilfe seiner Intelligenz, seines scharfen Verstandes und seines Glaubens hatte er ein geheimes Netzwerk aufgebaut. Mit der besten Technologie, seinem eigenen Satelliten, den geheimsten Waffen und den ergebensten Leuten, die ihm alle Wünsche erfüllten. Nun ja, er wollte nicht größenwahnsinnig wirken, sie erfüllten seine Wünsche, weil er sie gut bezahlte. Schon in den Achtziger Jahren schrieb Carl Friedrich von Weizsäcker, er zweifle nicht daran, dass die Menschheit kaum eine Überlebenschance habe. Der Deutsche sei absolut obrigkeitshörig, des Denkens entwöhnt, ein typischer Befehlsempfänger. Der Deutsche sei ein Held vor dem Feind gewesen, aber er sei ohne jegliche Zivilcourage. Ein angedeutetes Lächeln flog über Bormanns Gesicht. Ihm ging es nicht ums Geld, ihm ging es um die Menschen, die tagtäglich die Erde ausbeuteten, verseuchten und mit Füßen traten. Täglich verhungerten Hunderttausende, weil sie keine medizinische Versorgung bekamen, weil sie nichts wert waren, weil sie kein Geld besaßen. In der neuen, von ihm geschaffenen Welt würde Geld nicht mehr wichtig sein. Es würden nur die Besten überleben, die mit den außergewöhnlichsten Gaben. Sein Team wusste, dass dies eine Möglichkeit darstellt, um die Welt verbessern zu können, eine Möglichkeit, bessere Menschen zu formen.

Er, Bormann, würde sein Werk zu Ende bringen, das stand fest. Und er würde entscheiden, wer mit ihm in diese neue Welt ginge. Alles war vorbereitet! Und es würden nur die Besten mitgehen.