Judith Schalansky

Verzeichnis einiger Verluste

Suhrkamp

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

Tuanaki

Kaspischer Tiger

Guerickes Einhorn

Villa Sacchetti

Der Knabe in Blau

Sapphos Liebeslieder

Das Schloss der von Behr

Die sieben Bücher des Mani

Hafen von Greifswald

Enzyklopädie im Walde

Palast der Republik

Kinaus Selenografien

Bild- und Quellenverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorbemerkung

Während der Arbeit an diesem Buch verglühte die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturn; zerschellte der Marslander Schiaparelli in der rostigen Gesteinslandschaft jenes Planeten, den er hätte untersuchen sollen; verschwand eine Boeing 777 spurlos auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking; wurden in Palmyra die 2000 Jahre alten Tempel des Baal und des Baalschamin, die Fassade des Amphitheaters, der Triumphbogen, das Tetrapylon und Teile der Säulenstraße gesprengt; wurden im irakischen Mossul die Große Moschee von al-Nuri sowie die Moschee des Propheten Jona zerstört und in Syrien das frühchristliche Kloster Mar Elian in Schutt und Asche gelegt; stürzte bei einem Erdbeben in Kathmandu zum zweiten Mal der Dharahara-Turm ein; fiel ein Drittel der Chinesischen Mauer Vandalismus und Erosion zum Opfer; stahlen Unbekannte den Kopf der Leiche von Friedrich Wilhelm Murnau; versandete der einst für sein blaugrünes Wasser bekannte Lake Atescatempa in Guatemala; stürzte vor Malta die einem Torbogen gleichende Felsformation Azur Window ins Mittelmeer; starb die am Great Barrier Reef beheimatete Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte aus; musste das letzte männliche Exemplar des Nördlichen Breitmaulnashorns im Alter von 45 Jahren eingeschläfert werden, das nur von zwei Tieren dieser Unterart überlebt wird: seiner Tochter und seiner Enkelin; verschwand die nach 80 Jahren ergebnisloser Bemühungen gewonnene, einzige Probe von metallischem Wasserstoff aus einem Labor der Harvard University, und niemand weiß, ob das mikroskopisch kleine Partikel gestohlen oder zerstört wurde oder einfach wieder einen gasförmigen Zustand angenommen hat.

Während der Arbeit an diesem Buch fand ein Bibliothekar der New Yorker Schaffer Library in einem Almanach des Jahres 1793 einen Briefumschlag mit mehreren silbrig grauen Haarbüscheln George Washingtons; tauchten ein bis dato unbekannter Roman Walt Whitmans und das verschollene Album Both Directions At Once des Jazzsaxophonisten John Coltrane auf; entdeckte ein neunzehnjähriger Praktikant im Karlsruher Kupferstichkabinett Hunderte Zeichnungen Piranesis; gelang es, eine mit Packpapier verklebte Doppelseite aus dem Tagebuch Anne Franks wieder lesbar zu machen; wurde das vor 3800 Jahren in Steintafeln geritzte älteste Alphabet der Welt identifiziert; konnten die Bilddaten der 1966/67 von den Mondorbitern aufgenommenen Fotografien rekonstruiert werden; wurden Fragmente zweier bisher unbekannter Gedichte Sapphos entdeckt; sichteten Ornithologen in einer brasilianischen Baumsavanne mehrfach Blauaugentäubchen, die seit 1941 als ausgestorben galten; entdeckten Biologen die Wespenart Deuteragenia ossarium, die für ihren Nachwuchs mehrräumige Nester in hohlen Bäumen baut und in jedem Zimmer eine getötete Spinne als Nahrungsquelle bereitlegt; wurden in der Arktis die Schiffe Erebus und Terror der 1848 gescheiterten Franklin-Expedition ausfindig gemacht; legten Archäologen im Norden Griechenlands einen gigantischen Grabhügel frei, der wahrscheinlich nicht die letzte Ruhestätte Alexanders des Großen, wohl aber die seines Gefährten Hephaistion war; wurde nahe der Tempelanlagen des kambodschanischen Angkor Wat die erste Khmer-Hauptstadt Mahendraparvata entdeckt, die einmal die größte Siedlung des Mittelalters gewesen sein muss; stießen Archäologen in der Totenstadt von Sakkara auf eine Mumifizierungswerkstatt; wurde im Sternbild des Schwans, 1400 Lichtjahre von unserer Sonne entfernt, ein Himmelskörper in einer sogenannten habitablen Zone gefunden, auf dem es – da seine Durchschnittstemperatur etwa auf dem Niveau der Erde liegt – womöglich Wasser gibt oder einmal gegeben hat und folglich auch Leben, so wie wir uns nun einmal Leben vorstellen.

img_42824_01_004_Schalansky_bt_u26726
img_42824_01_004_Schalansky_bt_u2673a

Vorwort

An einem Augusttag vor einigen Jahren besuchte ich eine Stadt im Norden. Sie liegt an einer der letzten Ausbuchtungen eines Meeresarmes, der seit einer vorvergangenen, glazialen Periode weit ins Landesinnere hineinreicht und in dessen brackigem Wasser sich im Frühjahr Heringe, im Sommer Aale, im Herbst Dorsche und im Winter Karpfen, Hechte und Brassen finden, so dass dort der Beruf des Fischers bis heute ausgeübt wird. Diese Männer bewohnen mit ihren Familien seit Jahrhunderten ein nicht anders als malerisch zu nennendes Viertel, das aus kaum mehr als zwei mit Kopfstein gepflasterten Straßen, einem Trockenplatz für die Netze und einer nur noch von zwei alten, adligen Damen bewohnten Klosteranlage besteht. Kurzum, es handelt sich um einen jener scheinbar aus der Zeit gefallenen Orte, in denen sich allzu leicht der Versuchung erliegen lässt, eine ebenso vage wie verlockende Vergangenheit für lebendig zu halten. Doch nicht die blühenden Rosenstöcke und hohen Malven vor den niedrigen, weiß gekalkten Häusern, nicht deren bunt bemalte Holztüren oder die schmalen, zumeist direkt hinunter zum steinigen Ufer führenden Gänge zwischen den Gebäuden sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, sondern der merkwürdige Umstand, dass ich im Zentrum der Siedlung keinen Marktplatz, sondern einen Friedhof vorfand, von jungen, sommergrünen Linden beschattet und von einem gusseisernen Zaun eingefasst, dass also ebendort, wo gewöhnlich Ware gegen Geld getauscht wurde, die Toten unter der Erde das taten, was man aus einem unausrottbaren Wunschglauben heraus gerne ›ruhen‹ nennt. Mein Erstaunen, das ich zuerst für Unbehagen hielt, war groß und wuchs noch, als man mich auf das Haus einer Frau aufmerksam machte, die beim Kochen von ihrer Küche aus auf das Grab ihres früh verstorbenen Sohnes blicken konnte, und mir klar wurde, dass die jahrhundertealte Tradition der hier für den Bestattungsritus zuständigen Totengilde dazu geführt hatte, die schon Gestorbenen und die noch Lebenden ein und derselben Familie so nah beinander zu belassen, wie ich es bisher nur von den Bewohnern einiger pazifischer Inseln kannte. Natürlich hatte ich schon davor andere bemerkenswerte Begräbnisstätten besucht: die Toteninsel San Michele etwa, wie sie mit hohen, roten Backsteinmauern aus dem blaugrünen Wasser der Lagune von Venedig emporragt gleich einer uneinnehmbaren Festung, oder das grelle Jahrmarktstreiben des Hollywood Forever Cemetery am alljährlich von der mexikanischen Bevölkerung begangenen Día de los Muertos mit den orange-gelb geschmückten Gräbern und den von der fortgeschrittenen Verwesung auf ewig zum Grinsen verdammten Totenschädeln aus bunt gefärbtem Zucker und Pappmaché. Doch keine hat mich so berührt wie der Friedhof jener Fischersiedlung, in dessen eigentümlichem Grundriss – einer Art Kompromiss aus Kreis und Quadrat – ich nichts anderes als ein Sinnbild der ungeheuerlichen Utopie zu erkennen glaubte, die ich dort verwirklicht sah: mit dem Tod vor Augen zu leben. Lange Zeit war ich überzeugt, an diesem Ort, dessen dänischer Name ›kleine Insel‹ oder ›vom Wasser umgeben‹ bedeutet, sei man dem Leben näher, gerade weil seine Bewohner die Toten wortwörtlich in ihre Mitte geholt hatten, anstatt sie – wie sonst in unseren Breitengraden üblich – aus dem Innersten der Gemeinden vor die Stadttore zu verbannen, auch wenn der urbane Raum sich die Gräberstätten durch sein ungehemmtes Anwachsen oft nur wenig später wieder einverleibt hat.

Erst jetzt, da ich die Arbeit an diesem Buch, in dem die vielfältigen Phänomene der Zersetzung und Zerstörung eine tragende Rolle spielen, fast beendet habe, sehe ich ein, dass es nur eine der unzähligen Arten darstellt, mit dem Tod umzugehen, die im Grunde nicht unbeholfener oder fürsorglicher ist als jene von Herodot bezeugte Sitte der Kallatier, die ihre verstorbenen Eltern aufzuessen pflegten und voller Entsetzen waren, als sie von jenem Brauch der Griechen hörten, die ihrigen zu verbrennen. Denn darüber, ob derjenige dem Leben näher ist, der sich seine Sterblichkeit unaufhörlich vor Augen führt, oder jener, dem es gelingt, den Tod zu verdrängen, gibt es so widerstreitende Ansichten wie über die Frage, ob die Vorstellung grauenerregender sei, dass alles ein Ende haben wird, oder die, dass es keines geben könnte.

Unstrittig ist, dass der Tod und das mit ihm einhergehende Problem, wie mit der plötzlichen Abwesenheit eines Menschen bei gleichzeitiger Anwesenheit seiner Hinterlassenschaften, vom Leichnam bis zum herrenlosen Hab und Gut, umzugehen ist, im Laufe der Zeit Antworten gefordert und Handlungen provoziert hat, deren Bedeutung ihren bloßen Zweck übersteigen und unsere frühen Ahnen aus der Sphäre des Animalischen in die des Menschlichen treten ließ. Die sterblichen Reste von Artgenossen nicht einfach den natürlichen Zersetzungprozessen zu überantworten, gilt gemeinhin als eine Eigenart des Menschen, obwohl sich vergleichbares Verhalten auch bei anderen höheren Tieren beobachten lässt: So versammeln sich Elefanten beispielsweise um ein sterbendes Herdenmitglied, berühren es stundenlang mit dem Rüssel, trompeten dabei aufgebracht und versuchen oft noch, den leblosen Körper wieder aufzurichten, ehe sie den Leichnam schließlich mit Erde und Zweigen bedecken. Auch werden jene Sterbe-Orte von ihnen noch Jahre später regelmäßig aufgesucht, wozu es zweifellos eines guten Gedächtnisses, womöglich sogar gewisser Jenseitsvorstellungen bedarf, die wir uns nicht weniger phantastisch als die unsrigen und ebenso unverifizierbar vorstellen dürfen.

Die Zäsur des Todes ist der Ausgangspunkt von Erbe und Erinnerung und die Totenklage die Quelle jeder Kultur, mit der man die nun klaffende Leerstelle, die plötzliche Stille mit Gesängen, Gebeten und Geschichten füllt, in denen das Abwesende noch einmal verlebendigt wird. Wie eine Hohlform lässt die Erfahrung des Verlusts die Umrisse dessen, was zu beklagen ist, hervortreten, und nicht selten verwandelt es sich im verklärenden Licht der Trauer zu einem Objekt der Begierde, oder wie es ein Heidelberger Professor für Zoologie im Vorwort eines Bändchens der Neuen Brehm-Bücherei formuliert: »Es scheint zu den rational kaum fassbaren Eigenschaften des westlichen Menschen zu gehören, dass er Verlorenes höher bewertet als noch Bestehendes, anders ist die merkwürdige Faszination nicht zu erklären, die seither vom Beutelwolf ausgeht

Vielfältig sind die Strategien, Vergangenes festzuhalten und dem Vergessen Einhalt zu gebieten. Traut man der Überlieferung, steht am Anfang unserer Geschichtsschreibung eine Reihe vernichtender Kriege zwischen Persern und Griechen und am Beginn der heute beinahe vergessenen Gedächtniskunst ein Unglück mit vielen Toten: Es war in Thessalien, wo im frühen vorchristlichen 5. Jahrhundert ein einstürzendes Haus eine ganze Festtagsgesellschaft unter sich begrub und es dem einzigen Überlebenden, dem Dichter Simonides von Keos, dank seines geschulten Gedächtnisses gelang, das zerstörte Gebäude im Geiste erneut zu betreten und die Sitzordnung der Gäste aufzurufen, woraufhin sich die von den Trümmern entstellten Leichen identifizieren ließen. Es gehört zu den zahlreichen Paradoxien, die dem Entweder-oder von Tod und Leben innewohnen, dass, indem der Verstorbene als etwas unwiederbringlich Verlorenes benannt wird, sich die Trauer über seinen Verlust zugleich verdoppelt und halbiert, wohingegen das im Unklaren liegende Schicksal eines Vermissten oder Verschollenen die Angehörigen in einem diffusen Alptraum aus banger Hoffnung und verwehrter Trauer gefangenhält, der sowohl Aufarbeitung als auch Weiterleben verhindert.

Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren. Die Frage, was wohl werden wird, dürfte kaum jünger sein als die Menschheit selbst, besteht doch eine so unabdingbare wie beunruhigende Eigenschaft der Zukunft darin, dass sie sich der Vorhersehbarkeit entzieht und damit auch Zeitpunkt und Umstände des Todes im Dunkeln lässt. Wer kennt nicht den Abwehrzauber des süßbittren Vorausleidens, den fatalen Drang, das Befürchtete durch gedankliche Vorwegnahme verhindern zu wollen? Man ahnt die Verheerungen voraus, imaginiert mögliche Katastrophen und wähnt sich so vor bösen Überraschungen gefeit. In der Antike versprachen die Träume Trost, sagten die Griechen ihnen doch nach, sie verhießen, Orakeln gleich, das Kommende und nähmen somit der Zukunft zwar nicht das Unabänderliche, wohl aber den Schrecken des Unerwarteten. Nicht wenige nehmen sich aus Angst vor dem Tod das Leben. Der Freitod erscheint vielleicht als die radikalste Maßnahme, über die Ungewissheit der Zukunft zu triumphieren, freilich zum Preis einer verkürzten Existenz. Es wird berichtet, dass zu den Geschenken jener indischen Gesandtschaft, die Augustus einst auf der Insel Samos empfing, nicht nur ein Tiger und ein armloser Jüngling, der seine Füße wie Hände zu benutzen wusste, gehörten, sondern auch ein Mann namens Zarmaros aus der Kaste der Brahmanen, der sein Leben selbst zu beenden gedachte, gerade weil es so verlaufen sei wie gewünscht. Um sicherzustellen, dass ihm nicht doch noch etwas Unvorhergesehenes zustieß, sprang er in Athen lachend, nackt und gesalbt ins Feuer, verbrannte zweifellos qualvoll bei lebendigem Leib und ging mit der Inszenierung seines selbstbestimmten Todes in die Geschichte ein, wenn auch nur als kuriose Anekdote in einem Band jener einst achtzig Bücher umfassenden Römischen Geschichte des Cassius Dio, dessen Inhalt zufällig überliefert wurde. Letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was übrig geblieben ist.

Ein Gedächtnis, das alles bewahrte, bewahrte im Grunde nichts. Jene Kalifornierin, die sich ohne Mnemotechnik jeden einzelnen Tag seit dem 5. Februar 1980 vergegenwärtigen kann, ist gefangen im Echoraum ihrer fortwährend auf sie einstürzenden Erinnerungen – eine Wiedergängerin jenes attischen Feldherrn Themistokles, der jeden einzelnen Bürger seiner Heimatstadt mit Namen zu nennen wusste und der dem Mnemoniker Simonides ausrichten ließ, eher begehre er die Kunst des Vergessens als die des Gedächtnisses zu erlernen: »Auch was ich nicht in der Erinnerung behalten will, das behalte ich; was ich jedoch vergessen will, das kann ich nicht vergessen Eine Vergessenskunst ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, weil alle Zeichen Anwesenheiten darstellen, selbst wenn sie auf Abwesenheiten verweisen. Beinahe jeden, den im Römischen Reich der Bann der damnatio memoriae traf, behaupten die Enzyklopädien mit Namen zu kennen.

Alles zu vergessen, ist gewiss schlimm. Noch schlimmer ist, nichts zu vergessen, wird doch jedes Wissen erst durch Vergessen erzeugt. Wenn alles unterschiedslos gespeichert ist, wie auf den elektrische Energie verbrauchenden Datenspeichern, verliert es seine Bedeutung und wird zu einer ungeordneten Ansammlung unbrauchbarer Information.

Mag die Einrichtung jedes Archivs wie bei seinem Vorbild, der Arche, von dem Wunsch getragen sein, alles zu bewahren, so sind die zweifellos reizvollen Ideen, beispielsweise einen Kontinent wie die Antarktis oder gar den Mond in ein zentrales, demokratisches, alle kulturellen Erzeugnisse gleichberechtigt präsentierendes Museum der Erde umzuwandeln, ebenso totalitär und zum Scheitern verurteilt wie die Wiedererrichtung des Paradieses, dessen verlockendes Ur- und Sehnsuchtsbild in den Vorstellungen aller menschlichen Kulturen wachgehalten wird.

Im Grunde ist jedes Ding immer schon Müll, jedes Gebäude immer schon Ruine und alles Schaffen nichts als Zerstörung, so auch das Werk all jener Disziplinen und Institutionen, die sich rühmen, das Erbe der Menschheit zu bewahren. Selbst die Archäologie ist, so umsichtig und besonnen sie auch in die Ablagerungen vergangener Epochen vorzudringen vorgibt, eine Form von Verwüstung – und die Archive, Museen und Bibliotheken, die Zoologischen Gärten und Naturschutzgebiete sind nichts anderes als verwaltete Friedhöfe, deren Lagergut nicht selten dem lebendigen Kreislauf der Gegenwart entrissen wurde, um abgelegt, ja, um vergessen werden zu dürfen, wie jene heroischen Ereignisse und Gestalten, deren Denkmäler die Stadtlandschaften bevölkern.

Wahrscheinlich muss es als Glück angesehen werden, dass die Menschheit nicht weiß, welche großartigen Ideen, welch ergreifende Kunstwerke und revolutionäre Errungenschaften ihr schon verlorengegangen sind – ob nun mutwillig zerstört oder einfach im Lauf der Zeit abhandengekommen. Das Unbekannte beschwert niemanden, mag man meinen. Dass nicht wenige europäische Denker der Neuzeit im regelmäßigen Untergang einer Kultur eine vernünftige oder gar heilsame Maßnahme sahen, erscheint dann doch verwunderlich. Als ob das kulturelle Gedächtnis ein Weltorganismus sei, dessen lebenserhaltende Funktionen nur durch einen regen Stoffwechsel, in dem jeder Nahrungsaufnahme die Verdauung und Ausscheidung vorausgeht, aufrechterhalten werden können.

Mit dieser so beschränkten wie selbstherrlichen Weltsicht ließ sich die hemmungslose Inbesitznahme und Ausbeutung fremder Territorien, die Unterwerfung, Versklavung und Ermordung nichteuropäischer Völker und die Auslöschung ihrer missachteten Kultur als Teil eines natürlichen Vorgangs verstehen und die falsch verstandene Formel der Evolutionstheorie, nach der nur der Stärkere überlebt, als Rechtfertigung begangener Verbrechen.

Naturgemäß kann nur betrauert werden, was fehlt, was vermisst wird – von dem irgendein Relikt, eine Kunde, manchmal kaum mehr als ein Gerücht, eine halb verwischte Spur, der Widerhall eines Echos zu uns gedrungen ist. Wie gern wüsste ich, was die Scharrbilder der Nazca in der peruanischen Pampa bedeuten, wie Sapphos Fragment 31 endet und was so bedrohlich an Hypatias Wesen war, dass man nicht nur ihr komplettes Werk, sondern auch ihren Leichnam zerstückelte.

Bisweilen scheint es, als würden manche Überreste ihr Schicksal selbst kommentieren. So ist alles, was von Monteverdis Oper L’Arianna erhalten blieb, ausgerechnet das Lamento, in dem die Titelheldin verzweifelt singt: »Lasst mich sterben. Und wer sollte mich auch trösten in so hartem Schicksal, in so harter Pein? Lasst mich sterben Das nur noch als Reproduktion erhaltene, aus einem Rotterdamer Museum gestohlene Bild Lucian Freuds, das die Mutter eines der Diebe in einem rumänischen Badezimmerofen verfeuerte, zeigt eine Frau mit geschlossenen Augen, bei der man nicht sicher sein kann, ob sie nur schläft oder womöglich schon gestorben ist. Und von dem Werk des Tragödiendichters Agathon sind nichts als zwei Bonmots überliefert, weil Aristoteles sie zitiert: Die Kunst liebt den Zufall, der Zufall liebt die Kunst sowie Nicht einmal die Götter können die Vergangenheit ändern.

Was den Göttern verwehrt bleibt, scheinen die Despoten aller Zeiten immer aufs Neue zu begehren: Ihrem zerstörerischen Gestaltungswillen genügt es nicht, sich in die Gegenwart einzuschreiben. Wer die Zukunft kontrollieren will, muss die Vergangenheit abschaffen. Und wer sich zum Urvater einer neuen Dynastie ernennt, zur Quelle aller Wahrheit, muss das Gedenken an seine Vorgänger auslöschen und alles kritische Denken verbieten, so wie es Qin Shihuangdi, der selbsternannte ›Erste erhabene Gottkaiser von Qin‹, tat, als er im Jahre 213 v. Chr. eine der ersten bezeugten Bücherverbrennungen anordnete und jeden, der sich widersetzte, hinrichten ließ oder zur Zwangsarbeit am Ausbau des kaiserlichen Straßennetzes und der Großen Chinesischen Mauer verurteilte – oder auch an der Errichtung jener gigantischen Grabanlage, zu deren megalomanen Beigaben das Terrakotta-Heer lebensgroßer Soldaten samt Streitwagen, Pferden und Waffen gehörte, deren Kopien heute durch die Weltgeschichte touren und damit das von seinem Auftraggeber ersehnte Andenken durch beispiellose Profanisierung zugleich erfüllen und untergraben.

Nicht selten entspringt der fragwürdige Plan, mit der Vergangenheit Tabula rasa zu machen, dem nachvollziehbaren Wunsch, noch einmal von vorne zu beginnen. Mitte des 17. Jahrhunderts soll im englischen Parlament ernsthaft diskutiert worden sein, die Archive des Tower of London zu verbrennen, »um jedes Gedächtnis an die Vergangenheit auszulöschen und die Lebensführung ganz von Neuem zu beginnen«, wie Jorge Luis Borges eine Stelle bei Samuel Johnson zitiert, die es mir nicht wiederzufinden gelingt.

Die Erde selbst ist bekanntlich ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft, und die Menschheit die bunt zusammengewürfelte, sich streitende Erbengemeinschaft einer numinosen Vorzeit, die fortwährend angeeignet und umgestaltet, verworfen und zerstört, ignoriert und verdrängt werden muss, so dass entgegen landläufiger Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt. Gerade deshalb gehört ihre Umdeutung zu den ersten Amtshandlungen neuer Herrschaftssysteme. Wer einmal wie ich den Bruch der Geschichte erlebt hat, den Bildersturm der Sieger, die Demontage der Denkmäler, dem fällt es nicht schwer, in jeder Zukunftsvision nichts anderes als eine zukünftige Vergangenheit zu erkennen, in der beispielsweise die Ruine des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses einem Nachbau des Palasts der Republik wird weichen müssen.

Im Pariser Salon von 1796, im fünften Jahr der Republik, stellte der Architekturmaler Hubert Robert, der den Sturm auf die Bastille ebenso festgehalten hatte wie den Abriss des Schlosses Meudon und die Schändung der Königsgräber in Saint-Denis, im Palais du Louvre zwei Bilder aus. Eines zeigte seinen Vorschlag für den Umbau des Königspalastes zur großen Galerie des Louvre – einem dank gläserner Dächer ebenso gut beleuchteten wie besuchten Saal voller Gemälde und Plastiken –, das andere Bild denselben Raum als zukünftige Ruine. Dort, wo auf der einen Zukunftsvision das Oberlicht zu sehen ist, gibt die andere den Blick auf einen bewölkten Himmel frei: Das Deckengewölbe ist eingestürzt, die Wände sind kahl und nackt, am Boden liegen zerbrochene Skulpturen. Nur der Apoll von Belvedere, eine Trophäe des napoleonischen Beutezugs, erhebt sich verrußt, doch unversehrt aus den Trümmern. Katastrophentouristen streunen durch die Ruinenlandschaft, bergen verschüttete Torsi, wärmen sich an einem Feuer. Aus den Rissen des Gewölbes sprießt es grün. Die Ruine ist ein utopischer Ort, in dem Vergangenheit und Zukunft in eins fallen.

Der Architekt Albert Speer ging mit seiner spekulativen Theorie eines ›Ruinenwerts‹ noch weiter, indem er Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus behauptete, seine Entwürfe für das nicht nur metaphorisch verstandende tausendjährige Reich hätten nicht nur besonders langlebige Materialien vorgesehen, sondern sogar die zukünftige Ruinengestalt des jeweiligen Bauwerks berücksichtigt, um selbst im Verfallszustand noch mit der Größe der römischen Ruinen konkurrieren zu können. Auschwitz hingegen wurde nicht ohne Grund als Zerstörung ohne Ruine bezeichnet. Es war die völlig entmenschte Architektur einer ebenso kleinteilig durchgetakteten wie restefrei arbeitenden, industriellen Vernichtungsmaschinerie, die mit der Auslöschung von Millionen Menschen die größte Leerstelle im Europa des 20. Jahrhunderts hinterließ, ein Trauma, das im Gedächtnis der Überlebenden und ihrer Nachfahren sowohl auf Opfer- wie auf Täterseite als abgespaltener und nur schwer zu integrierender Fremdkörper noch immer seiner umfassenden Aufarbeitung harrt. Gerade die Verbrechen der Völkermorde haben die Frage, inwiefern Verlust überhaupt erfahrbar gemacht werden kann, noch dringlicher werden lassen und nicht wenige Nachgeborene zu der ohnmächtigen, doch nachvollziehbaren Feststellung veranlasst, das Geschehene entzöge sich jeder Repräsentation.

»Was bewahren die Geschichtsquellen? Nicht die Schicksale der bei der Eroberung von Lüttich zertretenen Veilchen, nicht die Leiden der Kühe im Brande Löwens, nicht die Wolkenbildungen vor Belgrad«, schreibt Theodor Lessing in seinem während des Ersten Weltkriegs entstandenen Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, in dem er alle historischen Entwürfe einer vernünftig fortschreitenden Geschichte als nachträgliche Formgebung des Formlosen entlarvt – als Geschichten von Anfängen und Enden, von Aufstiegen und Niedergängen, von Blüte und Verfall, die vorwiegend narrativen Regeln folgen.

Dass der aufklärerische Fortschrittsglaube beinahe ungebrochen fortwirkt, obwohl die Gesetzmäßigkeiten der Evolution gezeigt haben, dass vielmehr ein verstörend komplexes Zusammenspiel aus Zufall und Anpassung zu verantworten hat, was für eine gewisse Zeit fortlebt, liegt womöglich an der simplen Attraktivität des streberhaften historischen Zeitstrahls und seiner Entsprechung im linearen Schriftbild westlicher Kulturen – angesichts dessen man allzu leicht dem naturalistischen Fehlschluss erliegen kann, alles Gegebene, selbst nach dem Bedeutungsverlust göttlicher Instanzen, als gewollt und sinnvoll anzusehen. In der einfältigen, doch bezwingenden Dramaturgie einer unaufhörlichen Entwicklung besteht der einzige Nutzen der Vergangenheit darin, dem Neuen unterlegen zu sein und die Geschichte – ob nun die des eigenen Lebens oder die einer Nation oder des Menschengeschlechts – als die eines zwangsläufigen, jedenfalls nicht zufälligen Fortschritts zu imaginieren. Erwiesenermaßen stellt jedoch die Chronologie, die Vergabe fortlaufender Nummern für jeden Neuzugang, wie jede Archivarin weiß, in ihrer hilflosen Folgerichtigkeit das unoriginellste, weil Ordnung nur vortäuschende, aller Organisationsprinzipien dar.

Nun ist die Welt an sich gewissermaßen das unüberschaubare Archiv ihrer selbst – und alle belebte und unbelebte Materie auf Erden Dokument eines ungeheuerlichen, überaus langwierigen Aufschreibesystems voller Versuche, aus vergangenen Erfahrungen Lehren und Schlüsse zu ziehen, und die Taxonomie nichts anderes als der nachträgliche Versuch, das verworrene Archiv biologischer Vielfalt zu verschlagworten und dem schier unerschöpflichen Chaos evolutionärer Überlieferung eine scheinbar objektive Struktur zu verleihen. In diesem Archiv kann im Grunde nichts verlorengehen, weil seine Energiemenge konstant ist und alles irgendwo seine Spur zu hinterlassen scheint. Wenn Sigmund Freuds verblüffendes, an das Energieerhaltungsgesetz erinnerndes Diktum, dass kein Traum, kein Gedachtes je wirklich vergessen werde, wahr ist, dann ließen sich nicht nur aus dem Humus des menschlichen Gedächtnisses durch eine der archäologischen Grabungstätigkeit nicht unähnlichen Anstrengung vergangene Erfahrungen – ein geerbtes Trauma, zwei zusammenhanglose Zeilen eines Gedichts, der schemenhafte Alpdruck einer frühkindlichen Gewitternacht, ein pornographisches Schreckensbild – wie Gebeine, Fossilien oder Tonscherben exhumieren, sondern auch das Wirken unzähliger untergegangener Geschlechter womöglich wieder dem Orkus entreißen, wenn man nur nach ihren Spuren zu suchen begänne, und die Wahrheit, auch diejenige, die verdrängt oder getilgt, in Fehlleistungen verwandelt oder dem Vergessen anheimgegeben wurde, ließe sich nicht verleugnen, bliebe immer anwesend.

Doch die Gesetze der Physik taugen nur bedingt zum Trost. Denn der Energieerhaltungssatz mit seinem Triumph der Transformation über die Endlichkeit verschweigt, dass die meisten Umwandlungsprozesse nicht umkehrbar sind. Was nützt einem die Wärme eines verbrennenden Kunstwerks. In seiner Asche wird nichts Bewunderungswürdiges mehr zu finden sein. Ungerührt rollen jene Billardkugeln über den mit grünem Filz bespannten Tisch, zu denen das entsilberte Material früher Stummfilme weiterverarbeitet wurde. Das Fleisch der letzten Steller’schen Seekuh war schnell verdaut.

Gewiss, der Untergang allen Lebens und Schaffens ist Bedingung seiner Existenz. Naturgemäß ist es nur eine Frage der Zeit, bis alles verschwunden ist, zerfallen und verrottet, vernichtet und zerstört, selbst jene eigentümlichen Zeugnisse der Vergangenheit, deren Existenz wir allein Katastrophen verdanken: die einzigen Dokumente der lange Zeit unergründlichen, piktogrammartigen frühgriechischen Silbenschrift Linear B, die nur erhalten blieben, weil der Großbrand, der um 1380 v. Chr. den Palast von Knossos zerstörte, zugleich Tausende Tontafeln, auf denen die Einnahmen und Ausgaben ebenjenes Hofes verzeichnet waren, härtete und überlieferungsfest machte; die gipsernen Abgüsse der beim Ausbruch des Vesuvs lebendig begrabenen Menschen und Tiere Pompejis, deren Kadaver nach ihrer Verwesung auffüllbare Hohlräume im erstarrten Gestein hinterlassen hatten, oder die an Gespensterfotografien erinnernden Schattenrisse, die auf Häuserwänden und Straßenbelägen Hiroshimas von Menschen zurückblieben, die bei der Atombombenexplosion verdampften.

Kränkend ist die Einsicht, sterblich zu sein, und verständlich das eitle Verlangen, der Vergänglichkeit zu trotzen und einer unbekannten Nachwelt Spuren zu hinterlassen, in Erinnerung, ja, ›unvergessen‹ zu bleiben, wie die in den Granit der Grabsteine gemeißelte Absichtserklärung so unverdrossen behauptet.

Von dem rührenden Wunsch, auf das Dasein einer vernunftbegabten Spezies aufmerksam zu machen, zeugen auch die Botschaften der beiden Zeitkapseln, die an Bord der Raumsonden Voyager I und Voyager  II immer weiter in den interstellaren Raum driften. Auf den beiden identischen vergoldeten Kupferplatten finden sich Bilder und Grafiken, Musiktitel und Geräusche sowie akustische Grüße in 55 verschiedenen Sprachen, deren unerschrockene Unbeholfenheit – »Hello from the children of the planet Earth« – viel über die Menschheit verrät. Es hat einen nicht unbeträchtlichen Reiz, sich vorzustellen, dass alles, was einmal von der Menschheit übrig bleiben wird, Mozarts Arie der Königin der Nacht, Louis Armstrongs Melancholy Blues und das Getröte aserbaidschanischer Sackpfeifen ist, vorausgesetzt, den extraterrestrischen Findern gelingt es, die als Bilderrätsel gestaltete, auf der Platte eingravierte Anleitung für das Abspielen der analog gespeicherten Schallplatte nicht nur zu dechiffrieren, sondern auch umzusetzen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist, wie die Initiatoren dieser Weltraumflaschenpost selbst einräumten, so gering, dass sich dieses Unternehmen als Ergebnis eines in der Wissenschaft fortlebenden magischen Denkens deuten lässt, die hier ein Ritual inszenierte, das zuallererst der Selbstvergewisserung einer Spezies dient, die ihre gänzliche Bedeutungslosigkeit nicht hinzunehmen bereit ist. Was aber ist ein Archiv ohne Adressat, eine Zeitkapsel ohne Finder, ein Erbe ohne Erben? Die Erfahrung lehrt, dass der Abfall vergangener Epochen für Archäologen die aussagekräftigste Sammlung darstellt. Als eine geologische Schicht aus Technikschrott, Plastik- und Atommüll wird er ohne unser Zutun die Zeiten überdauern, unverfälscht über unsere Gewohnheiten Auskunft geben und das uns nachfolgende Leben auf der Erde noch lange belasten.

Mag sein, dass sich unsere Nachfahren dann schon längst zu jener zweiten Erde aufgemacht haben, nach der wir uns seit Menschengedenken sehnen, um noch einmal die Zeit zurückzudrehen, einmal begangene Fehler wiedergutzumachen und das unbedacht Zerstörte notfalls unter unbeschreiblichem Aufwand neu zu erschaffen. Und womöglich ist das kulturelle Erbe der Menschheit dann tatsächlich in Form künstlicher DNA im Erbgut eines besonders widerstandsfähigen Bakterienstammes gespeichert.

Aus der Mitte der ersten ägyptischen Dynastie um etwa 2900 v. Chr. ist eine Papyrusrolle erhalten, die wegen ihres prekären Erhaltungszustandes bis heute noch nicht geöffnet wurde, so dass wir nicht wissen können, welche Botschaft sie enthält. Manchmal stelle ich mir so die Zukunft vor: Nachfolgende Generationen, die ratlos vor den heutigen Datenspeichern stehen, seltsamen Aluminium-Schachteln, deren Inhalte durch die rasanten Generationswechsel der Plattformen und Programmiersprachen, der Dateiformate und Abspielgeräte zu nichts als sinnlosen Codes geworden sind, die jedoch als Objekt deutlich weniger Aura verströmen als die so beredten wie stummen Knoten einer inkaischen Quipuschnur oder jene rätselhaften, altägyptischen Obelisken, von denen niemand mehr weiß, ob sie nun Denkmäler des Triumphes oder der Trauer darstellen.

Auch wenn nichts ewig hält, so währt doch manches länger als anderes: Kirchen und Tempel überdauern Paläste und schriftliche Kulturen jene, die ohne komplexe Zeichensysteme auskamen. Die Schrift, die der choresmische Gelehrte al-Biruni einmal als ein sich durch Ort und Zeit fortpflanzendes Wesen bezeichnete, war von Anfang an ein System, Informationen parallel zur Vererbung und unabhängig von Verwandtschaft weiterzugeben.

Schreibend wie lesend kann man sich seine Ahnen aussuchen und der herkömmlichen, biologischen Überlieferung eine zweite, geistige Vererbungslinie gegenüberstellen.

Wenn man das Menschengeschlecht selbst, wie bisweilen vorgeschlagen, als das die Welt archivierende Organ einer Gottheit verstehen will, welches das Bewusstsein des Universums bewahrt, dann erscheinen die Myriaden geschriebener und gedruckter Bücher – ausgenommen natürlich jene, die von Gott selbst oder seinen zahlreichen Emanationen verfasst wurden – als Versuche, dieser vergeblichen Pflicht nachzukommen und die Unendlichkeit aller Dinge in der Endlichkeit ihrer Körper aufzuheben.

Womöglich ist es nur meiner mangelnden Vorstellungskraft zuzuschreiben, dass mir nach wie vor das Buch als vollkommenstes aller Medien erscheint, auch wenn das seit einigen Jahrhunderten verwendete Papier nicht so haltbar wie Papyrus, Pergament, Stein, Keramik oder Quarz und nicht einmal die am häufigsten gedruckte und in die meisten Sprachen übersetzte Schriftsammlung der Bibel vollständig überliefert auf uns gekommen ist: ein Multipel, das die Chance auf seine Überlieferung für die Dauer einiger Menschengenerationen erhöht, eine offene Zeitkapsel, in der die Spuren der seit seiner Niederschrift und seiner Drucklegung vergangenen Zeit mit verzeichnet sind und in der jede Ausgabe eines Textes sich als ein der Ruine nicht unverwandter, utopischer Raum erweist, in dem die Toten gesprächig sind, die Vergangenheit lebendig, die Schrift wahr und die Zeit aufgehoben ist. Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Information zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht. Die gedankliche Aufspaltung der Religionen in einen sterblichen und einen unsterblichen Teil – den Körper und die Seele – mag eine der tröstlichsten Strategien darstellen, Verlust zu verwinden. Die Untrennbarkeit von Träger und Inhalt jedoch ist für mich der Grund, warum ich Bücher nicht nur schreiben, sondern auch gestalten will.

Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden. So handelt dieser Band gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und lässt erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt.

Und für wenige kostbare Momente erschien mir während der langjährigen Arbeit an diesem Buch die Vorstellung, dass das Vergehen unvermeidlich ist, genauso tröstlich wie das Bild seiner in den Regalen verstaubenden Exemplare.

img_42824_01_004_Schalansky_bt_u26547
id_HyperlinkTextDestination_Seite_28