Traum


Eines Nachts träumte ich von der Stimme meines Vaters. Ich war am Telefon. Anfangs hörte ich gar nichts. Ich unterschied kaum ein Atmen, etwas Knistern in der Leitung. „Hallo Papa, bist Du es?“ Da tauchte die Stimme aus dem Nichts hervor, kaum hörbar, weit entfernt. Ich befürchtete, dass die Verbindung abbrechen könnte. Ich spitzte die Ohren, lauerte auf diese schwache, undeutliche Stimme, die klang, als käme sie von einem Piratensender.

Die Stimme meines Vaters. Ich kannte sie gut, seine gutturale Stimme, die in die tiefen Töne ging, wenn er Französisch sprach, wie ein Bariton, der versucht Bass zu singen. Sie schien mir noch seltsamer, wenn sie durch sein Diktiergerät eingefangen und deformiert wurde, welches er für seine Anatomieberichte, in seinem Untersuchungslabor, benutzte:

Stroma-Tumor, Mesothel-Tumor. Zahlreiche Adenokar-zinom-Zellen mit nukleolierten Zellkernen, die tonoplaste Zytoplasmen enthalten.

Auf Vietnamesisch klang seine Stimme natürlicher. Jedoch verwirrend. Mein Vater sprach mit dem Akzent des Nordens. Ich war an das Vietnamesisch meiner Mutter, meiner Großmutter mütterlicherseits, meiner Tanten gewohnt, an den singenden, näselnden Tonfall des Südens. Die Worte meines Vaters schienen mir aufzuschlagen wie Steine mit seltsamen und kantigen Formen.

Meinen Vater hörten wir von Weitem. Sein Asthmatikerhusten und das Zischen seines Asthmasprays phrasierten seine Worte wie das Leitmotiv einer Sonate, das beharrlich immer wieder auftaucht. In meinem Traum fand ich diese Klänge wieder. Die Klangstruktur seiner Stimme, der Hauch der in seinen Worten mitschwang, seine Atmung. Das war er.

Da ist meine Beklemmung verflogen. Fröhlichkeit überkam mich. Wie in einem Traum, in dem man das geliebte, verblichene Wesen wiederfindet: erleichtert sagen Sie sich aber nein, da bist Du ja, was für ein schrecklicher Alptraum, ich habe geträumt, Du seist tot, Du hast mir so sehr gefehlt. Ich war so glücklich, mit ihm zu sprechen. Für gewöhnlich, wenn ich zu Hause anrief und er am Telefon antwortete, sagte ich ihm „ Hallo! Wie geht‘s?“, nachlässig, und fast immer fuhr ich fort mit „Gibst Du mir bitte Mama?“ Oft war er es, der das Gespräch kurz hielt: „Deine Mutter ist nicht da“ oder „Deine Mutter kommt in einer Stunde wieder.“

In meinem Traum wollte ich diese abgebrochenen Gespräche nachholen und ich fragte ihn: „Aber Du sprichst ja? Jetzt ist es soweit, es ist wiedergekommen.“ Ich erinnere mich nicht mehr an seine Antworten. Ich hörte nur auf seine Stimme.

Ich wurde wach. Ich weinte. Ich fühlte wieder diese bleierne Schwere in meiner Brust  und ich wusste, dass ich nie wieder die Stimme meines Vaters hören würde. Er war immer noch da, aber seine Stimme war tot.


AOA


September 2005.

Bei uns hat das Schweigen eine Farbe, diejenige des Telefons, das ins Leere schallt. Einige Klänge prägen einem das Hirn, meines wandelt es in Noten um, eine innere Musiklehre, ich höre die rhythmischen c-f, c-f der Polizeisirenen, das klagende und zerreißende h-a, h-a der Feuerwehr, das h rot wie Blut, das a weiß wie das Krankenhaus. Mein Schweigen klingt  wie ein a. Das a, mit dem die Musiker ihre Instrumente stimmen bevor sie spielen, das a auf das wir uns so gut in unserer Familie einstimmen.

An diesem Septemberwochenende war meine letzte Schwester, nennen wir sie Bui 5, das ist ihr Rang in der Familie, bei mir in Paris. Meine Eltern waren alleine in Le Mans. Wir hatten mehrmals meine Mutter angerufen. Vergeblich. Endlich antwortete meine Mutter: Papa. Krankenhaus. Problem. Und zack, sie legte auf: eine Angewohnheit meiner Mutter, wenn sie nicht sprechen will.

Durch die Scheiben sah man die Sonne untergehen. Ein schönes Altweibersommerlicht vergoldete unsere vom Warten angespannten Gesichter. Schließlich durchdrang die Dunkelheit alles. Das Telefon starrte uns entgegen. Anrufen, andauernd anrufen. Und immer dieses a des Klingeltons. Und endlich - die Stimme meiner Mutter. Ein Wort hinschleudernd: Schlaganfall.


Schlaganfall:

Ein Schlaganfall oder Hirnschlag ist ein Versagen der Blutzirkulation, die eine mehr oder minder wichtige Region des Hirns schädigt. Er entsteht infolge einer Minderdurchblutung oder Einblutung der Blutgefäße und ruft dort den Tod der Nervenzellen hervor, denen es an Sauerstoff und den wesentlichen Nährstoffen mangelt. Die Spätschäden: mehr oder minder schwerwiegend je nach betroffener Hirnpartie. Jeder zehnte Patient übersteht einen Schlaganfall ohne Folgeschäden. 


Als ich nach Hause zurückkehrte, wie wir es immer nennen, das heißt zu meinen Eltern in ihre Vorstadtvilla in Le Mans, hatte ich das Gefühl, ins lavaerstarrte Pompeji einzudringen. Im Zimmer meiner Eltern war alles drunter und drüber. Der Gürtel meines Vaters lag auf dem Boden. Die Küche war in Unordnung, das Messer noch auf der Arbeitsplatte, der Chinakohl aufgeschnitten, vertrocknet. Die Toilettenspülung war nicht betätigt worden. Es war an diesem Ort, auf der Toilette, wo mein Vater hingefallen war, es war dort, von wo ihn meine Mutter schließlich zum Bett geschleift hatte. 

Im Krankenhaus ruhte mein Vater, ohne Bewusstsein, von Schläuchen durchlöchert. Ischämischer Unfall. Schäden. Hirn. Spätfolgen. Wir verstanden nichts. Wir suchten Antworten auf Netdoktor. Wir verstanden immer noch nichts. Drei Tage lang schwebte mein Vater zwischen Himmel und Erde. Als er aufwachte, war er halbseitig gelähmt, die ganze rechte Seite war gelähmt. An Aphasie leidend. Im Internet verloren wir uns in den Foren, die das Thema behandelten. Wir trösteten uns mit diesem magischen Ausdruck Plastizität des Gehirns. Das Organ hätte die Fähigkeit, sich zu regenerieren, wie der Phönix aus der Asche wiedergeboren wird. Mein Vater konnte nicht mehr sprechen? Er würde es neu lernen. 

Meine kleine Tochter war sechs Monate alt, ich stillte sie noch. Wir hielten uns an ihr fest. Ihr Gebrabbel sorgte für Ablenkung. Ich erstickte in der Abgeschlossenheit des Zimmers, konfrontiert mit dem unbeweglichen Körper meines Vaters. Sobald sie zappelte, nutzte ich diesen Vorwand, um zu fliehen, ich band sie im Maxi Cosi fest, ich stahl mich hinaus und ging in den Gängen des Krankenhauses auf und ab.  Ich lauerte auf den Moment, an dem meine Mutter sagen würde: „Los, wir gehen nach Hause, es ist besser für sie.“ Und ich atmete auf, als wir in der Villa in Le Mans eintrafen. Staubsaugen, abwaschen oder bei Leclerc einkaufen. Als ob das Leben seinen Lauf weiternähme. 

Mein Vater wurde in die Arche überwiesen, ein Rehazentrum. Um dort hinzukommen, durchquerten wir das Gewerbegebiet: Real, Bauhaus, BabyOne, Kik, Takko, Roller, Intersport. Ich ließ mich durch diese mir so vertraute Landschaft einlullen, gerade Ebenen, Metall und Plastikrohre nebeneinander geräumt, ein riesiges Lego. Ich stellte mir vor, ich sei woanders, auf dem Parkplatz des IKEA in Villiers, im Bistro des Gewerbegebiets von Courtaboef, dem Toom von Jaux-Venette, irgendwo, nur nicht auf dem Weg zur Arche: All das sollte nur ein schlechter Traum sein. 

Das Zentrum, das Krankenhaus, alles verschwamm im Dickicht des Unglücks. Gleiche Zimmer, gleiche Abfolge weißer Gänge, gleicher Bodenbelag aus weichem Linoleum, das die Schritte dämpfte. Gleicher Geruch von Plastik und Medikamenten. Und das Gefühl, dass die Zeit anders ablief. Und die flaumigen Stunden stagnierten, zogen sich hin, matt. In einem blödsinnigen Staunen gingen wir immer wieder dieselben Fragen durch. Die „Warums“: Warum er, warum jetzt? Die „Und wenns“: Und wenn man ihm das Salz gestrichen hätte, und wenn man ihm den Wein gestrichen hätte und wenn er eine Diät gemacht hätte, und wenn er gleich den Krankenwagen gerufen hätte, und wenn, und wenn… Im Zimmer meines Vaters stoße ich gegen die unsichtbare Mauer seines Schweigens. Zu Mehreren ist es einfacher. Mein Bruder, meine Schwestern und ich, wir diskutieren im Angesicht seines stummen Körpers, wir stellen die Fragen und geben die Antworten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass er in einem Einmachglas treibt, ein Fisch, der sich im Wasser dreht, leicht geworden durch sein schwindendes Gedächtnis. Aber wir stören ihn wie kreischende Kinder, zu Besuch in einem Aquarium, die gegen die Scheiben schlagen, was helfen da Schilder wie „Bewahrt die Ruhe der Tiere“: eine Klanghölle, diese tausende von Fingern, die widerhallen, ein Heer von Presslufthämmern.

Sechs Monate früher kuschelte ich mit meiner Tochter, die gerade geboren worden war, in einem anderen Krankenhauszimmer. Die Zeit war voll, sie war damals rund. Wie alle Mütter führte ich einen Monolog mit ihr, beobachtete ihre Seufzer, ihr Weinen. Ich erriet und erfand unsere nächsten Dialoge. Und die Stille hatte eine besondere Beschaffenheit, den mitreißenden Geschmack des Glücks.

Das Schweigen meines Vaters ist ein trauriges Schweigen, an dem die Worte und die Klänge zerschmettern. Um die Leere zu füllen, schalten wir den Fernseher ein. Wie zu Hause. Das beruhigt uns. Dieses brummende und andauernde Geplapper stellt die Tonspur meiner Kindheit dar. Wenn ich mir unsere Gesichter ins Gedächtnis rufe, kommunizieren sie nicht um einen Tisch versammelt miteinander – sondern sie betrachten die Luke, unsere Blicke sind in eine einzige, gleiche Richtung gewendet, erleuchtet vom bläulichen Schimmer des kleinen Bildschirms.

Manchmal hebt mein Vater einen Finger, um einen Satz zu kommentieren. Dann stellen wir den Ton des Fernsehers leiser. AOAO gibt er von sich. Das ist absurd und pathetisch zugleich.

AOA AAO. Ihm ist es unmöglich, ja oder nein zu sagen.

In seinen Augen lesen wir die panische Angst davor, zu spüren, dass die Worte sich in seinem Hals ballen und sich ihm verweigern. Die Worte geraten ins Holpern, die Worte tun ihm weh, es sind Stacheln in seinem Mund, Kiesel, der seine Füße zerkratzt,  und immer wieder diese gleichen Laute, ohne jeglichen Sinn: AOAAO. Oder AOOOOOA. Er legt zwar seine ganze, ihm mögliche Überzeugung da hinein, er moduliert sie, seine As und seine Os, sie sind manchmal irritiert, sanft, traurig, wütend, wie eine auf zwei Noten reduzierte Tonleiter, und das führt zu langen Gesprächen in A und O. Es regt ihn auf, dass man ihn nicht versteht, aber nach einer gewissen Zeit verlieren auch wir die Geduld: „Sag ja oder nein, das ist einfacher!“ Nicke mit dem Kopf, hebe den Daumen, zucke mit den Wimpern! In „Schmetterling und Taucherglocke“ kann er mit den Wimpern zucken, dieser Kranke, und er hat ein locked-in-syndrom, und man überrascht sich beim Gedanken dann zuck doch endlich, verflixt noch mal! Wir lauern auf ein Zeichen, ein einfaches Zeichen. Eines, das es uns erlauben würde, zu denken, dass eine Kommunikation zwischen uns besteht. Aber nichts. Dann kommt es, dass wir statt uns aufzuregen lieber den Ton des Fernsehers weiter aufdrehen. „Schau mal, es gibt den neuen Song-Contest, magst Du sie, diese Kandidatin?“

Im Reha-Zentrum treffen wir auf andere Patienten, die so sind wie mein Vater. Hirntraumata, verunglückt, seitlich gelähmt, querschnittsgelähmt, völlig gelähmt. Alte, Junge, Eltern, Großeltern, Söhne, Töchter. Der Getränkeautomat ist am Ende des Ganges. Man wechselt Blicke, manchmal ein paar Worte, einige schließen sich in ihre Einsamkeit ein, ausweichende Blicke, schleppender Gang, die Hände in den Taschen kramend auf der Suche nach Kleingeld, um sich einen ebenso ekelhaften wie deprimierenden Kaffee zu bezahlen, ein Twix oder ein Mars, die einen ekligen Nachgeschmack im Mund hinterlassen: niemand wagt, es zu gestehen, aber an solchen Orten ist man immer hungrig. In einem anderen Zimmer liegt ein vietnamesischer Patient mit seiner Frau. Sie hat versucht, mit meiner Mutter ein Gespräch anzuknüpfen, indem sie schüchtern ein paar Worte auf Vietnamesisch an sie richtete.

„Ich habe gesagt, dass ich nicht verstehe und dass ich Chinesin bin!“, berichtet mir meine Mutter mit einem wilden Ausdruck.

Sie sagt es nicht, aber ich höre das verletzende Wort. Das ist ein Wesen, das dahinvegetiert, dachte sie in Bezug auf den vietnamesischen Patienten, ein vegetierendes Wesen, denn sie hat das Bedürfnis, weh zu tun und sich selbst weh zu tun: in der schrecklichen Rechenkunst des Unglücks klammert man sich, so gut es geht, an erbärmlichen Vergleichen fest, man misst die Not des anderen, um seine eigene Not zu mildern. Das ist ein morbides Wettspiel, in dem man Punkte, Handicaps, Lebenserwartung zählt. Eine idiotische Lotterie, in der man mit Statistiken wie mit den Nummern einer Tombola jongliert: 20 Prozent derjenigen, die einen Schlaganfall überleben, laufen Gefahr, in den fünf Folgejahren einen Rückfall zu erleiden. Wer unter den Insassen der Arche würde denn zu den übrigen glücklichen achtzig Prozent gehören? Und die Fälle wurden heruntergebetet: der Patient auf Zimmer 231 ist völlig gelähmt und kann nicht allein zur Toilette gehen, der Patient auf Zimmer 201 war erst 38 Jahre alt, als ihn der Schlag traf, welch ein Unglück, er ist Vater zweier kleiner Kinder, der Patient auf 421 ist tot, ein Rückfall nach wenigen Tagen, Koma und ex! Nein, also wirklich, man konnte sagen, dass mein Vater eher gut davongekommen ist.

Meine Mutter hüllte sich in Schweigen. In ihrer Traurigkeit war das ihr Schutzschild. Meine Mutter gehört zu einer Generation und einem Kulturkreis, in denen man nicht spricht. Sprechen heißt, das Gesicht verlieren. Es ist eine Schande. Es bedeutet flennen und sich selbst bemitleiden. Ein Ding für Waschlappen, etwas für Reiche. Ein Ding für „Franzosen“.

Bei uns hielt man sich im Zaum. Und man schwieg. Man verschwieg alles, vom Lächerlichsten bis zum Schlimmsten: die Schulden und die ungedeckten Schecks, die Gerichtsvollzieher, die aufkreuzten, die unbezahlten Stromrechnungen, die Scheidungen, die alleinerziehenden Mütter, Sex (Troi oi, der Herr im Himmel bewahre uns!), die Tage der Mädchen, den Kummer, die Toten, den Tod.

Das Gesicht wahren war mehr als nur eine Regel des savoir-vivre. Es war ein Disziplin, eine Philosophie, eine Alltagsgymnastik der Seele. Ich habe nie meine Eltern klagen oder die schmerzlichen Erlebnisse ihrer Vergangenheit erwähnen hören. Sie haben sich auch nie gerühmt. Gesundheit, Studium der Kinder, Abschlüsse. Sie beglückwünschten uns nicht. Das hätte den bösen Blick nach sich ziehen können.

„Bravo dafür, dass eure Kinder erfolgreich gewesen sind!“,  entzückten sich ihre Freunde.

-„Oh, sie haben es passabel geschafft, aber andere sind viel brillanter!“

Meine Eltern hatten alles verloren. Dadurch, dass sie Vietnam verlassen hatten, waren sie  auf der Leiter  nach ganz unten gepurzelt, in die verachtete Kategorie der „Immigranten“. Sie litten darunter, dass Frankreich sie aufgenommen und ihnen Wohltätigkeit angedeihen ließ, sie, die sie nie nötig gehabt hatten. „Weißt du, die Franzosen verachten uns“, wiederholte meine Mutter unablässig in ihrem verletzten Stolz einer „Immigrantin“. Von der stillschweigenden Konkurrenz innerhalb der vietnamesischen Community im Exil ganz abgesehen: man musste zeigen, dass man gut wegkam, dass man größeren Erfolg als die anderen hatte, dass man das Unglück gebannt hatte.

Das ist der Grund, warum meine Mutter, mit der Krankheit meines Vaters konfrontiert, nichts gesagt hat. Keinem. Als ob, indem sie die Wirklichkeit verbirgt, sie sie zum Verschwinden bringen könnte. Du hast Papas Schwestern benachrichtigt, ja, ja, ist ja gut, ich hab angerufen, hör auf, mir auf den Wecker zu gehen, ich hab auch so genug Sorgen. Einen Monat später nahm eine Tante Verbindung zu mir auf, besorgt darüber, keine Nachricht von meinem Vater zu haben. Ich musste ihr erzählen, was passiert war, in Verlegenheit wegen unseres langen Schweigens.

Mein Vater kam nach mehreren Monaten in seiner Reha-Anstalt wieder nach Hause. Meine Tochter wurde älter.

Ich beruhigte mich, indem ich mich überzeugte, dass sie und mein Vater lernen würden, miteinander zu sprechen. Aber sie sprach ihre ersten Worte aus, Papa, Katze, Kompott, formulierte ihre ersten Sätze. Mein Vater hingegen blieb stumm. Bis auf diese wenigen Worte, immer die gleichen, die er vor sich hinstammelte. Danke. Guten Abend. Mit dieser neuen Stimme aus dem Jenseits, dieser Aphasiker-Stimme.

Ein Jahr lang, vielleicht zwei Jahre lang, wurde die Sprache zwischen unserem Vater und uns, seinen fünf Kindern, zu einer Schlacht. Plötzlich hatte das Verhältnis sich umgekehrt. Wir gebaten ihm zu arbeiten. Er reagierte mit Widerwillen. Wir waren in der Religion des Arbeitens aufgezogen worden – „Talent ohne Mühe ist nur ein blöder Tick“, wiederholte er Brassens paraphrasierend - wir fühlten uns verraten. Wir ließen ihn seine Rechtschreibübungen wiederholen. Er regte sich auf, erniedrigt schrie er. Unverständliche Laute. Beinahe ein Heulen, das uns erschreckte.

Eines Tages luden wir einen jungen Freund meiner Schwester Bui 2 nach Le Mans ein, der nach einem Koma wieder gelernt hatte, zu schlucken, zu spazieren, zu sprechen. Wir dachten, dass er ihm als Beispiel dienen könnte, als Ermunterung. Der Freund meiner Schwester schlug zum Abschied die Türe krachend zu: “Monsieur Bui, wenn Sie nicht ihren Teil dazu beitragen, werden wir nichts machen können!“ Wir waren schockiert und begeistert, zu hören, wie er meinem Vater die Wahrheit sagte. Wir hatten gehofft, dass diese Episode wie ein Elektroschock auf ihn wirken würde. Es wurde noch schlimmer. Die Luft zu Hause war kaum mehr zu atmen. Meine Mutter warf uns vor, nicht genug zu tun. Und mein Vater, wir würden ihn foltern.

Also gaben wir auf. Wir versuchten nicht mehr, ihn zum Sprechen zu bringen. Zu Hause sahen wir  fern, gemeinsam. Ohne ein Wort. Das ist bequem, die Stille.

MSN


Bui 1, in Le Mans, ist online. Bui 2, in Peking, ist online. Bui 3, in Le Mans, ist online. Bui 4, in Darmstadt, ist online. Bui 5, in Le Mans, ist online. 


Bui 2 – Haste Papa gesehen?


Bui 1 – Jap.


Bui 2 – Geht‘s ihm gut?

Bui 1 – Joa, wie immer halt Bildschirmfoto 2018-03-22 um 07.57.05


Bui 3 – Wieviel h ist es in China?


Bui 3 – 3 h morgens


Bui 5 – Mama sagt, Papa hat sein Französisch vergessen, aber mit dem Logopäden spricht er Chinesisch

Bui 4Bildschirmfoto 2018-03-22 um 07.57.29

Aphasie


Durch Google habe ich Paul Broca (1824-1880) entdeckt, Arzt für Anatomie, wie mein Vater. Und seinen berühmtesten Patienten: Herrn „Tan“.

Mein Vater macht As und Os. Herr „Tan“, der mit seinem echten Namen Leborgne hieß, machte nur noch „Tan“s.


Klinischer Bericht von Dr. Broca über den Patienten Leborgne:

Er konnte nur noch eine einzige Silbe aussprechen, die er meist zwei mal hintereinander wiederholte. Was auch die Frage war, die man an ihn richtete, er antwortete immer „tan, tan“ und fügte verschiedene ausdruckhafte Gebärden hinzu. Das ist der Grund, warum er in der ganzen Klinik nur unter dem Namen Tan bekannt war.


Am Tag nach dem Tode Tans amputierte Broca das Hirn und präsentierte es der Gesellschaft für Anthropologie.

Ebendieses Hirn ist immer noch in einem Medizinmuseum ausgestellt. Einige Ärzte gehen in die Geschichte ein, indem sie ihren Namen in Verbindung mit einer Krankheit hinterlassen. Paul Broca hat den seinen für einen Teil unseres Hirns hinterlassen: das Broca-Hirnareal. Dasjenige, das Sprache produziert.

Die Aphasie ist ein seltsamer Kontinent. Es gibt ebenso viele Aphasien wie es Aphasiker gibt. Einige Aphasiker schaffen es, fast normal zu sprechen, andere haben Mühe, Sätze zu bilden. Einige schweigen, aber schreiben Sätze. In den Internetforen habe ich voller Emotion und Neid lange Nachrichten gelesen, die mit zögernder Rechtschreibung verfasst worden sind: Aphasiker erzählten dort von ihrem Kampf gegen die Wörter. Die „Brocas“ verstehen alles, aber können sich nicht mehr verständlich machen.

Das exakte Spiegelbild zum Broca-Hirnareal, das Wernicke-Hirnareal, nach einem anderen Mediziner benannt, liegt ebenfalls in der linken Hemisphäre des Hirns. Diese ist für das Verständnis zuständig. Während der Broca-Aphasiker wortkarg ist, ist der Wernicke-Aphasiker redselig.


Wernicke-Aphasie

Personen, die an Wernicke-Aphasie leiden, sind fähig, sich korrekt auszudrücken. Sie empfinden hingegen Schwierigkeiten, die Sprache der anderen zu verstehen, beziehungsweise ihre eigene Sprache. Ihre Äußerungen ergeben keinen Sinn.

Das aphasische Kauderwelsch

Man spricht von „Kauderwelsch“ oder „aphasischem Kauderwelsch“, wenn der Aphasiker Worte verdreht oder verwechselt oder sogar welche neu erfindet, so dass es unmöglich wird, ihn zu verstehen.


Die Logorrhöe

Gemeinhin „verbaler Durchfall“ genannt, äußert sich in einem unbezwingbaren Drang zu sprechen, ohne dass dies auch einen Sinn beinhalten würde, aufgrund von Störungen im Verständnis und bei  Äußerungen.

Das Gegenteil von meinem Vater, diesem wortkargen Menschen.

Wie Odysseus, der in einer unendlichen Reise verloren ist, wogt mein Vater in Aphasie. Manchmal tauchen Laute auf. O, O, A, To, Ta. Da versucht er uns etwas verständlich zu machen. Er, der weder einfach ja noch nein sagen kann. Das ist der Punkt, wo es kompliziert wird. Wir verstehen nicht. Er versteht nicht, dass wir nicht verstehen. Er regt sich auf. Wir auch. Wir schleudern ihm zufällig ausgewählte Wörter ins Gesicht, in der Hoffnung, dass wir auf das richtige stoßen. Das ist eine Art pathetisches Tennismatch zwischen Einarmigen, die Bälle fliegen auf dem Tennisplatz, ohne dass irgendeiner sie zurückschlagen kann.

Mein Vater ist ein blinder Tourist - verirrt in einem unbekannten Land, wandelt er auf Wegen, die voller Hinweisschilder  sind, die er nur zur Hälfte versteht. Er hat es gelernt, anders zurechtzukommen. Er liest auf den Gesichtern, in den Blicken. Manchmal versucht er zu zeichnen. Er übt sich auch im Schreiben. Er muss nunmehr seine linke Hand benutzen, seine Schrift ist zittrig, anders als das sehr bestimmte Gekritzel, das ihm als Schrift diente – „eine Ärzte-Schrift“ sagte man.


Heute hat ein Erdbeben Nepal verwüstet. Man ist ohne Nachricht von 70 französischen Staatsangehörigen. Die chinesische Börse bricht zusammen. Die chinesische Börse bricht zusammen. Die chinesische Börse bricht zusammen. 

45. 45. 45.


Ich lese diese zusammenhanglosen Sätze, die Seite für Seite aufeinander folgen. Er schreibt ab. Auf Diktat. Oder dem Modell folgend, das ihm der Logopäde vorgibt. Mein Vater hat noch nie so viel geschrieben wie in diesen Heften. Aber was versteht er? Die Worte geraten ins Holpern, drängen einander, aufs Papier gepresst. Wozu das alles, wenn er uns ohnehin nicht schreiben kann?

Vielleicht gibt es darin einen Code, der mir in diesen geschwärzten Schülerseiten entgeht? Eine geheime Botschaft, die er uns hätte zu Händen geben wollen? Manchmal übt er sich im Schreiben unserer Namen. Ich sehe den meinigen nach einem: „Francois Hollande hat eine Intervention in Mali beschlossen.“ Als ob ich mit ihm über Geopolitik diskutieren würde. 

Am Anfang, weil wir hofften, damit einen Kommunikationsmodus zu finden, stellten wir ihm ein kleines Notizheft her, mit Zeichnungen, die Alltagshandlungen oder -gegenstände zeigten. Wie Hieroglyphen. Er durchblätterte es, manchmal. Aber es hätte so vieler Zeichnungen bedurft, um die Worte zu ersetzen. Das Notizheft verschwand recht schnell. Und mein Vater wogte weiter auf dem Meer seines Schweigens. Das Meer, das Baudelaire so sehr am Herzen lag. Nach einem Angriff – so bezeichnete man einen Schlaganfall – wurde Baudelaire aphasisch.

Gemeinsam? Dort, in der Aphasie, gibt es keine Gemeinsamkeit: man bleibt in seine Vereinsamung eingeschlossen, umzingelt vom Blick der anderen, angegriffen vom konfusen Lärm der „Sprechenden“.

Baudelaire, der so sehr die Substanz der Worte durcheinandergewirbelt hatte, beendete sein Leben, indem er nur auf einem Wort herumkaute. Nicht einmal ein Wort, nur ein Ausruf: „crénom!“. Seine Freunde kamen ihn besuchen, Banville, Jules Vallès, Leconte de Lisle lösten einander an seinem Krankenbett ab. Sie beklagten sich, von einer Art religiöser Furcht ergriffen, dass sie mit ansehen mussten, wie der unangefochtene Wortmeister sich mit verlorenen Worten herumschlug. „Crénom! Das ist mal ein Gruß, mal ein Fluch, je nachdem, ob man ihm ein Ding oder einen Namen zeigte, die er geliebt oder gehasst hatte!“, erklärt Jules Vallès. „Crénom! Das ist vielleicht auch das idiotische Murren der Verzweiflung! – Wer weiß?“

Théophile Gautier, entsetzt: Seit langem schon kreiste der Tod um ihn; er hatte ihm seinen mageren Finger auf die Stirn gelegt, und die Lähmung hatte diesen einst so agilen Körper  

Die Wörter sind wie zierliche Vögel, die mein Vater auf den chinesischen Holzschnitten bewunderte. Die Worte sind aus seinem Geist weggeflogen: als Wandervögel sind sie in wärmere Gefilde gezogen, und mein Vater ist im ewigen Winter seines Schweigens zurückgeblieben.

Auf dem Rückweg nach ihrem ersten Besuch im Reha-Zentrum konnten meine Tanten nicht umhin, auf Vietnamesisch zu bemerken: „Immerhin ist das komisch. Er spricht nicht mehr, er a-o-t andauernd.“ A-o-ten. Ein Sprachskelett, eine Melodie mit zwei Noten, die ein amputierter Pianist beharrlich auf ungeschickte Weise auf einem verstimmten Klavier skandiert.

Auch Maurice Ravel verlor seine Sprachfähigkeit. Der Komponist erkannte noch Töne und Melodien: das musikalische Gehör aktiviert nicht die gleiche Hirnpartie wie die Sprache. Ravel konnte hingegen nicht mehr die Noten lesen, die einst die wunderbaren Symphonien aus seinem Geist transkribierten. In seinem Innersten hörte er diese Melodien, aber er konnte sie nicht mehr in Noten fassen, noch sie mitteilen.

Beethoven komponierte trotz seiner Taubheit weiter. Ravel verfiel in Schweigen. „Ich habe so viel Musik im Kopf, ich habe noch nichts gesagt, und mir bleibt noch so viel zu sagen“, klagt er voller Verzweiflung. Colette schreibt: „Ravel verliert das Sprachvermögen, die Geste des Schreibens, und wird niedergeschlagen sterben, aber doch bewusst, während er weiter von einem Schwall an Harmonien überbordete.“