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IVAN IVANJI

TOD IN MONTE CARLO

Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung:
© Getty Images/Underwood And Underwood
ISBN 978-3-7117-2077-1
eISBN 978-3-7117-5393-9

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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Ivan Ivanji, 1929 im Banat geboren, war unter anderem Journalist, Diplomat und Dolmetscher Titos. Romane, Essays, Erzählungen und Hörspiele. Er lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien und Belgrad. Im Picus Verlag erschienen zahlreiche Romane, darunter »Barbarossas Jude«, »Das Kinderfräulein«, »Der Aschenmensch von Buchenwald«, »Die Tänzerin und der Krieg«, »Geister aus einer kleinen Stadt«, »Buchstaben von Feuer«, die Neuauflage seines Erfolgs »Schattenspringen«, 2014 »Mein schönes Leben in der Hölle«, 2017 erschien seine Familiensaga »Schlussstrich«.

IVAN IVANJI

TOD IN
MONTE CARLO

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

Über den Autor

Tod in Monte Carlo

Sprach man im Banat, früher Teil Österreich-Ungarns, nun des Königreichs Jugoslawien, zwischen endlosen Weizenfeldern und mannshohem Kukuruz, von Monte Carlo, so klang das unwirklich, nach Südseeinsel, fast ein wenig nach Himmelreich, wenn man fünfzig Jahre lang nicht weggekommen war aus der staubigen Kleinstadt, weg von der Verantwortung in der Arztpraxis, und ganz besonders von der langweiligen Ehe.

Und dann sagte Viktor einfach: »Komm, Moritz, wir fahren nach Monte Carlo!«

»Wie meinst du das, wirklich? Wie soll das gehen?«

»Warum nicht? Wir nehmen mein Auto.«

Es schien dem alten Doktor fast wie eine Einladung ins Paradies. Und das so plötzlich.

Seiner Frau sagte er erst einmal gar nichts. Er wollte in Ruhe überlegen, ob er die Einladung annehmen sollte. Sie plauderte beim Abendessen über den täglichen Tratsch, den sie in der Konditorei erfahren hatte, Moritz hörte gar nicht zu, nickte nur ordnungshalber manchmal kurz. Das war sein Beitrag zur Unterhaltung. Nach einem unruhigen Tag zog er am Abend Stille vor. Möglichst absolut, aber das war ja nicht möglich.

Absolute Stille? Undenkbar. Die gibt es in der Natur nicht. In der Natur nicht, der Mensch jedoch ist in der Lage, sie zu schaffen. An Universitätskliniken etwa oder in großen Rundfunkanstalten gibt es solche Räume, die man Camera silens nennt. Wenn man nur einige Minuten in ihnen verbringt, fühlt man sich unbehaglich. Bleibt man länger, wird es immer schlimmer. Früher oder später kommt es zu körperlichen Beeinträchtigungen, die Wahrnehmungsfähigkeit wird vermindert, dann folgen Gedankenflucht, Halluzinationen, Übelkeit. Solche Räume, die auch noch verdunkelt sind, benützt man heutzutage zur Folter, sie hinterlassen keine nachweisbaren physischen Spuren. In ihnen finden hochnotpeinliche Befragungen moderner Art statt, die Persönlichkeit der dieser Todesstille ausgesetzten Menschen wird gebrochen.

Solange du bei Bewusstsein bist, hörst du. Bist du bewusstlos, gibt es dich nicht mehr, auch keine Stille, da ist keiner mehr, um zu hören oder nicht zu hören. Im Dschungel sind die Geräusche zahllos und gefährlich, am Meer, selbst wenn es scheinbar ohne Regung ruht, hört man zumindest sein Rauschen. Es reden die Gezeiten. Wenn es böse wird, das Meer, schickt es schwere Wellen an die felsigen Küsten, dann klingt es wie ein Donnern. Donnerschläge von oben, ein Anrollen der Wogen unten. In der Stadt ist der Verkehr rastlos, selbst in einer Kleinstadt im Banat. Auf dem Land surren Insekten, manche von ihnen zirpen, Hunde bellen den Mond an, Katzen balgen sich lautstark.

Moritz ist Arzt, er hat Latein gelernt, er weiß, was eine Camera silens sein könnte, aber von so einer Einrichtung als Folterkammer hat er nie etwas gehört. Etwas Altgriechisch kann er auch noch, auf Latein könnte er sogar Gespräche führen, wenn er einen Partner dafür fände.

Sein bester Freund Viktor kann kein Latein. Was sollte er mit einer toten Sprache? Sein Name bedeutet, dass er ein Sieger ist, ja, das ist lateinisch, das weiß sogar er. Und er betont seine Siegesgewohnheit nur allzu gerne. Nomen est omen. Solche Sprüche kennt er, flicht sie möglichst oft ein in Gespräche, möchte gebildeter wirken, als er ist. Er hat einen angenehmen Bariton, spricht fließend Tschechisch, Deutsch, Ungarisch, Serbisch und Französisch und in jeder Sprache so, dass man gerne zuhört, einfach zuhören muss, weil es nicht nur autoritär, sondern überzeugend klingt. Man folgt, wenn er befiehlt, gut zuredet oder bittet. Das genügt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, um Geschäfte zu machen und Millionen zu verdienen. Das allein? Nicht beim Poker oder wie am Roulettetisch, sondern, zum Beispiel, mit Kampagnen, wie man das nennt, wenn es meilenweit um die Zuckerfabrik stinkt, weil man aus den aus der schwarzen Banater Erde gerissenen Rüben Zucker produziert, Zuckerhüte, Würfelzucker, Kristallzucker, Staubzucker. Aber nicht einmal das genügt, um stinkreich zu werden, man muss den Zucker auch verkaufen können, mit gutem Gewinn verkaufen. Das ist die Kunst. Durch sie entsteht der Mehrwert. Moritz hat dieses Wort gehört, aber er weiß nicht genau, was es bedeutet, es hat ihn nie interessiert. Viktor kennt den Begriff. Ein wenig Marx sollte jeder Kapitalist kennen, selbstverständlich hat er »Das Kapital« gekauft und in seinen Bücherschrank gestellt. Ob er es gelesen oder gar verstanden hat, ist eine andere Frage. Er kümmert sich um seine Leute, weil er ein netter Mensch sein möchte, nicht wegen möglicher sozialistischer und gewerkschaftlicher Umtriebe. Oder doch bloß, weil er kein Durcheinander bei seinen Arbeitern brauchen kann und deshalb Ruhe haben will? Ruhe und Stille sind keine Synonyme.

Die Lehren dieses Karl Marx hat Moritz an der Medizinischen Fakultät der Universität Budapest nicht studiert. Dafür kennt der Doktor das schöne Wort Silentium, das Viktor kein Begriff ist, denn er gibt nie Ruhe, er schweigt nie. Klingt Silentium nicht besser als Stille? Still da! Stiller, ruhiger! Französisch silence. Noch hübscher. Aber was ist das? Absence de bruit – das Fehlen von Lärm. Es gibt auch den silence de mort – Totenstille. Oder Stille des Todes? Lieber nicht zu viel über einzelne Worte nachdenken, sonst verliert man die Wirklichkeit, die sie beschwören sollten.

Man sitzt in Monte Carlo. Tatsächlich. Man sitzt ganz einfach und schlürft Kaffee wie zu Hause. Kaffee im Paradies? Viktor bemerkt, dass die Gedanken seines Gegenübers abschweifen.

»Was hast du, Moritz?«

»Ach, nichts … Nur so …«

Eigentlich gibt es Finsternis genauso wenig wie Stille. Je stärker man die Augenlider zudrückt, desto bunter flimmern die bunten Punkte vor dunklem Hintergrund. Ein Problem für die Kollegen Ophthalmologen. Moritz ist Allgemeinmediziner, die müssen alles wissen, denn sie kurieren Menschen, den ganzen Menschen, nicht einzelne Krankheiten, für die sind die Fachärzte zuständig.

Der Mensch erkennt, begreift das Leben mit seinen fünf Sinnen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Sinne prägen das Denken. Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich – ist nicht alles. Ein Mediziner weiß das. Natürlich, auch Tiere haben Sinne, aber das ist eine andere Art von Leben. Fragt die Halbkollegen, die Veterinäre. Das Leben ist sinnlich. So denkt Moritz, bevor er einschläft. Und er träumt, dass er mit Viktor Tennis spielt, obwohl er das wach gar nicht kann, sich nie Zeit genommen hat für Leibesübungen, nur etwas schwimmen, das mag er, und spazieren gehen, viel zu Fuß wandern. Das empfiehlt er auch seinen Patienten, insbesondere älteren Herrschaften wie er selbst eine ist. Viktor besitzt neben seiner Villa auch einen gepflegten Tennisplatz, er spielt fast jeden Tag. Angeblich bemühen sich seine Ingenieure, nicht allzu oft zu gewinnen, sonst bekommt der Herr Direktor schlechte Laune. Im Traum darf Moritz jedoch siegen, den kleinen, festen Ball hoch in die Luft werfen, mit dem Schläger hart treffen und so auf die andere Seite des Platzes knallen, dass Viktor ausrutscht, sich die Knie aufschürft. Lachend gehen die Herren in die Villa ins große Badezimmer und der Arzt versorgt seinen Freund. Im Traum. Seltsam, im wachen Leben hat Viktor nie seine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Der Millionär ist ein kerngesunder alter Herr.

Sich auf seine Sinne verlassen. Das Leben ist sinnlich.

Später, mitten in der Nacht, ein seltsamer Laut. Wie ein Ruf. Wer ruft wen? Und von wo? Das Fenster steht offen, auch die Tür zur Terrasse. Die Nacht ist hell. Heller als zu Hause im Banat? Richtig, das Hotel steht am Meeresufer, man hört, wie die Wellen unermüdlich anrollen, ein leises Gespräch unten in einem Garten, aber das stört gar nicht, im Gegenteil, es trägt zur Ruhe bei. Moritz war eingeschlafen, aber dieser Laut hat ihn aufgeweckt. Gehört er zur Nacht in Monte Carlo? Was bedeutet er? Dann erkennt er ihn. Es ist der Ruf einer Eule. Oder eines Uhus. Was ist der Unterschied? Ornithologie war auch kein Fach in Budapest. Wie hat sich das Tier ins Zentrum von Monte Carlo verirrt? Es gibt hier viele Grünanlagen, große Gärten um die Luxusvillen, das schon, aber stört diese Vögel nicht der Benzingestank, das Verkehrsgewirr? Haben Eulen keine Probleme in Monte Carlo? Juden haben hier jedenfalls keine Probleme. Noch nicht. Man hält Eulen für weise. Dann ist es auch für ihn weise, hier zu sein. Vielleicht hält man sie aber auch nur deshalb für so klug, weil sie große Augen haben, die Eulen, Uhus, Käuze.

In Monte Carlo haben sich Viktor und Moritz im Hotel Hermitage am Square Beaumarchais einquartiert, ihre Zimmer haben Blick auf das Meer. Die Kuppel über der großen eleganten Halle hat der Architekt Gustave Eiffel konstruiert, derselbe, der nicht nur den berühmten Turm in Paris gebaut hat, sondern, zum Beispiel, eine Eisenbahnstation in Budapest und eine Brücke über den Bega-Kanal in der kleinen Stadt im Banat, aus der Viktor und Moritz im Packard des Zuckerfabrikdirektors angereist sind. Der Chauffeur bekam eine Kammer in der Mansarde des Hotels und viel Freizeit, deshalb ist er zufrieden mit sich, der Welt und seinem Chef.

Zum Casino schlendern die beiden alten Herren schon am zweiten Abend, fünf Minuten zu Fuß, ein wunderbar warmer Sonnenuntergang, dann leuchten die Sterne des südlichen Himmels über Palmen, Pinien, Zypressen, Korkeichen, Mandelbäumen. Fröhliche Menschen sind unterwegs, verliebte Paare, schöne Frauen. Viktor hat auf dem Casinobesuch bestanden, deshalb seien sie ja hergekommen, einmal im Leben müsse man hier spielen und ihr Leben neige sich schon langsam dem Ende zu – jetzt oder nie. Einverstanden. Los! Allons-y! Vadimus! Das kennt auch Viktor, auch wenn er kein Latein gebüffelt hat. »Quo vadis, Domine?« hat selbst er gelesen. Jetzt könnte der Doktor sich fragen: Quo vadis, Moritz?

»Ich habe nie in meinem Leben um Geld gespielt«, sagt Moritz.

»Stimmt nicht, fast jeden zweiten Abend spielst du Alsós.«

»Das schon, aber das ist doch kein Glücksspiel!«

»Hängt davon ab, wie hoch man spielt.«

Alsós wird mit Deutschem Blatt gespielt, römische Ziffern, Herz, Eichel, Schelle und Blatt sind die Farbenzeichen. Als Student hat Moritz allerdings auch gepokert. Das ist sehr wohl ein Glücksspiel. Aber so manches, was er als Student getan hat, scheint ihm heute, als hätte damals nicht er es getan, sondern ein ganz anderer junger, wilder Mann. Danach wurde alles anders. Er hat gearbeitet. Menschen heilen ist Arbeit. Aber auch ein Glücksspiel. Man spielt um das Leben anderer Menschen. In seiner privaten Praxis in der Kleinstadt im Banat, in der Ambulanz der Zuckerfabrik, deren Direktor und Großaktionär sein Freund Viktor ist, spielt er freilich nicht um hohe Gewinne oder Verluste, spektakuläre Heilungen oder Tod. Verluste gibt es trotzdem. Er hat schon manchen Patienten zum Grab begleitet. Es ist für den Arzt einfach, »ex« ans Ende der Krankengeschichte zu schreiben, doch den Tod mitzuteilen, den Verbliebenen in die Augen zu schauen, aufzupassen, dass man nicht mit den Achseln zuckt, die richtigen Worte für Beileid findet, ist sehr schwer.

Wie man Roulette spielt, weiß er, das weiß doch jedes Kind, Viktor muss es ihm nicht erklären. Er setzt einige Jetons auf Schwarz. Gewinnt. Lässt den Gewinn stehen. Gewinnt wieder. Dann will er alles auf Rot schieben, passt nicht auf, seine Handbewegung ist ungeschickt, ungeübt, zufällig landete der Jetonturm auf dreißig. Sein Geburtstag ist der dreißigste Januar. Er gewinnt. Gerade kommt der Kellner mit seinem Cocktail, er vergisst, dass er etwas tun sollte, alles bleibt auf derselben Zahl stehen – und die kleine Kugel hält wieder auf dreißig. Erst als ein Raunen und Gemurmel am Tisch zu hören ist, schaut er richtig auf, sogar der Croupier zögert einen Augenblick und blickt ihn an, der Turm mit seinen Jetons ist jetzt wirklich beachtlich.

»Bist du verrückt geworden, Moritz!«, flüstert ihm Viktor ins Ohr. »Zieh schnell alles ab!«

Er tut es mechanisch. Begreift noch nicht, was passiert ist. Warum starren ihn alle so an? Er hat mit tausend Franc begonnen. An der Kasse werden ihm eine Million zweihundertsechsundneunzig Franc ausgezahlt.

»Jetzt bist du reicher als ich«, sagt der Zuckerfabrikdirektor, Besitzer zahlloser Aktien und wer weiß wovon noch. Das ist natürlich ein Scherz, denn er ist vielfacher Millionär und hat sich deshalb erlauben können, den alten Freund einzuladen, ihn in seinem Packard nach Monte Carlo mitzunehmen. Sie lassen sich das Geld in eine Tragtasche des Casinos einpacken und verstauen es erst einmal im Safe ihres Hotels.

Liebster Moritz,

Mein getreuer Ehegatte,

Eben erst bist du fort, und schon fehlst du mir sehr, fehlen mir unsere ausführlichen Abendgespräche. Aber ich habe ja eure Hoteladresse. Ist es schön dort? Was tragen die Damen? Warum fahren wir beide nie irgendwohin? Viktor nimmt doch seine Gattin auch manchmal mit auf Reisen. Diesmal wolltet ihr alte Knaben unter euch sein. Das verstehe ich doch. Ich gönne es Dir. Aber ich leide schon vor Einsamkeit.

Unser Sohn wollte nichts dazuschreiben, Du weißt wie schreibfaul er ist. Aber er lässt Dich sehr, sehr herzlich grüßen.

In Liebe Deine

Viola.

Brave jüdische Mädchen wissen, dass es sich gehört, solche Briefe zu schreiben. Sie wird aber doch auch froh sein, dass sie ihre Ruhe hat. Ausführliche Abendgespräche! Moritz antwortet mit einer Ansichtskarte und in großer, leserlicher Schrift, er gibt sich Mühe, weil das ja kein Rezept ist und er mit möglichst wenigen Worten seine Pflicht, sich zu melden, erfüllen will.

Am Abend, nachdem Moritz im Casino zum Millionär geworden ist, hat Viktor eine Verabredung mit einigen Geschäftsfreunden und bittet seinen Freund mitzukommen. Als dieser abwehrt, das interessiere ihn nicht, er wolle lieber am Meeresufer spazieren gehen, neckt der Direktor, jetzt sei er doch reich, jetzt gehöre er zu ihnen.

»Bestenfalls kann ich deinen Leibarzt geben, so einer wie du braucht neben dem Fahrer auch einen Mediziner für seine Hofhaltung.«

Im Café de Paris erwartet sie schon Herr Delacroix, ein alteingesessener Monegasse, eine wichtige Person im kleinen Fürstentum, steinreicher Aktienbesitzer. Moritz versucht gar nicht, sich die übrigen Namen zu merken, da sind noch zwei Franzosen, der eine besitzt Warenhäuser, der andere ist an der Zuckerproduktion interessiert, er ist ein emigrierter Russe, angeblich Großfürst. Señor Gómez García ist Spanier, besitzt große Ländereien in Südamerika und ist mit einer Serbin verheiratet, sie ist die einzige Dame in dieser lauten Herrengesellschaft. Der lauteste jedoch ist ein Herr Edmund Hagen aus der Schweiz. Das Gespräch wird auf Französisch geführt. Es geht um Rohrzucker und die Frage, ob er in Europa eine ernsthafte Konkurrenz für Rübenzucker werden könnte, wie Saccharin, das künstliche Süßmittel, das angeblich gesund sein soll. Moritz glaubt, das sei der Punkt, an dem er als Arzt mitreden könnte, will etwas über seine Erfahrungen mit Diabetes und Insulin beitragen, aber das interessiert niemanden in der Runde. Madame Gómez García wirft ihm einen verständnisvollen Blick zu. Also beobachtet er die Straße, die fröhlichen, selbstzufriedenen, gut gekleideten Paare und die wenigen vorbeihuschenden, gehetzten, ärmlicher gekleideten Menschen. Er kann zufrieden sein mit sich und dieser Welt, obwohl er weiß, dass es auch Elend gibt.

Aufhorchen lässt ihn, als einer der Herren sagt, Kriegsgefahr schwebe in der Luft, und ein anderer antwortet, Kriege seien immer gut für das Geschäft, besonders wenn man mit Nahrungsmitteln handle, es beginne mit einem Mangel an diesem und jenem, man hortet Reserven, die Preise steigen. Diese Logik entsetzt Moritz und er beginnt wieder aufmerksamer zuzuhören und seine Tischgesellschaft zu beobachten. Die einzige Dame in der Gesellschaft holt gelangweilt eine schmale, goldene Zigarettendose aus ihrer großen Krokodilledertasche, drei der Herren springen mit ihren Feuerzeugen auf, Herr Hagen ist der schnellste. Sein Feuerzeug ist ebenfalls aus Gold und mit einigen kleinen sowie einem ziemlich großen Rubin besetzt.

»Danke, danke. Und alle Achtung!«, sagt Madame nach dem ersten Zug aus der Zigarette. Sie meint das funkelnde Spornrädchen.

Der Schweizer tut bescheiden, sagt in einem Tonfall, als wollte er sich entschuldigen, so etwas Wertvolles zu besitzen, es sei eine Okkasion gewesen, ein Gelegenheitskauf, und nennt den Preis, den er bezahlt hat.

»Ist fünfmal so viel wert und wird, falls der Krieg endlich ausbricht, noch zehnmal kostbarer sein. Das ist ein Einzelstück, Monsieur, ich kenne das Ding, es stammt aus dem Laden meines Vaters, der ist Juwelier, und verkauft hat er es Herrn Leon Levi, der rechtzeitig aus Wien geflohen ist …«, sagt einer der Franzosen, und als ihn der Schweizer kopfschüttelnd und ein wenig erschrocken anschaut, fügt er hinzu: »So klein ist die Welt.«

»Nun, ja«, bestätigte Edmund Hagen etwas verwirrt. »Ich weiß, der Herr brauchte schnell Bargeld, er wollte nach Argentinien, wenn ich nicht irre, um es mit einer Straußenfarm zu versuchen …«

»Da irren Sie gewiss«, lacht der russische Großfürst, »eine Straußenfarm in Argentinien?«

Die ganze Tischgesellschaft ist belustigt.

»Dann war es vielleicht die Südafrikanische Republik, oder es ging um Schafe, oder was weiß ich …«

»Sie hätten ihm doch annähernd einen fairen Preis zahlen können«, sagt Delacroix, »er wusste genau, was er selbst für das Feuerzeug bezahlt hat«.

Nach einer peinlichen Pause nutzt Moritz die Gelegenheit:

»Sie sind ja näher an Deutschland, Herr Hagen, Sie wissen mehr über die dortige Entwicklung. Herr Levi glaubte fliehen zu müssen. Was ist wahr an der Verfolgung der Juden?«

Viktor schüttelt unzufrieden den Kopf, weil sein Freund dem Gespräch eine unerwünschte Richtung gibt, aber jetzt konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Schweizer. Einen Schweizer mit deutschem Namen. Einen Deutschen aus der Schweiz. Französisch spricht er perfekt, aber ein winziger deutscher Akzent ist nicht zu überhören.

»Also, wissen Sie …«, beginnt Herr Hagen irgendwie ruhiger, weniger verlegen, das Thema scheint ihm immerhin mehr zu behagen als das Gespräch über das goldene, edelsteinbesetzte Feuerzeug. »Wenn Sie die Ereignisse vom vorigen November nach dem Mord an einem deutschen Diplomaten in Paris von der Hand eines unseligen jungen polnischen Juden meinen – damals hat tatsächlich in manchen deutschen Städten der Mob die Macht übernommen. Man hat jüdische Bethäuser angezündet, Schaufenster zerschlagen, jüdische Geschäfte geplündert, sogar einige jüdische Bürger verprügelt. Das war schrecklich. Göring war nachher verzweifelt, allein wegen der Vernichtung von Volkseigentum und diesem Ausbruch von Wut, auch wenn sie aufgrund der Vorgeschichte einigermaßen verständlich waren. So etwas wird sich nie wiederholen. Allerdings ist das Zusammenleben von Deutschen und Juden tatsächlich etwas komplizierter geworden, viele deutsche Juden sehen das ein und haben angefangen, das Reich zu verlassen.«

»Jude hat wohl nicht gereicht, ein polnischer musste es sein!«, meint der Russe schmunzelnd.

»Ich bitte Sie, Hoheit!« Die Anrede mit dem Adelstitel ist wohl ironisch gemeint. »Die Polen sind schlimmere Antisemiten als die Deutschen. Sie als Russe wissen das doch am besten!«

Viktor hat sich dieses Treffen nicht so vorgestellt, er gibt dem Kellner ein Zeichen, stellt mit einem Blick fest, dass genügend Gäste am Tisch sitzen, um eine ganze Flasche Hennessy No. 1 zu bestellen, und doziert, den besten Weinbränden der Welt werde etwas Zucker beigesetzt – natürlich nicht um den Alkoholgehalt zu vergrößern, sondern weil er zur Farbe des wertvollen Getränks beitrage.

Man kann also wieder über Zucker reden und die Lage ist gerettet. Moritz nimmt anerkennend zur Kenntnis, wie groß Viktors diplomatisches Geschick ist. So wird man also reich. Am nächsten Morgen sitzen die beiden alten Herren in einem Strandcafé, sie haben ja nichts anderes zu tun als aus einem Lokal ins andere zu wechseln, dem Vogelgezwitscher zuzuhören und zu überlegen, was sie bestellen sollen. Moritz fragt, warum der Freund die Diskussion über die Juden in Deutschland so abrupt abgewürgt hat.

»Es war nicht der richtige Ort, nicht der richtige Zeitpunkt und nicht die richtige Gesellschaft. Diese Gojim kümmern sich doch einen Dreck um uns Juden, außer wenn für sie selber gute Geschäfte mit uns in Aussicht sind.«

Den Kaffee findet Moritz hier besser als das Getränk gleichen Namens, das in den Gaststätten seiner Heimatstadt angeboten wird. Auch bei Patientenbesuchen ist es üblich, dass ihm ein Türkischer serviert wird, ihn abzuweisen wäre unhöflich. Doch keiner ist in der Lage, ihn so zu brauen, wie er ihn mag, so wie er ihn sich täglich nach dem Mittagessen zu Hause zubereitet. Es ist ein kompliziertes Ritual und er benötigt dafür eine Reihe von Instrumenten. An erster Stelle seinen Rechaud mit Spiritusflamme, die Kaffeekanne aus Quarzglas und den gläsernen Trichter, der in einem kurzen Rohr endet und den man auf die Kanne schraubt. Und natürlich der Messlöffel. In die Kanne kommt Wasser, auf den oberen Teil die genau bemessene Portion frisch gemahlenen Kaffees, dann entzündet er die Flamme. Das Wasser kocht, verwandelt sich in Dampf, dank dem Druck steigt es durch das Röhrchen hinauf, man kann den Vorgang beobachten, weil ja alles aus Glas ist. Jetzt wird die Flamme gelöscht, der Kaffee, der sich oben mit dem Wasser vermischt hat, fließt in die Kanne zurück. Der Vorgang ist insofern knifflig, als man ihn erst in dem Moment abbrechen darf, wenn das ganze Wasser verdampft ist, bleiben die Kanne und der Oberteil andererseits zu lange der Hitze ausgesetzt, kocht es über. Er widmet dieser Tätigkeit dieselbe Aufmerksamkeit wie den Untersuchungen von Patienten. Mehr als zwei kleine Tassen Kaffee auf einmal kann er nicht produzieren, aber mehr braucht der Doktor ohnehin nicht. Seine Frau weiß, dass sie sich nicht einmischen, ihn nicht ablenken darf, sie schweigt also ausnahmsweise fromm und wartet auf ihr Tässchen, um dann erst loszulegen.

Mitten in Moritz’ Vortrag über die Vorzüge seiner Art der Zubereitung von Kaffee und in seinem Bedauern, dass er seine Utensilien nicht mitgebracht hat, dem Viktor gelangweilt zugehört hat, tritt ein unbekannter junger Mann an ihren Tisch. Er entschuldigt sich wortreich, murmelt seinen Namen und erklärt, es werde hier gerade ein deutscher Spielfilm gedreht, man wolle einen Schwenk über dieses Strandcafé machen, die beiden Herren in ihren feinen Anzügen aus Rohseide, mit den bunten Fliegen und ihren Strohhüten seien so überaus charmant, dass man sie furchtbar gerne im Bild behalten wolle, sie würden nur bis zu zwei Minuten zu sehen sein – ob sie freundlicherweise ihr Einverständnis geben wollten? Die alten Freunde blicken einander verwundert an, nicken, ja, wieso nicht. Dann möchten sie doch, bitte, einfach nur weiterreden und ja nicht in Richtung Kamera blicken. So bringt Moritz seine Rede über die einzig richtige Art, Kaffee zu brauen, zu Ende und später lachen sie über den Gedanken, dass zwei alte Juden aus Jugoslawien in einem Spielfilm in Nazideutschland zu sehen sein werden. Ob er später wohl auch in ihrer Heimatstadt in die Kinos gelangen und man sie erkennen könnte? Das wäre ein Stadtgespräch!

Um sich zu rächen, oder einfach nur um jetzt auch zu Wort zu kommen, hebt Viktor an, über die Zukunft der Zuckerfabrikation zu erzählen. Zuckerhüte kämen aus der Mode, die teurere Verarbeitungsweise setze sich durch, aber Moritz hört nicht richtig zu, überlegt, warum er diesem reichen Fabrikanten immer bedingungslos vertraut hat, ihn so sehr geschätzt, seine Vorschläge stets akzeptiert hat. Wenn einem etwas wehtut, einem übel wird, vergisst man alles andere und ruft den Arzt. Dann ist der Doktor der wichtigste Mensch auf der Welt, wichtiger als Eltern, Geliebte, Freunde, Pfarrer, Rabbiner, von Fabrikanten gar nicht zu reden, und er schmunzelt selbstzufrieden vor sich hin.

Ich schreibe auf dem Briefpapier des Hotels. Besser schreiben, als greisenhafte Selbstgespräche führen, aber keine Ansichtskarten. Dies hier ist an niemanden gerichtet. So kann ich einfach besser alles zu Ende denken, was mich quält, wähle meine Worte aufmerksamer. Beeilen muss ich mich nicht. Nie war ich ein besonderer Anhänger der Lehren des Professor Freud, aber … Was weiß ich … Selbstanalysen sollte man nicht versuchen, das ist klar.

Ich hätte nicht in Monte Carlo bleiben müssen. Nicht bleiben dürfen? Auf keinen Fall durfte ich das. Ich hätte mit Viktor in seinem Packard wieder nach Hause fahren sollen. Wieso bereue ich es trotzdem nicht? Er sagte, ich könne meinen Casinogewinn in Form von Schecks mitnehmen und dann in Ruhe entscheiden, wie ich das Geld anlegen wolle, er würde mich gerne beraten. Gerade das aber wollte ich nicht. Auf keinen Fall! Ich setzte mir in den Kopf, dass ich diesen unerwarteten Reichtum hier loswerden soll, hier ausgeben muss. War dieser seltsame Zufall am Roulettetisch kein Zeichen? Bin ich abergläubisch geworden? In meinem Alter? Keinesfalls will ich Geld anlegen. Das wäre nicht mein Stil. Wozu auch? Es wäre doch wieder eine Art von Glücksspiel. Für meine Art zu leben verdiene ich ausreichend, ich habe genug. Meine Kinder sind erfolgreich, sie brauchen keine große Erbschaft.

Oder fürchte ich, es könnte falsch sein, dieses Geld nach Hause zu bringen? Dieses fremde, nicht mit ehrlicher Arbeit verdiente Geld? Quatsch. Das nun doch nicht. Das wäre nur eine Ausrede. Ich mag einfach nicht so schnell zurück ins alte Fahrwasser. Soll ich zugeben, dass ich genug habe von meinem alten Leben? Meinem ganzen alten Leben? Nein, nein, nein, nein, ich will es nicht loswerden, ich bin zufrieden mit mir, ich unterschätze mich selber auf keinen Fall, aber für eine kurze, kurze Zeit, bitte, will ich noch etwas anderes.

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