Augen, die Berge sahen, fürchten keine Hügel.

Afrikanisches Sprichwort


Der Schmerz von heute schenkt dir Kraft für morgen.

Bengalisches Sprichwort 


Wer als letzter das Land verlässt, macht das Licht aus.

Moldawisches Sprichwort


Virgil



Der Sommer war heiß. Selbst die Rosen sehnten sich nach Schatten. Virgil spürte seine Beine nicht mehr. Zu lange schon klemmte das eine unter dem anderen wie die Sichel unter dem Hammer auf den roten Fahnen seiner Kindheit.

Er wagte nicht, sich zu rühren. Der Hund, eine graue Promenadenmischung mit gelben Fangzähnen, strich noch immer umher. Vorsichtig streckte Virgil die Hand nach den Feldmäusen aus. Ihr warmes graues Fell hatte etwas Tröstliches. Eins der Jungen nuckelte an seiner Fingerspitze. Sechs waren es insgesamt, dazu die Mutter. Der Vater war nicht da – wie er selbst.

Früher, in Moldawien, hatte er Hunde gemocht und Mäuse verabscheut. Seit seiner Ankunft in Frankreich hatte sich manches ins Gegenteil verkehrt.

Hier baute er Häuser und wohnte im Freien. Schuftete sich krumm für seine Kinder, die er nicht einmal in die Arme schließen konnte und versagte sich Medikamente, um Parfum für eine Frau zu kaufen, an deren Duft er sich kaum mehr erinnerte.

Er schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, wie in der kleinen Ortschaft Torjeuci der mächtige Topf voll Borschtsch leise köchelnd in der Küche stand. Hinter den beschlagenen Fensterscheiben lag im Schatten der Veranda ein winziges Fleckchen Garten. Ihm wurde ganz warm ums Herz, nur im Magen leider nicht.

Seit Wochen schon hauste er nun in dem Erdloch. Einem Sarg, eins neunzig lang, einen Meter breit und ebenso tief, den er mitten im Wald von Hand gegraben und mit einem Dach aus Ästen und Blättern abgedeckt hatte.

Tagsüber schützte er darin seine Sachen vor neugierigen Blicken. Nachts grub er sich lebendig ein. Niemand würde dort nach ihm suchen, mitten im Unterholz, zwischen einem beim letzten Sturm umgestürzten Baum und einem wüsten Haufen abgestorbener Zweige.


Das Ungetüm hob ein Bein, ließ ein paar Tropfen fallen, schnüffelte daran und entfernte sich mit argwöhnischer Miene. Virgil wartete noch einen Moment, dann beugte er sich zu seinen Waden hinunter und massierte sie ausgiebig. Sein Körper plagte ihn, wie ihn der Kommunismus über dreißig Jahre lang geplagt hatte. Und doch wünschte er sich an manchen Morgen die öde Starre von damals beinahe zurück.

Seinerzeit hatte man ihm zumindest nichts versprochen, außer vielleicht Langeweile und Mittelmäßigkeit. Keinerlei Etikettenschwindel. In gewisser Weise war er seinen ehemaligen Kerkermeistern sogar dankbar. Gerade weil sie ihm nichts zu bieten hatten, schenkten sie ihm etwas Grundlegendes: einen mit eisernem Willen gepaarten, grenzenlosen Optimismus, denn es blieb ihm keine andere Wahl, als die Fesseln zu zerreißen, mit denen man ihn binden wollte, sich von dem Joch zu befreien, von dem sich so viele beugen ließen, aus Schwäche, aus Bequemlichkeit, bis sie schließlich alle Träume von einem anderen Leben aufgegeben hatten.

Er dagegen wollte nichts aufgeben. Erst recht nicht das Glück seiner Frau und seiner Kinder. In der Hoffnung, eines Tages fliehen zu können, scherte er sich nicht um Regeln, Verbote, Ungerechtigkeiten oder Repressalien – wie eine Fliege, die ebenso unablässig wie entschlossen gegen die Fensterscheibe prallt.

Der Kommunismus hatte ihn zu einem Bulldozer gemacht. Nichts schien ihn aufzuhalten, weder Mauern noch Grenzen, denn er glaubte, dass es schlimmer nicht werden konnte. Neben seinem unbeugsamen Wesen besaß Virgil ein ungewöhnliches Äußeres. Auch dafür durfte er sich bei der Partei bedanken. Den schmächtigen kleinen Stallburschen, vaterlos, gegängelt und geprügelt, gab es nicht mehr. Fünf Jahre Militärdienst, in denen er bei minus fünfzig Grad in Nordsibirien Pipelines verlegte, hatten ihn zu einem bulligen, massiven Geschöpf gemacht, dem jegliches Schmerzempfinden abging. Mit bloßen Händen rührte er in der Glut, Platzwunden versorgte er kurzerhand mit Nähgarn. Sein Körper hatte nichts zu melden; Virgil hörte einfach nicht auf ihn.

Keine Last war ihm zu schwer, keine Gewichtsverteilung zu heikel, keine Pause vonnöten. Schutzmasken, Sicherheitsschuhe, Handschuhe: überflüssig. Achtlos strapazierte er sein einziges Kapital in der festen Überzeugung, immerzu daraus schöpfen zu können.


Dann, in einer Augustnacht des Jahres 1991, wurde der moldawische Vorhang gelüftet. Gleißendes Licht nach Jahren der Finsternis. Er erinnerte sich an riesenhafte Freudenfeuer, von denen das Land rot glühte, an Statuen, die man mit bloßen Händen von den Sockeln stürzte, an Gläser, die von Cognac und Hoffnungen überliefen. Endlich war Schluss mit dem Grau. Eine Welt aus Farben tat sich vor ihnen auf. Schon trieben die Freiheiten erste Blüten.

Seine sonst so zurückhaltende Frau Daria tanzte mit geschürztem Rock auf dem Tisch und zeigte ihre glatte weiße Haut, die fein war wie Bibelpapier; sie, die in den Jahren des Kommunismus aus Angst vor der politischen Polizei nur noch heimlich gebetet hatte. Trotz ihrer drei Schwangerschaften war sie kein bisschen rundlich geworden, denn sie hatte sich auf einer staatlichen Landwirtschaftskooperative abgerackert und Karren mit Kohlköpfen und Süßkartoffeln beladen, die dann irgendwo in den unendlichen Weiten der Planwirtschaft verschwanden. Ihr selbst war nichts anderes übrig geblieben, als einem kleinen Stück kargem Land ein paar Ackerrüben abzutrotzen, die ihre drei Kinder mit der Gier einer Horde Jungvögel verschlangen.

An jenem Abend hatte Nicolai, der Älteste, die Gläser aus dem handgeschnitzten Buffet geholt, einem Werk des Großvaters, der als Kamerad der ersten Stunde nur einen Monat vor dem Untergang der Roten gestorben und unter den letzten Ehrungen der Partei hastig verscharrt worden war.

Nicolai, der den Schirm seines Käppis nach hinten drehte, hielt schon jetzt mehr von Dr. Dre als von Wladimir Iljitsch.

Vlad und Emil, die beiden Jüngeren, stritten darum, wer die letzte Flasche vom lausigen Kolchosensekt öffnen durfte. Der nächste Jahrgang würde fein und spritzig, glaubte man den Worten des neuen Präsidenten Mircea Snegur. Dieser war ein urplötzlich zum Pluralismus konvertierter Kommunist von der Sorte, die sich nie die Hände schmutzig macht und immer auf die Füße fällt. Er hatte soeben an der Spitze der Demokratischen Agrarpartei (PDA) die ersten freien Wahlen gewonnen, und sämtliche Moldawier glaubten an seine Verwandlung.

Zwei Jahre später blühte nicht einmal mehr das Unkraut. Man musste zwischen Schlaglöchern nach dem fahnden, was von den Straßen übrig war, denn dem Land fehlte es an allem, vor allem an Männern, denn diese schufteten als Lasttiere auf den Baustellen Europas; unter den Müttern hingegen gab es einige, die diskret die Nieren ihrer Kinder verkauften, um ihre Schulden zu begleichen. Nur die Mafia und Mircea Snegur blieben beim Sekt. Für alle anderen hatte sich der Vorhang wie ein Kerzenlöscher wieder gesenkt, die Hoffnungen erstickt und die schönen Versprechen begraben.

Virgil wurde bewusst, dass das Glück in Moldawien nicht so bald Fuß fassen würde. Er musste es woanders suchen, allein zunächst, als Kundschafter. Das hatte er der Madonna im Wohnzimmer versprochen. Bald würde es Daria und den Jungen an nichts mehr fehlen. Er würde aufbrechen und ihr Amerika entdecken. Allen Winden und Strömungen zum Trotz.


Zart wie ein Mann, der sonst nur mit Zement hantierte, massierte Virgil seine steifen Beine weiter. Das Blut floss wieder durch die tauben Glieder, der Schmerz wirbelte die Beine hinauf. Die Dorflehrerin hatte ihm von der endlosen Welle erzählt, die sich an den Fluttagen zur Tagundnachtgleiche die Garonne hinaufwälzte. Sie verehrte Frankreich, die Franzosen und ganz besonders Victor Hugo, über dessen Tochter Léopoldine man sich erzählte, eine einen Meter hohe Woge habe sie fortgerissen, bei Villequier, im Pays de Caux. Die Lehrerin glaubte von alledem kein Wort. Niemals war eine Welle die Seine hinaufgerollt. Den Shubanacadie River in Neuschottland vielleicht, den Orinoko sicherlich, den Qiantang in Südchina zweifellos, aber nicht die Seine.

An jenem Tag des Jahres 1843 kehrte Léopoldine lediglich von einem Besuch bei ihrem Notar zurück, als ein heftiger Windstoß an einem Ort namens Le Dos d'Âne ihre Barkasse zum Kentern brachte. Die Trauer des Dichters war so groß, dass er sie in jenen gewaltigen Versen ertränkte, die stärker waren als jedes Getränk der Welt.


Morgen, wenn die Sonne aufgeht und es

auf dem Lande hell wird,

will ich gehen … 


Mit Victor Hugo im Kopf war auch Virgil eines Morgens aufgebrochen. Er hatte Daria, Nicolai, Vlad und Emil und sein Heimatdorf Torjeuci gegen den Wald von Sénart bei Villeneuve-le-Roi eingetauscht.

Der Hund war zurück. Virgil hörte das Hecheln direkt über seinem Kopf. Spürte den feuchten Atem. Den Geruch nach saurer Milch, Huhn, Gemüseabfällen und Schinkenresten. Ein Mahl aus dem Müll wie jene, um die er seit seiner Ankunft in Frankreich jeden Tag mit ein paar anderen Hunden stritt.

Einen Augenblick lang dachte er an Daria, daran, wie sie den Deckel vom Topf hob, und wieder stieg ihm der Duft des Dorfes in die Nase. Er liebte die Sonntage, wenn die gesamte Nachbarschaft Fleisch kochte und später frische Tomaten, Karotten, Zwiebeln und Fenchel in Würfeln hinzugab, dann Liebstöckel, Maismehl und einen Sauerkirschzweig. Die Hunde strichen um die Gemüseabfälle, Virgil griff sie am Halsband und hielt mit seinen Bauarbeiterhänden ihre Schnauzen zu, um ihr Festmahl hinauszuzögern. Damals, als sie ihm noch lieber waren als Mäuse.

Seit er aus ihren Näpfen aß, hatte sich ihr Verhältnis zueinander verändert, und nun waren sie es, die am meisten unter seiner Armut litten. Nicht diejenigen, die man der schlanken Linie wegen an der Leine führte, sondern die anderen, die Bastarde, die Räudigen, Ausgesetzten und Scheuen. Ihnen machte er die Reviere und die Abfälle streitig, mit ihnen teilte er die Angst, entdeckt und eingesperrt zu werden.

Der alte Stefan hatte ihn gewarnt, bevor er ihn aus dem Dorf fortließ: „Sie sind deine Feinde. An der Grenze machen sie Jagd auf dich, sie treiben dich von ihren Höfen und aus ihren Gärten.“

Der Alte wusste, wovon er sprach. Dreimal schon hatte er die Reise hinter sich gebracht; dreimal war er in Handschellen zurückgekehrt.

Das Tier blieb stehen. Es schnupperte am Erdloch. Trotz der Dunkelheit schloss Virgil die Augen. Im Geiste zählte er die Atemzüge des Hundes, so wie Stefan es ihm beigebracht hatte. Eins, zwei, drei, vier … zwölf pro Minute. Der Hund musste alt sein. Zehn Jahre etwa. Virgil entspannte sich ein wenig. Sein Optimismus gewann die Oberhand. Sollte er das Tier töten müssen, ginge es mit einer Hand.

Eine Stimme rief von weitem nach dem Hund. Er gehorchte auf der Stelle. Virgil erkannte den Mann, der regelmäßig mit seiner Frau durch den Wald lief. An diesem Morgen war er allein. Vielleicht schlief sie noch. Einen Augenblick lang stellte sich Virgil die warmen Laken vor. In Moldawien baute man unter den Betten Öfen ein, damit sie die Wärme hielten. Er streckte die Hand aus und tastete in der Dunkelheit nach den Mäusen. Ein bisschen war es, als würde er seine Kinder streicheln. Dann fing es an zu regnen. Scharfe gelbe Tropfen. In einem väterlichen Reflex schützte Virgil das Mäusenest.

Der Mann hatte an seinem Erdloch Halt gemacht und pinkelte genau über ihm. Sein Tag würde lang und begann übel.


Assan



Assan drückte Iman flach auf den Boden und presste dabei behutsam seine Muskeln auf ihre, denn er wollte ihren zarten, eben erst entwickelten Körper nicht verletzen.

Sie war ganz starr und stellte sich in der Hoffnung zu überleben einfach tot, wie die Maus in den Fängen der Katze. Ihr Nacken duftete nach Bazar. Ägyptischer Jasmin. Assan kaufte ihn auf dem großen Markt in Mogadischu, am letzten Tag des Ramadan. Er parfümierte damit das Haus und dachte an die weißen Blütenfelder am Ufer des Nil, an die unzähligen Ballen, die auf Eselsrücken in die Fabriken gebracht wurden, wo Frauen mit den Füßen das Öl aus den Blütenblättern pressten, bis manche von ihnen durch die Intensität des Duftes ohnmächtig wurden.

Ein Knacken erschreckte ihn. Er rollte mit Iman in einen Granatkrater. Das Geschoss hatte bei der Explosion eine Grube vom Umfang eines großen Sargs hinterlassen. Im Rücken spürte er die scharfen Kanten des zerborstenen Betons. Haifischzähne fielen ihm ein, das so nahe Meer und die Fahrten auf der Dhau mit seinem Vater. Als Kind hatte er es geliebt, wenn der Wind das dreieckige Segel blähte, wenn sich bei Wellengang ein leichter Schwindel einstellte und die Hand des Fischers ihm beruhigend über das Haar strich.

Jemand näherte sich, sie hörten Glasscherben knirschen. Jedes Geräusch erzeugte in der geköpften Kathedrale einen Widerhall. Die meisten Christen waren aus der Stadt geflohen, nachdem ihr Bischof mitten in der Messfeier ermordet worden war. Nun wurde der demolierte Bogengang von den Scheinwerfern eines Pick-ups erleuchtet, der in vollem Tempo die zerstörte Uferpromenade, das Wadada Lido, hinauffuhr. Dann wurde alles wieder schwarz. Die Überreste der Säulen lagen verstreut auf dem Boden und boten ihnen Sichtschutz. Vom eigentlichen Gebäude standen nur noch einige auf wundersame Weise erhaltene Spitzbögen und der riesige Frontgiebel aus weißem Stein, den die Stalinorgeln der zahllosen Milizen bei ihren Eroberungsversuchen durchlöchert hatten.

Seit dem Sturz von General Siad Barre, der zwanzig Jahre lang über Somalia geherrscht hatte, kannte Mogadischu weder Gott noch Herr. Die Stadt war in zwei Hälften gespalten, wie alle übrigen, die gegen neue starke Männer aufbegehrten. Den Süden hielten die Partisanen des Übergangspräsidenten, den Norden die Männer von General Aidid, einem erbarmungslosen Warlord, der den Sieg für sich allein beanspruchte. Beide Lager hatten Banken, Zugänge zum Meer, Paläste und Kreuzungen untereinander aufgeteilt und das Telefonnetz zerschnitten. Zu allem Unglück der Somalier hatte neben den durch staatlichen Terror geförderten Plünderungen und Vergewaltigungen in diesem traurigen Jahr 1991 auch eine beispiellose Dürre das Land heimgesucht, die das Saatgut wie in einem überdimensionalen Backofen unter einer Kruste aus trockener Erde versengte und Mensch und Tier verhungern ließ.

Nie zuvor hatte Assan eine Kirche betreten. Vor ein paar Stunden hatte er sich hier verschanzt, nachdem er einer Gruppe bewaffneter Kinder ausgewichen war, die hinter ihrem Jeep die schon arg ramponierte Leiche des zuletzt geplünderten Händlers herzogen. Man nannte sie „Mooryaans“, auf Somali „Ameisen“ oder „Parasiten“. Im Augenblick beherrschten sie die Stadt, sie suchten sie heim, verdarben sie von innen, saßen an Bord ihrer „Technical Cars“, gestohlenen Pick-ups mit rückstoßfreien 105-mm-Geschützen auf der Ladefläche: Kriegsgerät, das nicht nur Menschen, sondern auch Mauern und Panzerungen in Stücke reißen konnte. Oft waren die Kindersoldaten keine sechzehn Jahre alt. Manche gehorchten ihren Clans, andere arbeiteten auf eigene Rechnung. Untereinander gaben sie sich Namen wie „Rambo“, „Clint Eastwood“ oder „Terminator“; angetrieben wurden sie von Amphetaminen, Kokain und Khat, den Blättern eines äthiopischen Strauchs, die bei Entzug wahnsinnig machten.

Man sah diese Kinder an jeder Straßenkreuzung, sie lungerten auf den Fahrzeugen herum, behängt mit Amuletten, die unsichtbar machen sollten, mit suchtgeröteten Augen, der Kalaschnikow im Anschlag und einer Kugel im Lauf. Nachts besetzten sie ein paar Ruinen oder fielen wie ein Bienenschwarm über eins der Stadtviertel her. Ihren Blick zu kreuzen, bedeutete den sicheren Tod.


Iman klammerte sich an Assan. Noch nie war sie so spät außer Haus gewesen. Normalerweise bereitete sie abends um diese Zeit das Essen für ihre Schwestern zu.

Inzwischen war die Kathedrale menschenleer. Nur die Leichen zweier Frauen mit auf dem Rücken gefesselten Händen und Kugeln im Kopf verwesten zwischen den Schuttbrocken. Viele Jahre zuvor, 1928, in einem Land, das zu 99 Prozent muslimisch war, hatten die italienischen Kolonialherren in ihrem grenzenlosen Hochmut diese blasse Kopie der Kathedrale von Korfu direkt am Meer zwischen die Moscheen postiert. Später führte ihre grenzenlose Nachlässigkeit dazu, dass sie die kleine christliche Gemeinschaft beim Abzug aus Somalia einfach zurückließen.

Imans kleine Brüste streiften sein Hemd im Rhythmus ihrer Angst. Assan schämte sich plötzlich, ihrem Körper so nah zu sein.

Wieder knirschten Scherben. Diesmal glaubte er, eine Stimme zu hören. Mit einer Hand hielt er Iman den Mund zu, damit ihre Atmung sie nicht verriet. Das Mädchen hielt auf der Stelle die Luft an, ihr Gesicht war angstverzerrt. Die Schritte entfernten sich. Assan wartete noch einen Augenblick, zog dann an Imans Schleier und befreite ihre Haare. Sie rochen nach Holzkohle.

Vor dem Krieg, als man noch genügend Hirse und Weizen bekam, sah er ihr zu, wenn sie sich kämmte und dabei über die Feuerstelle für das Fladenbrot beugte, zart wie eine Liane.

Er begegnete ihrem Blick. Er wünschte, sie hätte die Augen geschlossen, aber sie sah ihn offen an. Er kramte in seiner Tasche, holte ein Messer heraus und zog mit den Fingerspitzen die Klinge umständlich aus dem Griff. Das Metall roch noch immer nach Fisch – er war auf dem Rückweg vom Fischmarkt gewesen, als ihm die in Tränen aufgelöste Iman in die Arme lief.

Mit einem Blick bedeutete er ihr, sie solle nicht weinen, schob ihre Hand weg vom Mund, schnitt die Haare Strähne für Strähne ab und zerkratzte ihr dabei die Kopfhaut. Als er damit fertig war, legte er das Messer in den Schutt. Das Mädchen wirkte jetzt noch zerbrechlicher. Sie wartete, verwundbar wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken lag. Behutsam schob er die Träger ihres Kleides zur Seite und ließ sie über ihre Schultern rutschen. Der königsblaue Stoff glitt von ihrem angstnassen Körper. Man hätte meinen können, das Meer zöge sich zurück, gäbe zunächst zwei kleine zierliche Inseln frei, kaum erhaben, mit winzigen Brustwarzen, spitz wie Spindelschnecken, dann die feinen Falten ihres Bauches, den Wellen am Sandstrand ähnlich, mit einer perfekt gerundeten Krabbenhöhle in der Mitte. Weiter unten, wo sich ihre Schenkel berührten, die Lagune ihres zugenähten Geschlechts.

Er reichte ihr Jungenkleider.

„Hier, zieh das an.“

Zum ersten Mal sah er seine Tochter nackt und verstümmelt. Nie würde er diese lange, qualvolle Nacht vergessen. Die Schreie, die Schritte der Frauen in der Dunkelheit, ihre Stimmen, die Imans Namen flüsterten.

Das Kind hatte ein paar Meter neben ihm auf einer Matte gelegen, als die Frauen es abrupt aus dem Schlaf rissen. Er war Imans ängstlichem Blick begegnet, hatte aber geschwiegen und die Lider gesenkt.

Dies hier war Frauensache. Nichts und niemand hätte sie von ihrem Vorhaben abbringen können. Es war stärker als alles andere, keinerlei Autorität konnte daran etwas ändern. Das Ritual war mächtiger als der Verstand, die Religionen, die Liebe, der Schmerz, die Mütter, die Väter, das Leid, sämtliche Gesetze, alle Mächte, Gespräche, Predigten, seit langer Zeit. Es überdauerte auch dann, wenn sich alles sonst veränderte, wenn man längst vergessen hatte, wozu es gut sein sollte, ebenso wie Kriege weiterhin verwüsteten, vernichteten, zerstörten, bis in alle Ewigkeit, trotz aller Waffenruhen, Massaker, Witwen, Amputierten, Waisen, Kriegerdenkmäler und Geschichtsbücher.

Die Frauen hatten Iman in das einzige abschließbare Zimmer des Hauses gesperrt. Die Kleine war gerade erst sieben Jahre alt geworden.

Er hatte gehört, wie sie sich gewehrt hatte. Wie immer kam die Alte als Letzte hinzu, mit einem kleinen Holzteller, auf dem ein paar Akaziendornen lagen. Bevor sie in das abgeschlossene Zimmer ging, bat sie Assan um sein Messer.

Er bereute sofort, dass er die Klinge nicht sorgfältiger gereinigt hatte. Er hätte gern etwas gesagt, fand aber keine Worte.

„Schlaf weiter, das geht dich nichts an“, befahl sie, bevor sie die Tür öffnete und gleich darauf wieder schloss.

Assan hatte trotzdem Zeit genug gehabt, die Kleine zu sehen, die auf dem Rücken lag, die Beine mit Lappen gefesselt. Zwei Frauen drückten ihre Schultern auf den Boden. Die Alte hatte sich vor das Mädchen gekniet, zwischen ihre Oberschenkel. Mit ihren schmutzigen Fingern hatte sie das unbehaarte Geschlecht gespreizt, sogleich zwischen den inneren Schamlippen herumgetastet, auf der Suche nach dem „Diener, der die Gäste anlockt“, diesem kleinen versteckten Objekt der Begierde, mit dem alle Frauen zur Welt kommen, wohl oder übel. Iman begriff, dass jetzt das Schlimmste kam. Vor Schreck fing sie an zu zittern. Die Alte hatte ihren kleinen Nerv gefunden, daran gezogen und ihn mitsamt der Wurzel ausgerissen, mit einer einzigen kreisrunden Bewegung der Messerspitze. Kaum, dass die Alte ihre Trophäe in die Höhe schwenkte, ertönten Imans Schreie. Sofort tauchten alle Frauen ihre Finger in das kleine Loch, prüften, ob das Böse auch wirklich ganz verschwunden war, und stoppten so für ein paar Augenblicke den Blutschwall. Die Alte murmelte irgendetwas und warf ein paar Handvoll Erde zum Trocknen auf die Wunde. Dann stopfte sie Stroh zwischen Imans Oberschenkel, um das Blut aufzufangen.

Die ganze Nacht über hatte Iman vor Schmerz gezittert. Die Frauen saßen um sie herum und murmelten Wörter, die sie nicht verstand. Ihre Mutter hatte ihr ein Amulett aus Bernstein auf die Stirn gelegt.

Die Alte hatte drei Mal das Stroh gewechselt und anschließend sorgfältig die Stelle zwischen Imans Beinen inspiziert. Die anderen warteten still auf ihr Urteil. Iman ließ sie nicht aus den Augen. Wie viele Knospen wie ihre hatte sie am Blühen gehindert? Wie viele Strohbündel hatte sie rot getränkt? Zweifellos waren es tausende. Sie war dabei, diese Welt zu verlassen, das spürte sie. Die Geräusche waren dumpfer, das Licht trüber geworden. Nur der Schmerz hielt sie noch in diesem Zimmer. Wie eine glühende Fackel zwischen ihren Schenkeln. Ihr Bauch war ein einziges Brennen.

Die Alte nickte, die Frauen lächelten, zum ersten Mal. Sie strichen ihr übers Haar. Iman fühlte, dass sie langsam zu ihnen zurückkehrte. Einen Augenblick lang glaubte sie, sie wäre gerettet – verstümmelt, aber gerettet. Einen Augenblick nur, denn die Alte hatte sich von Neuem mit dem Messer und der Rasierklinge bewaffnet, ihr die äußeren Schamlippen gespreizt, über die gesamte Länge ausgeschält und sie anschließend zusammengepresst, damit das trocknende Blut sie zusammenklebte. Imans Mutter hatte ehrfürchtig den Holzteller angereicht, und die Alte vollendete ihr Werk, indem sie das kindliche Geschlecht mit zehn Akaziendornen durchstach, um es zu verschließen. Diesmal hatte die Kleine nicht einmal Zeit zum Schreien gefunden. Oder wahrzunehmen, wie die Alte zwischen ihre geschundenen Lippen einen Strohhalm schob, der gerade einmal den lebensnotwendigen Platz ließ.

Weißes Licht hatte sie geblendet, dann kam die Ohnmacht. Seitdem ging sie wie die allermeisten Somalierinnen zugenäht durchs Leben, mit einer monströsen Narbe, die ihr Geschlecht verschloss, bis der für sie erwählte Mann sie eines Tages so weit aufschneiden würde, dass zum Eindringen gerade ausreichend Platz war, und sie ihm hoffentlich ein Kind schenkte, am besten einen Jungen. Erst dann käme die Alte zurück und würde sie für die Dauer der Geburt mit der Rasierklinge befreien, bevor man sie wieder zunähte.


Neun Jahre nach dieser Folternacht bildeten die Spuren der Dornen einen Kranz aus ungleichmäßigen Einbuchtungen, krumm und schief wie jene, mit denen die zertrümmerten Straßen und Gebäude der Frontlinie gespickt waren.

Eine frische Brise wehte vom Meer herauf und zog durch die Kathedrale. Assan warf einen zärtlichen Blick auf seine Tochter, die nun in Jungenkleidern steckte. Lange schon träumte er von einem Sohn, mit dem er aufs Meer hinaussegeln könnte. Gott hatte anders entschieden, also ging er jeden Tag allein fischen und ließ seine Frau mit den drei Töchtern zuhause.


Asma, seine Ehefrau, sollte niemandem die Tür öffnen. Seit die Kämpfe begonnen hatten, misstraute jeder jedem. An diesem Morgen hatte sie, nachdem ihr Mann aufgebrochen war, vor ihrer Tür das Motorengeräusch eines Pick-ups gehört. Durch die Lamellen der hölzernen Fensterläden glaubte sie, Abdou zu erkennen, einen Jungen aus dem Viertel, der vor dem Krieg Iman versprochen worden war. Seit Abdou sich den Mooryans angeschlossen hatte, nannte er sich „Dirty Harry“ und hauste in den Ruinen am Meer.

Abdou war vom Pick-up gestiegen und zog die alte Beschneiderin hinter sich her. Die Hälfte ihres Gesichts war von einem Gewehrkolben zertrümmert worden. Asma begriff sofort, dass er Iman holen und aufschneiden lassen wollte. Mit einer Salve aus dem Maschinengewehr hob er die Tür aus den Angeln. Der Junge war völlig von Sinnen. Asma flehte ihn an, die Familie zu verschonen, im Namen der Liebe, die er versprochen hatte, als er sittsam neben seiner Verlobten auf der Matte kniete und Tee nippte. Hinter sich versteckte sie die beiden Kleinen.

Dirty Harry forderte, was ihm zustand. Alle Muskeln seines Körpers zuckten, als ob sie sich durch das Khat und die Amphetamine selbstständig gemacht hätten. Wie losgelöst betätigte sein Finger den Abzug. Die Salve riss Mutter und Kinder entzwei. Dann zerquetschte er mit einem Stiefeltritt die Kehle der am Boden liegenden Alten, ohne auch nur hinzusehen.

Iman sah nicht, wie ihre Schwestern starben, sie war über das Dach geflohen. Eine Weile lang hatte sie sich in der Karosserie eines explodierten Taxis zusammengekauert, als ob sie darin dem Krieg davonfahren könnte. Dann war sie, ohne sich um Pick-ups und Scharfschützen zu kümmern, auf der Suche nach ihrem Vater zum Hafen hinuntergelaufen.

Als er ihr an den Kais begegnete, wurde ihm sofort klar, was er verloren hatte. Seine Tochter flehte ihn an, zurückzugehen und ihre Familie zu bestatten, aber er weigerte sich, auch nur eine weitere Nacht in diesem Land zu verbringen, wo Jungen ihre Namen änderten und Mädchen zugenäht wurden. Soeben hatte der Krieg sein Leben umgekrempelt. Er war kein Fischer mehr wie sein Vater. Er würde seine Netze nicht mehr aus dem Wasser ziehen und dabei die sanften Hügel von Mogadischu in der Ferne liegen sehen. Nie mehr würde er auf dem großen Markt Parfum kaufen, um das Ende des Ramadan zu feiern. Ein Schatz war ihm geblieben, und diesen würde er in Sicherheit bringen. Der Weg war ihm gleichgültig, er würde ihn auf sich nehmen. Er würde laufen, bis ihm die Füße abfielen, um Iman weit fort von dem Blut und den Schreien zu bringen, um Tausende von Kilometern zwischen sie und diesen Wahnsinn zu bringen, selbst wenn er dafür stehlen und töten müsste. Nichts würde ihn aufhalten. Das versprach er vor Gott.

Über den Ruinen von Mogadischu war die Sonne untergegangen. Assan hatte aus einem Stück Pappe einen provisorischen Gebetsteppich gemacht, sich hingekniet, zu Boden gebeugt und das Gebet gesprochen, mit dem man sich vor großen Gefahren wappnete.

„Hasbi Allah wa ni’ma l-wakil.”

Einen Augenblick lang ließ er die Worte in der Stille nachklingen, dann wiederholte er:

„Nur Gott steht mir zur Seite.“


Er ging wieder zur Kathedrale hinauf und sagte Iman, sie solle sich in den Ruinen versteckt halten und auf ihn warten. Sämtliche Schlepper des Hafens kannten ihn, trotzdem würde ihm keiner von ihnen Kredit gewähren. Er achtete darauf, dass ihn die Pick-ups nicht bemerkten und schlug sich bis zum Haus der Alten durch. Schließlich wusste er, dass sie sich jeden ihrer Schnitte im Voraus und in Dollar bezahlen ließ. Er stellte das Haus so lange auf den Kopf, bis er schließlich ihre Ausbeute fand. Ein Bündel säuberlich gestapelter grüner Scheine, die sie in einen Plastikbeutel gewickelt und in der Küchenwand zwischen zwei Backsteine gestopft hatte. Genug für die Überfahrt.

Imans Freiheit würde er mit Geld erkaufen, das man Müttern abknöpfte, um ihre Töchter hinter einen Zaun aus Dornen zu sperren.

Assan ging zurück zu Iman. Wieder flackerte Scheinwerferlicht durch die Kathedrale und brachte die Schatten zum Tanzen. Der Pick-up hielt an. Vater und Tochter schreckten zusammen. Dirty Harry und seine Männer durchwühlten die Schuttberge. Wer das Land verlassen wollte, suchte oft hier Schutz und wartete mit dem Geld für die Überfahrt auf ein Schiff. Von den Schleusern bekamen die Mooryans Bescheid und versuchten, sich ihren Anteil zu sichern. Als Gegenleistung ließen die kleinen Killer sie ungestört ihren Geschäften nachgehen.

Sobald sie Abdous Stimme hörte, begann Iman wieder zu zittern. Ein paar Männer feuerten mit den Überresten einer hölzernen Madonna ein Kohlenbecken an. Das Khat wanderte von Mund zu Mund. Einer der Jungen rollte zum Spaß die Frauenleichen mit den gefesselten Händen hin und her.

Das rote Licht der Flammen drang beinahe bis in den Winkel, in dem Assan und Iman kauerten. Er tastete noch einmal nach seinen Dollars. Sie rückte noch näher an ihn heran.

„Für alle anderen bist du jetzt ein Junge, das ist sicherer.“

Sie nickte. Ein Jugendlicher im Drogenrausch kam auf sie zu. Er knöpfte seine Hose auf und erleichterte sich direkt über ihnen. Das Schiff würde in zwei Stunden ablegen, vor ihnen lag eine lange Reise. In diesem Augenblick fragte sich Iman, wie sie es anstellen sollte, als Junge zu pinkeln.

Chanchal



Chanchal verließ das Restaurant und verwünschte den Tag, an dem die Großmutter ihm zum ersten Mal seinen Namen ins Ohr geflüstert hatte. Seine Finger waren von Dornen zerstochen und schmerzten. Er lief die Rue Jules-Ferry hinauf, durchquerte die kleine Parkanlage bis zum Place Amedée Soupault, setzte sich dort auf eine Bank vor dem Musikpavillon und zählte seine Blumen. Sechsundzwanzig. In drei Stunden hatte er bloß eine Blume an ein amerikanisches Paar aus Cody in Wyoming verkauft, das zufällig in der einzigen Pizzeria von Villeneuve-le-Roi gestrandet war.

Vom Kirchturm gegenüber schlug es neun Uhr. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Chanchal musterte die Umgebung, an die er sich seit zwei Jahren nicht gewöhnen konnte. Viel zu übersichtlich, zu sauber, zu aufgeräumt und quadratisch, mit passenden Plätzen für alles und allem am richtigen Platz. Sie hatte nichts gemein mit dem Chaos von Dhaka, seinem Unrat, den ineinander verschlungenen Leibern auf dem nackten Gehweg, seinen Amputierten, den Ratten und Schlangenverkäufern, seinem Mikado aus Baugerüsten, das die niemals fertiggestellten, aber bereits bewohnten Gebäude umarmte, den heruntergekommenen Gassen, in denen sich uralte Autos stauten, vor allem aber dieser Mischung aus Gerüchen, denen weder Seifen noch Deodorants, Cremes, Putz- oder Desinfektionsmittel beikamen … All diese Mittel, mit denen man hierzulande die Aromen neutralisierte, die guten wie die schlechten, als ob man, um zusammenzuleben, sich nicht mehr riechen dürfte.

Bei ihm dagegen roch der Totengräber nach Tod, der Schreiber nach Papier, und niemand rümpfte die Nase darüber, dass es nach Pisse roch, wo man seine Blase entleerte.

Wolken, zart wie Tüll, erfrischten die Stadt mit einem leichten Schauer. Nichts, was einen Bangladescher erschrecken konnte, doch die Rosen vertrugen die Feuchtigkeit schlecht, also suchte er Schutz unter dem Pavillon und wartete.

Ebenso wie seine Landsleute konnte Chanchal warten. Stunden, Tage, Monate, wenn nötig. In Bangladesch wird einem das Warten zur zweiten Natur. Die Geografie formt den Charakter. Man ist geduldig, bescheiden und schicksalsergeben. Eine Frage des Überlebens. Jedes Jahr verwandelt der Monsunregen das Land vier Monate lang in eine Waschküche. Eine Sturzflut aus nussgroßen Tropfen erschlägt die Vögel im Flug und erdrückt die Fische in den Flüssen. Sie fallen dicht wie Trauben, setzen Häuser unter Beschuss, bis sie zerreißen, fluten Felder und Gärten. Und wenn schließlich alles unter Wasser steht, schrauben sich wie Schlangen die Zyklone in die Höhe und gehen dann über dem Wenigen nieder, das noch steht. Also schwimmt man zu den durchlöcherten Dämmen, den einzigen Zufluchtsorten, die über jenes riesige Leichentuch aus Wasser hinausragen, unter dem totenstill das Land liegt.

Man schwimmt, trägt dabei alles auf dem Rücken, was zu retten war, einen Alten oder einen Fernsehapparat, versammelt sich mit den anderen, bis schließlich alle mit den Füßen im Schlamm auf einem Fleck festsitzen wie die Reiher in der Reiherkolonie und ergeben darauf warten, dass sich das Wasser zurückzieht.

Neben Geduld und Demut verlangt die Geografie von den Bangladeschern eine einzigartige Anpassungsfähigkeit. Nach jeder Überschwemmung warf Chanchals Vater das Fischernetz über den Resten seines Hauses aus. Zusammen mit den Fischen förderte er manchmal Kleidung, ein Spielzeug oder sonst etwas aus dem Besitz der Familie zutage.

Wenn das Wasser sich zurückzog, war die Erde fett und schön wie eine Frischvermählte, und sein Vater bastelte aus dem, was der Wind hergeweht hatte, einen behelfsmäßigen Unterschlupf. Bis zum nächsten Monsun war er wieder Bauer.

Chanchals Eltern stammten aus einem Dorf bei Sylhet, im Norden Bangladeschs. Als sie so nah am Wasser nicht mehr leben konnten, zogen sie in eine Schilfhütte, die genau dort lag, wo der Gebirgszug des Himalaya endet und von der indischen Grenze an steil abfällt, um viertausend Meter tiefer in das riesige Becken überzugehen, wo sich hundertvierzig Millionen Bangladescher drängen. Wie eine Reuse liegt das Land auf einer Höhe mit dem Wasser, nach Norden hin abgeriegelt durch die schwindelerregenden Hänge des Himalaya, nach Süden hin offen zum bedrohlichen Schlund des Golfs von Bengalen.

Als ob Monsunregen und Zyklone zur Charakterbildung nicht genügten, speit das Meer in regelmäßigen Abständen tödliche Flutwellen aus. Sie steigen bis hoch in den Norden, radieren Städte wie Dörfer aus und spülen Boote und Kühe über die Palmen hinweg. Dabei erreichen sie eine derartige Höhe, dass weder Schwänze noch Segel erkennbar sind. Dann zieht das Wasser sich zurück und erlaubt den Menschen, ihre Toten zu zählen. Einhunderttausend, zweihunderttausend, fünfhunderttausend – in jenem einen Jahr.

Nur die Leichen in ihrer unfassbaren Biegsamkeit bleiben ganz. Als Kanta, Chanchals Mutter, ihre toten Töchter fand, waren diese bizarr verrenkt. Die erste, die ein paar Meter weit vom Haus angespült worden war, steckte mit Kopf und Schultern auf einem Jutefeld im Schlamm wie eine umgedrehte Vogelscheuche. Eine nicht ganz drei Jahre alte Vogelscheuche.

Die anderen beiden, Zwillinge, hingen mehr als zwanzig Kilometer von dort Arm in Arm in den Ästen eines großen Salbaums, eines heiligen Baums, mit dessen Harz man die Tempel parfümiert. Fünf Meter über ihnen baumelte eine Kuh, der von einer Kühlschranktür der Leib aufgerissen worden war, und hatte mit ihrem Blut die Schenkel der Mädchen rot gefärbt. Kanta begriff auf der Stelle, dass die Seelen ihrer Kinder sich längst auf die Reise gemacht hatten.

Am Tag nach der Bestattung verließen sie, ihr Mann und die beiden Söhne Sylhet, um die Slums von Dakha zu vergrößern.

Chanchals Start ins Leben war nicht einfach. In Dakha atmete sein Vater beim Schmelzen von Recycling-Metallen giftige Dämpfe ein, die Mutter nähte ebenso wie tausende Kinder kilometerweise Säume für große Modefirmen. Die meisten von ihnen hatten, um ein paar Rupien zu verdienen, ein falsches Alter angegeben. Die Arbeitsplätze waren so eng, dass man den Stoff, an dem man nähte, unmöglich wieder aufheben konnte, wenn er einmal hinuntergerutscht war. Man musste einen Aufseher rufen, der einem sofort den Arm mit einer über dem Feuerzeug erhitzten Nadel markierte. Am Ende des Arbeitstages schob eine Art Puffmutter den Näherinnen die Ärmel hoch und zählte die Einstiche. Jeder Stich gab einen Abzug vom Lohn.

In diesem letzten Monat entglitt Kanta alles. Die Stoffstücke ebenso wie ihr Schicksal. Sie lebte mit dem Bild ihrer toten Töchter, der schlammbedeckten Körper, und spürte dabei die Tritte Chanchals, der noch in ihrem Bauch schwamm. So wurde man hierzulande geboren, so starb man: mit den Lungen voller Wasser.

Jeden Morgen bezahlte die Puffmutter sie für die Arbeit des Vortags. So konnte sie ihnen am selben Abend noch einen Teil des Geldes wieder abnehmen, für die Einstiche und andere Verstöße wie Toilettenbesuche außerhalb der Pausen.

Eines Morgens, nachdem Kanta sich gerade auf ihren Platz gesetzt hatte, brachte sie Chanchal zur Welt, der als blau angelaufene Frühgeburt unter ihrer Nähmaschine landete. Kanta durchschnitt die Nabelschnur mit ihrer Stoffschere, und weil sie ihn für tot hielt, schob sie ihn mit dem Fuß unter ein paar Saumreste, denn sie wollte außer ihrem Kind nicht auch noch die Arbeit verlieren.

Eine Ratte, die sich an seinem Ohr zu schaffen machte, holte ihn ins Leben zurück.

Kanta weinte zweimal. Zuerst wegen ihres dritten Sohnes, auf den sie schon so lange gewartet hatte, danach wegen der Seele ihrer kleinen Vogelscheuchentochter, deren Wiedergeburt sie in der flüchtigen Silhouette des kleinen, rundlichen Nagetiers zu erkennen glaubte.

Chanchal blieben von diesem schwierigen Anfang ein zierlicher Körperbau und das engelsgleiche Lächeln – sicher deshalb, weil er die Engel schon aus der Nähe gesehen hatte. Seine Eltern dachten lange nach, bis sie sich für seinen Vornamen entschieden. Dem Glauben der Hindus gemäß erleuchtet und bestimmt er den Weg dessen, der ihn trägt. Er entscheidet über sein Schicksal, seine Stärken und seine Schwächen.

Seine Großmutter war es schließlich, die ihm den Namen ins Ohr flüsterte, am zwölften Tag nach der Geburt, wie es die Tradition verlangt. Er lautete Chanchal. Chanchal bedeutet „der Rastlose“.

Sie hatte hinzugefügt:

„Auf dass der Name dir Kraft schenke, wenn du aufbrechen musst, denn du bist auserwählt für die Fremde, und wir alle zählen auf dich und deinen Lebensmut.“

Siebzehn Jahre später machte sich der „Rastlose“ auf den Weg.

Chanchal verließ den Park, um dem Glück verliebter Paare entgegenzutreten, er, der Einsame, der Geopferte. Ihm blieb eine Stunde, um vielleicht noch ein paar Blumen zu verkaufen. Seit seiner Ankunft in Frankreich hatte ihn keiner mehr beim Vornamen genannt, und er hätte nie damit gerechnet, dass er ihn eines Tages sogar vergessen könnte. Auch das bedeutet Exil, ein paar Buchstaben, mit Liebe ausgesucht, damit sie einen ein Leben lang begleiten, und die ganz plötzlich so gründlich ausgelöscht werden, dass sie für niemanden mehr existieren.

Dabei hatten sie in so vielen Nächten seine kindlichen Ängste gelindert, wenn seine Mutter sie ihm zärtlich ins Ohr flüsterte, ihm dabei mit einer Hand über die Stirn strich und mit der anderen die Fliegen verscheuchte … So oft hatten sie ihn zum Taumeln gebracht, mit weichen Knien und angehaltenem Atem, wenn die helle Stimme einer zierlichen Gestalt, die auf dem Weg zum Tempel vor ihm herging, sie ihm zuhauchte.

Dann, ganz plötzlich, nichts mehr. Stille. Ein brutaler Entzug, der ihn, achtzehnjährig, weit fort von zuhause seinem Schicksal überließ, ohne Jahrgang und Herkunft, wie eine Flasche mit abgerissenem Etikett. Voller Angst, sich in Luft aufzulösen, hält er nun regelmäßig inne und sagt laut:

„Ich heiße Chanchal, bin neunzehn Jahre alt und vor achtzehn Monaten, neun Tagen und sieben Stunden aus Bangladesch hier angekommen. Ich verkaufe Rosen in Villeneuve-le-Roi und bin am Leben. Chan … chal … Chan … chal …“

Er betont jede einzelne Silbe, so wie seine Mutter es tat, als er klein war und sie ihm seinen Namen beibrachte.

Bevor er den Sprung wagte, hatte sich Chanchal auf alles eingestellt, was ihm auf der Reise begegnen konnte: Dreck, Angst, die Gewalt der Schlepper, Diebstähle, Hunger, Raffgier, das Risiko zu ertrinken, Flöhe und Krätze. Nicht aber auf diese Einsamkeit. An manchen Tagen sprach er kein einziges Wort. 

Seine Blumen streckte er Paaren entgegen, die ihn und seine Rosen ohne einen Blick, manchmal mit ungehaltenen Gesten, weiterschickten zum nächsten Tisch.

Beklommen sah er zu, wie sie einander Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterten und Händchen hielten.


Achttausend Kilometer entfernt vom Val-du-Marne, zwischen den Blechwänden einer Baracke in Dhaka, wanderte sein Name von Mund zu Mund, wie eine Liebkosung, ein Kuss. Selig malten sich die Eltern seine ordentlich gepflegten Anzüge und Gürtel mit Gürtelschnallen aus, voller Trauer darüber, dass sie seine Stirn nicht küssen konnten. Die Schwestern träumten davon, ihm die Schuhe auszuziehen und seine Füße zu massieren, ihn wie einen König auf bestickte Kissen zu betten und seine Geschichten wieder und wieder zu hören.

Hier jedoch: nichts. Niemand machte sich Gedanken über seine Nächte zwischen Pappkartons, über diesen Geruch nach Katzenwäsche auf Tankstellentoiletten – obwohl er doch Bäder mit Jasminblütenduft so liebte.

Manchmal lastete die Unsichtbarkeit so sehr auf ihm, dass sein Körper ihn entgegen aller inneren Widerstände vor das Kommissariat lotste. Er setzte sich auf die Bank gegenüber, starrte den diensthabenden Wachmann an und hoffte, dieser möge ihn verhaften, damit endlich jemand mit ihm spräche.

Für ein paar Worte war er bereit, sich auszuliefern, so wie man nach Jahren der Abstinenz der Versuchung erliegt, doch wieder einen Schluck zu trinken oder an der Zigarette zu ziehen, weil es einfach zu schwer wird, zu unerträglich, härter noch, als zurück auf Los zu gehen. Der Kater am Morgen danach, der Raucherhusten, tausende Kilometer im Zickzackkurs von Grenze zu Grenze, die Stunden im Lkw-Anhänger, die ihn fast das Leben gekostet hätten, das geliehene Geld und die gebrochenen Versprechen gegenüber seiner Familie, die er zurückgelassen hatte, all das war egal.

Egal auch die Rückreise per Chartermaschine und in Handschellen.

Gleichgültigkeit und Einsamkeit können manchmal wirksamer sein als jede Polizeikontrolle.

Als er auf der Bank saß, streckte Chanchal ihnen praktisch schon seine Handgelenke entgegen. Aber nicht einmal die Wache nahm ihn wahr. Also stieß er eines Tages voller Verzweiflung die Tür auf.

Uniformen, Zellen, alles sah genauso aus wie in seinen Albträumen. Dieser Ort roch nach Warten und Schweiß.

Der Beamte am Empfang sortierte Papiere und streifte ihn mit einem flüchtigen Blick.

„Worum gehts?“

Chanchal holte tief Luft.

„Monsieur, ich bin ein Illegaler.“

Zum ersten Mal seit Monaten ließ sich jemand herab, ihn wirklich anzusehen.

„Wie heißt du?“

Eines Tages hatte ihm ein Brahmane in Dhaka dieselbe Frage gestellt. Er dachte voller Stolz daran zurück. Der Priester wollte wissen, wer in der Klasse zwei der Reinkarnationen Vishnus nennen konnte. Chanchal war nicht besonders gläubig, aber Vishnu verwandelte sich genau wie Goldorak, um die Welt zu retten, und Chanchal liebte Goldorak, auch wenn er keinen Fernseher besaß, mit dem er dessen Abenteuer hätte miterleben können. Also lauschte er seinem Großvater, wenn dieser von Vishnus Heldentaten erzählte, und stellte sich den Gott bis an die Zähne bewaffnet und in Rüstung vor.

Er zeigte als erster auf.

„Vishnu hat sich in einen Fisch verwandelt, weil er die Welt vor der Sintflut retten wollte …“

Der Priester lobte ihn.

„Und in welcher Gestalt ist er noch erschienen?“

„Als Eber, damit er den Dämon bekämpfen konnte, der die Erdgöttin auf den Grund des Ozeans geworfen hat.“

„Ausgezeichnet!“

Der Priester fragte ihn nach seinem Namen.

„Ich heiße Chanchal.“

Er bat ihn, aufzustehen und ließ die anderen Schüler applaudieren.

„Wie alt bist du?“

„Ich bin acht.“

Noch einmal ließ er die Kinder klatschen.

„Bravo Chanchal, du wirst es weit bringen …“

Zehn Jahre später war er in Villeneuve-le-Roi.


„Wird das heute noch was mit dem Namen?“, murrte der Polizist am Empfang.

„Ich heiße Chanchal, Monsieur. Chanchal Ventkat.“

Wie Honig flossen ihm die Worte von den Lippen. Er wurde wieder zu jemandem.

„Woher kommst du?“

Plötzlich empfand Chanchal tiefes Heimweh.

„Aus Bangladesch, Monsieur.“