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Inhalt

Impressum

Vorbemerkung

Einleitung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

54.

55.

Danksagung

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2018 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-01-2

ISBN e-book: 978-3-903271-02-9

Lektorat: Philine Ternes

Umschlagfotos: Vanilladesign | Dreamstime.com, Photo Amanda

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorbemerkung

Dies ist eine Geschichte, in der alle handelnden Personen frei erfunden sind, jede Ähnlichkeit mit realen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Nerovalle ist ein fiktives Dorf, das auf keiner Landkarte zu finden ist. Wortwörtlich übersetzt heißt es „schwarzes Tal“, angelehnt an die dunkle Erde an den Hängen des Ätna. Ich hatte bei der Beschreibung des Dorfes die Bilder von verschiedenen süditalienischen Dörfern vor Augen, die teilweise wie Adlernester auf den Kuppen von Berghängen kleben, mit einem zentralen Dorfplatz mit Kirche und öffentlichen Gebäuden, schmalen, steinernen Häusern in engen, steilen Gassen und verstreut liegenden Gehöften.

Der Ausbruch des Ätna im Jahr 1964 hat tatsächlich stattgefunden, allerdings habe ich mir die Freiheit genommen, den großen Ausbruch von 1971 in das Jahr 1967 zu verlegen, um die Logik der Geschichte zu unterstreichen. Tatsächlich fand im Jahr 1971 ein gewaltiger Ausbruch statt, bei dem es wochenlang nicht mehr richtig hell wurde und unter anderem Teile der Seilbahn unter den Lavamassen begraben wurden.

Einleitung

Komm

Einen Atemzug näher

Ans Licht

Schwester

Sei kühn

Und unnahbar

Rose Ausländer, 1983

And a rock feels no pain, and an island never cries …

Simon & Garfunkel

1.

Ich mag sie, diese blass-kalten Tage, wenn achtlos das Wasser über die Steine im Fluss rinnt und eine bemühte Novembersonne sich ihren Weg durch den Dunst bahnt, wenn sich die Konturen der Häuser und Bäume aufzulösen scheinen, und je mehr der Grauschleier des Nebels Menschen und Tiere umhüllt, umso mehr leuchten sommerlich-neckisch rot meine Schuhe.

Die Stadt scheint mehr und mehr zur Ruhe zu kommen, und die Zeit scheint langsamer zu fließen, zumindest ich empfinde das so, wissend, dass die viel zitierte stillste Zeit im Jahr immer hektischer wird.

Ich setze einen Fuß vor den anderen, in meinen roten Sneakers, mit Bedacht, während meine Gedanken um die Ereignisse des vergangenen Jahres kreisen. Es ist so viel geschehen in diesem Jahr, als feststehende Wahrheit empfundene Inhalte haben sich als unhaltbar erwiesen, ich habe Grenzen überschritten, die ich mir selber auferlegt hatte, ich habe mich in das Leben gestürzt, wie ein neugieriges Kind, ich habe mich dem Leben, und auch der Liebe, ganz neu hingegeben, mich dem Strom überlassen, und ich habe entdeckt, dass dieser Strom mich trägt.

In viele dieser Gedanken drängt sich Maddalena, mit ihren dunklen, blitzenden Augen, ihren langen schwarzen Haaren, ihrem großen Mund, der sich zu einem Lachen wie eine Naturgewalt öffnet, ihrer tiefen, samtigen Stimme, die von ihrem Leben erzählt, von den engen, dunklen Häusern ihrer Kindheit, von der erbarmungslosen Sonne des Sommers, den schwarz-glänzenden, scharfkantigen Felsen und dem üppigen Grün der Obstgärten und Weinberge, die sich an den Hängen des Ätna entlang ausdehnen, und vom Meer, immer wieder vom Meer, tiefblau mit weißen Schaumkronen, mal sanft, mal wild, im Winter oftmals grau, dunkel, schäumend, und immer lockend, so verlockend.

Ich weiß, dass vieles von dem, was ich im vergangenen Jahr erlebt habe, mit ihr zu tun hat, es scheint, dass die Begegnung mit ihr der Auslöser war für einen Prozess, der in mir so vieles durcheinandergewirbelt hat, dass ich jetzt nicht mehr dieselbe bin, die ich im vergangenen November noch war.

Ich weiß, dass ich auch als Psychotherapeutin Grenzen überschritten habe, ich habe an dieser Frau Anteil genommen, wie noch niemals zuvor, und wie ich es meinem beruflichen Verhaltenskodex zufolge nicht hätte zulassen dürfen. Ich habe die Grenzen meiner therapeutischen Abstinenz überschritten, nicht um meines Vorteiles willen, sondern weil ich es zuließ, dass sie alle meine Grenzen überschritt, mich einsog in die Turbulenzen ihres Lebens. Und ich weiß auch, dass ich ihr unendlich dankbar bin dafür. Mein Leben ist zwar nicht mehr so ruhig und beschaulich, aber es ist wieder spannend geworden, und ich habe gelernt, wieder mehr zu vertrauen, mir selbst, aber auch dem Leben als solches, mit all seinen Unwägbarkeiten und Unvorhersehbarkeiten. Ich lache mehr und ich weine mehr, und es ist gut so, wie es ist.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie Maddalena das erste Mal zu mir kam. Es war an einem Montag, einer dieser blassen Novembertage, an denen sich die Sonne durch den Nebelschleier müht und alle Konturen sich im Dunst wie durch einen Weichzeichner verwischen. Ich hatte bereits einen arbeitsintensiven Vormittag hinter mir, eine junge Frau mit einer Herbstdepression, ein älteres Paar, bei dem vor allem die Frau unter der Pensionierung des Gatten litt, und eine Mutter, die mit der Pubertät ihres Sohnes nicht zurechtkam. Ich war zufrieden mit mir, weil ich in jeder Therapiestunde einen roten Faden zu fassen bekam und das Gefühl hatte, dass ich jedem einzelnen etwas mitgeben konnte, das die jeweilige schwierige Situation in gutem Sinne fortschreiten ließ. Jetzt machte ich mir noch die letzten Notizen und schaltete gerade den Computer aus, als ich hörte, dass jemand mein Vorzimmer betrat. Ich wunderte mich, weil ich keinen weiteren Termin mehr vereinbart hatte, und wollte mich eigentlich zu einer längeren Mittagspause aufmachen.

Als ich die Tür zum Vorzimmer öffnete, stand eine Frau draußen. Sie war ziemlich groß, sehr schlank, das konnte ich sogar durch die dicke Wolljacke erkennen, ihre Haare ein wildes Nest aus schwarzen Locken. Sie war ungeschminkt und zitterte, ob von der nassen Kälte oder vor Angst, war zunächst nicht zu erkennen.

„Sind Sie die Psychotherapeutin, die Frau Dr. Gruber?“, fragte sie mit einer rauen Stimme, die auch einen leichten Akzent hatte, den ich nicht sofort einordnen konnte.

„Ja … und wer sind Sie?“, fragte ich zurück.

„Entschuldigen Sie … ich heiße Maddalena Noccioli … ich brauche Ihre Hilfe … dringend!“

Ich spürte, dass ich mich innerlich versteifte. Ich mag es nicht, wenn Leute einfach von der Straße reinkommen, ohne Termin, ich fühle mich für Akutsituationen nicht zuständig, dafür gibt es Notärzte oder Ambulanzen. Trotzdem nahm ich ihre Not wahr und brachte es nicht über mich, sie vorschnell abzufertigen.

„Ja … wissen Sie, eigentlich bekommen die Menschen einen Termin bei mir … es ist nicht üblich, einfach so in einer psychotherapeutischen Praxis aufzutauchen … aber, was ist so dringend?“

Frau Nocciolis Blick wirkte gehetzt, es war offensichtlich, dass sie Angst hatte. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so überfalle, aber … ich habe Angst … ich glaube, ich werde verfolgt … und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich passiert oder ob ich mir das einbilde. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe … dass ich verfolgt werde oder dass ich einfach nur verrückt werde.“

Mir wurde sehr schnell klar, dass ich diese Situation nicht einfach zwischen Tür und Angel erledigen konnte, und irgendetwas an dieser Frau Noccioli, sei es in ihrem Blick oder ihrer ganzen Art, drängte mich, auf sie einzugehen, deshalb bat ich sie abzulegen und im Behandlungszimmer Platz zu nehmen.

„Wissen Sie, von wem Sie verfolgt werden?“

„Nein … ich weiß nicht … es ist … wie ein Schatten … das ist es ja, was mir so Angst macht … kennen Sie das … Sie spüren, da ist etwas, irgendwer oder irgendwas … und es ist unheimlich … man weiß nicht was es ist …“

„Haben Sie das schon länger?“

„Ja … nein … immer wieder mal, seit Jahren … seit vielen Jahren … und dann lebe ich wieder lange Zeit mein Leben und es geht mir gut … und auf einmal ist er … es … wieder da.“

Interessiert beugte ich mich vor. „Er? Also ist es ein Mann, der sie verfolgt?“

„Non lo so … ich weiß es nicht … ich weiß nicht einmal, ob es real ist oder ob ich einfach verrückt werde …“

„Ja, das stelle ich mir schrecklich vor …“

Frau Noccioli schien ruhiger zu werden, das Zittern ließ ein wenig nach, und auch ihr Blick wirkte nicht mehr so unruhig und gehetzt.

„Ja … es ist schrecklich … Sie verstehen mich, ich wusste es … ich wusste es gleich, als ich Ihr Praxisschild gesehen habe … geh’ zu der Frau, habe ich zu mir gesagt.“

„Waren Sie schon einmal bei einem Arzt deswegen?“

Da hörte ich zum ersten Mal Maddalenas Lachen, ganz rau und kehlig.

„Sie meinen bei einem Psychiater …? Mein Exmann hat mich zu einem geschickt, vor vielen Jahren, er sagte, du bist verrückt … sei pazzo … nur weil ich nicht das gemacht habe, was er wollte … no no … kein Psychiater … niemals mehr … mai più …“

Wir schwiegen eine Zeit lang, es war ein durchaus gutes Schweigen, es war spürbar, dass die Frau ruhiger wurde, dass die Panik nachließ. Dann fragte ich sie: „Sie sind Italienerin, nicht wahr?“

Wieder lachte sie, aber diesmal war es ein anderes Lachen, aus der Tiefe, warm und lebensvoll.

„No, signora dottoressa, sono siciliana. Ich bin Sizilianerin, nicht einfach eine Italienerin.“

„Sind Sizilianer keine Italiener?“

„Doch! Aber nicht alle Italiener sind Sizilianer.“

Ich musste schmunzeln, da klang eine Menge Selbstbewusstsein für die eigene Abstammung, Stolz auf ihre Wurzeln mit.

„… eine Sizilianerin in Salzburg …“

„Beh … das ist eine lange Geschichte …“

Ich fühlte, wie widerstreitende Gefühle in mir hochkamen, einerseits eine gewisse Ungeduld, weil ich eigentlich in meine wohlverdiente Mittagspause wollte, andererseits Interesse, Neugier. Ich erlebe das öfter, dass ich bei einem Erstgespräch vom ersten Moment an auf jemanden anspringe, mehr hören möchte über diesen Menschen. Bei Maddalena ging es sogar noch darüber hinaus, es war wie ein inneres Drängen, mehr von dieser Frau zu erfahren, fast so etwas wie ein Sog, der mich zu ihr hinzog, ja, es fühlte sich so ähnlich an wie eine Liebe auf den ersten Blick. Ich möchte eines klarstellen: Ich bin nicht lesbisch, mein erotisches Interesse gilt eindeutig und unzweifelhaft Männern. Es war auch nichts Erotisches oder Sexuelles, was mich zu ihr hinzog, sondern etwas tief Innerliches, schwer zu Beschreibendes. Gleichzeitig fühlte ich in mir ein kaum fassbares Unbehagen, etwas wie eine Warnung, wovor auch immer. Ich konnte es nicht benennen. Aber mir war klar, dass ich dieses Unbehagen nicht einfach übergehen konnte.

„Wissen Sie, ich glaube ich möchte diese Geschichte jetzt nicht hören, ich habe auch gar nicht die Zeit dazu, Sie haben ja auch gar keinen Termin jetzt. Ich denke, wir sollten im Augenblick eher darauf schauen, wie wir jetzt mit Ihrer Angst umgehen …“

Maddalena schien ein Stück zurückzuweichen, und obwohl äußerlich keine Veränderung ihrer Haltung oder Mimik erkennbar war, schien sich der Abstand zwischen uns zu vergrößern. Gleichzeitig spürte ich in mir so etwas wie Enttäuschung.

„Wissen Sie“, sagte Magdalena, „ich lebe schon so lange mit diesem Gefühl, wie ich schon sagte, es kommt und geht. Und ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt auch wieder gehe.“

„Frau Noccioli, ich habe kein gutes Gefühl dabei, Sie jetzt einfach so gehen zu lassen …“

Sie lachte wieder dieses raue, kehlige Lachen.

„Frau Doktor, glauben Sie mir, wenn ich mich deswegen umbringen wollte, hätte ich das schon viele Male tun können, und Sie hätten nie etwas davon erfahren. Ich werde es auch jetzt nicht tun, Sie können ganz beruhigt sein. Nein … ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“ Damit erhob sie sich.

„Nein, warten Sie …“

Maddalena sah mich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an, es lag sehr viel Stolz, ja Hochmut, in dieser kleinen Geste. Ich aber spürte, dass ich sie nicht einfach so gehen lassen wollte, wobei sich meine Motivation zum größten Teil aus professioneller Verantwortung speiste, jedoch durchaus auch – Neugier, ja, Faszination dieser Frau gegenüber mit dabei war.

„Es geht mir nicht gut dabei, Sie jetzt einfach gehen zu lassen …“

Der Blick aus ihren dunklen Augen war sehr intensiv, schien tief in mich einzudringen, mich zu durchschauen, verunsicherte mich. Mir schien, als ob sich da gerade etwas völlig umkehrte. Diese Maddalena Noccioli kam als verängstigte Frau hilfesuchend zu mir, und jetzt war sie auf einmal diejenige, die mich, leicht von oben herab, in die Schranken wies. Aus fachlicher Sicht lief da gerade etwas völlig schief.

„Frau Dr. Gruber, machen Sie sich keine Sorgen um mich. In mir ist genug Kraft und Überlebenswille, um auch diesen Anfall – wie so oft – zu überstehen. Wenn es Ihnen damit besser geht, nehme ich mir Ihre Karte mit, und ich verspreche Ihnen, Sie in den nächsten Tagen anzurufen und einen Bericht über mein Befinden abzuliefern.“

War das Sarkasmus? Ich rettete mich in meine Professionalität.

„Frau Noccioli, ja, das wäre mir ganz recht. Ich trage schließlich eine Verantwortung für Menschen, die hilfesuchend zu mir kommen, auch wenn ich nicht Ihre Psychotherapeutin bin. Und ich kann Ihnen nur empfehlen, sich in Behandlung zu begeben, entweder zu einem Facharzt oder in Psychotherapie. Glauben Sie mir, mit derartigen Zuständen muss man nicht sein Leben verbringen, es gibt Hilfen.“

Maddalena lachte, und in diesem Lachen klang eindeutig Spott mit.

„Frau Dr. Gruber, ich gehe jetzt, und ich verspreche Ihnen, dass ich Sie anrufen werde. Einen schönen Tag noch!“

Und damit warf sie ihre Wolljacke über und verließ meine Praxis, während ich ihr gerade noch ein „Wiedersehen, Frau Noccioli, alles Gute!“ nachrufen konnte.

Sie ließ mich verwirrt zurück. Mein Appetit war mir vergangen, und die Mittagspause war ohnehin schon fast zu Ende. In einer guten Viertelstunde würde meine nächste Klientin kommen. Ich machte mir einen starken Kaffee mit viel Zucker und holte meine „Notpackung“ Zigaretten hervor. Ich hatte eigentlich schon vor langem zu rauchen aufgehört, aber manchmal, in Ausnahmesituationen, brauchte ich eine Zigarette. Dies war so eine Ausnahmesituation. Ich musste dringend mein inneres Gleichgewicht und meine professionelle Gelassenheit zurückerlangen, darauf hatten auch meine Nachmittagsklienten einen gewissen Anspruch. Ich schluckte also meine Verwirrung mit dem starken, süßen Kaffee (den ich normalerweise wesentlich schwächer und ungezuckert trank) hinunter und ließ meine widersprüchlichen Gefühle im Rauch einer Marlboro aufgehen. Und als kurze Zeit später Frau Niedermeier an meiner Tür läutete, um sich wieder eine Stunde lang über ihren widerwärtigen Ehemann und ihren nichtsnutzigen Sohn auszulassen, wirkte ich äußerlich völlig gelassen und gewohnt professionell empathisch.

Der Rest meiner Woche verlief ziemlich ruhig. Dem Novemberwetter und der dazugehörigen Erkältungswelle zufolge hatte ich mehrere Absagen, und so konnte ich einiges an liegengebliebener Büroarbeit erledigen und sämtliche ausständigen Honorarnoten verschicken. Am Mittwochabend nahm ich wie gewohnt an meinem Yogakurs teil, am Donnerstag nach der Arbeit ging ich wie immer singen.

Ich war Mitglied in einem Frauenchor, der ein bunt gemischtes Repertoire an alten Schlagern und Popsongs, ein wenig Klassik, ein wenig Jazz und ein paar alte Volkslieder auf Lager hatte, dazu einige rhythmische Lieder und kirchenmusikalische Stücke, die wir vorwiegend bei Taufen und Hochzeiten zum Besten gaben. Gertraud, unsere Chorleiterin mit Mozarteumsabschluss, hatte hohe Ambitionen und wenig Geduld mit uns Amateuren, dazu aber viel Humor, und so lösten sich ihre Ausbrüche meist in Gelächter auf, das wir anschließend bei einem kleinen Umtrunk im Stieglkeller ausklingen ließen.

So weit, so gut, alles wie gewohnt, allerdings brachte mich der Gedanke an Maddalena Noccioli immer wieder ein wenig aus meinem üblichen Trott. Im Allgemeinen gelingt es mir ziemlich gut, mich von meiner Arbeit und meinen Klienten abzugrenzen, aber natürlich erlebe ich immer wieder mal Situationen, die mich auch nachher noch beschäftigen. Ich versuche dann zunächst, die Geschichte logisch durchzudenken, schreibe meine Gedanken dazu auch manchmal auf, und bringe damit meistens Ordnung in meinen Kopf. Wenn das nicht reicht, bitte ich eine Kollegin oder einen Kollegen um ein Gespräch oder ich bespreche die Sache bei meiner nächsten Supervision.

In diesem Fall aber wollte ich aus einem mir unerfindlichen Grund niemanden hinzuziehen und quälte mich auf unübliche Weise mit Gedanken an diese Situation und dem Gefühl, mich unprofessionell verhalten zu haben. Einerseits hatte ich mich bereits beim Erstkontakt aus meiner therapeutischen Objektivität und Abstinenz herausreißen lassen und diese Frau näher an mich herangelassen, als es für mich gut war, andererseits glaubte ich, nicht genug Einfühlungsvermögen aufgebracht zu haben, dass sie sich mit ihrer Angst und Panik verstanden und aufgehoben fühlen konnte, um so vielleicht auch einen nächsten Schritt setzen zu können und sich vielleicht in einer Therapie mit ihrer Störung auseinanderzusetzen.

Mir war aber auch klar, dass diese Bereitschaft zu einer Psychotherapie immer vom Klienten selbst kommen muss, und als klientenzentrierte Psychotherapeutin, die ihre Ausbildung in einer Zeit gemacht hatte, in der das Postulat der non-direktiven Therapie sehr hoch gehalten wurde, war es mir auch wichtig, die Menschen möglichst wenig zu beeinflussen. Und ein klein wenig beschlich mich auch immer wieder der Gedanke, dass der Wunsch, Maddalena möge den Weg in eine therapeutische Behandlung finden, nicht vollkommen uneigennützig war. Ich wollte, dass sie zu mir in Behandlung käme. Ich wollte Maddalena wiedersehen.

Dennoch gelang es mir im Laufe der Woche, meine innere Beschäftigung mit Maddalena hintanzustellen, mich auf die Gegebenheiten und Erfordernisse der Gegenwart einzulassen, und bis zum Ende der Woche hatte ich mich so weit, die Episode mit ihr als eine kuriose Erfahrung, wie sie in unserem Beruf halt immer wieder mal vorkommt, abzuhaken.

Am Freitag hatte ich nur mehr drei Vormittagsklienten und freute mich beim Aufräumen meiner Praxis auf das Wochenende. Am Samstagnachmittag wollte meine Tochter auf einen Kaffee kommen, dafür wollte ich noch einen Marmorgugelhupf backen, den sie seit ihrer Kleinkinderzeit liebte. Am Sonntagvormittag stand mit meinem Chor eine Hochzeit im Marmorsaal im Schloss Mirabell auf dem Programm, danach würden wohl einige von uns gemeinsam essen gehen, dazwischen wollte ich ausspannen, unabhängig vom Wetter spazieren gehen, viel lesen und es mir gut gehen lassen.

Gerade als ich die Praxis verlassen wollte, kam eine SMS von Maddalena.

„Sehr geehrte Frau Dr. Gruber – ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Es geht mir gut. Maddalena Noccioli“

Die Botschaft war sehr klar und eindeutig, aber ich empfand sie im ersten Moment wie einen Schlag. Aber dann rief ich mich selbst zur Ordnung – „du hast die Geschichte ja selber auch schon abgehakt, und es ist gut, dass es bei Maddalena auch so ist. Freu’ dich, dass es ihr gut geht!“

Und nach ein paar tiefen Atemzügen gelang es mir, zu meiner vorherigen Haltung zurückzukehren. Ich verließ meine Praxis und machte mich auf in mein Wochenende.

2.

Mittlerweile war es Dezember geworden und Salzburg hatte sich wie jedes Jahr in seinen vorweihnachtlichen Lichterglanz gehüllt. Ich mag diese Zeit, und auf dem Weg von meiner Praxis in der Griesgasse in meine Wohnung in der Reichenhallerstraße mache ich häufig den kleinen Umweg über den Christkindlmarkt und tauche ein in die Atmosphäre von Weihnachtsstimmung und Geschäftigkeit, in das Gewühl der Besucher, Einheimische und Menschen aus allen möglichen Ländern, Asiaten mit gezückten Fotoapparaten, Russen in Pelze gehüllt, hinter Kopftücher oder Tschadors versteckte Musliminnen, die in kleinen Trupps einem selbstbewussten Kerl folgen. Häufig ist der melodische Klang von Italienisch zu hören, aber auch das laute „Oh my god“ von Amerikanerinnen, verschiedene gutturale slawische Idiome, untermalt von den unterschiedlichsten Dialekten, von handfesten „Innergebirglern“, über in feine Loden gekleidete städtische Salzburger, gestandene Bayern mit ihrem breiten Dialekt bis hin zu feinstem nordischen Hochdeutsch. Dazwischen klingen Weihnachtslieder, dort geben dunkelhäutige Männer in bunten Ponchos südamerikanische Rhythmen zum Besten, da spielt ein Straßenmusikant in Mozartkostümierung die Kleine Nachtmusik, zu seinen Füßen ein geöffneter Geigenkoffer mit einigen Münzen.

Der Duft von heißen Maroni mischt sich mit dem Odem von Glühwein und Punsch, Bosna und Krapfen mit Sauerkraut sind ebenfalls schon von weitem zu riechen, und fallweise drängen sich Weihrauch oder Zuckerwatte dazwischen, und immer wieder kündet der Geruch nach Zimt und Nelken von Ständen mit G’würzsträußchen. Es glitzert und funkelt von den geschmückten Ständen, es ist kitschig bis dort hinaus, und ich liebe es. Seit meiner Kindheit weiß ich, wenn der Christkindlmarkt offen ist, kommt bald das Christkind.

Auch in jenem Jahr ließ ich mich mehrmals die Woche von dieser Stimmung hinreißen, meine Wohnung hatte ich wie immer mit einem geschmackvollen Adventkranz und einer Menge Kerzen ganz in Weiß und mit viel Tannengrün geschmückt, in meiner Praxis hatte ich ein kleines Adventsgesteck aufgestellt, auch als Zeichen für meine Klienten. Manche von ihnen wollen mit dem ganzen „Weihnachtsklimbim“ nichts zu tun haben, aber ich glaube, dass man sich dem nicht ganz entziehen kann und auch nicht soll. Es ist meiner Meinung nach – völlig unabhängig von religiösen Vorstellungen und Weltanschauungen – immer wieder eine Aufforderung zum Innehalten, sich auseinanderzusetzen mit seinen Beziehungen und gegebenenfalls auch zum Loslassen oder sich Versöhnen. Und es ist ganz einfach ein Teil unserer Kultur.

Auch an diesem Spätnachmittag Anfang Dezember nahm ich den Weg von meiner Praxis über den Christkindlmarkt nach Hause. Es war für die Jahreszeit wieder mal viel zu warm, und ich hatte meine Mütze in meinen Rucksack gesteckt und nahm die Lebendigkeit des bunten Treibens mit allen Sinnen wahr. Während ich am Stand mit Bienenwachskerzen, Honig und Met vorbeischlenderte und überlegte, ob ich mir nicht ein paar Lebkuchen mitnehmen sollte, vernahm ich schräg hinter mir ein lautes, herzliches Lachen. Ich blieb stehen – ich erkannte es sofort, dieses tiefe, warme Lachen, ich hatte es vor einigen Wochen in meiner Praxis gehört. Unverkennbar Maddalena Noccioli!

Ich drehte mich um und da stand sie, in einer Gruppe von mehreren Menschen, einen Glühweinbecher in der Hand, in ein offensichtlich vergnügtes Gespräch mit den Leuten um sie herum vertieft. Sie trug ein leuchtend grünes Cape, ihr großer Mund war rot geschminkt, ihre schwarzen Haare wallten um ihre Schultern, sie erzählte offenbar eine lustige Geschichte, mit der freien Hand lebhaft gestikulierend. Da stand sie, diese Frau, die verängstigt und hilfesuchend in meiner Praxis aufgetaucht war, als Mittelpunkt einer fröhlichen Gruppe, schön und selbstbewusst, und nichts, aber schon gar nichts an ihr erinnerte an die zitternde Frau, die ich kennengelernt hatte.

Es war sonderbar, aber ich fühlte mich, als ob ich verspottet worden wäre, so, als ob mir jemand einen Streich gespielt hätte, beschämt und gleichzeitig ärgerlich. Ich drehte mich um und ging rasch nach Hause.

Als ich am nächsten Tag vor meiner ersten Therapiestunde den Anrufbeantworter in meiner Praxis abhörte, war eine Nachricht von Maddalena drauf.

„Liebe Frau Dr. Gruber, ich wollte mich schon lange bei Ihnen melden. Ich glaube, ich habe Sie gestern am Christkindlmarkt gesehen und es zum Anlass genommen, Sie gleich anzurufen. Ich möchte eine Psychotherapie bei Ihnen machen und bitte Sie um Ihren Rückruf.“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Eine ganze Palette ambivalenter Gefühle machte sich in mir breit. Da war das Gefühl, dieser Frau nicht gewachsen zu sein, ein Gefühl der Unzulänglichkeit, gleichzeitig aber so eine Art Jagdtrieb, der Wunsch, die Herausforderung anzunehmen; da war Ärger in mir, der Gedanke, was bildet die sich eigentlich ein, und gleichzeitig Zufriedenheit darüber, dass sie angerufen hatte und sich offensichtlich soweit verstanden und gut aufgehoben gefühlt hatte, dass sie zu mir in Therapie kommen wollte. Aber wie sollte ich mit ihr arbeiten, wenn ich ihr gegenüber schon vor Beginn der gemeinsamen Arbeit so ambivalente Gefühle hegte, ja, mich geradezu unterlegen fühlte? Ich bin der Meinung, dass in einer guten Psychotherapie der Therapeut die Führung in der Hand haben sollte, während man gleichzeitig vermittelt, dass man sich menschlich auf derselben Ebene bewegt.

Diesen Vormittag war ich ziemlich unkonzentriert bei der Arbeit, da sich immer wieder der Gedanke an Maddalena einschlich und ich überlegte, was ich tun sollte. Sollte ich sie in Therapie nehmen oder nicht? In mir kämpften widerstreitende Gefühle, eine gewisse berufliche Herausforderung mit einem ungewissen Bauchgefühl von Unsicherheit. Bis Mittag, als ich die eingegangenen Anrufe beantwortete, war ich noch zu keiner Entscheidung gekommen, aber nachdem ich die anderen Anfragen beantwortet hatte, rief ich sie einfach an.

„Pronto – ja bitte?“

„Frau Noccioli, hier spricht Dr. Gruber …“

„Ach, Frau Dr. Gruber, danke, dass Sie mich zurückrufen … schön … ich freue mich …“

„Frau Noccioli, Sie wollen wirklich bei mir eine Psychotherapie machen?“

„Ja … ja, deshalb habe ich angerufen. Warum fragen Sie?“

„Ich war mir nicht sicher … ich habe das Gefühl, unser erster Kontakt ist nicht besonders gut gelaufen …“

„Nein … Frau Dr. Gruber … glauben Sie das nicht … ich habe mich wohlgefühlt bei Ihnen … ich habe immer noch das Gefühl, dass Sie mich verstehen …“

„Ja, gut … vielleicht machen wir einfach einen Termin für ein Erstgespräch aus und dann können Sie sich immer noch entscheiden …“

Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, was ich zu ihr sagen würde, und jetzt einfach ganz spontan reagiert. Ich war einfach neugierig auf diese Frau, und, so dachte ich, im Rahmen des Erstgesprächs konnte ich die Arbeit mit ihr ja immer noch ablehnen, wenn meine Bedenken zu stark wären. Und so vereinbarte ich mit ihr einen Termin für die kommende Woche.

Während der nächsten arbeitsreichen Tage kam ich nicht dazu, viel an Maddalena zu denken, ich hatte ein paar schwierige Klienten sowie die üblichen vorweihnachtlichen Krisen, die meine ganze Aufmerksamkeit erforderten, und das war gut so.

Am Wochenende hatte ich überhaupt nichts vor, was ich im Normalfall genieße, vor allem wenn die Tage davor sehr intensiv sind und ich mit schwierigen Fällen zu tun habe. Ich habe in diesen Situationen manchmal das Gefühl, dass mein Kopf übervoll ist und versuche dann, möglichst wenig zu tun, was mein Denkvermögen erfordert, ich gehe spazieren, höre leichte Musik, ich mache Yoga und meditiere, und wenn ich mich mit Freunden oder meiner Tochter treffe, lasse ich mich nicht auf allzu tiefsinnige Gespräche ein. Bis Montag ist dann mein Gehirn wieder frei und aufnahmefähig und gut motiviert.

Das klingt vielleicht nach einem langweiligen, vielleicht sogar einsamen Leben, aber dem ist nicht so. Nachdem mein Exmann mich gegen ein jüngeres und, wie ich vermute, weniger anspruchsvolles Modell eingetauscht hatte, war ich zwar gekränkt und verletzt, traurig, wütend, ja, manchmal auch verzweifelt, aber einsam fühlte ich mich auch damals nie. Gut, die ersten paar Jahre lebte auch noch meine Tochter bei mir, und wie jede alleinerziehende Mutter weiß, braucht ein Kind in der beginnenden Pubertät viel Aufmerksamkeit, aber auch als meine Tochter zu ihrem Vater zog, empfand ich mein Alleinsein eher als eine Bereicherung denn als eine Belastung.

Sonderbarerweise fühlte ich mich an diesem Wochenende nicht so richtig wohl mit mir allein, ich saß ziemlich lustlos mit meiner Zeitung beim Frühstück, das ich sonst immer ganz besonders genieße und an meinen freien Tagen geradezu zelebriere, ich konnte mich nicht zu meinen Yogaübungen aufraffen, mein Buch interessierte mich auch nicht wirklich, und als ich mich am Sonntagvormittag dazu zwang, wenigstens eine kleine Runde zu spazieren, fühlte ich mich gerade in der Menschenmenge am Christkindlmarkt regelrecht einsam, und ich ging dann auch recht bald wieder nach Hause. Dort machte ich mir einen süßen Chai mit viel Milch und setzte mich mit der dampfenden Tasse in meiner kleinen, gemütlichen Küche an den runden Holztisch.

Ich versuchte meinen Zustand zu analysieren und musste mir eingestehen, dass er wahrscheinlich mit Maddalena zusammenhing. Den Gedanken an sie die ganze Zeit zu verdrängen, war mir nicht gut bekommen und hatte dazu geführt, dass ich mich insgesamt lustlos und schlecht fühlte.

Ich wusste, ich musste Ordnung in mein inneres Durcheinander bringen. Da war zunächst einmal die Tatsache, dass ich mich von Maddalena so eingenommen fühlte, und ich konnte mir nicht so recht erklären, warum das so war. Rein professionelles Interesse konnte es nicht sein, denn das fühlte sich erfahrungsgemäß anders an, vor allem fühle ich mich davon niemals belastet, ganz im Gegenteil, es erfrischt und motiviert mich. Ich war mir auch sicher, dass es keine erotische Passion war, denn wie ich schon sagte, bin ich eindeutig heterosexuell und diesbezüglich auf Männer ausgerichtet – auch wenn ich in den letzten Jahren wenig Gelegenheit hatte, dem nachzugehen, vor allem da sich auch mein Interesse dafür sehr in Grenzen hielt.

Ich konnte mir also nicht so recht erklären, was mich zu dieser Frau hinzog, gleichzeitig war mir klar, dass es sehr schwer werden würde, die professionelle Distanz zu ihr zu wahren, um eine hilfreiche therapeutische Beziehung aufbauen zu können. Ich wusste auch, dass es eine große Herausforderung werden würde, die nötigen Grenzen zu wahren, auch zu meinem eigenen Schutz.

Was mir auch noch zu schaffen machte war die Tatsache, dass ich mich ihr gegenüber so unzulänglich, ja, unterlegen gefühlt hatte, besonders am Christkindlmarkt, wo sie sich als strahlender, schöner Mittelpunkt einer Menschengruppe präsentiert hatte. Ich war mir dabei so klein, so unbedeutend vorgekommen.

Ich kenne dieses Gefühl, vor allem wenn ich mich an den Rand gedrängt oder nicht wahrgenommen fühle, und es hat nichts damit zu tun, dass ich körperlich tatsächlich eher klein bin. Im Großen und Ganzen bin ich mit mir ganz zufrieden, auch mit meinem Äußeren. Ich bin zwar nicht sehr groß und nicht ganz schlank, aber ich achte auf mich und kleide mich gut, und ich glaube sagen zu können, dass ich für mein Alter recht gut aussehe, wobei ich betonen möchte, dass ich auf Aussehen, sowohl bei anderen Menschen als auch bei mir selbst, keinen allzu großen Wert lege. Mein Selbstbewusstsein wird von allen möglichen Quellen gespeist.

Warum also hatte mich der Anblick von Maddalena Noccioli, groß, schlank, perfekt gestylt, so aus der Fassung gebracht? Ich wusste es nicht, aber mir war klar, dass ich dem nur auf den Grund gehen konnte, wenn ich dieser Frau von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. War die Herausforderung also nicht eine rein professionelle, sondern vielmehr sehr persönlicher Natur? Durfte ich Frau Noccioli unter diesen Voraussetzungen überhaupt als Klientin annehmen?

Die erfahrene Psychotherapeutin in mir sagte nein, doch ausnahmsweise hörte ich ihr nicht zu.

3.

Es war am darauffolgenden Mittwoch mein letzter Nachmittagstermin, als Maddalena zum vereinbarten Erstgespräch kam. Den ganzen Tag über war ich sehr gefordert und so hatte ich kaum Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Pünktlich um siebzehn Uhr läutete sie und ich bat sie, abzulegen und im Praxisraum Platz zu nehmen. Sie war heute wieder völlig ungeschminkt und in Jeans und einen dunkelblauen Pullover gekleidet, ihre schwarzen Haare zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, in ihrer Schlichtheit eine schöne Frau. Sie wirkte entspannt und selbstsicher.

„Ja, schön dass Sie da sind“, eröffnete ich das Gespräch, „und ich merke, dass Sie ganz anders drauf sind als das letzte Mal.“

Maddalena lächelte: „Na ja, heute werde ich ja auch nicht verfolgt, oder auch, ich fühle mich heute nicht verfolgt. Es geht mir eigentlich ziemlich gut.“

„Das heißt, wenn Sie nicht gerade verfolgt werden bzw. sich nicht verfolgt fühlen, geht es Ihnen gut?“

„… na ja … schon … meistens jedenfalls …“

„Ich nehme an, dass dieses verfolgt werden bzw. das Gefühl, verfolgt zu werden, der Grund dafür ist, dass Sie eine Psychotherapie machen wollen? Oder was führt Sie sonst zu mir?“

Maddalena dachte nach.

„Na ja, das ist zumindest der aktuelle Anlass … ich glaube aber schon, dass ich sonst auch noch einiges aus meinem Leben aufzuarbeiten hätte …“

„Ja?“

„Ja … wissen Sie … auch wenn es mir mittlerweile gut geht, wenn ich nicht gerade das Gefühl habe, dass jemand … oder etwas … hinter mir her ist … in meinem Leben ist einiges schief gelaufen, und ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, dass ich mich mit professioneller Hilfe damit auseinandersetzen möchte … und, wissen Sie, ich bin schon oft an Ihrem Praxisschild vorbeigegangen, und jedes Mal habe ich mir gedacht, ich sollte mich da anmelden … und als es mir vor zwei Wochen so schlecht ging und ich total panisch war, bin ich regelrecht zu Ihnen geflüchtet …“

„Wobei ich aber nicht das Gefühl hatte, besonders hilfreich gewesen zu sein …“

Maddalena schüttelte den Kopf.

„Doch, ich war mir ja bewusst, dass ich da nicht einfach aufkreuzen kann … es hätte ja auch sein können, dass noch jemand da ist … und dass Sie mir einfach zugehört haben, obwohl Sie ja sichtbar schon auf dem Sprung waren, dass Sie sich Sorgen um mich gemacht haben, das hat mir einfach gutgetan. Wissen Sie … es hat sich schon lange niemand mehr Sorgen um mich gemacht.“

Ich spürte einen Stich in mir, ihre Worte berührten etwas in mir. War es nicht bei mir genauso? Wann hatte sich um mich das letzte Mal jemand Sorgen gemacht, um mich, deren tägliches Brot es war, sich um andere zu sorgen? Aber jetzt ging es nicht um mich, und so, wie ich es in langen Jahren Berufserfahrung gelernt hatte, schob ich meine persönliche Befindlichkeit beiseite.

„Ja … das kann ich mir gut vorstellen … dass das gut tut, Fürsorge zu spüren, besonders in dem Zustand, in dem Sie waren. Aber … ich muss Ihnen sagen, ich habe Sie letzte Woche ja auch am Christkindlmarkt gesehen, da waren Sie ein ganz anderer Mensch, fröhlich, umgeben von Freunden …“

„Ach … Freunde“, Maddalena machte eine wegwerfende Bewegung mit ihrer Hand, „das waren Kollegen, Bekannte … ich weiß nicht, ob ich Freunde habe … wirkliche Freunde, so wie ich das verstehe … die auch mal für einen da sind, wenn’s einem schlecht geht …“

„Da gibt es niemanden?“

„Nein!“ Sehr fest und knapp kam diese rasche Antwort.

Und wieder spürte ich diesen Stich in mir, dieses Gefühl, das geht mir ja genauso, obwohl ich dies die letzten Jahre nie als negativ empfunden hatte, eher als Fähigkeit, als Ressource, stark zu sein und niemanden zu brauchen, und wenn doch, wusste ich ja, wo ich professionelle Hilfe bekommen konnte. Gleichzeitig war ich mir nicht ganz sicher, ob das jetzt wirklich meine eigenen Empfindungen waren oder ob ich gerade mit Vollgas in eine Gegenübertragung rauschte. Ich rettete mich in „Technik“ und artikulierte mein Gefühl.

„Das klingt aber traurig …“

„Ja … das ist es wohl“, antwortete Maddalena nachdenklich, „aber … ich nehme an, das kennen Sie ja zur Genüge aus Ihrer Arbeit … es gibt ja genügend Ablenkungen … ich hab’ da durchaus meine Methoden …“

„Was sind das für Methoden?“

„Na ja … ich male … ich mache Musik … ich bewege mich, geh’ raus, mache eine paar Yogaübungen … ich entwerfe Schmuck … das ist ja auch mein Beruf – ich bin Schmuckdesignerin, zeitweise ganz erfolgreich … und manchmal tröste ich mich mit Essen oder ich sauf’ mich ganz einfach an …“

„Na ja … gesund ist das nicht, aber ich denke, dass die meisten Menschen das manchmal tun, wenn’s nicht die Regel ist …“

„Nein, ist es nicht … wie gesagt … ich glaube, ich bin ein kreativer Mensch, und das hilft meistens …“

„Ja, sehr gut … das gehört meiner Meinung nach zu den besten Methoden, um sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten … Musik, Bewegung, etwas Gestalten … im Übrigen … ich singe selber in einem Chor und mache auch Yoga und kenne deshalb aus eigener Erfahrung, wie gut es tun kann …“

„Ja? … Das finde ich schön … ich wusste, dass Sie mich ver­stehen …“

Ich merkte, dass ich die Gesprächsführung nicht aus der Hand geben und vor allem nicht ins Persönliche abgleiten durfte.

„Sie sagten, Sie sind Schmuckdesignerin? Das hört sich sehr interessant an …“

„Na ja … ich habe es mir selber beigebracht … habe keine Lehre oder so gemacht, aber das hat mich immer schon interessiert, und als ich nach Salzburg kam, habe ich mir zuhause eine kleine Werkstatt eingerichtet und damit angefangen … ich arbeite ja halbtags bei einem Juwelier, schon seit damals … davon zahle ich meine Miete und mein tägliches Brot … und wenn ich einiges von meinen Sachen verkaufen kann, kommt auch noch Butter und Wurst auf’s Brot … und eine gute Flasche Wein dazu …“

„Wie lange sind Sie denn schon in Salzburg … Sie sprechen ja ausgezeichnet Deutsch … man merkt kaum einen Akzent …“

„Tja … das sind gut dreißig Jahre … aber ich habe auch vorher schon gut Deutsch gesprochen … habe es jahrelang gelernt, daheim in Sizilien …“

„Ja … das sagten Sie bereits, dass Sie Sizilianerin sind … wie kommen Sie nach Salzburg, nach Österreich?“

„Beh … eine lange Geschichte … ich weiß nicht, ob ich damit heute noch anfangen soll …“

Ich nickte. „Ja ich glaube auch, dass wir uns die noch ein wenig aufheben sollten … wenn ich mit jemandem zu arbeiten beginne, nehme ich mir gerne viel Zeit für die Lebensgeschichte … das Erstgespräch ist für mich dazu da, um uns einmal kennenzulernen und zu schauen, ob wir uns vorstellen können, miteinander zu arbeiten. Psychotherapie ist für mich zu einem großen Teil Beziehungsarbeit, und da ist es wichtig, dass wir beide ein gutes Gefühl haben, dass die Chemie stimmt …“

„Also ich für meinen Teil … ich hatte schon vom ersten Moment an ein gutes Gefühl bei Ihnen … eigentlich schon vorher, wenn ich an Ihrem Praxisschild vorbeigegangen bin … da hatte ich schon lange das Bedürfnis, mich bei Ihnen zu melden … ich weiß nicht warum …“

Ich wusste, dass ich jetzt im Sinne einer authentischen, ehrlichen Beziehung meine Bedenken äußern musste.

Ich räusperte mich: „Ja, schön … ich muss Ihnen allerdings sagen, dass ich gewisse Bedenken habe … es ist so … dass ich … ich weiß nicht warum … dass Sie bei mir immer wieder eigene Gefühle auslösen …“

Maddalena sah mich sehr aufmerksam, fragend an.

„… und ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Voraussetzung für eine hilfreiche therapeutische Beziehung ist. Ich kenne einige hervorragende Kolleginnen oder auch Kollegen, an die ich Sie weiterverweisen könnte …“

„Heißt das, dass Sie mich als Klientin ablehnen?“

„Hm … nein, nicht direkt … ich möchte Ihnen einfach meine Bedenken mitteilen … mit Ihnen darüber reden, was das Sinnvollste ist … für Sie … aber natürlich auch zu meinem eigenen Schutz … wissen Sie, wir Psychotherapeuten haben einen sehr strengen Verhaltenscodex, da ist zum einen die Schweigepflicht, die wir sehr ernst nehmen … wir haben zum Beispiel das Recht, uns einer Aussage vor Gericht zu enthalten. Und das andere ist eine strikte Forderung nach Abstinenz, das heißt, dass ich mit meinen Klienten keine persönliche Beziehung eingehe und sie auf keinen Fall zu meinem eigenen Vorteil ‚missbrauche‘. Wenn ich in einer therapeutischen Beziehung immer wieder in eigene Gefühle verstrickt werde, ist das schon sehr grenzwertig. Und vor allem wenn ich von Anfang an merke, dass ich mich nur schwer abgrenzen kann, stellt sich schon die Frage, ob es sinnvoll ist, die Therapie überhaupt aufzunehmen.“

Maddalena schwieg und ich ließ ihr einige Zeit, um diese Informationen zu verarbeiten. Dann sagte sie, leise und nachdenklich: „Ach wissen Sie, jetzt habe ich solange gebraucht um den Weg zu Ihnen zu finden … ich glaube nicht, dass ich mir jetzt jemand anderen suchen möchte … vor allem … weil ich einfach spüre, dass ich bei Ihnen gut aufgehoben bin … dass Sie gut für mich sind …“

Auch ich schwieg, wobei ich innerlich dagegen ankämpfte, mich von ihr geschmeichelt zu fühlen. Auch das widerspricht der Forderung nach therapeutischer Objektivität.

Nach ein paar Augenblicken sprach sie weiter: „… liebe Frau Dr. Gruber, ich kann nur sagen, wenn Sie mich nicht nehmen … ich glaube, dann lass’ ich das vorerst … ich bin schon so lange mit mir allein zurechtgekommen … ich werde es auch weiterhin schaffen … aber ich hoffe doch, dass Sie mich als Klientin annehmen …“

Ich merkte, dass ich mich von ihr bedrängt fühlte, und das mag ich gar nicht, und ich merkte auch, dass ich mich so nicht auf die Arbeit mit ihr einlassen konnte. Mir wurde in diesem Augenblick klar, dass ich diese Situation unbedingt mit meiner Supervisorin abklären musste.

„Frau Noccioli, mir ist es ganz wichtig, dass ich die Menschen, die zu mir kommen, nach bestem Wissen und Gewissen behandeln kann, und bei Ihnen habe ich einfach im Moment ein ungutes Bauchgefühl. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich werde Ihren Fall mit meiner Supervisorin besprechen und rufe Sie danach an, wie ich mich entschieden habe. Es ist ohnehin sehr knapp vor Weihnachten und meine freien Kapazitäten sind begrenzt, wir könnten also sowieso erst im Jänner mit unserer Arbeit beginnen.“

Maddalena war sichtbar enttäuscht, es widerstrebte mir, sie in dieser Stimmung wegzuschicken, und ich hatte das Bedürfnis ihr etwas mitzugeben, woran sie sich festhalten konnte.

„Sie haben vorhin kurz ihre Lebensgeschichte angesprochen … könnten Sie sich vorstellen, dass Sie die Zeit bis Jänner dafür nutzen, Ihre Geschichte aufzuschreiben?“

Sie nickte nachdenklich. „… hm … ja, die Idee ist nicht schlecht … ich habe mir das ohnehin schon selber überlegt, ob ich das nicht tun sollte … aber, Frau Dr. Gruber, wenn ich meine Geschichte aufschreibe, möchte ich auch, dass sie wer liest … wenn Sie mich nicht in Therapie nehmen, werden Sie dann wenigstens meine Geschichte lesen?“

Ich wusste, eigentlich müsste ich das jetzt ablehnen, denn Maddalena sollte die Möglichkeit haben, danach mit jemandem darüber zu sprechen, und solange ich nicht sicher war, ob ich mit ihr arbeiten würde, konnte ich das eigentlich nicht versprechen. Ich konnte sie aber auch nicht so gehen lassen. Und so versprach ich ihr, auf jeden Fall ihre Geschichte zu lesen.

Nachdem wir uns mit guten Wünschen für das Weihnachtsfest verabschiedet hatten, rief ich sofort meine Supervisorin Agnes an und bat sie um einen dringenden Termin. Sie weiß, dass ich so etwas nur im Notfall tue und gab mir für den nächsten Tag noch einen Abendtermin.