Inhalt

Der letzte Enduro

 

Atlantis

Impressum

Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Januar 2019

Alle Rechte vorbehalten.
© Dirk van den Boom & Thorsten Pankau

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild: Eerilyfair Design
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Endlektorat: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-643-0
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-652-2

Besuchen Sie uns im Internet:
www.atlantis-verlag.de

Prolog

Der Rettungskreuzer Ikarus des Freien Raumcorps wird dafür eingesetzt, in der besiedelten Galaxis sowie jenseits ihrer Grenzen all jenen zu helfen, die sich zu weit vorgewagt haben, denen ein Unglück zugestoßen ist oder die anderweitig dringend der Hilfe bedürfen. Die Ikarus und ihre Schwesterschiffe sind dabei oft die letzte Hoffnung bei Havarien, Katastrophen oder gar planetenweiten Seuchen. Die Crew der Ikarus unter ihrem Kommandanten Roderick Sentenza wird dabei mit Situationen konfrontiert, bei denen Nervenstärke und Disziplin alleine nicht mehr ausreichen. Man muss schon ein wenig verrückt sein, um diesen Dienst machen zu können – denn es sind wilde Zeiten …

X + 500 Jahre
Z − 79500 Jahre

Wolkenschwangeres Grau spannte sich über den Hügeln der Prärie, als Onnok aus dem Jagdzelt trat und mit geschlossenen Nickhäuten zum Himmel blickte. Es war ein warmer Tag, selbst für den Sommer.

Er schulterte seinen Speer und genoss den Wind, der durch sein dichtes Fell strich und die frische Kriegsbemalung trocknete. Stolz reckte er die Brust, damit die anderen die roten und braunen Linien gut sahen, die Mutter ihm aufgepinselt hatte. Dies war sein Mannbarkeitstag. Er gehörte nun zu den Großen.

»Möge Onnok zu uns treten und seinen Platz inmitten der Krieger einnehmen«, rief Anführer Potolka ihm die traditionelle Formel zu. Damit hieß er ihn im Kreis der Erwachsenen willkommen.

Onnok nickte mit feierlichem Ernst und starrte den mit Lehmmustern verzierten Totenschädel eines Koglott an, der Potolkas Kopf fast vollständig umschloss – die Krone des Stammesfürsten, die der nur zu besonderen Anlässen trug. Finster starrten die leeren Augenhöhlen Onnok entgegen.

Er nahm den Speer von der Schulter und trat auf den Anführer zu. Halme stachen ihm in die entblößten Fußsohlen. Das Gras, über das er schritt, war gelb und darbte in der Sommerhitze. Die Ähren standen in voller Pracht.

Mühsam unterdrückte er das freudige Grinsen, als er neben die vierzehn Kriegerfrauen und -männer trat, die um das knisternde Lagerfeuer versammelt standen. Voll Andacht lauschte er der großen Stille. Nur der Wind heulte in den Ästen der hohlen Morshon-Bäume, die das Tal zum Osten hin begrenzten. In der Ferne rauschten die Wasser, die dem Stamm seit Anbeginn der Zeiten als Fischgründe dienten und ihn am Leben erhielten.

Die Kinder – Teekho, Lamunni und Brotol – standen abseits bei den Fischerreusen und tuschelten miteinander. Ihre Mütter zerrten sie auseinander und ermahnten sie zur Ruhe. Beleidigt schwiegen die Kleinen.

Onnok grinste nun doch. Vor zwei Jahrtagen hatte er noch mit den dreien gespielt, sich mit ihnen in den Wäldern die Zeit vertrieben und Mondroven gejagt. Aber das war vorbei. Jetzt war er erwachsen.

Sein Blick streifte Tilla, Triiz und Mindie, die letzten unverpartnerten Mädchen des Stammes.

Als die drei ihn bemerkten, kicherten sie und richteten die tiefschwarzen, felllosen Gesichter verlegen zu Boden.

Onnok biss sich auf die Unterlippe. Sehr bald würde er eine von ihnen schwängern, wie die Tradition es vorsah. Kappa gehörte den Nachkommen und es war eines Kappaners heilige Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihm eine Generation nachfolgte, um die jetzige zu beerben. Die Gottheit verlangte es so.

Bei dem Gedanken spürte Onnok ein angenehmes Kribbeln in seiner Körpermitte. Er konnte es kaum erwarten, dass die Matrone ihn endlich in die Liebeskunst einwies.

Raunen ging durch die Gruppe, als am Schamanenzelt der Vorhang raschelte und beiseitegeschlagen wurde.

Enduuro Ptathkurah erschien im Eingang und trat ins Freie. Er trug den rituellen Lendenschurz, der sein Gemächt bedeckte. In der Hand hielt er den Antenna-Stab.

Fasziniert betrachtete Onnok den Stab: ein glänzendes, unwirkliches Ding, mit dessen Hilfe der Enduuro mit der Gottheit sprach. Der Stab wurde seit Generationen von Enduuro zu Enduuro weitergegeben. Er überragte den Priester um drei Haupteslängen. Die Ahnen, von welchen er stammte, mussten Giganten gewesen sein.

Ptathkurah nutzte den Antenna-Stab als Gehstock, während er altersschwach aus dem Zelt humpelte und ans Feuer trat. Dort hob er die geöffneten Arme zum Himmel, richtete den Stab auf das ewige Grau. Sein Lendenschurz verrutschte unvorteilhaft.

»Eek-Ahr-Us!«, rief er die Gottheit an. »Komme von den Sternen und segne diesen jungen Krieger! Bring ihm Mannbarkeit und mache ihn fruchtbar!«

Unschlüssig betrachtete Onnok den Schurz, der schräg vor Ptathkurahs Körpermitte baumelte.

Was für ein albernes Ding, dachte er, nicht zum ersten Mal. Wie jemand auf die Idee kam, Teile seines Körpers vor anderen zu verbergen, ging ihm nicht in den Kopf. Die Ahnen jedoch, hieß es, hätten ihre Leiber in weite Gewänder gehüllt, denn sie seien »nackt« gewesen.

Für Onnok war das ein Wort ohne Bedeutung. Angeblich hieß es »ohne Fell«, behauptete zumindest Ptathkurah. Die Enduuros galten als klug. Sie wussten Dinge aus der Zeit vor der Zweiten Großen Stille. Angeblich stammte ihre Weisheit von den Vorfahren direkt.

»Eek-Ahr-Us!«, wiederholte der Enduuro den Namen der Gottheit, um dann zu den traditionellen Gebetsfloskeln überzuleiten.

Die Stammesmitglieder, Onnok einbegriffen, schlossen die Außenlider und versenkten sich ins Gebet.

Unvermittelt riss sie das tosende Schallen einer Kampfdröhne aus der Versenkung. Jemand blies voller Kraft hinein in eines der Furcht einflößenden, blasenartigen Instrumente. Dem quäkenden Klang nach zu urteilen, war es keines, das Ptathkurah gefertigt hatte.

Verwirrt öffnete Onnok sämtliche Lider. Was war los?

Er blinzelte in Richtung der Hügel, die das Tal umschlossen. Seine Zweitlider schlossen sich von selbst erneut und schützten seine Netzhäute vor dem Streulicht.

Jetzt erst erkannte er die Gestalten, die winzig und fern auf der Hügelkette standen und finster auf Onnok und die Stammesgenossen starrten. Der Junge schätzte, dass doppelt so viele Ugluti auf den Hügeln lauerten wie Krieger im Tal.

»Ugluti!«, rief Anführer Potolka und zeigte auf die fernen Gestalten. »Sie haben sich während des Gebets angepirscht!«

Onnok wusste, was das hieß.

Die Fremden waren Angehörige eines anderen Stammes. Ungeheuer, deren haarlose Gesichter nicht schwarz waren wie die ihren, sondern unnatürlich grau wirkten und die darum den Tod verdient hatten. Barbaren, die die Gottheit erzürnten, indem sie sich nicht an die vorgegebenen Gebetszeiten hielten. Wenigstens besaßen sie den Anstand, das Ende seines Mannbarkeitsritus abzuwarten.

Die Krieger und Kriegerinnen packten ihre Speere.

Onnok – jetzt einer der Ihren – tat es ihnen gleich. Die Feinde wollten ihr Jagdgebiet. Sie würden jeden Mann metzeln und die Frauen schwängern, um den Stamm und all seine Nachkommen für alle Zeit aus der Welt zu tilgen, wenn sie sie nicht daran hinderten.

Das Tosen der feindlichen Kampfdröhne verstummte. Ein prachtvoll gekleideter Mann, der neben dem Bläser stand und den Onnok für den Enduuro der gegnerischen Gruppe hielt – jeder Stamm hatte einen! –, rief etwas, das er nicht verstand. Jaulend verließen die Ugluti ihre Stellung und stürmten ins Tal.

Onnok stutzte, als die anderen sich näherten. Die Kampfspeere lagen schleuderbereit auf ihren Schultern, doch sie fassten sie nicht am Schaft, sondern hielten sie mit seltsamen, winkelförmigen Hölzern an Ort und Stelle.

Onnok lachte. So ungeschickt, wie die Angreifer ihre Waffen trugen, hatten sie jetzt schon verloren. Bis jeder von denen seinen Speer aus diesem Winkelholz bekam und ihn warf, würden er und die Stammesgenossen sie längst niedergerannt haben. Kein Ugluti konnte auch nur einen Gegner treffen, so viel stand fest.

Der Stammesälteste Ptathkurah gab den Angriffsbefehl.

Konnah und die anderen Matronen des Stammes eilten zu den Zelten, bliesen die Wachkerzen aus und verbargen sich mit den Kindern im Inneren.

Die Krieger von Onnoks Stamm eilten den Ugluti brüllend entgegen. Psirrah und Mognor waren die Ersten, die die Speere warfen – jedoch vorschnell und übereilt. Die Waffen sirrten durch die Luft, um etliche Fußbreit vor den heranstürmenden Angreifern im hüfthohen Gras zu versinken.

Die Ugluti warfen die ihren im selben Moment. Und Onnok erkannte seinen Irrtum.

Anstatt die Schafte mühsam aus den Winkelhölzern zu nehmen, rissen sie die Arme mitsamt der Winkel in einer plötzlichen Bewegung nach vorn.

Die Waffen schleuderten von den Hölzern – einer Art Speerschleuder, wie Onnok jetzt erkannte. Sie verliehen ihnen übermächtigen Schwung. Die Geschosse der Ugluti flogen weiter, als die Stammesgenossen die ihren je hätten werfen können.

Entsetzt starte Onnok einer der Spitzen entgegen, die direkt auf ihn zugeflogen kam. Panisch wandte er sich ab. Doch er reagierte nicht schnell genug.

Das Geschoss traf ihn in den Rücken. Ein scharfer Schmerz stach ihn durch den Oberkörper und plötzlich stak die Spitze blutrot zwischen seinen Brustwarzen hervor. Haare, die der Speer beim Treffer aus dem Fell gerissen hatte, klebten daran und mischten sich mit Blut.

Fassungslos hielt Onnok den Schaft mit beiden Händen und sank auf die Knie. Er versuchte, zu atmen, doch die Luft erreichte seine Lungen nicht mehr. Schmerzensschreie und von Entsetzen gebeutelte Stimmen drangen ihm ans Ohr, aber er nahm sie kaum mehr wahr.

Mit dumpfer Angst sank er hin, sah seinen Stammesgenossen zu, wie sie sich mit den Ugluti bekämpften und einer nach dem anderen gefällt zu Boden stürzte.

Onnoks Sinne schwanden. Schwärze umgab ihn. Und eine tiefe Trauer. Der Tag, an dem er eines der Mädchen schwängern mochte, würde nicht kommen. Dies war das Ende, jetzt und hier.

Kappa gehörte den Nachkommen. Aber es sollten nicht Onnoks sein.

* * *