Geleitwort

Israel ist ein Stück herausgerissenes Mitteleuropa. Der Aufenthalt dort eine Spurenlese in den Hinterlassenschaften von Vergangenheit. Vor allem dann, wenn diese Spuren sich aus Fragmenten einer Zeit fügen, die für den auswärtigen, aus Deutschland kommenden Besucher von einem Ereignis kontaminiert sind, dessen Wirkung Endlichkeit zu überformen scheint: dem Holocaust. Die an den Holocaust erinnernden Spuren sind von den Artefakten des Menschheitsverbrechens an den Orten der Tat auf dem europäischen Kontinent insofern verschieden, als sie sich im Staate der Juden in konkreten, in lebendigen Personen wiederfinden. Und dies weniger in den nur noch wenigen Überlebenden des Verbrechens denn in ihren Nachkommen – und dies in kollektiver Konsistenz.

Die Kollektivität der Juden im Staate Israel stellt den Resonanzboden her, auf dem sich die Vorstellungen von jenem Ereignis gestalten. Der generationell von einer jeden Beteiligung am Verbrechen doch freie Deutsche wird vor diesem Hintergrund auf eine (deutsche) Kollektivität zurückgeworfen, von der er oder sie im eigenen Lande, im Lande der Deutschen, sich längst entfernt zu haben glaubte. In Israel findet sich diese aufs Neue erweckt.

Wolf Iro hat mit dieser Schrift seine (deutsche) Erfahrung mit Israel niedergelegt. Als offiziöser Vertreter deutscher Kultur hat er sich dort der magnetischen Anziehung der Vergangenheit ausgesetzt. Insofern handelt es sich bei seinem Text weniger um eine individuelle Introspektion denn um ein Dokument kollektiver Befindlichkeit. Dazu gehört nicht wenig an Mut. Dies umso mehr, als Israel eben nicht nur ein Terrain deutscher, europäischer Vergangenheit ist, sondern auch Ort einer dramatischen Gegenwart. Diese Gegenwart zieht neben Deutschen und israelischen Juden ein weiteres, ein drittes Subjekt in ihren Orbit: die arabischen Palästinenser. Damit verkompliziert sich die ohnehin komplexe Situation zwischen Deutschen und Juden. Eine Art von Gleichzeitigkeit sich verschränkender Zeiten – von Vergangenheiten und Gegenwärtigkeiten. Das aufgeklärte Bewusstsein empfindet sich geblendet.

Wolf Iro macht sich diese Blendungen zum Thema. Aus der Perspektive seiner Erfahrung in Israel sucht er im Dickicht der jeweiligen Überformungen nach der angemessenen, der ethisch richtigen Haltung. Ihren Anker findet sie in der Prärogative der Empathie.

Dan Diner

September 2018

Die totale Semiotisierung

Vorwort

Mein Lehrer in Frankfurt, der Regisseur Hans Hollmann, pflegte seine Studenten immer daran zu erinnern, dass das Theater ein besonderer Raum sei. »Auf der Bühne wird alles zum Zeichen. Alles, was der Zuschauer sieht, nimmt er als beabsichtigt und damit bedeutsam wahr. Alles. Und sei es ein Paar Socken, die ein Kulissenschieber dort zufällig vergessen hat.«

Daran musste ich denken, als ich im April 2014 nach Israel kam, um die Leitung der Goethe-Institute in Tel Aviv und Jerusalem zu übernehmen. Zunächst trug ich schwer an der Funktion des Direktors einer deutschen Institution im israelischen Staat. Ich hatte das Gefühl, jede Äußerung im Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte und speziell des Holocaust zu tun (der dort die passendere Bezeichnung Shoah trägt).1 Noch die nichtigsten meiner Sätze und Gesten unterzog ich im Geiste einer Vorprüfung auf ihren zeichenhaften Gehalt. Es war die totale Semiotisierung.

Nach einiger Zeit beruhigte ich mich. Man kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag über die Vergangenheit nachdenken. Und man sollte es auch nicht. Denn das hieße, dem Land und seinen Bewohnern die Gegenwart abzusprechen. Gleichwohl bleibt die Tatsache bestehen: Als Deutscher nach Israel zu kommen ist nichts Normales. Was aber heißt das genau? Wie drückt sich diese Unnormalität aus? Die folgenden Überlegungen sind das Ergebnis von Beobachtungen, die ich im Alltag und bei offiziellen Anlässen, im vertrauten Gespräch und bei zahlreichen Veranstaltungen machte, zu denen Deutsche nach Israel kamen und auf Israelis trafen. Ich versuche, psychologische Muster zu beschreiben und Schlüsse daraus zu ziehen. Natürlich entsteht auch ein Bild der Realität vor Ort, wie sie sich mir darstellte. Doch handelt der Essay weniger von Israel selbst als von dem Umgang der Deutschen mit dem Land.

Wer den Eindruck hat, diese Überlegungen betonten zu sehr jene Momente zwischen Deutschen und Israelis, die mit Missverständnissen und Fehlleistungen, Nicht-Kommunikation und Irrtümern verbunden sind, der möge bedenken, dass den Beobachtungen ein eigener und bisweilen schmerzhafter Erkenntnisprozess vorausgegangen ist. Jedenfalls geht es im Text nicht um die Bloßstellung individueller Verhaltensweisen, sondern um die – freilich anhand von einzelnen Beispielen hergeleitete – Analyse eines generellen Bestands. Eines Bestands, der zu der Frage zurückführt, wie wir uns in Deutschland jetzt und in der Zukunft in angemessener, authentischer und produktiver Weise der Shoah erinnern und dazu verhalten können. Der Historiker Christian Meier schreibt: »Denn das Gedenken ist zwar keineswegs bedroht, aber in seiner Wirkung abhängig von den Weisen der Vermittlung: je weiter wir uns von den Ereignissen entfernen, umso mehr«.2 Angesichts des allmählichen Verschwindens der Generation der Zeitzeugen, vor allem aber auch angesichts eines lauter und unverhohlener sich gebärdenden Antisemitismus in Deutschland und der Wahlerfolge einer rechtsextremen Partei bei den Bundestagswahlen 2017 wie auch vielen Landtagswahlen ist die Frage des Erinnerns von besonderer Dringlichkeit.

Ein in diesem Zusammenhang bedeutender Begriff ist der der Empathie. Er wird hier in Bezug zu Israel gesetzt, sollte aber nicht mit unangemessenem Pathos aufgeladen werden. Versteht man Pathos als falsches Gefühl, wird im Text sogar der bewusste Versuch unternommen, antipathetisch zu schreiben, das heißt: falsche Gefühle zu benennen und Alternativen zu skizzieren. Ob dies gelungen ist, mag jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Torschüsse in Tel Aviv

Von konkreter und unkonkreter Erinnerung

Es laufen die letzten Minuten des Halbfinales der Fußballeuropameisterschaft 2016. Deutschland, das im bisherigen Verlauf des Turniers einen starken Eindruck hinterlassen hat, spielt gegen Gastgeber Frankreich. Das Match ist entschieden – Antoine Griezmann, der schmächtige französische Mittelstürmer der equipe tricolore, hat in schneller Abfolge zwei Tore geschossen und Frankreich zum Sieg verholfen. Der kleinere der beiden Söhne eines israelischen Freundes, bei dem wir die Übertragung sehen, verlässt weinend das Zimmer. Nachdem das Spiel beendet ist, murmele ich etwas davon, dass doch die bessere Mannschaft gewonnen habe. Ich fühle mich unwohl. Ungläubig, gerührt und auch ein wenig hilflos habe ich während des Spiels beobachtet, dass die ganze Familie und auch die meisten der eingeladenen israelischen Freunde für die deutsche Mannschaft fieberten.

Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung von 2013 zeigt: Etwa 70 Prozent der Israelis verbinden mit Deutschland positive Assoziationen.3 Eine geradezu unglaubliche Zahl. Knapp siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, siebzig Jahre nach der Vernichtung eines großen Teils des europäischen Judentums durch die Deutschen hat Deutschland in Israel einen äußerst guten Ruf. Wie kommt das?

Bereits sieben Jahre nach Ende des Weltkriegs begann man in Israel, wieder Kontakt zu Deutschland zu knüpfen – in psychologischer Hinsicht sicherlich zu früh. Doch der junge Staat war bettelarm und für den Aufbau dringend auf wirtschaftliche Unterstützung und akademische Kooperationen angewiesen. Es war Israels Glück, in dieser Zeit den ultrapragmatischen Visionär David Ben Gurion an der Spitze zu haben, der dieser unpopulären Maßnahme mit viel Geschick und grimmiger Einsicht in die Notwendigkeit den Weg ebnete. Unter seiner Führung wurden mit Deutschland die »Wiedergutmachungszahlungen«, so die deutsche Bezeichnung, verhandelt – angesichts eines Menschheitsverbrechens freilich ein Terminus, der die Überlebenden wie Hohn anmuten musste, selbst wenn die israelischen Verhandler immer wieder betonten, dass lediglich der Regress für materielle Verluste, keinesfalls aber eine Form von moralischem Ablass zur Debatte stand. Die israelische Seite sprach deshalb auch immer nur von shilumim, was so viel wie »Strafzahlungen« bedeutet und jeder Idee von Kompensation oder Sühne abhold ist. Bezeichnenderweise konnten sich beide Seiten bis zum Schluss nicht auf einen Begriff einigen, so dass das Abschlussprotokoll der Verhandlungen über dieses erste deutsch-israelische Abkommen nur auf Englisch existiert (wo von »reparations« die Rede ist). Doch was die zahlreichen Gegner der in Israel hochumstrittenen Verhandlungen befürchtet hatten, trat ein. In der Nachfolge des Abkommens kam es zu einer schrittweisen Annäherung.4 Und obwohl die israelischen Pässe noch bis 1956 den expliziten Vermerk »Gilt für alle Länder außer Deutschland« trugen, nahmen die beiden Staaten bereits 1965, also keine fünfzehn Jahre später, wieder offizielle diplomatische Beziehungen auf.

Vier Jahre zuvor war in Jerusalem Adolf Eichmann der Prozess gemacht worden. Lange hatte sich diese Schlüsselfigur der Vernichtung mit westlicher Hilfe dem Zugriff seiner Verfolger entziehen können, bis schließlich Fritz Bauer, jüdischer Generalstaatsanwalt in Hessen und tragischer Kämpfer für ein neues Deutschland, dem israelischen Geheimdienst den entscheidenden Tipp gab.5 In der israelischen Geschichte stellt der Prozess gegen Adolf Eichmann, in dem eine Vielzahl jüdischer Zeitzeugen auftrat, einen Wendepunkt dar. Mehr als fünfzehn Jahre lang hatten die Shoah-Überlebenden in Israel nicht von ihren Leiden berichtet. Dies war nicht allein auf die Traumatisierung zurückzuführen. Ihr Schicksal passte nicht zum neuen Ideal des wehrhaften Juden, und ihre Erzählungen wurden beim Aufbau des Staates als hinderlich angesehen. Während also mehr als fünfzehn Jahre nach dem Krieg in Deutschland immer noch ein umfassendes Täterschweigen herrschte, schwiegen in Israel die Opfer. Nun begannen sie allmählich zu reden.

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, in Deutschland zunächst gar nicht, später widerwillig unternommen und eigentlich erst im Nachgang der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie Holocaust Ende der siebziger Jahre von einer breiteren gesellschaftlichen Basis getragen, war ohne Zweifel eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die deutsch-israelischen Beziehungen heute über das Zweckmäßig-Funktionale hinausgehen, das sie in ihren Anfängen charakterisierte. Das Wichtigste aber, die eigentliche Grundlage für dieses neue Verhältnis, war etwas anderes. Es war die Bereitschaft auf jüdischer Seite, zwischen den Tätern nationalsozialistischer Verbrechen und ihren Nachkommen zu unterscheiden.

Diese Unterscheidung beginnt schon an der israelischen Grenze. Nur Deutsche, die vor 1928 geboren sind, benötigen ein Visum für die Einreise, alle anderen nicht. Auch wurde mir beispielsweise in Israel nie die Frage gestellt, was meine Großväter im Krieg getan haben – es interessiert die Menschen nicht sonderlich, denn ich gehöre einer anderen Generation von Deutschen an, gegen die nur der geringste Teil der israelischen Gesellschaft Vorurteile hat. Dies alles ist angesichts der Verbrechen und der Größe des Leids eine emotionale Leistung, die in ihrer Qualität in Deutschland nicht angemessen gewürdigt wurde. Zwar konstatiert man häufig und allgemein die Außerordentlichkeit der bilateralen Beziehungen nach der Shoah, doch schweigt man lieber, wenn die Rede auf die konkreten Anstrengungen kommt, derer es auf Seiten der Opfer und ihrer Nachkommen bedurfte. Was zum Beispiel muss in Emanuel Schaffer, der israelischen Trainerlegende, vorgegangen sein, der, aus dem heute ukrainischen Drohobycz stammend, seine gesamte Familie verloren hatte und dennoch 1958 an die Sporthochschule in Köln ging, um sein Diplom als Fußball-Lehrer zu erwerben? Im Februar 1970 organisierte Schaffer, inzwischen guter Freund von Hennes Weisweiler, dem erfolgreichen Trainer Borussia Mönchengladbachs, in Tel Aviv das erste deutsch-israelische Freundschaftsspiel, das vor einem begeisterten Publikum im ausverkauften Stadion stattfand. Fast alle nachfolgenden Fußballkontakte zwischen den beiden Ländern – angefangen vom ersten israelischen Profispieler in einem deutschen Verein bis zu regelmäßigen gegenseitigen Besuchen von Jugendmannschaften – gingen auf das Wirken »Eddy« Schaffers zurück.

2015 präsentierten wir in Tel Aviv eine von den Historikern Lorenz Peiffer und Moshe Zimmermann konzipierte Ausstellung über Juden im deutschen Fußball: Elf lebensgroße Figuren aus Plexiglas mit den Porträts der wichtigsten Spieler, Trainer, Funktionäre oder Mittler, darunter natürlich auch Schaffer, erinnerten an die historischen Persönlichkeiten.6 Nachdem die Ausstellung an mehreren Orten Israels gezeigt worden war, übergaben wir auf Bitten der Ausstellungsmacher die Figur Schaffers seinen Söhnen; ich schämte mich regelrecht, als diese später noch mehrmals anriefen, um sich dafür zu bedanken. »Es tut gut, wenn mein Vater Anerkennung für das erhält, was er für die deutsch-israelischen Beziehungen im Sport getan hat«, sagt Schaffers Sohn Moshe. »Einzelne Menschen erinnern sich natürlich an ihn. Aber offiziell?«

In der Tat ist Schaffer in Deutschland unbekannt, und kein Ort gedenkt seiner. Denn deutsches öffentliches Gedenken ist in den seltensten Fällen konkret. Dies hat, so scheint mir, vor allem mit mangelnder Empathie zu tun. Selbst viele der Mahnmale mit ihrer häufig sehr allgemeinen, generischen Formelsprache (nicht zuletzt das zentrale Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin) sind Beispiele für diese unkonkrete Art des Erinnerns. Nun mag man einwenden, dass derartige Orte notwendigerweise einen abstrakten Charakter tragen müssen, sollen sie das Ereignis, an das sie gemahnen, doch als Ganzes erfassen. Allerdings vergisst man über ihrer appellativen Funktion für die Nachkommen der Täter eine weitere Aufgabe, die ihnen ebenso zukommt, nämlich die der Erinnerung an die individuellen Opfer der Shoah. Immer noch ist es für viele Angehörige von großer Bedeutung, dass die Opfer namentliche Erwähnung finden. Ihr Tod war industriell und ihr Grab, wenn es überhaupt eines gab, anonym. Ein Gedenkort, an dem ihre Namen zu lesen wären, hieße, ihnen ein Stück ihrer Individualität zurückzugeben. Aus diesem Grund sind die von dem Künstler Gunter Demnig konzipierten und seit 1992 verlegten Stolpersteine bemerkenswert. Indem sie den letzten freien Wohnort der namentlich in die Steine eingravierten Opfer markieren, funktionieren sie sowohl als Mahnmale wie auch als Erinnerungsorte und richten sich damit – ohne dass sie die Unterschiede zwischen ihnen verwischen würden – an die Nachkommen von Tätern und von Opfern. Dass sie von jüdischer Seite vielfach in eben diesem Sinne aufgenommen werden, machte mir die Reaktion einer Kollegin deutlich, die vor einiger Zeit Urlaub nehmen wollte, um nach Dresden zu fahren. Dort würden Stolpersteine für drei ihrer Tanten und einen Onkel verlegt. »Mir gefällt das. Sie haben doch kein Grab«, sagte sie. Sehr viel später, bei der Trauerwoche für ihre Mutter, die im Alter von fast hundert Jahren starb und als Einzige ihrer unmittelbaren Verwandten die Shoah überlebte, weil sie bei holländischen Bauern Unterschlupf fand, erfuhr ich dann, dass die Angehörigen die Steinlegung bezahlen mussten. Es geht hier nicht um die Höhe der Kosten. Dass ein Projekt solchen Ausmaßes nicht gratis zu haben ist und die diversen damit verbundenen Material-, Personal- und Reiseaufwendungen nicht vom Künstler aufgebracht werden können, versteht sich von selbst. Nur: Gab es – wie bei anderen Stolpersteinen – keine deutschen Geldgeber? Konnten sich keine städtischen Einrichtungen, keine Hausverwaltung und auch keine der jetzigen Besitzer zusammentun, um die – geringe – Einzelsumme zu decken? Und überhaupt: Wäre es nicht eigentlich angemessen, dass die Städte in Deutschland dafür sorgen, dass alle ihre Bürger, die dereinst aus ihnen vertrieben und in die Gaskammern geschickt wurden, eine öffentliche namentliche Erwähnung finden, ob auf einem Stolperstein oder anderswo?

Und Eddy Schaffers Familie? Auch ihre Namen sucht man vergeblich. Wie sehr Schaffer sein ganzes Leben lang unter den Erinnerungen an jene Zeit litt, die ihn, nicht aber seine Angehörigen überleben ließ, macht seine Antwort auf die Frage eines Journalisten deutlich, warum er auf dem Platz immer so fluche. »Ich weiß, ich bin verrückt. Doch du musst wissen, dass, wer auch immer da war und überlebt hat, verrückt zurückgekommen ist. Auch die, die glauben, sie sind normal, sind verrückt. Niemand ist gesund zurückgekehrt.«7

Was ist ein Ghetto?

Von Verantwortung und Empathie

Ein Schriftstellertreffen in Jerusalem. Bei einer öffentlichen Veranstaltung kommt eine Teilnehmerin aus Deutschland auf die Lage in Gaza zu sprechen: »Das ist ein Ghetto«, stellt sie kategorisch fest.

Zwei Tage lang haben deutsche und israelische Autoren zuvor zusammengesessen und über Literatur und Leben, über Vergangenheit und Zukunft, über Gott und die Welt gesprochen. Die Gespräche gingen in die Tiefe, sie waren intensiv und manchmal auch schmerzhaft. Man lernt sich anders kennen, als wenn man sich nur für ein, zwei Stunden das Podium teilt. Politik stand während des Treffens fast immer im Raum – eingeladen waren engagierte Literaten, die mit ihren Texten gesellschaftlich etwas zu bewegen versuchen. Häufig kam auch die Shoah zur Sprache, ja, es schien, als sei sie das dunkle Gravitationszentrum der Diskussionen.

Auch Täterkind zu sein ist traumatisierend. Und dieses Trauma bricht sich dann bisweilen in unerwarteter Form Bahn. Die erwähnte deutsche Autorin ist eine aufgeklärte Intellektuelle. Sie hat sich mit der Schuld ihrer Eltern auseinandergesetzt. Immer würde sie zustimmen, dass Deutschland eine besondere, sich aus der Geschichte ergebende Verantwortung gegenüber den Juden trägt. Und doch spricht sie von Gaza als einem Ghetto. Nun steht es außer Frage, dass die Situation im Gaza-Streifen für viele der dort Lebenden äußerst beschwerlich ist und aufgrund der Abriegelung häufig dramatische Züge annimmt. Beim letzten Krieg in Gaza (nach der gängigen Bezeichnung im Hebräischen war es lediglich eine »militärische Operation«) kamen nach offiziellen Schätzungen circa 1.800 Menschen ums Leben, was etwas weniger als einer Promille der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung entspricht. Als politisch denkender Mensch auf all dies hinzuweisen ist vollkommen legitim. Allein, indem die Schriftstellerin als Deutsche in Israel von einem Ghetto spricht, suggeriert sie einen Vergleich des Gazastreifens eben nicht mit dem Ghetto im mittelalterlichen Venedig (woher der Begriff ursprünglich stammt), sondern mit jenen in Warschau und vielen anderen Städten unter dem Nazi-Regime. Und dieser Vergleich ist in mehrerlei Hinsicht sehr problematisch.

Zunächst ist er historisch falsch – oder will die Autorin die Hungertoten in Wilna, die aus Abtransportierten, die gefallenen Aufständischen in Warschau mit den Bewohnern des Gazastreifens gleichsetzen? Auch verletzt der Vergleich, von einer Deutschen in Israel ausgesprochen, die Nachkommen der Ghetto-Überlebenden, deren Zahl im Land hoch ist und die mit großer Wahrscheinlichkeit sogar im Publikum vertreten waren. Und schließlich drängt sich die Vermutung auf, dass eine solche Formulierung, ob bewusst oder unbewusst, den deutschen Schuldkomplex entlasten soll. Durch die Unterstellung, Juden würden in Gaza, was ihnen selbst vormals angetan wurde, nun ihrerseits praktizieren, verliert das System Auschwitz seine bedrückende Einzigartigkeit. Die Autorin jedoch nimmt für sich in Anspruch, die richtigen Lehren aus Nazi-Regime und Judenvernichtung zu ziehen und die Verantwortung, die jeder Einzelne für die gesellschaftlichen Verhältnisse um ihn herum trägt, in der Praxis wirksam wahrzunehmen. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?