image

illustration

Editorial

MONIKA DANNERER,
URSULA ESTERL:

Normen und Variation – Variation normiert – variierte Normen

Normen und Variation: Grundlegendes

LUDWIG M. EICHINGER: Norm und Variation: »Überlegungen zum heutigen Deutsch«

İNCI DIRIM: Nationalstaatliche Normen, Mehrsprachigkeit und die Macht des didaktischen Essentialismus

ARNE ZIEGLER, MELANIE LENZHOFER: Das Eigene und das Fremde. Zum Spannungsfeld von Normen und Normverstößen in Jugendsprachen

Normen und Variation: Einstellungen und Anwendungen

STEFAN KLEINER, RALF KNÖBL: Ergebnisse aus dem Korpus »Deutsch heute« zu Österreich. Aussprachevariation und Sprachreflexion bei SchülerInnen

CORDULA SCHWARZE: Normen und Normdiskussion in Feedbackprozessen zu mündlichen Präsentationen

ELISABETH BUCHNER, STEPHAN ELSPASS: Varietäten und Normen im Unterricht. Wahrnehmungen und Einstellungen von Lehrpersonen an österreichischen Schulen

MARION DÖLL: Sprachkompetenzdiagnose im Kontext sprachlicher Bildung in der Migrationsgesellschaft. Assimilation als Norm?

CHRISTA DÜRSCHEID: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Normen in der Internetkommunikation

Normen und Variation: Unterricht: Variatio delectat

JUTTA RANSMAYR: »Fladern« geht gar nicht – oder doch? Österreichisches Deutsch und Fragen von Norm und Variation im Deutschunterricht

JÜRGEN EHRENMÜLLER: Lustvolle Sprachentdeckungsreisen abseits der (Norm-)Pfade. Willkommen in der Varietätenwerkstatt

INGELORE OOMEN-WELKE: Normen und Leichte Sprache im Kontext von Mehrsprachigkeit

Service

PHILIP VERGEINER: Normen und Variation. Bibliographische Notizen

Magazin

Kommentar

JULIA MALLE: Normen und Variation. Zum Theorie- und Praxis-Spannungsfeld in der Deutschlehrer_innenausbildung neu

ide empfiehlt

JÜRGEN STRUGER:
A. Schilcher u. a. (Hg.): Schritt für Schritt zum guten Deutschunterricht

Neu im Regal

 

 

 

»Normen« und »Mündlichkeit« in anderen ide-Heften

 

 

ide 4-2017

Lehren und Lernen im Deutschunterricht

ide 1-2017

Flucht und Ankommen

ide 4-2015

Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit

ide 3-2014

Österreichisches Deutsch

ide 2-2010

Grammatik (und Textgestaltung)

ide 4-2009

Sprechen

ide 2-2008

Mehrsprachigkeit

ide 2-2003

Präsentation!

ide 3-2002

Sprachaufmerksamkeit – Language awareness

 

 

 

Das nächste ide-Heft

 

 

ide 1-2019

Deutschunterricht 4.0
erscheint im März 2019

 

 

 

Vorschau

 

 

ide 2-2019

Verbalisieren. Zur Sprache kommen

ide 3-2019

Maximilian I. und seine Zeit

 

 

 

 

 

www.aau.at/ide

 

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

 

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

 

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Normen und Variation – Variation normiert – variierte Normen …

 

 

Was bewegt uns, ein Heft zum Thema »Normen und Variation« im Rahmen der ide herauszugeben? Noch dazu mit dem Untertitel »Zur Rolle der Normierung in der mündlichen Sprachverwendung«, der anzeigt, dass es gerade nicht um das geht, was mit Norm und Sprache häufig in Verbindung gebracht wird: die Orthographie. Was verstehen wir unter »Norm« und liegt die Variation dazu innerhalb der Normen oder außerhalb? Und welche Rolle spielen Norm und Normierung überhaupt im Deutschunterricht?

Normen sind Regeln, nach denen ein bestimmter Sprachgebrauch zu präferieren, zu tolerieren oder aber zu vermeiden ist. Normen können als Idealzustand definiert werden oder aber als »Gebrauchsnormen« aus dem »üblichen« und »angemessenen« Sprachgebrauch heraus festgelegt werden. Darüber hinaus definiert die Institution Schule auch spezifische »transitorische Normen« (Feilke 2012), die ausschließlich während eines Aneignungsprozesses Gültigkeit haben und diesen erleichtern bzw. unterstützen sollen.

Unabhängig davon, wie Normen zustande kommen, haben sie große Wirkungsmacht. Gerade in der Schule entscheidet normgerechte Sprachverwendung häufig (auch) über Bildungserfolg (vgl. Gogolin/Lange 2011, S. 111). Inwiefern individuelle, von Normen abweichende Sprachverwendung in verschiedenen Kontexten akzeptiert wird oder ob sprachliche Normierung als Mittel der Machtausübung verstanden wird, zeigt sich insbesondere in Situationen der Leistungsbeurteilung, aber auch in der Sprach- und Varietätenverwendung in der alltäglichen schulischen Kommunikation (Standardsprache vs. Dialekt, Verwendung von Herkunftssprachen). Der Deutschunterricht ist insofern gefordert, als ihm sowohl die Aufgabe obliegt, Normen zu vermitteln, als auch die Aufgabe, sie kritisch zu beleuchten. Ein Blick in die Lehrpläne für die Sekundarstufe I und II zeigt, dass die Suche nach dem Stichwort »Norm« weniger ergiebig ist, als man annehmen möchte (fünf Treffer im Lehrplan der Sekundarstufe I – Neue Mittelschule bzw. Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schulen [AHS]) und zwölf in der Sekundarstufe II (exemplarisch hier für die AHS Oberstufe). Dazu kommen noch einschlägige Treffer unter den Stichworten »angemessen« (3x/7x), »richtig« (5x/12x), »Regel« (2x/0x) und »Standard« (3x/2x). »Variation«, »Varietät(en)« kommt noch seltener vor (0x/3x). Viel Lärm um nichts also? Oder ein Vorstoß unsererseits, mehr Norm(en) oder mehr Variation(en) in die Schulen zu transportieren? Lassen Sie uns exemplarisch eine Passage aus den »Didaktischen Grundsätzen« im Lehrplan der Sekundarstufe I zitieren:

[…] Sprach- und Schreibnormen sollen in allen Verwendungszusammenhängen angemessen berücksichtigt und behandelt werden.

Die Lehrerinnen und Lehrer haben auf die Qualität der sprachlichen Äußerungen zu achten. Der individuelle Lernfortschritt und das Bemühen um die Optimierung von Arbeitsergebnissen sind zu beachten.

Sprechen verlangt von den Schülerinnen und Schülern, sich in zunehmendem Maß auf die jeweilige Sprechsituation einzustellen und dabei auch unterschiedliche Leistungen von Standardsprache und Herkunftssprachen zu erfahren. In geeigneten Gesprächs- (Partner-, Kleingruppen-, Klassengespräch ...) und Redeformen (spontanes, vorbereitetes und textgebundenes Sprechen) sollen die Schülerinnen und Schüler die Wirkungsweise verschiedener verbaler und nonverbaler Ausdrucksmittel erleben. […]

Schreiben im Deutschunterricht muss zu wachsender Sicherheit und zur Bereitschaft führen, unterschiedliche Schreibformen zu gebrauchen. […]

Durch die regelmäßige Beschäftigung mit eigenen und fremden schriftlichen Arbeiten sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, Texte einzuschätzen, zu beurteilen und zu optimieren. […] Die beim Verfassen von Texten auftretenden Mängel in der Beherrschung der Sprach- und Schreibrichtigkeit müssen zu individuellen, bei Bedarf zu gemeinsamen Schwerpunkten der Unterrichtsarbeit werden.

(BMBWF 2018; Fettdruck i. O., Hervorh. durch Kursivierung MD/UE)

Ist im ersten Satz noch klar von Sprachund Schreibnormen die Rede, geht es danach um die »Qualität der sprachlichen Äußerungen« und um die »Optimierung von Arbeitsergebnissen« – beides wird vermutlich an Normen gemessen. Im Kompetenzbereich Sprechen werden die Einstellung auf die Sprechsituation (d. h. Situationsangemessenheit), Standardsprache und – noch ein Stück indirekter – das Erleben der »Wirkungsweise verschiedener […] Ausdrucksmittel«, d. h. das Erleben von Variation und ihre Wirkung auf KommunikationspartnerInnen (d. h. Situations-, Sach- und Partnerangemessenheit) genannt. Für das Schreiben geht es um die Herstellung »wachsender Sicherheit« – implizit gemeint ist hier wohl die Sicherheit in der Anwendung von Normen (orthographischen Normen wie Textsortennormen), um Einschätzung, Beurteilung und Optimierung von Texten – ebenfalls implizit steht wiederum eine Norm bzw. ein Angemessenheitsurteil dahinter, und schließlich ganz offen geht es um den Umgang mit »Mängel[n] in der Beherrschung der Sprach- und Schreibrichtigkeit«, d. h. um Normverstöße im Bereich der Orthographie.

Im Lehrplan der Oberstufe ist einerseits ebenfalls das implizite Auftauchen von Normen auffallend, jedoch wird hier andererseits auch das Ziel eines reflektierten Umgangs mit Normen deutlich. So heißt es in den »Bildungs- und Lehraufgaben«:

Im Besonderen sollen die Schülerinnen und Schüler […] befähigt werden, sich zwischen sprachlichen Normen und Abweichungen zu orientieren und sich der Sprache als Erkenntnismittel zu bedienen sowie sprachliche Gestaltungsmittel kreativ einzusetzen.

(BMBWF 2018; Hervorh. MD/UE)

Darüber hinaus wird in den »Didaktischen Grundsätzen« die Auseinandersetzung mit Normenwandel und Normenkritik angeführt.1

Es geht uns in und mit diesem ide-Heft genau um dieses Spannungsfeld, in dem der Sprachgebrauch in der Schule steht – zwischen allgemein vorgegebenen Normen, tradierten oder auch spontanen Normierungen und unaufgedeckten bzw. zum Teil unhinterfragten sozialen wie schulischen Normvorstellungen; zwischen Einübung in Normeinhaltung und Standardorientierung und einem kritischen, eigenverantwortlichen Umgang mit Normen und Variation(en).

Normen und Variation in den einzelnen Beiträgen

Im ersten Kapitel führen drei grundlegende Texte in jene Bereiche von Norm und Variation ein, die in diesem Heft im Zentrum der Betrachtung stehen.

Einleitend stellt Ludwig M. Eichinger »Überlegungen zum heutigen Deutsch« an, wobei er insbesondere den Umgang von Sprecherinnen und Sprechern mit der Mündlichkeit in den Blick nimmt. Im Spannungsfeld zwischen Standardnähe und gesprochener Natürlichkeit hat sich ein Gebrauchsstandard entwickelt, der sich mit seiner Bandbreite an Optionen an den Anforderungen einer modernen Gesellschaft orientiert.

İnci Dirim setzt sich in ihrem Beitrag mit nationalsprachlichen Normen und deren einschränkender Wirkung auf das Denken und Sprechen in einer postmodernen mehrsprachigen Migrationsgesellschaft auseinander. Die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache sieht sie verortet im Spannungsfeld zwischen einer essentialistisch geprägten Nationalsprachlichkeit und der individuellen »Sprachigkeit« (Busch 2013) der einzelnen SprecherInnen.

»Das Eigene und das Fremde« im Sprachgebrauch von Jugendlichen, deren Spiel mit sprachlichen Normen sowie deren gruppenspezifische In-Group-Kommunikation steht im Zentrum des Beitrags von Arne Ziegler und Melanie Lenzhofer. Der Zusammenhang von Normen und Standardsprache sowie die Normen der Jugendkommunikation zwischen Normbewusstsein und Normverstößen werden auf Basis der Gesprächsdaten aus informeller Jugendkommunikation, die im Rahmen des FWF-Projekts »Jugendsprache(n) in Österreich« (2013–2016) erhoben wurden, dargestellt. Die Ausführungen im Heft werden auch noch durch einen online-Teil ergänzt.2

Im zweiten Teil des Themenheftes sind Beiträge rund um Einstellungen zu und Anwendungen von Normen und Variation versammelt.

Stefan Kleiner und Ralf Knöbl präsentieren zwei unterschiedliche Forschungsergebnisse aus der Auswertung des Korpus »Deutsch heute«, in dem phonetisch-phonologische Sprachvariationen der deutschen Standardsprache von OberstufenschülerInnen aus dem gesamten deutschen Sprachraum gesammelt wurden. Basierend auf der Vorleseaussprache von österreichischen SchülerInnen wird zuerst ein lautsystematischer Aufriss der phonetischen Variation gegeben. Im zweiten Teil des Artikels geben die im Zuge des Projekts befragten SchülerInnen Einblicke in ihre Spracheinstellungen. Auch zu diesem Text sind Ergänzungen online abrufbar.

Mit den Normen guten Präsentierens und der Entwicklung von Präsentationskompetenz beschäftigt sich der Beitrag von Cordula Schwarze. Im Zentrum ihrer Ausführungen stehen Auswertungsgespräche zu wissenschaftlichen Präsentationen in universitären Seminaren angehender DeutschlehrerInnen, anhand derer das Potenzial von Feedbackprozessen in Bezug auf reflektierten Umgang mit Normen und Kommunikationsidealen aufgezeigt wird. Wie die Geltung spezifischer Normen verhandelt wird, legt Schwarze am Beispiel des Kommunikationsideals der Authentizität dar.

Mit ihrem Beitrag zu »Wahrnehmungen und Einstellungen von Lehrpersonen an österreichischen Schulen« zu Varietäten und Normen im Unterricht lenken Elisabeth Buchner und Stephan Elspaß den Blick auf die innere Mehrsprachigkeit und den Umgang im Unterricht an österreichischen Handelsschulen und Handelsakademien mit Konzepten wie »Standard«, »Dialekt« und »Umgangssprache«. Basierend auf der Auswertung der Daten aus dem Projekt »Deutsch in Österreich« werden anhand von ausgewählten Beispielen aus vier österreichischen Bundesländern Sprachperzeption und -attitüden von Lehrpersonen und SchülerInnen vorgestellt.

Marion Döll wendet sich mit ihren Ausführungen zur Sprachkompetenzdiagnose im Kontext sprachlicher Bildung in der Migrationsgesellschaft wieder der äußeren Mehrsprachigkeit von SchülerInnen zu. Indem sie den normativen Charakter der rein auf die Performanz in der deutschen Sprache ausgerichteten Sprachkompetenzdiagnostik herausarbeitet, betont sie die sprachbezogene Diskriminierung mehrsprachiger SchülerInnen und erörtert die Frage, inwiefern Sprachdiagnosen und Diskurse zur Sprachkompetenzdiagnostik Ausdruck eines assimilativen Habitus sind.

Das Kapitel beschließt der Beitrag von Christa Dürscheid zu den Normen der Internetkommunikation. Sie verlässt dabei den Rahmen der Mündlichkeit und legt den Schwerpunkt auf die Schriftlichkeit in den neuen Medien. Dabei arbeitet sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede mündlicher Sprachverwendung und schriftlicher Alltagskommunikation heraus und erläutert darüber hinaus die Besonderheiten des Schreibens im Internet in Abgrenzung zu den sonstigen Anforderungen des Schreibens in der Schule. Abschließend plädiert sie für eine Nutzung der vielfältigen Anknüpfungspunkte im Unterricht.

Der dritte und letzte Teil dieses ide-Heftes widmet sich den vielfältigen Möglichkeiten, Normen variantenreich im Unterricht zu verhandeln. Jutta Ransmayr geht am Beispiel des Umgangs mit dem Österreichischen Deutsch Fragen von Norm und Variation im Deutschunterricht nach. Dabei zeigt sie auf, dass das normative Handeln von DeutschlehrerInnen maßgeblich von ihren Spracheinstellungen und ihrem Bild von der deutschen Sprache geprägt ist. Anregungen für die Auseinandersetzung mit »Variation in der deutschen Standardsprache« im Unterricht bieten die beiden Arbeitsblätter, die als Download zugänglich sind.

Auf eine lustvolle Sprachentdeckungsreise möchte der Beitrag von Jürgen Ehrenmüller einladen. Rund um ein »absurdes«, vom Autor selbst erdachtes Szenario werden kreative Zugänge zum Umgang mit Variationen der inneren Mehrsprachigkeit entwickelt, die im Rahmen einer Varietätenwerkstatt als mehrteiliges Unterrichtsprojekt umgesetzt werden können. Der gesamte Unterrichtsvorschlag steht ebenfalls als Download zum direkten Einsatz im Unterricht zur Verfügung.

Im letzten Beitrag zu diesem Themenheft stellt Ingelore Oomen-Welke die Sprachregister von Leichter und Einfacher Sprache im Kontext von Mehrsprachigkeit vor. Diese sollen gemäß einem Vorschlag der UNESCO die Kommunikation zwischen Menschen mit eingeschränktem Sprachgebrauch und Behörden erleichtern, können aber auch im Unterricht den Zugang zu bildungssprachlichen Anforderungen erleichtern, wie an einigen Beispielen im Text demonstriert wird.

Abgerundet werden die Ausführungen mit einer ungewöhnlich umfassenden und vielfältigen Bibliographie, erstellt von Philip Vergeiner.

In ihrem Kommentar erörtert Julia Malle Normen und Variation am Beispiel des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der neuen verschränkten LehrerInnenbildung neu. Die Rezensionen zu aktuellen deutschdidaktischen Publikationen stammen von Jürgen Struger und Ursula Esterl.

Wir wünschen eine abwechslungsreiche Auseinandersetzung mit den ausgewählten Facetten von Normen und ihrer Variation.

MONIKA DANNERER
URSULA ESTERL

Literatur

BMBWF (2018): Gesamte Rechtsvorschrift für Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen, BGBl. II Nr. 230/2018. Online: https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/unterricht/lp/ahs7_781.pdf?61ebzn [Zugriff: 11.11.2018].

FEILKE, HELMUTH (2012): Schulsprache – Wie Schule Sprache macht. In: Günthner, Susanne; Imo, Wolfgang; Meer, Dorothee; Schneider, Jan Georg (Hg.): Kommunikation und Öffentlichkeit: sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm. Berlin: de Gruyter, S. 149–176.

GOGOLIN, INGRID; LANGE, IMKE (2011): Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, Sara; Gomolla, Mechtild (Hg): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107–127.

1 Es wird z. B. im Rahmen der Sprachreflexion gefordert, »[…] öffentliche Diskussionen (feministische Sprachkritik, politisch korrekte Sprache, Normenkritik, Sprachwandel, politische Kritik in Form der Sprachkritik) in die Unterrichtsarbeit aufzunehmen.«

2 Alle online-Texte finden Sie auf der ide-Homepage: www.aau.at/ide.

MONIKA DANNERER ist Universitätsprofessorin für Germanistische Linguistik an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Erst- und Zweitspracherwerb, Mehrsprachigkeit sowie Sozio- und Varietätenlinguistik.
E-Mail: monika.dannerer@uibk.ac.at

URSULA ESTERL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für GermanistikAECC, Abteilung Fachdidaktik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre Arbeitsgebiete sind: Mehrsprachigkeit, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Schreibforschung.
E-Mail: ursula.esterl@aau.at

Ludwig M. Eichinger

Norm und Variation:
»Überlegungen zum heutigen Deutsch«

 

 

Keiner spricht so, als wäre er es nicht.
(Blumenberg 1998, S. 186)

 

Die Normen des »Hochdeutschen« sind entstanden als Festlegungen für eine geschriebene öffentliche Sprachform. In den letzten Jahrzehnten richten sich die Sprecherinnen und Sprecher auch im Mündlichen an dieser Norm aus. Gleichzeitig gibt es dadurch mehr Situationen, in denen standardnahes Sprechen als normal gilt. Damit das angemessen bewältigt werden kann, muss diese Sprachform typische Merkmale des Sprechens aufweisen, Merkmale, die traditionell zum Beispiel eher in regionaler Form vorlagen. Um den beiden Bedingungen – Standardnähe und gesprochene Natürlichkeit – gerecht zu werden, entwickelt sich ein Gebrauchsstandard, der durch eine Bandbreite von (auch regionalen) Optionen gekennzeichnet ist. Um diesen Gebrauchsstandard, seine Randbedingungen, seine Ausgestaltung, aber auch seinen theoretischen Status geht es in dem vorliegenden Beitrag.

Vernünftigerweise folgen wir den Normen, auf die wir uns in der schriftsprachlichen Praxis unserer Sprache geeinigt haben, und das Hineinwachsen und das Lernen dieser Normen ist das Hineinwachsen in eine kulturell geprägte Sprachwelt, in der komplexe Dinge auf verständliche und angemessene Weise verhandelt werden können. Diesem Zweck dient die Existenz von Standardformen in Sprachen mit einer ausgebauten schriftlichen Tradition. Sie werden wirksam als implizite Normen für den erwartbaren, angemessenen und regelgerechten Umgang mit Texten – in der Produktion wie in der Wahrnehmung. Gerade auch für die Schriftsprache mit ihrer für das Deutsche doch recht langen Tradition der Schriftsprachentwicklung sind sie zum Teil explizit gemacht oder ausführlich beschrieben. Interessant ist das im jetzigen Zustand des Deutschen insofern, als die Entwicklung der gesprochenen Sprache sich einerseits an die schriftsprachlich erreichten Übereinkünfte annähert, während sie andererseits mit einer Phase verstärkter gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Individualisierung zusammenfällt: »So gibt es denn standardnahe Variation allerorten, ja vielleicht ist gerade im Hinblick auf das Sprechen das Konzept Standard eher ein Epiphänomen bestimmter (öffentlicher) Kontexte.« (Eichinger 2017a, S. 56)

Beide Punkte betreffen nicht zuletzt ein prägendes Element bisheriger Mündlichkeit, nämlich ihren regionalen Bezug, mit der von Norden nach Süden zunehmenden regionalen Markiertheit. Was geschieht mit solchen Strukturen und Merkmalen im Kontext sprechsprachlicher Standardisierung?

Im Folgenden wird zunächst von den Bedingungen der Standardannäherung im gesprochenen Deutsch und dann von weiteren zentralen Instanzen öffentlich erscheinender Variation die Rede sein, im zweiten Teil dann vom Zusammenhang der Verallgemeinerung einer übergreifenden Norm der Sprechsprache und ihrer traditionellen regionalen Prägung.

1. Über das Normale

1.1 Standard und das gesprochene Deutsch

»Das Normale«, so schreibt Peter Eisenberg (2017, S. 62) in seinem Beitrag über Standarddeutsch, ergebe sich »aus dem normalen Sprachgebrauch und ist insbesondere unabhängig davon, was einzelne Sprecher oder Sprechergruppen für gutes und richtiges Deutsch halten«. Wenn er hinzufügt, der normale Sprachgebrauch finde sich »in den Texten des Standarddeutschen«, so sieht man, dass es bei der Standardsprache zunächst um die geschriebene Sprache geht. Bei ihr hat die explizite Beschreibung und die mehr oder minder explizite Setzung einer Standardform im Deutschen wie in vergleichbaren Sprachen eine Tradition und Geschichte, die sich als Effekt der Emanzipation der Volkssprachen darstellt. Im Fall des Deutschen basiert diese Normierung, die auch mit der Schaffung einer bürgerlichen und republikanischen Prägung der öffentlichen Diskurse einhergeht, auf einer gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreichten Vereinheitlichung, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt durch die Vermittlung in den schulischen Instanzen – weithin Geltung und Verbreitung erlangte und dann auch zumindest im Bereich der Orthografie zu normativen Festlegungen führte. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts stabilisiert sich ihre Geltung im Gebrauch wie in der Vermittlung in den Bildungsinstitutionen. Die auf dieser Basis eingeführten normativen Festlegungen und Übereinkünfte finden sich in Normkodizes für die Orthographie und die Grammatik im engeren Sinne, es gibt Kodifizierungen zu den Standardfällen des Zweifels (vgl. Eisenberg 2017, S. 63 ff.; siehe auch Eichinger 2011). Das gilt nur in Maßen bei der Lexik. Es ist nicht so klar, wo die Grenzen des Standardwortschatzes zu ziehen sind. Gerade im Wortschatz, und hier gerade im Übergang von öffentlichen und offiziellen in informellere und alltägliche Bereiche hinein, zeigt sich die Polyarealität und die Plurizentrizität des Deutschen besonders deutlich. Eine Durchsicht des Variantenwörterbuchs (Ammon/Bickel/Lenz 2016), in dem es darum geht, zeugt von den Schwierigkeiten, hier eindeutige Zuordnungen zu treffen. Die Unklarheit hat auch damit zu tun, dass hier Kategorien wie Umgangssprache und Standard aufeinandertreffen, die nicht unbedingt auf derselben Ebene liegen.

Dessen ungeachtet hat sich offenbar im Verlaufe des 20. Jahrhunderts das implizite Normbewusstsein für standardsprachliche Realisierungen gefestigt. Der so erreichte Standard war als Übereinkunft für das Lesen und Schreiben entstanden, seine Nutzung für das Sprechen (und: hörende Verstehen) auf sozial und institutionell herausgehobene Fälle beschränkt. Für größere Teile der Bevölkerung war Standarddeutsch Schriftdeutsch, im Zweifelsfall sprach man »nach der Schrift«. So war auch die einzige explizite Normierung, die der Aussprache, auf diese Verhältnisse ausgerichtet, bestimmt sie sich doch zunächst als »Bühnenaussprache«. Kennzeichnend für die Entwicklung im 20. Jahrhundert wird aber, dass dieser Standard für das Schreiben und das Sprechen nach der Schrift zum Orientierungsmuster für eine übergreifende und verallgemeinerte sprechsprachliche Praxis wurde. Erkennbar ist aufgrund der dialektalen Verhältnisse die Nähe von Schreiben und Sprechen in der nördlichen Hälfte des zusammenhängenden Sprachgebiets weitaus größer als in den historisch hochdeutschen Gebieten von Teilen der Mitte und insgesamt des Südens. Das betrifft insbesondere den »ohrenfälligsten« Teil der gesprochenen Sprache, die Regularitäten der Aussprache. Insgesamt, und das wurde umso deutlicher, je mehr Räume öffentlichen Sprechens standardsprachlich gefüllt wurden, ging es allerdings um weitaus mehr. Man musste von den Randfällen des Sprechens, monologischen, institutionalisierten und ähnlichen Instanzen zur Normalität des Sprechens kommen. Das Normale, das sind die Gespräche, die dialogische Basis, und die praktischen Einbindungen und die damit verbundenen Sprachspiele, beides mit relevantem Grad an Öffentlichkeit. Die neuen Praktiken und Sprachspiele in ihrer situationellen Einbindung bedürfen einer Verrechnung der angemessenen Explizitheit oder eigentlich Implizitheit in der Situation (vgl. Eichinger 2017b, S. 291). Die dialogische Komponente mit ihrem leitenden, begleitenden und reagierenden Partnerbezug braucht genau zu diesem Zweck Mittel, die für einen schriftlichen Standard allenfalls am Rande relevant sind. Die sprachlichen Systemeigenschaften der gesprochenen deutschen Standardsprache beziehen sich daher auf Strukturen, wie sie in den traditionell gesprochenen Formen vorhanden waren. Diese Sprachlagen der Dialekte und »Umgangssprachen«, die im Kern gesprochene Sprache sind, kennen und haben die Mittel, die in mündlicher Interaktion nötig und ihr dienlich sind. Sie bilden ein Inventar, das bei der Entwicklung einer allgemeinen sprechsprachlichen Form genutzt werden kann, allerdings im Idealfall ihrer regionalen Markiertheit entkleidet. Ein gern zitiertes Beispiel betrifft einen ganz typisch mündlichen Fall: Die funktonal weithin äquivalenten Partikeln eben und halt, die noch vor einigen Jahrzehnten deutlich nördliche und südliche Formen repräsentierten, sind nunmehr im ganzen Sprachgebiet verbreitet (vgl. Eichinger 2017b, S. 291–296). Durch den Einbezug solcher Elemente bzw. entsprechender Strukturen entsteht eine Basis für eine angemessene Mündlichkeit bzw. Interaktionalität, wobei für die Geltung in übergreifenden öffentlichen Kontexten einerseits Generalisierungen wie die genannte notwendig sind. Es muss aber auch eine gewisse Variationstoleranz für die Bandbreite in diesen Kontexten akzeptabler sprachlicher Lösungen entwickelt werden. Beides bedingt, dass die Beobachtung und Bewertung von Gebrauchsnormen zentral ist für die Beschreibung eines »pragmatischen Standard« in seiner Ausdifferenzierung (vgl. Deppermann/Helmer 2013; auch Christen u. a. 2010). Aufgrund der historischen Bedeutung mehrerer sprachlich prägender Zentren und von Regionalität insgesamt ist anzunehmen, dass regionale Prägung, auch wenn saliente Merkmale regionalen Sprechens vermieden werden, im Prinzip erkennbar ist. Dafür sprechen auch die Befunde, die davon zeugen, dass bisher die Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen, bis auf kleine Gruppen international aufwachsender Personen, in einen von einer bestimmten Interaktionskultur geprägten Raum hineinwachsen, der die impliziten Normen der Interaktion doch in größerem Ausmaß prägt, als man vielleicht denken würde. So hat sich in einigen neueren Untersuchungen gezeigt, dass sich kulturelle Identität an der sprachlichen Herkunft aus einer »vertrauten« Region festmacht – und dass das selbst bei ökonomischen Entscheidungen eine Rolle spielt (vgl. Schmidt 2017, S. 135–139). Dazu passt auch die Beobachtungen der Lebenslauf-Soziologie zum typischen arbeitsbedingten Migrationsverhalten. Jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland wird festgehalten und mit kulturellen Faktoren korreliert, zu denen auch eine sprachliche Zuwendung gehört (vgl. generell auch Fassmann 2007; Thomas 2014):

Die in Europa vorherrschende Bindung an das lokale Umfeld wird so in Einklang gebracht mit einem nach Flexibilität und Mobilität verlangenden Wirtschaftssystem. Der »mobile Immobile« ist zwar beruflich häufig unterwegs, jedoch weiterhin stark an den einmal gewählten Lebensmittelpunkt gebunden. (Ruppenthal/Lück 2009, S. 3)

1.2 Diversifikation und mediale Optionen

Die Variation im Gebrauchsstandard des Deutschen ist zweifellos auch ein Reflex der veränderten Öffentlichkeit bzw. der veränderten Geltungsansprüche verschiedener Öffentlichkeiten, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt und stabilisiert haben. Dem Tatbestand der Multiaspektualität moderner Öffentlichkeit entspricht zumindest eine erhöhte Sichtbarkeit und Geltung früher als marginal geltender bzw. in dieser Form nicht vorhandener Interaktionswelten. Zwei miteinander zum Teil verschränkte Interaktionsweisen spiegeln zentrale Veränderungen in diesem Bereich. Das sind zum einen jugendsprachliche Interaktionsmodi und Sprechweisen, und dann Sprachformen und Interaktionsstrukturen, die im Gefolge der Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte entstanden und sichtbar geworden sind. Auch bei den migrantischen Sprachstilen spielten jugend- und stadtsprachliche Ausprägungen und Fragen einer entsprechenden Sozialsymbolik zumindest in der Wahrnehmung eine größere Rolle, so dass zum Teil ähnliche Phänomene untersucht wurden. Da wir uns hier vor allem auf die Frage standardnaher Variation in der gesprochenen Sprache beziehen wollen, sollen die einschlägigen Phänomene hier nicht weiter besprochen werden. Ihre formalen wie funktionalen Eigenheiten sind in den entsprechenden Beiträgen des Berichts »Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache« (Beiträge Bahlo; Klein und Dittmar; Şimşek in Akademien 2017; vgl. auch Deppermann 2013) ausführlich dargestellt.

Ein anderer Aspekt allerdings muss in diesem Kontext auf jeden Fall erwähnt werden, nämlich die sprachliche Variation, die sich in der internetbasierten Kommunikation findet. In unserem Zusammenhang ist dabei besonders interessant, dass sich in diesem technischen Medium zwei sprachliche Intentionen zusammenfinden, die bisher dominant eher der geschriebenen oder der gesprochenen Realisierungsform zugeordnet worden wären. Was die entstehenden sprachlichen Produkte angeht, so sind sie teils interaktionsorientiert, teils textorientiert. Angelika Storrer (2017, S. 264–270) zeigt am Verhältnis von Diskussionsseiten und Artikeln der Wikipedia, dass die Textorientierung stärker an Strategien struktureller Schriftlichkeit ansetzen kann, als das bei der interaktionsorientierten Kommunikation möglich ist, da es für diese Art der Kommunikation – wie sie etwa für soziale Netzwerke typisch ist – keine geschriebenen Vorbilder gibt. Es geht häufig um Fragen einer schriftlichen Fassung von Elementen und Konstruktionen, für die strukturelle Mündlichkeit typisch ist, etwas, das sich wiederfinden wird, wenn unten vom Neo-Standard zu sprechen sein wird. Wenn man andererseits die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation insgesamt ins Auge fasst, betreffen die neuen Texttypen auch Fragen der strukturellen Schriftlichkeit. So ist Schriftlichkeit durch die Verlinkungen nicht nur zwischen Texten, sondern auch im multimodalen Raum, in neue Optionen eingebettet. In beiden Fällen geht es um Erweiterungen des Inventars der diskursiven bzw. interaktionalen Optionen, die erst unter der Ägide der Digitalisierung möglich sind und in diesem Rahmen als Signale eines viel generelleren Umbruchs gelesen werden können (vgl. Lobin 2018). Nach naiveren Anfangsinterpretationen dieser Entwicklung, die eine Zunahme der mündlichen Strukturen annahm, ist derzeit noch nicht ganz klar, wie die interaktionellen Aktivitäten in der neuen medialen Form zu bewerten sind.

Tatsächlich scheinen diese Optionen die mit dem Sprechen und dem (analogen) Schreiben gegebenen Möglichkeiten systematisch zu erweitern. Dabei kommt in Anbetracht der neueren Möglichkeiten, sprechend mit und in den elektronischen Medien zu interagieren und auf diesem Wege schriftliche Texte zu erzeugen, einer angemessenen Kompetenz in medialer Mündlichkeit (im Hinblick auch auf strukturelle Schriftlichkeit) eine wachsende Bedeutung zu. Tatsächlich ist die Entwicklung einer variablen Mündlichkeit, die zur öffentlichen Präsentation geeignet ist, eigentlich eine Voraussetzung für solches Agieren.

2. Genaueres zur gesprochenen Sprache

2.1 Die Entwicklung

Nicht nur die Formen der gesprochenen Sprache, die man im heutigen Gebrauch zu hören bekommt, haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Verändert haben sich vielmehr ebenso die normativen Erwartungen, die an die Sprecher herantreten. Das betrifft nicht zuletzt den Status und die Geltung regionaler Formen. Die Orientierung an einem standardnahen Sprechen hat merklich zugenommen, parallel dazu erhöht sich die Breite der Anwendung solcher sprechsprachlichen Formen. Inventare typisch sprechsprachlicher Elemente spielen daher im Kontext standardnahen Sprechens eine erhöhte Rolle, sie haben im Deutschen aufgrund seiner polyarealen Geschichte häufig regional spezifische Ausprägungen gefunden. Der Weg zu einigermaßen gültigen überregionalen Normen ist hier nicht immer ganz einfach. Und vielleicht ist gerade beim Sprechen (und Hören) der Einbezug eines gewissen Maßes an Variation in so hohem Ausmaß essentiell, dass sie in eine angemessene Beschreibung akzeptabler Normen eingehen sollte. Was geschieht, wenn man eine angemessene Orientierungsnorm an einer vernünftigen Bandbreite öffentlichen Sprechens orientiert, sieht man an dem Konzept, das der neuesten Auflage des Aussprache-Duden zugrunde liegt und das sich nicht mehr nur an dem beruflichen Sprecher und seiner Norm orientiert, ohne das Konzept eines Standards aufzugeben (vgl. Kleiner/Knöbl/Mangold 2015, S. 63–73; auch den Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards [AADG], Knöbl 2011 ff.). Die Umorganisation der sprachlichen Welt in den letzten Jahrzehnten führt zu verstärkten Anforderungen an die Variabilität eines kontextadäquaten standardnahen Sprechens. Was hier geschieht, spiegelt nicht mehr traditionelle Nähe-Distanz-Differenzierungen, vielmehr geht es um sprachliche Formen, Routinen und Praktiken, die den Anspruch erheben, in dieser Hinsicht im Prinzip als neutral gelten zu können. So wird der Anspruch von Standardsprachlichkeit zur Norm bei einer weitaus größeren Bandbreite von öffentlichen Kontexten, Praktiken oder Sprachspielen, als das die an bildungssprachlicher Schriftlichkeit und hoher Distanz orientierte Standarddefinition voraussetzt (vgl. dazu Auer 2018, S. 40). Sofern sie sich nicht ohnehin (nur) als idealer Maßstab versteht, was für bestimmte Fragestellungen nützlich und nötig ist (wie z. B. bei Schmidt 2017, S. 119–121).

Um zur Regionalität zurückzukehren: Für das Sprechen im deutschen Sprachraum war regionale Differenzierung zweifellos ein konstitutives Merkmal, nicht nur auf der kleinräumigen Ebene der Dialekte, sondern auch in der Behandlung der sogenannten Umgangssprache. Sofern regionale Einbindung ihre Form in den kleinräumigen »historischen« Dialekten fand, spielt sie heute auch in den dialektfesteren Arealen des deutschsprachigen Südens nicht mehr die Rolle, die sie lange Zeit hatte. Dazu haben allerlei Faktoren beigetragen, neben dem wohl augenfälligsten, der Veränderung der medialen Welt sprechender Medien, gehört dazu auch die kontinuierliche Steigerung des formalen Bildungsgrads über die Bevölkerung hin. Zunächst ist diese Welt standardsprachlicher Gespräche gekennzeichnet von einem Habitus gebildeter Bürgerlichkeit. Allerdings bedarf es deutlich veränderter Bedingungen für die mündliche Kommunikation, um auf dieser Basis eines bürgerlichen Modells zu einer übergreifenden Sprachform zu kommen (zu den Wegen dorthin vgl. Elspaß 2005). Begleitet wurde das von grundlegenden Veränderungen der Lebenspraxis über die letzten hundert Jahre hin. Wesentlich für einen veränderten sprachlichen Bedarf sind verschiedenen Schübe der Modernisierung, aber auch der Mobilität. Beide wurden vor allem durch Industrialisierung und Verstädterung ausgelöst. In Folge dieser Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten noch beschleunigt haben, wird das traditionelle Bild allenfalls in der Zeitschichtung der Generationskohorten noch sichtbar, prägt aber nicht mehr die Sprachpraxis und Spracheinschätzung wichtiger jüngerer Sprechergruppen. Dem entspricht die Feststellung Jürgen Erich Schmidts zur generellen Entwicklung der Verbreitung der Dialekte:

Die Dialekte, die heutige mittel- und norddeutsche Abiturienten in der Regel weder sprechen noch verstehen, waren um 1900 noch die normale Form der gesprochenen Alltagskommunikation im gesamten deutschen Sprachraum. (Schmidt 2017, S. 105)

Wie auch schon die verschiedenen impliziten Einschränkungen in der Formulierung zeigen, ist es nicht so eindeutig, was das für ein modernes Modell standardsprachlichen Agierens heißt. Offenkundig geht es jedenfalls um mehrere Kategorien, von denen die jeweilige Ausgestaltung der sprachlichen Praxis gesteuert oder ausgelöst wird. Es geht im Zitat um die klassischerweise dialektferneren Regionen des Sprachgebiets – »mittel- und norddeutsch« –, zudem um eine junge und gebildete Sprecherinnen- und Sprecherkohorte (»Abiturienten«) und um ein klassisches Verständnis von Dialekt, was im Kontext des Zitats ausgeführt wird. Es geht noch um mehr, natürlich um Situationen, Praktiken und hierarchische Konstellationen, um Institutionalisierung, um Lebensstile mit ihren Signalisierungsnotwendigkeiten in einer individualisierten, aber standardsprachlich orientierten Welt (vgl. z. B. Dannerer 2019). Das bildet jenes Bedingungsgefüge für standardsprachnahe Interaktionen, die jedenfalls durch einen primär sprechsprachlichen Charakter gekennzeichnet sind (vgl. Eichinger 2017b, S. 297 f.).

2.2 Variation und regionale Strukturen

Das hat zwei miteinander zusammenhängende und einen dritten, wenn man so will, kollateralen Effekt.

Zum einen hat sich tatsächlich über das letzte Jahrhundert hin eine Annäherung an standardsprachliche Praktiken und Erwartungen ergeben. Neben der Wirkung schulischer Bildung haben dazu die technisch-medialen Entwicklungen beigetragen, die zur Gewöhnung zunächst an das Sprechen standardnaher Formen überhaupt beigetragen haben und dann ihre natürliche Verwendung in verschiedenen Situationen und Kontexten präsentierten. Es beginnt das mit dem sprechenden Medium Rundfunk in den 1920er Jahren, mit seiner auch politisch forcierten Verbreitung in den folgenden Jahrzehnten. Eine weitere Stufe ist die durch den Tonfilm vorbereitete, aber dann mit dem jedenfalls zunächst »nationalen« Fernsehen seit den späten 1950er Jahren erfolgende Erfahrung des Sprechens in Bild und Ton. Dessen Dominanz gab andererseits dem Radio Raum für kolloquialere Töne. Die zeitliche und inhaltliche Verbreiterung des TV-Angebots bringt dann neue Lebensstile und Sprechweisen in die Öffentlichkeit und zur öffentlichen Besprechbarkeit. Aufkommen und Entwicklung der »sprechenden« und dann Bilder und Sprache gebenden Medien, also vor allem Radio und Fernsehen, haben die Gewöhnung an standardsprachliche und standardsprachnahe Äußerungsformen mit sich gebracht. Das hat Folgen für den Grad und die Rolle von regional akzentuiertem Sprechen. Das deutlich regional markierte Sprechen, das zumindest in der Mitte und im Süden des deutschen Sprachgebiets die normale Form des Sprechens repräsentierte, wurde mit dem Erfolg des hochsprachlichen muttersprachlichen Unterrichts zum eher ländlich konnotierten Dialekt – mit seiner sozialen Umdeutung.

Dabei mischt sich zum anderen die Orientierung an einer nur für die schriftliche Form eigentlich einigermaßen explizit gemachten Normierung mit einer von Anfang an nur marginal wirksamen orthoepischen Normierung. Diese Regelung zur Aussprache ist aufgrund ihres vortechnischen Bezugsbereichs – dem des artikulierten Sprechens auf der Bühne – auch in abgeschwächten Formen eher eine in Sonderfällen gültige Idealnorm. Im Lichte der weiteren Entwicklung kann man diese Regelung als eine Art Katalysator für die weitere Entwicklung allgemeiner verbindlicher Normvorstellungen verstehen. Die »sprechenden« Medien, von denen die sprachliche Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, zielten vor allem in ihrer Funktion als Leitmedien zunächst auf eine möglichst übergreifende gesprochene Form, die dann allmählich von einer natürlich gehobenen Sprechsprachlichkeit bis an die professionelle Beherrschung einer idealtypischen Normrealisierung reicht.

Zudem, und das ist vielleicht der sehr grundlegende Nebeneffekt: Auch wenn Variation in der phonetischen Realisierung als ein salientes Merkmal zur Einschätzung der normativen Akzeptanz verstanden werden kann, ist sie bei weitem nicht alles, was man von einer standardnahen Sprechsprachlichkeit erwartet. Lexikalisches, und da gerade auch das typisch Gesprochene (wie Gesprächspartikeln, aber auch Partikeln insgesamt; vgl. Eichinger 2017b) ebenso wie die Wörter des (öffentlichen) Alltags wurden grundsätzlich eher in den Bereich der regionalsprachlichen Umgangssprache eingeordnet. So ist die »Versprechsprachlichung« auf dieser (wie auf grammatischer und konstruktioneller) Ebene der typische Fall der Regulierung im Rahmen einer Gebrauchsnorm. Aber auch, wenn areale phonetische Präferenzen sichtbar werden, handelt es sich nicht so sehr um den Beibehalt zentraler dialektaler Merkmale, sondern um Symptome einer gebrauchsorientierten Verortung im sprachkulturellen Raum – bei angenommener kommunikativer Neutralität oder zumindest Unschädlichkeit im Rahmen öffentlicher Kontexte. Ein einfaches Beispiel dafür ist die unterschiedliche Behandlung von Fremdwörtern, im Lautlichen und im Gebrauch, in den verschiedenen Gegenden des deutschsprachigen Raums. Davon zeugen viele Befunde in den Darstellungen des AAGD, zum Beispiel die Karten zum Anlaut von Wörtern wie Gelatine, Journalist und Jury1, die gleichzeitig auch zeigen, dass das regionale Metadatum nur ein möglicher Bedingungsfaktor für Variation ist – das aber durchaus, was Stefan Kleiner und Ralf Knöbl an einem phonologisch bekannt auffälligen Beispiel zur Aussprache haupttoniger Vorsilben zu belegen vermögen (vgl. Kleiner/Knöbl 2018, S. 173–175).

Gegen das Bild, das die Fragen eines standardnahen Wortschatzes der gesprochenen Sprache eher ausklammert, wenden sich unter anderem die Untersuchungen und Darstellungen zur nationalen Variation (neuere Projekte zu Österreich sind u.a. Dürscheid/Elspaß/Ziegler 2018, Lenz u. a. o.J., Ransmayr 2019). Als Ergebnis ist hier das Variantenwörterbuch (Ammon/Bickel/Lenz 2016) zu nennen, das sich allerdings auf einen relativ formalen Standardbegriff bezieht, etwa im Hinblick auf die Bewertung der schriftlichen Festlegung und Kodifikation der Norm (vgl. dazu Auer 2018, S. 54). Gerade an dieser Stelle wird klar, dass auch auf dieser Ebene aus historischen Gründen eher norddeutsche Varianten, die direkter auf die Realisierung gemäß der Schriftform bezogen sind, eine Präferenz im Hinblick auf ihre Akzeptanz als standardsprachlich haben. Das prägt sicher auch die Einschätzung bei entsprechenden Befragungen (vgl. Norddeutsch als »schönster Dialekt« in Eichinger u. a. 2009), die durch die Erfahrung mit Norminstanzen geprägt ist. Gerade für den Süden des deutschsprachigen Raums und in Sonderheit für seine nationalen Ausprägungen etwa in Österreich gilt, dass zwar bundesdeutsch-nördliche Standardsprachlichkeit durch ihre Präsenz und Schriftsprachorientiertheit wirkt, dass sich aber die Bandbreite der in modernen Gesellschaften nötigen Standardsprachlichkeit nicht darin erschöpft, sondern im Hinblick auf verschiedene situative Metafaktoren, eben auch Arealität, reagiert. Gerade in den von Individualisierung und Lebensstilorientierung geprägten modernen europäischen Gesellschaften ist hier auch im Raum des Standards eine Bandbreite von Optionen gegeben, in der Sprache zu zeigen, wie man wahrgenommen werden will (vgl. Eichinger 2017b, S. 297–303).

2.3 Ein post-regionales Bild

ich weiß, er wird kommenich weiß, dass er kommen wird