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Corinna Kastner

Eileens Geheimnis

Roman

hockebooks

Für Jörg und für Guernsey –
– zwei meiner Leidenschaften

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit Eileens Geheimnis möchte ich Sie auf die mystisch-schöne Kanalinsel Guernsey entführen. Ich verlange kein Lösegeld von Ihnen. Ich bin nämlich sicher, Sie werden da sowieso gar nicht mehr weg wollen!

Die Kanalinseln, von denen Guernsey die zweitgrößte ist, gehören zu Großbritannien, liegen aber näher an Frankreich – und waren sehr lange heftig umkämpft von beiden Seiten. Daraus hervor ging eine faszinierende Mischung aus beiden Kulturen – sowohl in der Sprache, deren Englisch mit vielen französischen Wörtern durchsetzt ist, als auch in der Küche. Die Landschaft ist traumhaft: steile Klippen im Süden, sanfte Strände im Norden – und dazwischen lauschige kleine Dörfer.

Mich hat diese Insel sofort für sich eingenommen, als ich zum ersten Mal dort war. Nach einer sehr hektischen und lauten Woche in London kam sie mir vor wie das Paradies. Und als ich mir den Schauplatz für meinen ersten Roman überlegte, der tatsächlich veröffentlicht werden sollte, kam mir gleich Guernsey in den Sinn.

All die Schönheiten dieser Insel kann Nathalie jedoch nicht sehen, denn sie ist blind. Trotzdem reist sie gemeinsam mit Raymond und Daniel auf die Insel, um ein Geheimnis zu lösen, das mit einem Grab beginnt – Eileens Grab, das auf dem Friedhof in St. Martin liegt. Auf rätselhafte Weise wird Nathalie in Eileens Welt in den 1950er Jahren hineingeworfen, erlebt mit ihr das größte Glück und den schrecklichsten Alptraum: Geschehnisse, die auf Guernsey zur Legende geworden sind, doch die Wahrheit kennt niemand. Bis Nathalie und der Mann, den sie liebt, sich daran machen, die Fäden des Schicksals zu entwirren.

Es würde mich freuen, wenn Ihnen die Reise nach Guernsey beim Lesen so viel Spaß macht, wie sie mir beim Schreiben gemacht hat – und bei vielen Aufenthalten auf der schönsten Insel der Welt.

Vergnügliche Lesestunden wünscht herzlich

Corinna Kastner

Prolog

Die Mistinguette, eine zweimastrige Ketsch, schaukelte ruhig auf dem Meer im Golf von St. Malo. Nichts war zu hören außer dem leisen Klatschen der Wellen, wenn sie auf das Segelboot trafen. Nathalie genoss die Stille und die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Körper. Eine ganze Weile hatte sie sich schon diesem absoluten Nichtstun hingegeben, jetzt richtete sie sich träge blinzelnd gerade weit genug auf, um an die Thermoskanne mit dem Eistee zu kommen und sich ein Glas einzuschenken. Zwei Meter von ihr entfernt saß Philippe und blätterte in einem dünnen Büchlein, das er nach eigenem Bekunden schon immer mal hatte lesen wollen: Der alte Mann und das Meer.

Nathalie ließ sich wieder zurücksinken und schaute hinauf in den Himmel, an dem bizarre Wolkenformationen vorbeizogen. Diese dort hatte zum Beispiel Ähnlichkeit mit einem Drachen, aber noch während Nathalie hinschaute, veränderten sich die Konturen und glichen plötzlich denen einer Frau in einem langen weißen Kleid, die den Arm nach ihr auszustrecken und zu winken schien. Ganz langsam breitete sich das Kleid der Frau aus und wurde leicht transparent, so dass man das Blau des Himmels dahinter erahnen konnte – doch der Arm blieb erhoben in der winkenden Geste.

Fasziniert und ohne jedes Zeitgefühl starrte Nathalie nach oben, bis der Hintergrund nachtdunkel und dadurch beinah bedrohlich wurde. Sturm kam auf und riss den Arm der Frau vom Rest des Körpers, zerfetzte das Kleid. In Nathalies Ohren dröhnte es überlaut, jemand rief ihren Namen und berührte ihre Schulter. Erschrocken schüttelte sie die Hand ab, die Hand der Frau in dem weißen Kleid.

»Jetzt wach schon auf, Nathalie«, sagte eine ungeduldige Stimme.

Verwirrt öffnete Nathalie die Augen und sah Philippe über sich gebeugt. »Na endlich.« Er richtete sich auf und zeigte in den Himmel. »Das da gefällt mir überhaupt nicht. Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen.«

Es bereitete Nathalie Mühe, seinen Worten zu folgen, zu sehr war sie noch in ihrem Traum verhaftet, wusste nicht mal, wie lange sie geschlafen hatte. Doch als sie schließlich wahrnahm, was Philippe meinte, bemühte sie sich, schnell auf die Beine zu kommen. Das war recht schwierig, weil die Mistinguette keineswegs mehr so ruhig auf dem Wasser schaukelte wie vorhin, sondern hin und her geworfen wurde. Nathalie stand kaum, als ein Ruck durch das Boot ging und sie fast wieder zu Boden schickte. Eilig streifte sie ihre Jeans und ihr T-Shirt über, durch das der Wind jedoch so gut wie hindurchblies. Sie begann zu frösteln.

»Wird das ein Sturm?«, fragte sie.

»Will ich nicht hoffen, aber es ist besser, wir segeln so schnell wie möglich zurück. Der Wind weht in die falsche Richtung, wir werden eine Zeitlang brauchen, bis wir in St. Malo sind. Stell dich ans Steuerrad, ich hol die Segel ein.«

Nathalie kannte sich nicht gut mit Segelbooten aus und hatte nur ein-, zweimal das Steuer bedient, mehr aus Spaß als alles andere. Jetzt blieb ihr keine Wahl, vom Einholen der Segel wusste sie überhaupt nichts.

»Halt das Steuer genauso so, mehr musst du nicht tun«, gab Philippe Anweisungen.

Das allerdings gestaltete sich schwer genug, je stärker Wind und Wellen wurden. Die Küste vor St. Malo war am Horizont zu sehen. Nathalie kam das nicht sehr weit vor, aber Philippe hatte mehr Ahnung und war sicher nicht umsonst besorgt. Ein Windstoß, auf den sie nicht vorbereitet gewesen war, erfasste Nathalie, die deshalb kurzzeitig das Steuerrad losließ. Die Mistinguette reagierte prompt und machte eine plötzliche Bewegung nach Backbord, wodurch Philippe den Halt verlor. Fluchend rappelte er sich wieder auf.

»Halt das Ding fest!«, brüllte er zu ihr herüber. Jedenfalls klang es in etwa so, sie konnte seine Worte kaum noch verstehen, weil der Wind tatsächlich atemberaubend schnell in Sturm umgeschlagen war. Während ihr die ersten Regentropfen aufs Gesicht fielen, griff sie wieder nach dem Steuer und hielt es krampfhaft fest, aber offensichtlich auf dem falschen Kurs. Philippes Stimme waren nicht mehr als ein paar unartikulierte Töne zu entnehmen, seinen Gesten nach sollte sie das Steuerrad herumreißen. Nach einer Weile, die wie eine Ewigkeit schien, hatte er die Segel eingeholt und kam zu ihr herübergeschlittert.

»Das Besansegel hat’s nicht ganz überstanden«, schrie er Nathalie über den Sturm zu, dann nahm er ihr das Ruder ab und deutete in die Kajüte. »Unter der Sitzbank da drin sind die Rettungswesten. Schaffst du es, die zu holen?«

Bisher war Nathalie ein bisschen mulmig zumute gewesen, aber die Erwähnung der Westen machte ihr nun ernsthaft Angst. Sie nickte jedoch widerspruchslos und hangelte sich die Reling entlang langsam zur Kajüte vor. Der Regen hatte zugenommen, Philippe und Nathalie waren beide durchnässt, und selbst wenn keine große Gefahr bestehen sollte, über Bord zu gehen, boten die Westen wenigstens ein bisschen Schutz vor der Kälte.

In der Kajüte stolperte Nathalie über einen Haufen Zeug, das durch den Sturm aus Regalen und sogar dem kleinen Einbauschrank gefallen war, dessen Türen sperrangelweit offen standen. Sie fand die Westen und streifte eine schnell über, nahm sich jedoch nicht die Zeit, sie ordentlich festzuzurren, bevor sie sich mit der zweiten auf den Weg zu Philippe machte. Nur zwei, höchstens drei Minuten war sie in der Kajüte gewesen, doch draußen hatte sich die Welt verändert. Es war noch dunkler geworden, der Regen peitschte ihr entgegen, und sie erkannte Philippe nur noch schemenhaft, der mit aller Anstrengung das Ruder umklammert hielt.

Die Mistinguette konnte sich nicht entscheiden, ob sie nach Steuerbord oder Backbord geschleudert werden wollte, und riss Nathalie mit sich mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Bis zu Philippe waren es nur wenige Schritte, doch die schienen unüberwindlich. Philippe rief ihr irgendetwas entgegen, von dem sie kein Wort verstand, auch nicht, als er es lauter wiederholte. Um sie herum brodelte es, der Sturm blies ihr die klatschnassen Haare wild ums Gesicht und brüllte in ihren Ohren. Dann plötzlich sah sie von rechts einen Schatten auf sich zukommen. Bevor sie sich fragen konnte, was dieser Schatten war, duckte sie sich instinktiv, aber nicht früh genug. Sie wurde hart am Kopf getroffen, und selbst die dunkelste Umgebung auf dem Meer wäre ihr wie helllichter Tag vorgekommen verglichen mit dem Schwarz, das sie von einer auf die andere Sekunde umgab.

Als Nathalie wieder zu sich kam, überfiel sie eine Welle der Übelkeit. Sie rollte sich auf die linke Seite und übergab sich. Erschöpft blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und lauschte nur den Geräuschen um sich herum. Der Sturm musste nachgelassen haben, die Mistinguette schaukelte genauso sanft auf dem Meer wie vor dem Unwetter. Nathalie war nicht mal besonders kalt, obwohl ihre Jeans und das T-Shirt nach wie vor an ihr klebten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass beides nicht mehr nass, sondern nur noch feucht war und sie von oben Sonnenstrahlen wärmten.

Leise stöhnend setzte Nathalie sich auf. Ihr Schädel brummte furchtbar, und sie erinnerte sich, dass sie irgendetwas am Kopf erwischt hatte, bevor sie ohnmächtig wurde – vielleicht der Besanbaum, der aus seiner Verankerung gerissen war. Weil sie sich vor der plötzlichen Helligkeit fürchtete, saß sie da mit geschlossenen Augen und hielt sie wie zum doppelten Schutz mit den Händen bedeckt.

»Philippe?«, brachte Nathalie schließlich krächzend heraus, bekam aber keine Antwort. Sie versuchte es noch einmal, doch wieder blieb alles still. Nur das leichte Rauschen der Wellen war zu hören und hinter ihr ein Klong-Klong, hervorgerufen von einem Stück Metall, das in unregelmäßigen Abständen gegen einen Mast klapperte.

Es kostete Nathalie einige Überwindung, die Augen zu öffnen, aber vielleicht lag Philippe verletzt an Bord, und wenn sie einfach so hier sitzen blieb, würde sie ihm kaum helfen können. Zögernd blinzelte sie ein wenig. Aus irgendwelchen Gründen drang keinerlei Licht zwischen ihren Fingern hindurch, dabei konnte unmöglich schon Nacht sein, immerhin hatte sie gerade die Sonnenstrahlen gespürt.

Nathalie nahm die Hände herunter und starrte geradeaus. In grenzenlose Dunkelheit.

Dann begann sie zu schreien, bis der Himmel und das Meer von diesem einzigen Ton erfüllt waren und die ganze Welt nur noch aus ihrem Schrei zu bestehen schien.

Erster Teil

1.

Mit einem Ruck fuhr Nathalie hoch, ihr Herz raste, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Aus weiter Ferne drang ein Geräusch wie durch Nebel in ihren Verstand.

»Nathalie! Was hast du denn?«

Sie brauchte ein, zwei Sekunden, bis sie einordnen konnte, dass das Geräusch zu einer Tür gehört hatte, die aufgerissen worden war, und dass sie nicht mehr auf der Mistinguette lag, sondern im Gästebett bei ihrer Freundin Florence. Genau genommen lag sie nicht im Bett, sie saß aufrecht, wie damals auf dem Segelboot. Wie damals vor drei Jahren, als sie zum ersten Mal die Augen aufschlug und nichts mehr sehen konnte. Und ebenso wie damals musste sie geschrien haben.

Nathalie holte tief Luft, versuchte, die Erinnerung abzuschütteln und wieder regelmäßig zu atmen. Eigentlich sollte sie sich allmählich daran gewöhnt haben, dass sie von Zeit zu Zeit nachts gezwungen wurde, den Unfall von Neuem zu durchleben. Aber davon konnte keine Rede sein. Jedes Mal war der Traum genauso schlimm wie die Realität, in nichts wich er vom tatsächlichen Geschehen ab. Jedenfalls nicht bis zu der Stelle, an der sie diesmal aufgewacht war.

»Geht’s wieder?«, erkundigte sich Florence, die mittlerweile neben ihr auf der Bettkante saß.

Nicht wirklich, war Nathalie versucht zu antworten. Sie würde noch ein paar Minuten brauchen, bis sie sich beruhigt hatte. Trotzdem nickte sie. »Entschuldige, dass ich euch geweckt habe.«

»Hast du nicht. Stéphane steht unter der Dusche, ich hätte dich sowieso gleich aus dem Bett geworfen. Wir haben schließlich heute noch was vor.«

Mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung dachte Nathalie an den Umzug in ihre kleine Dachwohnung, der in den nächsten Stunden über die Bühne gehen sollte. Zum ersten Mal seit dem Tag X würde sie in einer eigenen Wohnung leben und herausfinden, wie sie damit zurechtkam, für sich selbst zu sorgen. Zum ersten Mal seit drei dunklen Jahren würde niemand da sein, der sie fragte, ob sie etwas brauchte oder ob er ihr helfen könne. Weil sie blind war. Blind. Nach all der Zeit klang das Wort nach wie vor fremd, als würde es nicht zu ihr gehören, sondern zu jemand anderem, zu dem Mann auf der Straße mit dem weißen Stock, zu der Frau im Fernsehfilm – obwohl allein der Begriff Fernsehen für Nathalie eine ganz neue Bedeutung bekommen hatte.

Jetzt also kam es drauf an. Sie musste ihr Leben wieder in den Griff kriegen und es selbst meistern. Natürlich hoffte sie, dass ihr das gelang, andererseits hatte sie auch Angst davor zu scheitern. Sie musste es einfach anpacken. Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, nachdem Florence grünes Licht für das Badezimmer gegeben hatte, und bereitete sich geistig auf den Umzug vor.

Tatsächlich lastete ein Großteil der Arbeit auf Florence, ihrem Freund Stéphane und einem seiner Kollegen aus dem Krankenhaus, in dem er als Assistenzarzt arbeitete. Trotzdem spürte auch Nathalie am Abend jeden einzelnen Muskel in ihren Armen und Beinen und konnte nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wie oft sie die Treppen rauf- und runtergelaufen war. Das hatte immerhin den eindeutigen Vorteil, dass sie die Stufen jetzt schon ziemlich gut kannte. Sie brauchte sie wahrscheinlich nicht mal mehr zu zählen, obwohl sie genau wusste, dass es bis zum ersten Stockwerk zweiundzwanzig, bis zum zweiten vierundzwanzig, bis zum dritten wieder zweiundzwanzig und bis zu ihrer Mansarde noch einmal zwanzig Stufen waren. Was sich der Architekt dieses Hauses dabei gedacht haben mochte, die Stockwerke in unterschiedlicher Höhe zu bauen, konnte sie nicht mal ahnen, und es war ihr im Augenblick auch vollkommen egal. Das Schlimmste war überstanden.

»Danke!«, sagte Nathalie. »Ihr wart absolut großartig. Ich weiß gar nicht, wie ich das ohne euch geschafft hätte!«

»Du hättest statt uns auch vier kräftige Möbelpacker engagieren können, mit Muskeln wie Jean-Claude van Damme…«, lachte Florence und knuffte Nathalie freundschaftlich in die Seite.

Nathalie fiel in das Lachen ein. »Ich mach das wieder gut, Ehrenwort. Vielleicht nicht unbedingt bei eurem nächsten Umzug, aber mir wird schon was einfallen.«

»Nicht nötig«, sagte Stéphane großzügig. »Es reicht, wenn ich das nächste halbe Jahr keine Treppen mehr steigen brauche. Warum musstest du unbedingt unters Dach ziehen?«

»Weil die Miete günstig war«, gab Nathalie zurück. »Und weil ich was für eure Fitness tun wollte.«

»Besten Dank auch. Also, wir sehen uns«, verabschiedete sich Florence mit einer Umarmung, dann zog sie Stéphane ins Treppenhaus. »Komm, mein Lieber, einmal runter musst du noch.«

Nathalie hörte die leiser werdenden Schritte ihrer Freunde und schließlich die unten zufallende Haustür. Erst dann trat sie ganz in ihre Wohnung zurück, lehnte sich für einen Augenblick an die Wand und schloss die Augen. Kurz darauf öffnete sie sie wieder, es machte schließlich keinen Unterschied. Sie stieß sich von der Wand ab und ging vorsichtig den Flur entlang zum Wohnzimmer. Immer geradeaus, kein Problem, die Schritte zählen: acht. Stopp. Hier musste die Tür sein. Sie tastete nach dem Türrahmen, fand ihn – und stolperte über die Schwelle. Leise fluchte sie. So etwas kannte sie nicht, würde sich aber ziemlich schnell darauf einstellen. Nach drei weiteren Schritten stieß sie gegen das Sofa, auf das sie sich erleichtert fallen ließ.

Sie war hier, ganz allein. Bevor sie anfing, darüber nachzugrübeln, wie sie das in Zukunft bewältigen sollte, zog sie ihre Beine aufs Sofa und massierte stöhnend ihre Fußsohlen. Dabei überlegte sie, ob sie noch ein paar Kleinigkeiten erledigen konnte, bevor sie schlafen ging. Auf jeden Fall hatte sie Durst, aber wenn sie etwas trinken wollte, musste sie aufstehen, und davon rieten ihr ihre Füße dringend ab. Die trockene Kehle gewann allerdings nach kurzer Zeit die Oberhand, deshalb begann sie wieder, Schritte zu zählen, bis sie im Flur stand. Dabei hätte sie fast den größten von mehreren Bilderrahmen umgestoßen, die an der Garderobe lehnten. Gerade noch rechtzeitig griff sie danach. Bilder waren für Nathalie eigentlich unwichtig geworden, trotzdem würde sie sie vielleicht irgendwann aufhängen. Für heute allerdings hatte sie genug Nägel in die Wände schlagen lassen.

Nachdem Nathalie schnell im Stehen ein Glas Wasser getrunken hatte, nahm sie das Bild vorsichtig hoch und brachte es hinüber ins Wohnzimmer, wo sie es relativ sicher hinter die Tür stellte. Die kleineren ließ sie dort stehen, sie würde nicht dagegen laufen. Normalerweise hätte sie sich jetzt umgesehen und in Ruhe ihre neue Umgebung erkundet. Stattdessen ließ sie sich wieder auf das Sofa sinken. Um sie herum war Stille und Dunkelheit. Da sie nicht sehen konnte, musste sie die zweieinhalb Zimmer ihrer Wohnung eben anders kennenlernen.

Nathalie lauschte. Ihr Wohnzimmer grenzte an das Apartment einer gewissen Cecilie Lecomte. Von drüben drang ein dumpfes Geräusch zu ihr, das nach dem Fernseher klang. Eine Weile blieb sie sitzen und versuchte sich auszumalen, wie das Zimmer aussah. Sie wusste, das Sofa, auf dem sie saß, und die zwei dazugehörigen Sessel waren blau, die Bücherregale aus Kiefer. Sie standen passend zu dem kleinen Sekretär, den Florence und Stéphane zusammengebaut und aufgestellt hatten, links von ihr. Ihr Verhältnis zu Büchern war ebenso gespalten wie das zu Bildern, denn natürlich würde sie keins lesen können. Aber ein Wohnzimmer ohne Bücher kam nicht in Frage. Vor dem Fenster sollte der Benjamin aus ihrer alten Wohnung stehen, die sie vor drei Jahren gegen den kleinen ausgebauten Dachboden im Haus ihrer Eltern tauschen musste. In der Zeit nach ihrer Erblindung war sie wieder dort eingezogen, zurück in das Dorf etwas außerhalb St. Malos. Es war ihr schwergefallen, weil sie erstens wusste, dass sie ihren Eltern zur Last fiel, und weil sie es zweitens hasste, abhängig zu sein. Aber sie war vollkommen hilflos gewesen, und besonders an die ersten Monate dachte sie nur ungern und mit Grauen zurück, auch wenn sie dankbar war, zu Hause Unterschlupf gefunden zu haben. Wenigstens hatte sie dort auch einen Teil ihrer Möbel unterstellen können und jetzt nur noch wenige Teile neu kaufen müssen.

Bei der Erinnerung an ihr ehemaliges winziges, aber gemütliches eigenes Schlafzimmer erhob sie sich und setzte erneut vorsichtig einen Fuß vor den nächsten, um den zweiten Raum der neuen Wohnung in sich aufzunehmen. Florence hatte das Bett auf Nathalies Bitte hin mit der dunkelblauen Satinbettwäsche bezogen. Noch immer war da diese Schwäche für die Farbe Blau, obwohl sie sie nicht sehen konnte – und obwohl sie seit ihrem Unfall eigentlich gedacht hätte, sie könne die Farbe nicht mehr ertragen, weil sie sie an das Wasser erinnern würde. Andererseits: Nathalie sah sie ja auch nicht. Am Kleiderschrank entlang tastete sie sich zum Fenster und zog die schweren Gardinen vor. Zwar war das unnötig, sie musste kaum Licht anknipsen, also würde auch niemand sie beobachten können, aber manche Dinge tat man einfach automatisch. Geräusche von der Straße drangen kaum bis hier herauf in den vierten Stock.

Langsam tastete sich Nathalie in das dritte und gleichzeitig kleinste und am spärlichsten möblierte Zimmer vor. Bis auf den großen Tisch und einen Stuhl davor gab es nur noch ein Regal, das fast die gesamte linke Wand einnahm. Mit den Fingern fuhr sie über die Bretter, bis sie ihr Werkzeug fand. Leise klirrten die Feilen aneinander, eine fiel herunter. Nathalie bückte sich und legte sie an ihren Platz zurück. Dann griff sie nach einem kleinen Stück Speckstein daneben, das sie zwischen ihren Händen hin und her drehte. Er hatte die richtige Größe für ein kleines Schmuckkästchen.

Gedankenversunken bewegte sie sich langsam zurück ins Wohnzimmer, wobei sie nur unbewusst die Schritte zählte und die Schwelle völlig vergaß. Sie stolperte, fiel gegen die Tür und hörte nur noch das Klirren, als der Bilderrahmen dahinter zerbrach. Erschrocken hangelte sich Nathalie am Erstbesten hoch, was ihr unter die Finger kam. Unglücklicherweise war das eine kleine offene Vitrine, in der etwa zehn Gläser standen. Die Gläser wackelten, kippten um und fielen mit lautem Scheppern auf den Parkettboden. Einen Moment lang stand Nathalie wie erstarrt daneben und versuchte, sich das Bild der Scherben auf dem Boden auszumalen. Dann traten Tränen in ihre Augen.

Sie würde es nie schaffen! Wie hatte sie nur annehmen können, dass … Sie hob den Kopf und lauschte. War das die Klingel gewesen? Ja, da war sie noch mal. Ausgerechnet jetzt. Wahrscheinlich fühlte sich die Nachbarin durch den Lärm gestört und wollte sich beschweren.

Nathalie wischte sich kurz mit dem Ärmel übers Gesicht und fand den Weg zur Wohnungstür diesmal, ohne über die Schwelle zu stolpern. Sie öffnete sie und wünschte, sie wüsste, wo genau diese Cecilie Lecomte stand, damit sie sie wenigstens halbwegs ansehen konnte.

»Ja?«, fragte sie unsicher.

»Alles klar bei Ihnen? Wir haben den Knall gehört …«, sagte eine männliche Stimme.

Überrascht wandte sich Nathalie in die Richtung, aus der der Mann gesprochen hatte und versuchte ein Lächeln. »Entschuldigung. Ich weiß, es ist schon spät, und ich werde mich bemühen, leiser zu sein. Außerdem hoffe ich sehr, dass heute nichts mehr zu Bruch geht.«

Der Mann zögerte ein bisschen, wahrscheinlich war er durch Nathalies Erscheinung irritiert. Viele Leute hatten anfangs Schwierigkeiten damit, einer Blinden gegenüberzustehen.

»Das meinte ich nicht«, sagte er dann freundlich. »Sie haben uns nicht gestört, wir dachten nur, dass wir Ihnen vielleicht helfen können.«

Da war also wieder jemand, der ihr Hilfe anbot. Aber immerhin hatte er das nicht getan, weil sie blind war. Das konnte er kaum gewusst haben, als er klingelte. Nathalie schüttelte den Kopf. »Danke, es ist nett, dass Sie fragen, aber das ist wirklich nicht nötig.« Sie würde es schon hinkriegen, die Scherben allein aufzusaugen.

»Sicher?«, fragte der Mann.

Nathalie hätte gern gewusst, wie er aussah. Seine Stimme, aufgrund derer sie ihn auf Mitte dreißig schätzte, klang sympathisch. »Ja, bestimmt.«

»Na, dann …«

»Dann wollen wir Sie nicht weiter aufhalten«, mischte sich plötzlich eine Frau ein.

Etwas aus der Fassung gebracht wandte sich Nathalie um. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass da noch jemand war. Vermutlich Cecilie Lecomte, und ihrem Tonfall nach zu urteilen hatte der Mann trotz des mehrfach erwähnten »wir« wohl die ganze Zeit eher von sich gesprochen. Die Frau dagegen schien ziemlich genervt. Aber Nathalie dachte nicht daran, sich noch mal zu entschuldigen.

»Sie müssen Cecilie Lecomte sein«, sagte sie stattdessen. »Meine Nachbarin. Ich habe Ihren Namen auf dem Türschild gelesen. Das heißt, meine Freundin hat ihn mir vorgelesen, sollte ich besser sagen. Ich bin Nathalie Vincent.« Sie streckte ihre Hand in die Richtung, aus der Cecilies Stimme gekommen war.

Cecilie ergriff sie. »Willkommen im Tollhaus.«

Zum ersten Mal lachte Nathalie. »Tollhaus? Ich fürchte, die Einzige, die hier heute für Chaos gesorgt hat, war ich.«

»Warten Sie’s ab«, warnte Cecilie.

»Und wer sind Sie?«, fragte Nathalie und drehte ihren Kopf wieder zurück zu dem Mann. »Auch ein Nachbar?«

Cecilie machte ein undefinierbares Geräusch, das sowohl Zustimmung als auch Verneinung bedeuten mochte. Nathalie konnte mittlerweile Geräusche fast so gut interpretieren wie Worte und dachte sich ihren Teil.

»Raymond Lasserre«, stellte der Mann sich vor. »Meistens Nachbar.«

»Aha«, machte Nathalie belustigt. Ob da zwischen den beiden der Haussegen etwas schief hing? Anscheinend hatte sie hier kein Monopol auf Probleme. Sie streckte auch ihm ihre Hand hin. »Freut mich. Vielleicht sehen wir uns ja gelegentlich.«

Wieder herrschte einen Augenblick Schweigen, es dauerte auch eine Weile, bis Raymond Lasserre sich dazu entschloss, Nathalies Hand zu nehmen. Sie konnte sich in etwa vorstellen, woran das lag. Offenbar fragte er sich, wie er auf ihre Art von Humor reagieren sollte. Dann spürte sie Raymonds Berührung und hörte ihn gleichzeitig sagen: »Sie werden mich schon nicht übersehen, versprochen!«

Diesmal war es an ihr, nicht sofort zu antworten. Das lag weniger an seinen Worten, mit denen er auf ihren Scherz einging. Es musste etwas anderes sein, etwas, das Nathalie nicht recht definieren konnte. Seltsamerweise kam ihr in den Sinn, dass diese Begegnung mit Raymond Lasserre noch Folgen haben würde, welche auch immer. Doch sie glaubte weder an Vorahnungen noch an das Schicksal, deshalb schüttelte sie das Gefühl ab und sagte nur: »Das beruhigt mich. Wenn ich die Unordnung beseitigt habe und es etwas wohnlicher aussieht, müssen Sie mal vorbeikommen und mit mir Einweihung feiern.«

»Gern«, sagte Raymond diesmal ganz spontan und ohne jedes Zögern. »Dann weiterhin viel Erfolg beim Einziehen.«

»Danke«, erwiderte Nathalie und schloss langsam die Tür. Die Scherben in ihrem Wohnzimmer fielen ihr wieder ein, aber diesmal traten deswegen keine Tränen mehr in ihre Augen. Sie hatte genug geweint.

Aus der Küche holte sie den Staubsauger und lauschte dem leisen Klirren, mit dem die Scherben durch das Rohr in den Beutel glitten. Danach suchte sie mit der Hand vorsichtig den Boden nach größeren Stücken ab, die der Staubsauger nicht aufgenommen hatte. Sie fand vier Scherben und ließ sie in den Mülleimer fallen. Der Deckel fiel zu – über den zerbrochenen Gläsern und über den letzten verlorenen drei Jahren. Nathalie tastete nach ihrer Armbanduhr, klappte das Glas über dem Zifferblatt hoch und las mit den Fingerspitzen die Zeit ab: kurz vor Mitternacht. In ein paar Minuten würde das neue Leben beginnen.

2.

Müde fuhr sich Daniel durch die Haare. Er setzte sich aufrecht auf seinen Schreibtischstuhl, streckte den Rücken und spürte seinen völlig verspannten Nacken, wobei sein Blick auf die goldene Miniaturausgabe von Big Ben fiel. In einem anderen Teil der Stadt würde das Original gleich Mitternacht schlagen. Der Tag war anstrengend gewesen und außerdem noch ärgerlich. Daniel hatte keine Lust, nach Hause zu fahren, weil er ziemlich sicher war, ungeachtet der späten Stunde dort seinem Vater zu begegnen. Ein Streit mit Richard Blake innerhalb von vierundzwanzig Stunden langte ihm eigentlich. Er könnte natürlich auch hier im Büro übernachten, im Nebenzimmer stand für solche Zwecke eine unbequeme Liege. Andererseits musste er morgen für den Termin mit Keith Harding topfit sein, schließlich ging es um das Kensington-Projekt. Er wollte lieber nicht wissen, was sein Vater sagte, wenn er das wegen Übermüdung in den Sand setzte. Er hielt Daniel ohnehin schon aus unerfindlichen Gründen für unfähig, die Firma zu leiten, mischte sich – wie heute Mittag – ständig in Daniels Entscheidungen ein und forderte ihn heraus.

Daniel stand auf und streckte seinen Körper noch einmal. Sein Vater war achtundachtzig Jahre, ein Alter, in dem sich jeder andere längst aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte und die Arbeit anderen überließ. Aber Richard Blake fiel es schwer, die Verantwortung für die Firma, für sein Lebenswerk seinem Sohn zu überlassen. Daniel hatte sich nie um den Job gerissen, aber es gab sonst niemanden, der Richard recht gewesen wäre. Daniel war sein einziger Sohn, und auch wenn er nicht aufhörte, ihm Vorschriften zu machen, wollte er doch, dass er die Firma eines Tages ganz übernahm. Eines sehr fernen Tages, wenn es nach Richard ging.

Unten auf der Cork Street war alles ruhig um diese Zeit. Daniel blickte an der Fassade des schmalen Gebäudes aus rotem Backstein empor, an dessen Haustür zwei Messingschilder hingen. Eins trug den ausladenden Schriftzug Mayfair Estates, das zweite wies kleiner und bescheidener auf Homes for the Homeless hin. Beide verzichteten aus gutem Grund auf jeglichen Namenszusatz. In London wusste ohnehin jeder, dass derselbe Mann sowohl hinter einer der wichtigsten Immobilienfirmen der Stadt als auch hinter dem gemeinnützigen Verband stand, dessen Anliegen es war, für Bedürftige erschwinglichen und annehmbaren Wohnraum zu schaffen: Richard Blake.

Daniel lief die paar Schritte zu seinem Aston Martin. Bevor er losfuhr, rieb er sich noch einmal die Augen. Er durfte gar nicht daran denken, wo er vor ein paar Jahren um diese Zeit in einer Samstagnacht gewesen wäre. Keinesfalls in einem Büro, sondern in irgendeinem Tanzschuppen mit irgendeiner hübschen Frau an seiner Seite. Die einzigen Frauen, die er derzeit zu sehen kriegte, waren seine Assistentin Anne und seine Schwester Susan.

Mochte es in der Cork Street noch ruhig gewesen sein, sah es an der Kreuzung zur Regent Street schon anders aus. Dort fädelte sich Daniel in den Strom der Fahrzeuge ein und bemühte sich, auf der Fahrt Richtung Norden abzuschalten und die Geschäfte zu vergessen. Als er aus der City heraus war, konnte er schneller fahren und erreichte bald die kieselbedeckte breite Einfahrt des zweistöckigen klotzigen Hauses in Hampstead unweit des Heath, einem riesigen naturbelassenen Park.

Kurz blieb Daniel in der Eingangshalle stehen, die bisher noch jeden Besucher beeindruckt hatte. Der dezente Prunk, die geschwungene Treppe und vor allem diese grässlichen Familien-Porträts waren nicht gerade sein Geschmack. Manchmal fragte er sich, warum er eigentlich noch hier lebte, und die Antwort lautete wohl schlicht Familientradition.

Alle Blakes waren in diesem Haus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert geboren, angefangen von Daniels Ururgroßvater bis hin zu ihm selbst. Finanziell ging es ihnen dabei nicht immer so gut wie jetzt, aber das Haus hatte trotzdem alles überstanden. Daniels Großvater hatte schließlich Mayfair Estates gegründet, die Leitung dann aber einem Stellvertreter überlassen, als er selbst sich freiwillig zum Großen Krieg meldete, aus dem er vom Senfgas zerrüttet 1917 nach London zurückgeschickt wurde. Danach übernahm er die Geschäfte wieder, allerdings nicht sehr erfolgreich. Eigentlich hätte man glauben sollen, das hätte Richard Blake davon abgehalten, bei der nächsten Gelegenheit allzu wild auf Kriegsgetümmel zu sein. Aber seine Orden, die er im Zweiten Weltkrieg sammelte, waren kaum zu zählen. Ein paar Jahre später starben seine Mutter und sein Vater kurz hintereinander, und nachdem Richard zunächst eher zögerlich und lustlos die Firma übernommen hatte, gab er sich schließlich einen Ruck und setzte sich ein ehrgeiziges Ziel, nämlich die Ehre an der Firmenfront wiederherzustellen. Entschlossen spuckte er in die Hände und zog sogar fast zeitgleich noch einen neuen Verband für das Allgemeinwohl auf, den er Homes for the Homeless nannte.

Durch die ausgezeichnete Arbeit, für die Mayfair Estates schließlich bekannt wurde, verfügte Richard über weitverstreute Kontakte im ganzen Land, die er auf der anderen Seite geschickt für seinen Verband einsetzte. Er vergaß dabei niemals, den Investoren gegenüber den Imagegewinn zu betonen, den eine Kooperation bei diesen Projekten in der Öffentlichkeit bedeutete. Richard verstand es meisterhaft, beide Unternehmen zu verzahnen, Synergieeffekte zu erkennen und bestmöglich zu nutzen.

Jetzt drang seine Stimme aus der Bibliothek herüber. »Daniel? Bist du das?«

Daniel rollte mit den Augen, die zurzeit vermutlich blutunterlaufen rot waren, wenn er dem sandigen Gefühl darin Bedeutung beimaß. Genau diese Situation hatte er befürchtet. Wieso konnte sein Vater nicht schon schlafen gegangen sein? Er tat so, als habe er nichts gehört, und lief leise die Treppe hinauf. In seinem Zimmer legte er die Kensington-Papiere auf den Schreibtisch und schälte sich aus seinem Anzug. Nach einer kurzen Dusche wollte er eigentlich ins Bett gehen, aber seltsamerweise war er überhaupt nicht mehr müde. Sein Blick fiel auf die Unterlagen, und er seufzte. Statt Löcher in die Luft zu starren, konnte er sich ebenso gut auf den Termin vorbereiten.

Von den vier nebeneinander stehenden Häusern in Kensington waren eigentlich nur noch die Außenfassaden zu gebrauchen. Innen benötigten sie eine komplette Sanierung, bevor man an eine weitere Nutzung denken konnte. Mayfair Estates setzte alles daran, die Häuser aufzukaufen, nach der Sanierung ihre besten Architekten zum Einsatz zu bringen und daraus einen beispiellosen Luxuskomplex zu gestalten, wie es sich für den Stadtteil Kensington gehörte. Die mit dem Verkauf der Apartments zu erzielenden Gewinne waren nicht hoch genug einzuschätzen.

Daniel vertiefte sich in die Papiere und sah erst eine Stunde später das nächste Mal auf die Uhr, als er feststellte, dass sein Magen knurrte. Entschlossen klappte er die Mappe zu. Schluss für diese Nacht. Stattdessen würde er nachsehen, was es in der Küche noch zu essen gab und anschließend endgültig ins Bett gehen. Unten war kein Laut zu hören, nur aus der Bibliothek, in der vorhin sein Vater gesessen hatte, drang ein Lichtschimmer. War Richard immer noch wach? Daniel zuckte in Gedanken mit den Schultern und wollte das Licht ignorieren, doch dann überlegte er es sich anders. Er machte kehrt und fand seinen Vater in einem der wuchtigen Ledersessel sitzend. Offensichtlich schlief er. Daniel runzelte die Stirn. Das war ungewöhnlich, Richard schlief nicht einfach irgendwo ein. Vorsichtig trat er näher und berührte ihn leicht an der Schulter.

»Vater?«

Richard Blake gab ein leises Geräusch von sich, eine Mischung aus Schnarchen und Stöhnen, als wäre er in einen tiefen Traum versunken, aus dem er erst langsam wieder auftauchte.

»Vater, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Daniel.

Richard Blake schlug die Augen auf und war sofort da. Eine andere Beschreibung fiel Daniel nicht ein. Die Präsenz, die Persönlichkeit seines Vaters schien alles andere und jeden anderen zu Nichtigkeiten zu degradieren.

»Natürlich ist alles in Ordnung!«, sagte Richard mit fester Stimme. »Ich muss eingeschlafen sein, das ist alles.«

»Na, dann kann ich ja wieder nach oben gehen.«

»Wieder?«, echote Richard. »Soll das heißen, du warst das doch vorhin?«

»Vorhin?«, tat Daniel ahnungslos.

»Du weißt schon ganz genau, was ich meine, Junge. Ich wünschte, du würdest ein bisschen mehr Mumm in den Knochen haben und nicht dauernd vor mir weglaufen!«

»Wie bitte?« Daniel hätte wütend sein müssen, seinen Vater anbrüllen sollen, egal, ob er damit möglicherweise Susan oder die Hausangestellte Mrs. Marshall weckte. Stattdessen fühlte er sich mit einem Mal ganz ruhig. Richard hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, aber Daniel explodierte nicht, im Gegenteil. Zum ersten Mal seit langer Zeit wusste er ganz genau, was er zu tun hatte.

»Weglaufen?«, wiederholte er gefährlich leise. »Ich laufe nicht weg, ich hab’s nur satt, ständig mit dir aneinanderzugeraten, weil du mich offenbar für einen Idioten hältst. Mach also mit deiner Firma, was du willst, aber rechne nicht mehr mit mir. Ich kündige nämlich hiermit. Oben in meinem Zimmer liegen die Unterlagen für das Kensington-Projekt, die kannst du dir abholen, heute Vormittag um zehn ist Termin. Und zwar ohne mich!«

Damit drehte Daniel sich um und verließ das Zimmer. Das war überfällig gewesen, und er fühlte sich erleichtert, als wäre ihm ein ganzer Felsbrocken von den Schultern gefallen. Ab morgen würde ein neues Leben beginnen ohne die ständigen Streitereien mit seinem Vater.

»Komm zurück!«

Daniel kümmerte sich nicht darum. Es gab nichts mehr, was er mit Richard noch zu besprechen hatte.

»Komm zurück, hab ich gesagt!«, forderte sein Vater hinter ihm, doch Daniel war schon am Fuß der Treppe angelangt. Nach sechs Stufen hörte er ein merkwürdig polterndes Geräusch, die Stille danach schien fast gespenstisch. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb Daniel eine Sekunde stehen und wartete. Nichts. Und dann lief er los, wäre fast über die letzte Stufe gestolpert, der Teppich in der Halle verrutschte unter seinen Schritten. In der Tür zur Bibliothek hielt er abrupt inne. Sein Vater saß nicht länger im Sessel. Er lag leichenblass davor auf dem Boden.

»Vater?« Daniel drohte die Stimme zu versagen. Zögernd trat er in den Raum, erst einen Schritt, noch einen, ganz langsam, bis er über Richards Körper stand. Er ging in die Knie und hockte sich neben seinen Vater, sein Blick pendelte zwischen dessen Gesicht und Brustkorb. Er atmete. Schwach zwar, aber er lebte noch. Daniels Handy lag oben in seinem Zimmer, aber auf dem Schreibtisch der Bibliothek stand ein Telefon. Er stieß sich vom Boden ab und wollte Hilfe rufen, doch in dem Moment spürte er einen Griff um sein Fußgelenk.

Daniel sah hinunter auf seinen Vater, der die Augen aufgeschlagen hatte. Es arbeitete in seinem Gesicht.

»Ich muss einen Arzt rufen, Vater«, sagte Daniel. Er hoffte, dass Richard ihn verstand, und bemühte sich, seinen Fuß frei zu bekommen. Doch der Griff seines Vaters war stark, und Daniel wagte nicht, ihn mit Gewalt abzuschütteln, weil er nicht wusste, was heftige Bewegungen bei Richard auslösen mochten.

Er bückte sich und fasste vorsichtig nach Richards Hand um sein Gelenk. Erleichtert registrierte er, dass der Druck nachließ, aber nur, wie er kurz darauf merkte, um sich zu verlagern. Richard hielt Daniel fest, als wolle er ihn mit aller Macht daran hindern, ihn noch einmal zu verlassen.

»Vater, bitte«, sagte Daniel und verstand zugleich, dass es hoffnungslos war. Er kam hier nicht weg, also würde er nach Susan rufen müssen. Daniel brüllte den Namen seiner Schwester so laut er konnte und anschließend den von Mrs. Marshall. Natürlich hatte er keine medizinische Ausbildung, vermutete aber einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Wie brachte Richard also trotzdem so viel Kraft auf? Jetzt schien es, als wolle er Daniel ganz zu sich hinunterziehen. Zum ersten Mal fragte sich Daniel, ob sein Vater ihn nicht einfach festhalten, sondern ihm etwas sagen wollte. Er wehrte sich nicht mehr, sondern kniete neben ihm nieder. Im selben Moment, in dem Richard spürte, dass Daniel kapitulierte, lockerte er seinen Griff. Die rechte Hälfte seines Mundes verzog sich zu einem grotesk wirkenden Lächeln.

Daniel wandte sich noch einmal um und rief erneut nach Susan und nach Mrs. Marshall. Theoretisch hätte er jetzt ans Telefon gehen können, aber praktisch sah er sich nicht dazu in der Lage. Die braunen Augen seines Vaters, zu denen ihm immer nur das für diese Farbe eigentlich unpassende Wort »kalt« eingefallen war, fixierten ihn. Merkwürdigerweise schienen sie sich plötzlich zu verändern und wärmer zu werden. Richard öffnete den Mund, seine Zunge bewegte sich unkontrolliert, er brachte kein Wort heraus.

»Es ist gut, Vater«, sagte Daniel beruhigend. »Es kommt bald Hilfe.«

Richard schüttelte stumm den Kopf.

»Ich …«, fing Daniel an. Wahrscheinlich war es nicht gerade das, was er sagen sollte, aber ihm fiel nichts Besseres ein. »Mach dir keine Gedanken wegen des Termins. Wir werden das Kensington-Projekt schon kriegen, verlass dich auf mich!« Wenigstens einmal, hätte er beinah hinzugefügt, schwieg jedoch rechtzeitig.

Wieder schüttelte Richard den Kopf, öffnete erneut den Mund, aus dem jetzt tatsächlich ein Laut herauskam. Daniel beugte sich tief über seinen Vater, und der wiederholte, was er gesagt hatte. Unsicher und zweifelnd schaute er schließlich hoch in die braunen Augen, die jetzt anfingen zu strahlen. Der Anblick machte Daniel Angst, und noch mehr das, was er zu hören geglaubt hatte.

»Verzeih«, sagte Richard ein drittes Mal, diesmal so klar, als säße er wie gewohnt hinter seinem Schreibtisch in der Firma.

»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste«, sagte Daniel leise. Natürlich gab es in Wirklichkeit eine Menge, doch gerade jetzt schien das alles unwichtig. Hier lag sein Vater und würde sterben, wenn nicht bald jemand einen Arzt rief.

»Susan! Verdammt noch mal! Mrs. Marshall, wir brauchen Hilfe!«, brüllte er erneut, obwohl ihm bereits klar war, dass weder seine Schwester noch die Hausangestellte hier sein konnten, sonst hätten sie ihn längst gehört.

Wieder lenkte Richard Daniels Aufmerksamkeit auf sich. Richard lächelte wie eben mit schiefem Mund und drehte den Kopf nach links wie um zu sagen, es sei sowieso zu spät. Er sah Daniel an, und seine Augen veränderten sich erneut. Wenn Daniel sich später erinnerte, kam es ihm immer vor, als habe sich ein weißer Film vor die Iris gelegt, ein Schleier, der die Gegenwart bedeckte, so dass die Augen entweder schon in eine unbekannte Zukunft sahen oder in eine längst vergangene Zeit.

Zum letzten Mal öffneten sich Richard Blakes Lippen, denen ein Wort entwich, ein Flüstern nur, das Daniel dennoch deutlich hörte, wenn er auch den Sinn nicht verstand.

Ein leichtes Zittern ging durch Richards Körper, dann war es vorbei. Daniel hockte am Boden, starrte auf seinen Vater und fühlte sich jeder Bewegung unfähig. Er hörte die Uhr auf dem Kaminsims ticken, er wusste, dass über dem Mahagoni-Schreibtisch das Gemälde hing, das seinen Vater zeigte. Er wusste auch, dass er in den nächsten Wochen nicht fähig sein würde, es anzusehen. Noch vor einer Viertelstunde war Richard Blake so lebendig und agil gewesen wie er selbst, bereit, nicht nur für Mayfair Estates, sondern auch für Homes for the Homeless in den Kampf zu ziehen wie vor fünfzig Jahren. Jetzt war er tot.

Und es war Daniels Schuld.

Daniel bettete den Kopf seines Vaters auf seinen Schoß und blieb lange reglos so sitzen. Während dieser Zeit drehte und wendete er jeden Gedanken hundertmal, betrachtete alles, was an diesem Tag geschehen war von jeder möglichen Perspektive. Ging wieder und wieder den allerletzten Streit durch und wünschte verzweifelt, er könne die Zeit zurückdrehen und ungeschehen machen, was er gesagt hatte. Vielleicht würde Richard Blake dann noch leben. Unterschwellig ahnte Daniel, dass das, was passiert war, kaum seine Schuld war. Aber das half nichts. Er fühlte sich schuldig. Und hätte Daniel nicht seines Vaters Bitte um Verzeihung gehört, wäre ihm der Gedanke gekommen, dass dieser Tod Richards letzten Triumph über seinen Sohn darstellte.

Schließlich erhob sich Daniel schwerfällig und ging hinüber zum Telefon. Er rief den Arzt und wählte dann die Handynummer von Susan, die fast zeitgleich mit Doktor Hawtrey ankam. Als Daniel erzählte, was vorgefallen war, kam ihm seine eigene Stimme kalt und unpersönlich vor, und er fragte sich, ob der Arzt und Susan das ebenso wahrnahmen. Dabei hatte er die ganze Zeit das Gefühl, zwei Meter neben sich zu stehen.

In den frühen Morgenstunden war das Haus wieder ruhig. Der Arzt war fort, und Richard Blake ebenso. Daniel saß allein in der Bibliothek, in jenem Sessel, aus dem sein Vater das letzte Mal aufgestanden war, bevor er zusammenbrach, und starrte zu Boden. Gleich würde er nach oben gehen, duschen, sich anziehen und dann ins Büro fahren. Keith Harding hasste Unpünktlichkeit, und er konnte es sich nicht leisten, das Kensington-Projekt sausen zu lassen.

»Daniel?«

In der Tür stand Susan. Sie sah mitgenommen aus, aber da sie Richard Blake genauso wenig nahe gestanden hatte wie Daniel, lag das vermutlich einfach nur an zu wenig Schlaf.

»Hm?«, fragte er. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, sondern sollte lieber die Kensington-Papiere noch ein letztes Mal durchgehen.

»Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«

»Muss es nicht. Es konnte schließlich keiner wissen, dass so was passiert.«

»Nein. Trotzdem … Es war … Naja …«

»Was?«, fragte Daniel fast ein wenig belustigt. »Seit wann fehlt es dir an Worten?«

»Was ich meinte, war, dass es ziemlich heftig gewesen sein muss, als Vater plötzlich vor dir lag. Einfach so. Tot.«

Daniel erwiderte nichts. Dem Arzt und Susan hatte er erzählt, dass Richard bereits tot gewesen war, als er ihn fand. Es schien ihm richtig so, Richards letzte Bitte war für ihn bestimmt gewesen, für niemanden sonst.

Susan sah aus, als könne sie sich nicht entscheiden, zu Daniel herüberzukommen oder zu bleiben, wo sie war. Das Verhältnis zwischen ihnen war immer etwas distanziert gewesen – charakteristisch für die Atmosphäre in diesem Haus, in dem persönliche Nähe nie eine Rolle gespielt hatte. Was die geschäftliche Seite anging, legte Richard dagegen sehr viel Wert auf Zusammenhalt, und so war er ziemlich wütend gewesen, als Susan bei Mayfair Estates ausstieg und ausgerechnet in die Rechtsabteilung einer anderen Immobilienfirma wechselte. Wenigstens war es ein Unternehmen, mit dem Richard schon mehrfach gut zusammengearbeitet hatte, und außerdem musste es ihm imponiert haben, dass sie ihren eigenen Kopf durchsetzte. So war nach einer Weile Gras über die Sache gewachsen.

»Ich geh schlafen«, stellte Susan schließlich fest. »Du solltest das auch tun. Sag deine Termine ab, bestimmt hat jeder dafür Verständnis.«

Wieder schwieg Daniel. Mochte sein, dass Susan recht hatte. Sicher hätte sogar ein Keith Harding unter diesen Umständen noch einen Tag länger gewartet. Aber Richard Blake hätte kein Verständnis gehabt. The Show Must Go On. Es gab keine Ausnahmen.

Daniel hörte Susans klappernde Schritte auf dem Mosaikfußboden der Halle, die kurz darauf vom Teppich verschluckt wurden, und starrte wie vorhin zu Boden. Nach einer Weile hatte er das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Er hob den Blick zur Tür, doch Susan war längst fort und auch nicht zurückgekehrt. Gegenüber der Tür, damit es jedem beim Betreten der Bibliothek sofort ins Auge fiel, hing das Porträt. Ganz langsam, fast wie unter Zwang, drehte Daniel sich um und sah sich mit seinem Vater konfrontiert. Das Bild war bestimmt nicht jedermanns Geschmack, aber es wirkte enorm lebendig. Für eine Sekunde glaubte Daniel, Richard säße leibhaftig da. Er zuckte zusammen, und plötzlich war es wieder da, das Wispern, das Flüstern, Richards wirklich allerletztes Wort, das nicht Daniel gegolten hatte.

Er lauschte in die Stille, und in seiner Einbildung hallte der unbekannte Name von den Wänden der Bibliothek wider: »Eileen …«

3.

Nathalie hatte den Tag damit zugebracht, die Ecken und Kanten ihrer neuen Wohnung besser kennenzulernen. Allmählich bekam sie ein Gefühl dafür, und auch auf die Schwellen begann sie sich einzustellen. Sie musste nicht mehr jeden einzelnen Schritt zählen, um von einem Zimmer unbeschadet ins nächste zu gelangen.

Jetzt saß sie auf ihrem Sofa, das kleine Stück Speckstein in ihren Händen, das sie am Abend vorher dazu auserkoren hatte, zu einem Schmuckkästchen zu werden. Der Stein war rau und gleichzeitig auf merkwürdige Art geschmeidig. Nathalie spürte jede einzelne Furche, jede kleine Unebenheit, während ihre Finger darüber hinwegglitten, und malte sich aus, welches Muster sie in den Deckel des Kästchens feilen würde. Dabei lauschte sie halb bewusst, halb unbewusst der Musik, die aus ihren Lautsprechern drang. Musik hatte in ihrem anderen Leben als Sehende schon eine wichtige Rolle gespielt. Während es Menschen gab, die sich mit Gedudel im Hintergrund nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnten, ging es Nathalie genau umgekehrt. Sie hatte nicht ohne Musik arbeiten können. Jetzt – wo sie nichts mehr sehen konnte – war Musik noch wichtiger für sie geworden. Sie vertrieb die Stille und sogar ein wenig die Dunkelheit.

Im Augenblick besang Jacques Brel seine Marieke. Nathalie lehnte sich zurück, wartete auf das Crescendo und bewegte rhythmisch dazu ihren rechten Fuß. Das darauf folgende, sehr viel ruhigere Mon père disait veranlasste sie zu dem Gedanken, vielleicht besser etwas weniger Sentimentales zu hören, doch bevor sie sich entschließen konnte, das Chanson zu überspringen, schreckte sie hoch. Ihre Nachbarin war nach Hause gekommen und hatte die Tür ins Schloss fallen lassen – oder eher mit voller Absicht und sehr viel Schwung zugeknallt.

Die Wände waren nicht gerade besonders dick, Cecilie rumorte drüben herum. Anscheinend öffnete sie Schränke und donnerte sie kurz darauf wieder zu. Seltsam, wie schnell Nathalie gelernt hatte, sich auf ihre Ohren zu verlassen, und Dinge hörte, die andere nicht wahrnahmen. Cecilies lauten Fluch allerdings hätten bestimmt auch weniger sensibilisierte Menschen schwer überhören können.

Ganz offensichtlich hatte Nathalie ihr Instinkt gestern nicht getäuscht, als sie unterdrückte Spannungen bei Cecilie und Raymond ausgemacht zu haben glaubte. Selbstverständlich konnte Cecilies Wut auch andere Gründe haben, aber besonders der zweite, nur geringfügig leisere Fluch, der ganz eindeutig nach »Scheißkerl« klang, ließ keinen Zweifel offen.

Langsam erhob sich Natalie und ging einigermaßen sicher hinüber in ihre Werkstatt. Der Raum war klein, kaum sechs Quadratmeter, aber es würde reichen. Sie legte das Stück Speckstein an seinen Platz zurück und erinnerte sich dabei an Raymond Lasserres sympathische Stimme. Auch wenn sie Stimmlagen ganz gut zu deuten wusste, hieß das nicht, dass sie auch den Charakter korrekt bestimmen konnte. Wäre Cecilie Nathalies Freundin gewesen oder hätte sie sie etwas länger gekannt, wäre sie rübergegangen, um sich zu erkundigen, ob sie was für sie tun konnte.