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Leo Aldan

SQUIDS 2

Der verborgene Feind





Elaria
80331 München

1. Kapitel

Irgendetwas stimmte nicht mit den Sternen. Sven lag auf dem Boden, der immer noch die Wärme des Tages hielt. Es kam ihm vor, als ob sich das Firmament bewegte, so, als ob eine Welle über einen stillen See lief. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Was?«, brummte Miguel, der neben ihm im dürren Gras lag und mit vollen Backen an einem Stück gebratenem Fleisch kaute.

Sven deutete auf das Phänomen am Himmel, das sich wellenförmig zu einem Kreis verdichtete.

Miguel folgte Svens Finger mit den Augen. »Ich seh nix«, brummte er.

Sven nahm den Blick nicht von der Erscheinung, die nun als grüner Punkt über den Himmel zog.

Auf einmal änderte sie die Flugrichtung. Sven sprang auf. »Was ist das?!«

Miguel schaute ihn besorgt an.

Sven wischte sich eine Strähne seines schulterlangen Haars aus dem Gesicht. Warum konnte Miguel es nicht sehen? Svens Puls pochte schneller, als das grüne Licht immer näher kam. Dann tauchte es in die Atmosphäre ein und sank herab. Sven stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf, als es hinter den schwarzen Silhouetten der fernen Baumwipfel verschwand. »Mutter des Alls!«, rief er. »Das verdammte Ding ist in der südlichen Dorngrasebene gelandet!«

Miguel folgte stumm Svens Blick.

»Wir müssen herausbekommen, was es ist.« Mit zitternden Händen zog Sven seinen Kompass aus der Tasche und peilte den Landeplatz an: 183 Grad. Er programmierte den Wert in sein Datcom, rief die Karte auf und legte den Kurs als helle Linie darauf. »Scheiße!«, rief er, als sich das Display verdunkelte. »Immer wenn man es braucht, setzt es aus!«

Miguel furzte. »Sei froh, dass du überhaupt eins hast. Und wenn da was gelandet ist, können es nur die Squids gewesen sein.«

Auf die tintenfischähnlichen Wesen, die sich selbst Oktoftewiltabinen nannten und mit denen sich die Menschen den Planeten Nitsituaan teilten, war Sven nicht gut zu sprechen, denn sie ließen keine Menschen in ihr Raumfahrtprogramm. Er wollte nach der Schule eine Ausbildung zum Raumpiloten machen und sie gaben ihm keine Chance. »Möglich«, antwortete er. »Ein Grund mehr, nachzusehen, denn die haben in unserem Territorium nichts zu suchen! Aber eins wundert mich: Warum hast du sie nicht gesehen?«

Miguel zuckte die Achseln.

Sven sah ihn misstrauisch an. »Glaubst du, ich habe mir das nur eingebildet?« Er schüttelte sein Datcom, worauf der Bildschirm erneut zum Leben erwachte. »Na also«, rief er und wandte sich an Miguel, »Pack dein Zeug! Wir sehen nach, was da runtergekommen ist!«

Miguel mühte sich in die Senkrechte. »Bist du bescheuert? Mitten in der Nacht!«

»Morgen könnten sie wieder abgeflogen sein, also beeil dich!«

Miguel stand auf und packte den Rest des gebratenen Fleisches ein. Sven schüttete Wasser auf die Glut des Lagerfeuers, dass es zischte. Dann schnappten die beiden ihre Rucksäcke und schlugen sich im Licht der Sterne durch das hohe Gras nach Süden.

Als sie einen Waldstreifen umrundeten, ging der erste der drei Monde auf. In dieser Nacht war es Lanlo, der sein fahlblaues Licht über die Weite der Dorngrasebene warf.

Sven ließ den Blick schweifen: schwarze Bergzacken im Osten. Der Horizont im Süden bildete eine wellige Linie und wurde brettflach im Westen. »Komm weiter«, ermunterte er Miguel und schritt kräftig aus.

Der schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

Es dämmerte, und dann schoben sich die beiden Sonnen des Doppelgestirns über die ferne Bergkette. Die beiden hatten immer noch nichts gefunden.

Sven wagte einen schnellen Blick in das gleißende Licht: Zu dieser Zeit des Zyklus verdeckte die blaue Sonne, Aro, die rote fast vollständig.

»Es wird heiß werden«, stöhnte Miguel und ließ sich ins Gras sinken. »Wir sollten umkehren.«

»Nicht bevor ich weiß, was da gelandet ist«, erwiderte Sven.

Miguel stand langsam auf. »Mom wird uns grillen, wenn wir bis Mittag nicht zuhause sind.«

Sven winkte ab. »Das ist egal. Hier geht etwas Merkwürdiges vor und ich muss wissen was.«

 

2. Kapitel

Wie jeden Morgen ließ Shimamota Estelle Aldures das Ankleidezeremoniell über sich ergehen. Sie wurde in ein scheinbar kilometerlanges, goldbesticktes Tuch gewickelt. Es war schwer, sie konnte sich darin kaum bewegen und es schien Stunden zu dauern, bis die Zofen - von ihrer Mutter eigenhändig ausgewählte Frauen - mit dem Aussehen ihrer Garderobe zufrieden waren. Ihr goldblondes Haar wurde zu langen Zöpfen geflochten und dann zu einer kunstfertigen Turmfrisur gesteckt. Es war wieder eine Geduldsprobe, aber in der gewohnten Routine legte sich die Angst der Nacht.

Zumindest ein bisschen.

Shimamota blickte aus dem hohen Fenster ihres Ankleidegemachs zu der waldigen Hügelkette, die sich quer über den Horizont zog.

Was für einen scheußlichen Traum hatte sie wieder gehabt!

Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit nach draußen und versuchte die winzig erscheinenden Fördertürme der Bergwerke zu finden, aber in den Morgennebeln, die aus den Tälern zogen, waren sie nicht auszumachen.

Wieder stiegen diese unheimlichen Traumbilder in ihr auf: Gehirne, die um Hilfe riefen. Gehirne, die darum baten, getötet zu werden.

Ihr Blick wanderte weiter nach Westen, bis er die Küstenlinie traf. Ein vorgelagerter Hügel verdeckte große Teile der Werft, wo Raumschiffe der Oktoftewiltabinen gewartet wurden.

Wieder stiegen Erinnerungen der Nacht in Shimamotas Kopf: lebendige Gehirne, eingetaucht in hellgrüner Nährlösung - und Drähte, ein Gewirr von Drähten.

Sie schaute nach Osten, wo sich ein zerklüftetes Gebirge gegen den Morgenhimmel abzeichnete und im niedrigen Sonnenlicht aussah, als wäre es aus grauer Pappe geschnitten. Wilde Bäche strebten von dort dem Njamatagris zu. Shimamota folgte mit den Augen dem glitzernden Band des Flusses, der sich in erhabenen Schleifen durch die Auen wand und dann träge Richtung Stadt wogte.

Albträume. Hatten sie eine Bedeutung? Shimamota hätte die Frage verneint, wenn sie nur ein Mal von den Gehirnen geträumt hätte ... aber immer und immer wieder?

Auch diese Nacht war sie schweißgebadet und mit dem Gefühl absoluter Hilflosigkeit aufgewacht. Schrie ihre eigene Seele in diesen Träumen um Hilfe?

Tief unter ihr sahen die Häuser von Nelantis wie Spielzeug aus. Die Morgensonne spiegelte sich in den zahllosen Fensterscheiben der Hauptstadt, sodass es aussah, als hätte jemand einen Sack Diamanten ausgeschüttet. Shimamota beobachtete die Menschen, die in den Straßen herumwimmelten, und von hier oben klein und winzig erschienen - und unerreichbar.

Albträume. Waren sie am Ende mehr als nur das?

Sie unterdrückte ein Zittern. Vor dem Personal durfte sie keine Gefühle zeigen. Sie wandte sich vom Fenster ab und drehte sich so weit, bis sie den marmorgerahmten Eingang zu ihrem Schlafgemach vor sich hatte. Schweigend und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, folgten die Zofen ihrer Bewegung. Shimamota warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Stapel Lernmodule, die sich auf einem goldenen Tischchen neben ihrem riesigen Himmelbett mit den rosaroten Vorhängen türmten. Lesen war ihr Halt in der Nacht, wenn die Träume sie verfolgten und Angst sich wie eine eiserne Klammer um ihre Brust legte. Der Ambassador selbst hatte ihr zum fünften Geburtstag ein Programm geschrieben, das mit Hilfe eines Konverters, den die Oktoftewiltabinen auf seinen Wunsch gebaut hatten, die gespeicherten Informationen als Buchstaben und Bilder auf den Monitor ihres Datcoms spielen konnte. Das war nun schon elf Zyklen her, aber ihre Erinnerung war so scharf, als ob es gestern gewesen wäre, denn sie konnte nichts vergessen. Er war der Einzige, der verstand, dass sie Daten lieber über ihre Augen und anderen Sinne aufnahm, als sie von einer Lernmaschine direkt in ihr Gehirn projizieren zu lassen. Der athletische Mann mit seiner schwarzen Toga hatte väterlich zu ihr heruntergelächelt: »Nun hast du einen Reader für deine Ebooks.«

Nur was Reader oder Ebooks waren, hatte sie nie herausbekommen. Diese Wörter gab es in den Datenbanken von Njamingloh nicht. Gerne hätte sie den Ambassador gefragt, doch sah sie ihn nur bei gesellschaftlichen Anlässen. Zwar winkte er ihr jedes Mal zu, aber eine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, hatte sie sich nie erschleichen können.

Drei Schminkzofen kamen mit ihren Köfferchen und verbeugten sich stumm. Shimamota wandte sich wieder dem Fenster zu, damit die Frauen gutes Licht für ihre Arbeit hatten. Kleine Bürstchen und feine Pinsel kitzelten auf ihrer Haut, reizten sie zum Niesen, wenn sie der Nase zu nahe kamen. Gleichzeitig wurden ihre Nägel kunstvoll bemalt. Endlich waren die Zofen fertig und betrachteten noch einmal kritisch ihr Werk. Sie hielten ihr einen Spiegel hin: Shimamota sah wie immer perfekt aus. Auch heute würde ihre Mutter keine Nachlässigkeit feststellen können.

»Fertig, Guretta«, sagte die leitende Zofe und machte einen tiefen Knicks.

»Estelle«, dröhnte eine Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher.

Shimamota fuhr zusammen. Sie hasste es, so unerwartet und dann auch noch mit ihrem zweiten Namen angesprochen zu werden. An die Anrede ›Guretta Estelle‹ hatte sie sich wohl oder übel gewöhnt. Sie betrachtete es als ihren Titel. Aber wenigstens ihre Mutter könnte sie bei ihrem richtigen Namen nennen!

Hektisch zupften die Zofen noch eine Haarsträhne und die letzten Falten im Kleid zurecht, dann durfte sie endlich gehen.

Auch der Gang zur Mutter gehörte zur täglichen Routine. Mehr als diese paar Minuten beim morgendlichen Briefing sah sie ihre Mutter nie und auch da dominierten sachliche Themen und Terminabsprachen. Selten fielen private Worte, auch wenn Shimamota es gelegentlich probierte, ging ihre Mutter kaum darauf ein. Als ob sie ein verdammter Roboter wäre!

Aber Shimamota hatte sich damit abgefunden. Sie konnte alles haben - was sie wollte, wen sie wollte - solange sie sich an die Protokolle hielt. Sie hob den Kopf. Graziös schritt sie zum Schlafgemach, durchquerte es und verließ es auf der anderen Seite durch die Tür zu ihren Aufenthaltsräumen. Kleine Tischchen und bequeme Sitzmöbel dominierten den Empfangsraum. Die gläserne Westwand erlaubte einen luftigen Blick in die Ferne, wo Himmel und Meer zusammenstießen. Der Sensor erkannte Shimamota und öffnete geräuschlos die Tür zum Antigravitationslift. Sie ließ sich bis ins oberste Stockwerk tragen, dem Domizil ihrer Mutter, Gura Limka, der Obersten Administratorin.

 

3. Kapitel

Auf dem Meeresgrund, in 1000 Spannen Tiefe, breitete sich die Hauptstadt der Oktoftewiltabinen aus: Wellubimarulles. Am Stadtrand befand sich das Hauptquartier der Sternenflotte, ein imposanter Bau, der einem Korallenriff nachempfunden war.

Die Meeresoberfläche leuchtete in der Morgensonne und sandte mattes Licht herunter, als Fanli'belzurili durch das Hauptportal in das Gebäude glitt. Sie blinzelte. Für ihren Geschmack waren viel zu viele Lumineszenzbakterien an der Decke angebracht, die die langen, schmucklosen Korridore im Bürotrakt der Raumfahrtbehörde noch unpersönlicher erscheinen ließen. Sie schwamm an unzähligen polierten Kalzittüren vorbei, die in regelmäßigen Abständen die kahlen Wände unterbrachen. Nummer 111. Die Arbeitsgrotte des Rekruters.

Als die Zeitanemone an der fernen Stirnwand ein weiteres Blatt ausklappte, kam Fanli vor der Tür an. Sie blies noch einmal Wasser durch die Kiemen. Dann richtete sie ihre mentale Stimme auf das Zimmer jenseits der Tür: »Bitte mit Verlaub eintreten zu dürfen.«

Kleine Bläschen stiegen aus den Führungsschienen, als sich die Tür öffnete. Fanli schwamm mit einem beherzten Tentakelschlag in die Grotte.

Im hellen Licht schaute ein fetter Oktoftewiltabine mit großen schwarzen Augen hinter einem Perlmuttpult hervor. Im Wasser trieb der Geruch von Muschelstew und Fanli bemerkte, wie der Rekruter langsam seinen Primärtentakel vom Pult zurückzog. Über seine Haut lief ein Gelbton, was eine gewisse Angenervtheit anzeigte. Fanli vermutete, dass er gerade seine Mahlzeit außer Sicht gebracht hatte. Offensichtlich hatte er sie noch nicht erwartet.

Fanli wunderte sich darüber. »Ich wünsche dem ehrenwerten Rekruter einen schönen guten Morgen«, grüßte sie auf telepathischem Weg, der gängigen Art der Kommunikation unter Oktoftewiltabinen.

»Nehmen Sie doch Platz, verehrtes Frollein Fanli'belzurili«, erwiderte er und deutete mit einem Fangarm auf den Hocker vor seinem Pult. »Was kann ich in meiner bescheidenen Position für Sie tun?«

Fanli ließ sich nieder. Sie fühlte sich etwas nervös und so ordnete sie ihre Tentakel in akkurater Pose um sich herum. »Mit großem Interesse habe ich Ihre Ausschreibung gelesen. Mich dünkt, dass ich mit meinen Fähigkeiten und Talenten genau in das Anspruchsprofil passen würde.«

Mit einem flinken Druck seiner Tentakelspitze betätigte der Rekruter eine Steuereinheit an seinem Arbeitshocker. Über dem Pult formierten sich Tausende von Leuchtamöben zu einem Bildschirm. Anfangs schillerten sie blass, doch als sie das modulierte Licht aus dem Perlmuttpult traf, nahmen sie die Information auf und begannen zu leuchten. Leider nur in Richtung Rekruter. Die Fanli zugekehrte Seite blieb dunkel.

»Ah, der Termin zur neunten Stunde! Sie sind pünktlich.«

»Haben Sie etwas anderes erwartet?«, entfuhr es Fanli und sofort ärgerte sie sich, dass sie ihre Meinung nie für sich behalten konnte.

Auf der Haut des Rekruters erschienen amüsierte blaue Pünktchen. »Sehr geehrte Fanli'belzurili, Weiblinge kommen immer zu spät.«

Fanlis Blick fiel auf ein Bild an der muschelschalendekorierten Wand hinter dem Pult, das eine wabbelige Oktoftewiltabine mit zwei Dutzend Kindern zeigte. Wahrscheinlich die Frau des Rekruters - eine Art Zuchtmaschine, wie es schien. Fanli verkniff sich ihren Kommentar. Sie wollte sich die Chancen auf den Job nicht gleich verderben. »Ich habe auch zwölf Geschwister«, sagte sie stattdessen höflich.

Der Rekruter deutete auf den Bildschirm. »Wie es scheint, ist Ihre Bewerbung in einem falschen Slot gelandet: Navitroniker.« Er wandte sich verwundert schillernd an Fanli. »Das kann doch nicht stimmen. Haben Sie sich vielleicht als Kantinenhilfe beworben? Oder Reinigungskraft oder Sekretärin? Davon haben wir etliche Stellen.«

»Nein, nein«, erwiderte Fanli. »Der Navitroniker ist schon richtig.«

Die Haut des Rekruters überzog sich mit einem überraschten Hellgrün. »Sie glauben doch nicht wirklich, Frollein Fanli'belzurili, die erforderlichen Voraussetzungen zu besitzen?«

»Ich habe Ihnen doch meine Zeugnisse geschickt.«

Der Rekruter wischte mit einem Fangarm durchs Wasser. »Viele Weiblinge vertreiben sich die Zeit vor dem brutfähigen Alter mit Studien.«

»Manche würde gerne eine Karriere einschlagen«, erwiderte Fanli in höflichem Tonfall.

Die Haut des Rekruters nahm ein überhebliches Zitronengelb an. »Es gibt immer welche, die ihre Qualitäten falsch einschätzen.«

Fanli fühlte sich genervt, unterdrückte aber die verräterische Farbreaktion ihrer Haut. »Ich habe Ihnen eine Beurteilung von Raumcommander Wate'medaludes beigefügt«, erwiderte sie ruhig.

Sein Farbton wechselte zu einem ironischen Magenta. »Ihr Vater!«

Die Muskeln in Fanlis Tentakeln spannten sich. Wenn es mehr Ausschreibungen für Navitroniker gäbe, würde sie dieser Qualle ein paar Worte zu sagen haben! Fanli fiel es schwer, ihren Ärger zurückzuhalten. »Er war ein hochgeehrtes Mitglied der Raumflotte.«

»Liebes Frollein Fanli'belzurili, wir alle kennen seine überragenden Verdienste bei der Rettung unseres Planeten! Nitsituaan würde es ohne ihn nicht mehr geben.« Der Rekruter wippte leicht vor Ehrfurcht, saß aber sofort wieder still. »Sehen Sie, Väter stehen den Wünschen ihrer Töchter oft etwas unkritisch gegenüber.«

Fanli hätte ihn für diese Unverschämtheit würgen mögen. Sie blies diskret Wasser durch ihre Kiemen, um sich zu beruhigen. »Ich habe auch Referenzen von meinem letzten Vorgesetzten mitgeschickt.«

Der Rekruter warf einen Blick auf den Monitor. »Lame'linulatus. Wie ich sehe, ein Unterling ihres Vaters.«

»Er hat ein gutes Beurteilungsvermögen und einen scharfen Verstand!«, erläuterte Fanli mit fester Stimme.

»Er gehorcht Befehlen.« Der Rekruter schillerte nun in einem selbstzufriedenen Grün. »Man hört, er war lange in der Crew Ihres Vaters. Da wird sich eine gewisse Loyalität entwickelt haben, vielleicht Dankbarkeit?«

»Er ist der beste Navitroniker!«

»Sie scheinen ihn ja sehr gut zu kennen? Es heißt, er lässt keinen Weibling aus.«

Fanli fuhr von ihrem Sitz hoch. »Wollen Sie damit andeuten, ich hätte mit ihm ...«

Der Rekruter hob zwei Tentakel. »Oh, das würde ich ihm nicht verdenken.« Er ließ seinen Blick über ihre Fangarme gleiten. »Jeder hat ein Recht auf sein Vergnügen.«

Fanli glühte rot vor Zorn. »Anstatt mir Affairen zu unterstellen, sollten Sie sich lieber meine Qualifikationen ansehen!«

Der Rekruter nahm wieder seinen selbstzufriedenen Farbton an. »Aber das tue ich doch, hochverehrtes Frollein Fanli'belzurili. Ihre technischen Fähigkeiten sind zweifelsfrei überragend. Ich wäre froh, wenn ich einen Männling mit dieser Klasse finden könnte, aber es sind die, äh, sozialen Kompetenzen, die mir große Sorge bereiten. Sehen Sie, Sie sind jung, bald kommt der erste Brautkampf, dann legen Sie Ihr erstes Ei ... der erste Schlüpfling. Ich muss vorausdenken. Ich bin dafür verantwortlich, dass die Crew optimal zusammengesetzt ist. Ich muss Probleme vorhersehen, nicht nur für die ganze Besatzung, auch für den Einzelnen. Ich brauche kein Mitglied, das in sich zerrissen ist und daher in Stresssituationen Fehlentscheidungen treffen könnte. Es würde Leben kosten.«

»Und das alles unterstellen Sie mir, nur weil ich ein Weibling bin?!«, fauchte Fanli.

»Ihr Profil passt nicht.« Der Rekruter wedelte mit seinem Primärtentakel vor dem Bildschirm herum. »Ich könnte Ihnen die Stelle als Küchenhilfe anbieten. Da erhalten Sie sogar Sozialleistungen, eine kostenlose Krabbelstube mit Betreuung ...«

»Chauvinistische Qualle!«, schrie Fanli und schoss zur Tür hinaus.

 

4. Kapitel

Die Sonnen brannten vom Mittagshimmel. Sven stapfte durch das dürre Gras der weiten Ebene. Zweifel befielen ihn. Hatte ihm sein Gehirn einen Streich gespielt? Wenn er seine häufigen Kopfschmerzen in Betracht zog und die Stimmen in seinem Kopf ... Er war ein Telepath, genau wie sein Vater - er hörte die Gedanken der Squids. Aber ›gesehen‹ hatte er bisher noch nie etwas.

Da fiel sein Blick auf ein fingerlanges Insekt mit spitzem Giftstachel, das auf sechs feuerroten Beinen zwischen den Grashalmen auf ihn zukroch. Unwillkürlich stieß er einen Schrei aus: »Sandstecher!«

Als Kind war er in einen Schwarm geraten und dermaßen gestochen worden, dass er wochenlang im Fieber gelegen hatte und fast gestorben wäre.

Miguel sah ihn besorgt an. »Komisch. Die gibt's doch sonst nicht so weit im Norden.«

Das beruhigte Sven nicht. Er machte einen großen Bogen um den Sandstecher. Dann warf er einen Blick auf sein Datcom, um sicherzustellen, dass er noch auf dem richtigen Kurs war.

Eine Stunde später sah Sven einen ganzen Pulk Sandstecher. Die Tiere wimmelten hektisch nordwärts. Sein Magen zog sich zusammen.

»Ist ja gut«, sagte Miguel mit beruhigender Stimme. »Die laufen nicht auf uns zu.«

Sven fixierte sie misstrauisch. »Was wollen die hier?«

»Keine Ahnung. Sieht aus, als wären sie vor irgendetwas auf der Flucht.« Miguel warf einen kritischen Blick südwärts. »Wir sollten umkehren.«

Sven biss die Zähne zusammen. »Wir gehen weiter.«

Das Display des Datcoms zeigte einen eingehenden Anruf.

»Das wird Mom sein«, vermutete Miguel.

Sven ignorierte auch die folgenden Anrufe.

»Solltest du nicht besser ...«

»Nein«, antwortete Sven. Ohne stichhaltige Beweise würde Miguels Mutter seine Beobachtung nicht glauben.

 

Der Nachmittag nahte und immer noch konnte Sven kein Raumschiff sehen. Er überlegte, ob es vielleicht ein Meteor gewesen sein könnte, wischte den Gedanken aber beiseite, denn die Erscheinung hatte beim Runterkommen abgebremst.

Miguel beschattete die Augen und fixierte einen Punkt im Süden. »Da!«

»Was?«

»Da hat was in der Sonne geblitzt!«

Svens Herz begann heftig zu klopfen. »Ein Raumschiff?«

»Kann ich auf die Entfernung nicht erkennen.«

Sven nahm einen tiefen Atemzug. »Dann los!«

 

Sven bemerkte den Gleiter erst, als der ihn in weitem Bogen überholte. Dann raste das Gefährt heran und hielt vor den beiden Jungen an. Leise zischend öffneten sich die Türen und eine drahtige Frau in erdfarbener Jacke und enganliegender Lederhose stieg aus.

»Hallo Mom«, sagte Miguel leise.

Sie sah ihren Sohn nur kurz an und ging an ihm vorbei, direkt auf Sven zu. Sein Haar erntete den missbilligenden Blick, den er nur zu gut kannte.

»Was fällt dir ein, in der Gegend herumzulaufen, statt nachhause zu kommen?«, fuhr sie ihn an. »Und obendrein wagst du es, meine Anrufe zu ignorieren!«

Sven hob den Kopf. »Ich habe etwas gesehen und wollte dem nachgehen.«

Rodhana verengte die Augen. »Was?«

Sven atmete tief durch. »In der Dorngrasebene ist etwas gelandet.«

»Und warum hast du mich nicht sofort informiert?!«

Sven senkte den Kopf. »Weil ich erst sicher sein wollte.«

Rodhana zog die Brauen hoch. »Das klingt nicht sehr überzeugend, junger Mann!« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Hast du es auch gesehen?«

»Da vorne hat etwas in der Sonne geblitzt!«, antwortete Miguel.

Rodhana schnaubte. »Hab ich mir's doch gedacht! Ihr heckt wieder irgendeinen Unsinn aus!« Sie deutete auf den Gleiter. »Einsteigen!«

Sven rührte sich nicht. »Nein ... Da ...«

»Wenn dort etwas gelandet ist, werde ich mich darum kümmern!« Rodhana sah Sven scharf an. »Rein mit dir!«

Sven ließ sich neben Miguel nieder, der bereits schweigend auf der Rückbank saß. Rodhana stieg ein und sprach die Zielkoordinaten in den Bordcomputer. Das feine Sirren des Antriebs schwoll an.

 

Wenig später saßen die beiden Jungen in Miguels Zimmer auf der Hazienda am Fuß der Berge. Hier stand ein zusätzliches Bett für Sven. Seit vielen Zyklen kam er fast jedes Wochenende zu Besuch, denn hier litt er weit weniger unter Kopfschmerzen als im elterlichen Haus am Meer.

Sven schob das Datcom von sich, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah zum Fenster hinaus in den wolkenlosen Himmel. Die Erscheinung letzte Nacht war so klar gewesen, so real ... Sven atmete schwer. Er trat ans Fenster und schaute zu dem kleinen See, wo das Boot von Miguels Vater Pedro am Steg vertäut dümpelte. Auf den Weiden, die sich bis zum Horizont erstreckten, grasten Biftons. Pedro züchtete die massigen, mannshohen Vierbeiner, weil ihr Fleisch geschätzt wurde. Sie gaben auch gute Zugtiere für den Karren ab. Meistens waren sie friedlich, aber wenn eins mal den breiten Kopf mit den geschwungenen Hörnern senkte und einen aus olivgrünen Augen anstierte, machte man gerne einen vorsichtigen Rückzug.

Auf dem nördlichen Fahrweg nahte ein Gleiter. Sven sah ihn in der Sonne blitzen. »Da kommt mein Alter«, stöhnte er und ließ sich aufs Bett fallen. »Hoffentlich glaubt er mir.«

Zunächst hörte er Stimmen im Empfangsraum, dann stieg jemand die Treppe herauf. Die Tür öffnete sich. »Hallo, miteinander.«

»Hallo, Jake«, grüßte Miguel.

»Kannst du nicht anklopfen?«, beschwerte sich Sven.

»Das ist nun die Begrüßung von meinem Sohn, den ich seit fast einer Woche nicht gesehen habe!«

»Du bist ja nie daheim«, konterte Sven.

»Das Gleiche kann ich von dir sagen.« Sein Vater ließ den Blick über das Chaos im Zimmer schweifen: Klamotten - eine Trennung zwischen sauberen und getragenen schien es nicht zu geben - selbstgemachte Speere mit Spitzen aus alten Messerklingen und scharfen Blechteilen lehnten an der Wand. Campingausrüstung, Angelzeug, Zwillen verschiedener Größe, ein Bogen und einige Pfeile verteilten sich wahllos über Plankenboden und Möbel. Jakes Mundwinkel zuckte. Er zog sich den einzig freien Stuhl herbei und ließ sich vor Sven nieder.

Miguel räusperte sich. »Soll ich gehen?«

»Nein, nein. Bleib mal hier.«

»Was soll das werden?«, maulte Sven. »Ein Verhör?«

»Reg dich ab, Sven. Nenne es väterliche Neugier. Du hast etwas gesehen und Miguel nicht?«

Sven nickte.

»Wie hast du es aufgenommen? Durch die Augen - oder im Gehirn?«

Jetzt, wo es angesprochen wurde, war Sven sich nicht ganz sicher. Hitze schoss in seinen Körper. »Glaubst du, ich habe es mir eingebildet?«

Jake blieb ruhig. »Wir werden es herausbekommen. Ich habe Grimper gebeten, mit seinen Leuten morgen die Dorngrasebene bis hinauf zur Blazzjoren-Wüste nach gelandeten Flugobjekten abzusuchen.«

Sven atmete auf. »Kann ich mithelfen?«

Sein Vater lächelte. »Du, mein Sohn, wirst zur Schule gehen.«

 

5. Kapitel

Fanli schnellte sich mit ärgerlichen Tentakelstößen vorwärts. Das Wasser rauschte um ihre Kiemen. Zwei Jobinterviews in der letzten Woche ... und zwei Absagen. Und nun hatte sie sich die dritte eingefangen. Nur, weil sie ein Weibling war! Die wenigen Stellen wurden ausnahmslos an Männlinge vergeben. Diese verdammten Spritzer! Dabei war sie eine kompetente, ausgebildete Navitronikerin mit Weltraumerfahrung. Es war einfach nur ungerecht!

Das Meer schien heute vor Hitze zu kochen. Sie suchte eine kühle Strömung und ließ sich in die Tiefe tragen. Unter ihr wimmelte das Leben der Hauptstadt. Scooter, röhrenförmige Gefährte aus kalzifiziertem Knorpel, angetrieben durch synthetische Wasserstrahlmuskeln, zischten durch die Straßenschluchten und in den Tangparks suchten Oktoftewiltabinen Kühlung von der Widrigkeit der heißen Zeit. Sie liebte Wellubimarulles, aber heute kotzte es sie an. Sie brauchte einen Drink und sie wusste auch schon wo. Sie steuerte auf eine belebte Straße zu und ließ sich auf das Bodenlevel hinabsinken. Dort war der Eingang. Nach außen hin wirkte es recht unscheinbar, das Tibulata, aber für sie war es ein Stück Zuhause. Der breite Männling an der Tür, Joje, grüßte höflich wie immer. »Du bist aber heute früh dran! Gab's Ärger?«

Fanli zwinkerte ihm zu. »Sind schon welche von der alten Crew da?«

»Klar«, blubberte Joje. »Die halbe Besatzung.«

»Danke«, sagte Fanli. »Und lass keine Muränen rein.«

Durch einen langen Tunnel, den von der Decke wehende buntfluoreszierende Algenfäden schummrig beleuchteten, tauchte sie in die Tiefe des Gebäudes. Sie näherte sich einem Gewirr mentaler Stimmen. Musik wurde laut. Sie schlüpfte durch einen Tangvorhang und vor ihr öffnete sich eine hangargroße Grotte. Auf der Bühne gegenüber sang Lolli'lindezzina simultan mit ihrer akustischen und mentalen Stimme. Anemonenlampen betonten das aufreizende Farbspiel ihrer Haut und sie tanzte auf eine Weise, dass die Männlinge links an der langen Bar vor Glotzen das Trinken vergaßen. Die meisten trugen die Tätowierungen niedriger Ränge des Raumkommandos. Fanli bemerkte auch mehrere Mitglieder des Militärs und Ordnungshüter. Einige schauten sie taxierend an. Fanli wandte sich ab.

An den Tischen in der Mitte des Saals entdeckte sie die Crew der STEL-72. Sie winkte deren kräftigem Navitroniker zu. Er hob zum Gruß seine Trinkblase, einen kugelrunden Beutel aus transparenten Tangfasern mit Saugnippel, und prostete ihr zu.

Etwas abseits umschwärmte eine Anzahl junger Weiblinge lustig und kokett schillernd einen schmucken Kerl, der sich lässig auf seinem Hocker räkelte: Zera'malulufus. Fanli seufzte. Er sah schon verdammt gut aus, hatte lange, kräftige Tentakel, einen wohlgeformten Kopf und tiefschwarze Augen, in denen helle Pünktchen wie Sterne leuchteten. Er war nur unwesentlich älter als sie selbst und hatte den Sprung in die Raumflotte geschafft. Na klar, als Männling und noch dazu General Zukla'medikulles' Sohn war das kein Wunder. Früher war sie einmal mit ihm befreundet gewesen, aber seit er als Offiziersanwärter auf der Raumbasis stationiert war, sah sie ihn nur im Tibulata, wenn er Heimurlaub hatte, und dann hing eine Traube Weiblinge um ihn herum.

Mit einem heftigen Tentakelschlag stieß sie sich vorwärts.

An dem gewohnten Tisch in der hintersten Ecke erblickte sie eine Gruppe lärmender Oktoftewiltabinen mit prallen Trinkblasen in exotischen Farben. Sie kannte jeden Einzelnen und jeder hatte einen Platz in ihrem Herzen. Unter ihrer Obhut hatte sie ihre erste Raumerfahrung gemacht. Da war Maski'lammarubis, ein kurzer, breiter Oktoftewiltabine mittleren Alters. Er war der Steuermann auf dem Schiff ihres Vaters gewesen. Wie üblich hing er zusammen mit Lame'linulatus ab, der als Schiffsnavitroniker damals ihr Vorgesetzter gewesen war. Die durchgestandenen Ängste und Gefahren hatten sie trotz des Altersunterschieds zu Freunden zusammengeschmiedet. Jetzt waren sie arbeitslos, denn ihr berühmtes Schiff, die FREDDY, war nach ihrem spektakulären Einsatz gegen die sternenvernichtende Hyperschockwelle ins Museum gebracht worden. Dabei war es doch noch voll raumtauglich! Fanli verstand schon, dass es als wichtiger Bestandteil der Geschichte Nitsituaans erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte, statt es den Gefahren des Alls auszusetzen. Aber man hätte der Crew ein neues Schiff zur Verfügung stellen sollen!

»Ah! Fanli!«, rief ihr der kompakt gebaute Ex-Steuermann zu.

»Hallo, Maski!«, grüßte sie.

Lame legte einen seiner wendigen Tentakel um sie. »Wie war das Vorstellungsgespräch?«

Die Erinnerung trieb Fanli Hitze in den Körper. »Ich brauche erst einmal einen großen Annelysirak!«, stöhnte sie.

»So schlimm?«, wollte Lame wissen.

»Bring mir gleich zwei!«, rief sie zur Bar.

»Nimm dir's nicht so zu Herzen«, sagte Maski sanft und ließ ein aufmunterndes Hellblau über seine Haut pulsen. »Aber eine Schande ist es schon, dass sie dir noch nicht einmal eine Chance geben!«

Lame wedelte beschwichtigend mit einem Fangarm. »Die wird schon noch kommen. In der Zwischenzeit solltest du dein Leben genießen! Ein bisschen Ablenkung könnte dir nicht schaden.« Er deutete zur Bar. »Sieh dir doch mal den Jungster dort an.«

Fanli warf einen kurzen Blick hinüber. Er sah aus wie einer von vielen. »Kennst du den Typen?«

»Nee. Seh ihn heute zum ersten Mal. Aber seit du reingetaucht bist, lässt er kein Auge von dir.« Schelmisch ließ Lame'linulatus grüne Pünktchen auf seiner Haut aufleuchten. »Wenn du schon nicht an den schönen Zera rankommst, dann könntest du dich von dem auf andere Gedanken bringen lassen!«

»Stockfisch!«, blitzte Fanli ihren alten Vorgesetzten an und stieß ihm die Tentakelspitze in die Seite. »Ich brauche keine hormongesteuerten Spritzer.«

»Bei mir hilft sowas immer«, sagte er treuherzig.

Solche Diskussionen nervten. »Dann schnapp ihn dir halt!«, erwiderte sie.

Lame blubberte vor Vergnügen. »Du bist eine verdammt freche Krabbe!«

»Oh-oh«, machte Maski, reckte den Kopf und sah zur Bar. »Wie's aussieht, nutzt er die Gelegenheit, dir deine Drinks zu bringen.«

»Zera?«

»Nein! Der Neue.«

»Und wenn schon«, zischte Fanli.

Augenblicke später reichten zwei elegante Tentakel um sie herum und stellten die bestellten Trinkblasen mit grünschillerndem Inhalt vor sie. »Darf ich mir die Freiheit nehmen, mich vorzustellen, hochverehrtes Frollein? Ich bin Marti.«

Verzieh dich!, dachte Fanli. Laut sagte sie: »Vielen Dank, Kumpel. Und nun möchte ich dich gerne von hinten sehen!«

Marti machte einen Salto.

»Das war für Ihren Geschmack vielleicht eine zu kurze Ansicht meiner Rückseite«, sagte er und ließ verschmitzt orangefarbene Pünktchen auf seiner Haut aufblitzen, »aber ich kann's auch langsamer.«

Fanli blubberte belustigt. »Du bist ein Clownfisch, Marti!«

Der deutete auf ihre Drinks. »Es gibt auch andere Möglichkeiten, Sorgen loszuwerden.«

Sollte das so eine plumpe Anmache sein? Lame ging ihr schon mit seinen Anzüglichkeiten auf die Nerven. Und jetzt auch noch diese Type! Fanli färbte sich rot vor Ärger. »Das haben mir andere auch schon vorgeschlagen!«

Marti legte ein verlegenes Blau auf. »So hatte ich das nicht gemeint.«

»Ich habe es satt, von jedem Kerl angequatscht zu werden! Schwimm wieder zu Deinesgleichen an die Bar! Und wenn ich sehe, dass du einen Weibling gegen ihren Willen belästigst, dann ...« Fanli machte das Würgezeichen.

Marti lachte. »Sie gefallen mir, wenn Sie wütend sind! Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«

»Nein!«, fuhr sie ihn an.

»Schade«, erwiderte er, senkte sich im höflichen Gruß kurz ab und zog sich an die Bar zurück.

»Dem hast du's aber sauber gegeben!«, sagte Lame und saugte an seiner Trinkblase.

Maski schaute dem Jüngling hinterher. »Ich fand ihn eigentlich ganz nett.«

»Du wirst auch nicht jeden Tag achtundachtzig Mal von solchen Kerlen angeblubbert!«, fauchte Fanli, besann sich aber sogleich und streckte beschwichtigend ihren Tentakel aus. »Tut mir leid, Maski. Es war nicht so gemeint. Ich bin heute etwas geladen.«

»Kann ich verstehen.« Maski hob seine Trinkblase. »Glumpers«, prostete er ihr zu und nahm einen tiefen Zug. »Was macht eigentlich dein Vater? Ich habe ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Wenn er nicht versucht, seine Tentakel in das Homidenfreundschaftsprogramm zu schieben, verbringt er viel Zeit mit den Wissenschaftlern. Sie forschen gerade an einer ganz geheimen ›revolutionären‹ Entdeckung.«

Lame nickte versonnen. »Das vor kurzer Zeit entdeckte Lymelleninterferenzphänomen könnte zu einem absolut undurchdringlichen Unsichtbarkeitsschirm genutzt werden.«

»Vielen Dank, Lame. Das kannst du morgen deinen Studenten erzählen!« Fanli hielt ihm die Trinkblase hin. »Glumpers!«

 

Es wurde im Verlauf des Abends noch mehr Annelysirak bestellt. Fanlis Laune hob sich mit jeder Trinkblase. »Man müsste an den Leiter der Raumflotte rankommen!«, überlegte sie. »Swallu'ketallantes soll nicht so ein verbohrter Chauvinist sein, obwohl er ein General ist.«

»Da kann ich dir leider nicht helfen.« Lame zog nachdenklich einen Fangarm durchs Wasser. »Aber ich mache dir einen anderen Vorschlag: Gib den Navitroniker auf ...«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, fuhr Fanli hoch. »Ich will auf ein Schiff!«

»Jetzt hör doch erst einmal zu!«, beschwichtigte er sie. »Mach eine Fortbildung zum Raumschiffcommander.«

Fanli sah ihn mit großen Augen an. »So wie Papa! Das wäre schon was!« Sogleich sackte sie in sich zusammen. »Aber ... da nehmen sie mich als Weibling doch erst recht nicht!«

»Du musst es wirklich wollen und daran glauben, dann wirst du es schaffen. Außerdem«, er zwinkerte ihr zu, »gehöre ich zu den Ausbildern. Ich bin sicher, ich kann ein gutes Wort für dich einlegen.«

Fanli sah ihn nachdenklich an. Wie seine gutgemeinte Beurteilung von Rekrutern aufgenommen wurde, hatte sie zu ihrem Leidwesen bereits erfahren müssen. Aber ... Fanli lehnte sich zurück und ließ ihren Blick zur schillernden Decke emporwandern ... Raumschiffcommander ...

Sie bestellte noch einen Annelysirak.

 

Nach und nach verabschiedete sich einer nach dem anderen. Auch der begehrte Zera'malulufus verschwand und mit ihm eine Traube junger Weiblinge. Fanli spürte einen Stich im Herzen und seufzte.

Sie nahm noch einen Schluck Annelysirak, bannte Zera aus ihren Gedanken und hing ihren Träumen nach. Sie stellte sich vor, wie es wäre, auf dem Kommandositz eines Raumschiffs zu sitzen, durchs All zu fliegen, Befehle zu geben. Sie würde Weiblinge in ihre Crew aufnehmen. Bei der Mutter des Alls, das würde sie! Lame'linulatus hatte recht. Sie könnte es schaffen: Sie lernte schnell und war physisch in bester Verfassung. Ihr Plan stand fest: Morgen würde sie sich für die Ausbildung anmelden!

»Hochverehrtes Frollein, fühlen Sie sich jetzt besser?«

Fanli blickte auf. Sie stellte fest, dass sie nicht mehr ganz klar sah, aber das war der Kerl von vorhin. Marti. Er leuchtete in einem freundlichen Blauton und hielt sich auf respektierlicher Distanz. Eigentlich sah er gar nicht so schlecht aus und irgendwie fühlte sie sich gerade leicht und zufrieden. Sie war definitiv nicht mehr in der Stimmung zu streiten. »Ich habe dich hier noch nie gesehen«, antwortete sie.

Er schwamm eine Winzigkeit näher. »Ist auch mein erstes Mal.«

Fanli suchte nach seiner Tätowierung. Das war nicht einfach, denn es fiel ihr schwer, ihre Augen zu fokussieren. Dass sie keine fand, verwirrte sie etwas. »Zur Raumflotte gehörst du jedenfalls nicht.«

»Nee.« Seine Haut flimmerte in einem freudigen Orangeton.

Wahrscheinlich war er einer von diesen Jungstern, die von der Raumfahrt träumten, denen aber die Qualifikationen fehlten. Fanli seufzte. Solche Typen hingen oft im Tibulata ab, um ihre Helden zu bewundern. Aber dass er sie nicht erkannte, wunderte sie. Diese Fische wussten doch sonst die gesamte Mannschaft der FREDDY aufzusagen - und damals war sie das einzige weibliche Crew-Mitglied gewesen.

Er warf einen Blick auf ihre Tätowierung. »Du bist Navitroniker?«

Hallloooh!!, dachte sie. Bei dem klingelt es immer noch nicht! »Wäre ich! Wenn ich einen verdammten Job bekommen könnte!«, antwortete sie. Gerade war sie noch bester Laune gewesen und jetzt kam diese Qualle daher und musste sie wieder an die Absagen erinnern.

»Das tut mir echt leid«, sagte er und leuchtete in einem betroffenen Lila.

»Alles, weil ich keinen Schwanz zwischen den Tentakeln habe!«, fuhr sie verärgert fort. »Verdammte Chauvinisten! Weiblinge sind doch nur zu einem gut, was?!«

»Nicht alle sind so.« Marti schwamm ein bisschen näher. »Ich möchte Ihnen gerne helfen.«

Fanli klappte die Kiemendeckel zu. Leider gab es viel zu viele Spritzer auf diesem Planeten, und jeder sagte das, was ihm selbst zum Vorteil verhalf. Vielleicht meinte er es ernst, vielleicht wollte er sie ja auch nur ›nach Hause bringen‹. »Vielen Dank, Marti.«

Er wich ein Stück zurück. »Du bist vielleicht eine Kratzmuschel! Du scheinst dich ja dermaßen in deine Vorurteile verbohrt zu haben, dass du nicht mehr geradeaus denken kannst!«

Sie sah ihn erschrocken an. »Kannst du in mich hineinsehen?«

Er winkte ab. »Es steht dir auf die Haut geschrieben.« Er nahm einen stahlblauen Farbton an. »Aber ich werde dir beweisen, dass es auch andere Männlinge gibt.«

Wieder wusste sie nicht, ob er nur Sprüche abließ. Sie beschloss, ihn ein wenig abzuklopfen. »Es wäre wirklich schön, wenn es solche gäbe. Weißt du, es ist nämlich ziemlich frustrierend, ständig gegen Chauvinisten ankämpfen zu müssen.« Sie hob ihren Primärtentakel wie zum Schwur: »Aber ich werde nicht aufgeben! Allen zum Trotz werde ich der erste weibliche Raumschiffcommander von Nitsituaan werden! Commander Fanli'belzurili!«

Marti paddelte wieder ein Stück näher heran und seine Farbe wechselte zu einem leuchtenden Hellblau. »Das ist ein wunderschöner Name«, sagte er leise.

Sie sah ihn verblüfft an. Das klang so ehrlich. Er war ein seltsamer Typ. Erst brachte er sie zum Kochen und dann zeigte er seine gefühlvolle Seite. »Tut mir leid, wenn ich dir etwas unterstellt habe.«

»Schon gut«, antwortete er. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Sie rutschte ein Stück zur Seite.

Er setzte sich neben sie. »Du scheinst sehr ambitioniert zu sein. Habe ich richtig verstanden, dass du Raumschiffcommander werden willst?«

»Na, ja«, gab sie zu. »Eigentlich wäre ich schon mit einer Position als Navitroniker zufrieden, aber Lame hat mich vorhin auf die Idee gebracht.«

»Dein Freund?«

Fanli blubberte. »Mein Ex.«

Marti legte einen verwirrten Ockerton auf.

Sie stieß ihn vergnügt in die Seite. »Mein Ex-Vorgesetzter!«

»Ach so«, sagte er.

»Und du findest das abartig?«

»Was?«

Fanli ließ grüne Pünktchen über ihre Haut blitzen, damit er wusste, dass sie alberte. Aber verwirrt sah er echt süß aus. »Ich meine, dass ich mir anmaße, beruflich in die Domäne der Männlinge vorzudringen«, klärte sie ihn auf.

»Ganz im Gegenteil.« Er sah ihr ernst in die Augen. »Mir imponiert, dass du dich das traust.«

Sie ließ die Tentakel sinken. »Mit ›Trau dich‹ allein ist es leider nicht getan. Die Entscheidungen werden von konservativen Männlingen getroffen.«

Marti schimmerte in einem geheimnisvollen Nachtblau. »Ich denke, du wirst deine Chance bekommen.«

Sie blickte auf. »Glaubst du wirklich?«

Er sah sie mit seinen schwarzen Augen an. »Ganz sicher.«

Seine Ermunterung tat ihr gut und irgendetwas in ihrem Inneren wollte, dass er recht hatte. »Das ist ganz lieb von dir.«

Er rückte etwas näher und Fanli ertappte sich bei dem Wunsch, dass er vielleicht doch ein bisschen mutiger sein könnte.

»Danke«, sagte er. »Es ist sehr schön, mit dir zu reden, aber es scheint, wir müssen uns dazu einen anderen Ort wählen.« Er deutete zur Bar. »Wir sind die letzten Gäste, ich denke, sie wollen schließen.«

Fanli sah ihn einen Augenblick lang an. Dann gab sie sich einen Ruck. »Na gut. Wenn du willst, darfst du mich nach Hause bringen - aber nur bis an die Tür.«

 

6. Kapitel

Vom Meer her blies ein kräftiger Morgenwind und heulte um das Haus am Strand von Lundsiel. Sven saß in der blitzsauberen Essküche. Er stocherte abwesend in seinem Frühstücksbrei, während er versuchte, sich Daten und Grafiken für den heutigen Unterricht einzuprägen, aber es ging ums Verrecken nichts in seinen Schädel. Es war, als hätte er wieder eine Million fremder Stimmen in seinem Kopf, die wie spitze Nadeln in sein Gehirn bohrten.

Die sieben Augenpaare seiner Geschwister beobachteten ihn schweigend über ihre leergegessenen Teller hinweg und sein Vater, der am Kopfende des langen Esstischs saß, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »Du hast eine wertvolle Gabe, Sven, aber irgendetwas scheint damit nicht zu stimmen.« Er lehnte sich vor und sah Sven prüfend in die Augen. »Wir sollten noch ein paar PSI-Tests mit dir machen lassen. Vielleicht können die Oktoftewiltabinen den Grund für deine Kopfschmerzen finden.«

Sven sah seinen Vater misstrauisch an. Schwang da nicht ›Halluzinationen‹ zwischen den Worten? Sven wünschte, er hätte diese blöde Gabe nicht. Warum ausgerechnet er? Warum nicht einer seiner Geschwister? Oder überhaupt ein anderer! So blieb alles an ihm hängen! Er sollte dem Beispiel seines Vaters folgen und sein Talent zur Verbesserung des Zusammenlebens der Menschen und Squids auf Nitsituaan nutzen. »Wenn ich es länger in ihrer Nähe aushalten könnte, würde ich mich zum Raumpiloten ausbilden lassen und nichts anderes!«

Jake schüttelte den Kopf.

»Du bist doch auch eins ihrer Beiboote geflogen!«

Sein Vater nickte. »Aber das war etwas anderes. Wenn wir erst eine Heilung für dich gefunden haben und du Ambassador geworden bist, werden sie dich bestimmt das eine oder andere Mal auf einen Flug mitnehmen.«

Sven schaute verdrießlich zum Fenster hinaus. Der Köder war so alt, dass er stank.

Jake ergriff sein Datcom. »Ich werde gleich einen Termin für dich ausmachen.«

»Da war ich doch schon hundert Mal«, protestierte Sven. Von diesem Spezialisten für parapsychische Gehirnleistungen wollte er sich nicht schon wieder untersuchen lassen. Das letzte Mal war es ihm so vorgekommen, als hätte ihm der blasse Squid mit Glubschaugen tausend glühende Nadeln ins Gehirn getrieben und Sven war das Gefühl nicht losgeworden, dass es ihm der abartige Kerl am liebsten aus dem Schädel geschnitten hätte! Er warf seiner Mutter einen flehenden Blick zu.

Sie lächelte, wischte sich eine Strähne ihres mahagonifarbenen Haars aus dem Gesicht und wandte sich an Jake. »Liebster, wenn du heute bei deinem Meeting im Kathedom Wate'medaludes triffst, richte ihm und seiner Frau bitte einen schönen Gruß von mir aus.«

Sven kannte die Ablenkungsstrategie seiner Mutter. Aber oft funktionierte sie nicht. Dann passierte genau das Gegenteil und sein Vater bekam noch dümmere Ideen. Als Sven sah, wie sich Jakes Miene verfinsterte, ließ er die Schultern sinken.

»Den hat man aus Verhandlungen herausgenommen, Myriam. Dabei war er der einzig Vernünftige in der ganzen Blase! Wie soll man ...«

Ein Fünkchen Hoffnung erwachte in Sven. Wenn sein Vater über Politik schimpfte, steigerte er sich manchmal so weit hinein, dass er alles andere vergaß. Sven beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.

Myriam stand auf. Der leichte Stoff ihres türkisgrünen Wickelgewands rauschte bei jedem Schritt wie sanfte Wellen am Strand. Sie legte Jake eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass es schwierig ist. Aber wir haben uns nach Svens Geburt entschieden, die Erde zu verlassen, um am Aufbau Nitsituaans mitzuwirken.« Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Und wir werden es schaffen.« Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf das Baby in der Wiege, die neben ihrem Stuhl am anderen Ende des Esstischs stand. »Für unsere Zukunft.«

Jake atmete tief, erhob sich und ging zu dem Kleinen. Er nahm ihn behutsam aus seinem Bettchen. »Für dich und alle Kinder werden wir eine bessere Welt schaffen«, flüsterte er liebevoll in das winzige Ohr.

Hosenscheißer - so nannte Sven den kleinen Hosbert, wenn es keiner hörte - strampelte und gluckste fröhlich. Er machte ein Bäuerchen und kotzte mit strahlenden Augen über seinen Vater.

»Iggigg«, lallte das Baby und machte ein zufriedenes Gesicht.

Jake fluchte.

Myriam nahm ihm das Baby ab.

Sven konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Besser hätte das Ablenkungsmanöver nicht ablaufen können! Jetzt musste sich sein Vater noch einmal waschen und umziehen.

Myriam zwinkerte Sven zu. Er wollte sich schon verdrücken, da fiel ihm noch etwas ein: »Er hat heute ein Treffen mit den Squids?«

Myriam nickte.

Sven bekam ein ungutes Gefühl. »Das hat doch bestimmt mit dem zu tun, was ich gesehen habe?«

Sie legte das Baby in die Wiege. »Wenn du es wissen willst, frag ihn selbst. Aber jetzt ist keine Zeit dafür, ihr müsst in die Schule. Und pass auf deine Geschwister auf!« Sie öffnete die Haustür und ließ die schulpflichtigen Kinder hinaus. »Bis heute Abend, ihr Süßen.«

Sven rührte sich nicht. »Du kannst mir's ruhig sagen!«

Myriam drückte ihm den Rucksack in die Hand. »Politischer Kram hat dich doch noch nie interessiert.«

Betse, Svens stämmige Schwester, die einen Zyklus jünger war als er, drängte sich heran. »Mach zu, Alter, sonst muss das Matro wieder wegen dir warten.«

 

Die kräftige Meeresbrise schob Sven voran und ließ seine Hosenbeine flattern. Sie trug das Geräusch brandender Wogen und den Geruch von Salz und Tang mit sich. Eine Rampe aus armstarken Knüppeln führte die Sanddüne hinunter. Das Seegras zu beiden Seiten wiegte sich im Wind und raschelte leise. Sven dachte an die stickigen Klassenzimmer und seufzte. Viel lieber würde er mit Grimper und seinen Leuten die Dorngrasebene durchkämmen. Bestimmt hatten sie mit der Suche bereits begonnen.

»Ich hoffe, du hast heute nicht wieder einen von deinen Ausrastern!«, rief ihm Betse missmutig zu. »Ich muss es jedes Mal ausbaden: Auf die Kleinen aufpassen, Essen machen - als ob ich kein eigenes Leben hätte!«

»Du kannst sie ja zu Großvater Björn bringen. Der freut sich immer.«

»Träum weiter! Der hat schon lange keine Zeit mehr«, fuhr sie ihn an. »Ständig ist er unterwegs und hilft Leuten, irgendetwas zu bauen.«

Sven senkte den Kopf. Daran hatte er nicht gedacht. Dass andere für seine Versäumnisse aufkommen mussten, beschämte ihn. Er ging zu Betse hinüber und nahm ihre Hand. »Es tut mir echt leid. Ich gebe mir ja alle Mühe, aber dann kommt was dazwischen und ...«, Sven ließ die Arme sinken.

Betse sah ihn von der Seite an. »Du bist einfach ein Freak, Sven.«

 

Am Fuß der Düne trafen sie auf die alte Straße. Links, hinter einem Zaun aus Ästen, befand sich Myriams Gemüsegarten und rechts wucherte Gestrüpp, dessen Zweige der Wind schüttelte. Betse stapfte zielstrebig voran und kurze Zeit später erreichten die Geschwister den Ort Lundsiel. Sie passierten die quadratischen Gebäude mit ihren glänzenden Kuppeldächern und näherten sich dem Dorfplatz. Die gegenüberliegende Seite wurde vom Gemeinschaftsgebäude dominiert. Bis auf den schlanken Turm an der linken Gebäudeecke, an dessen Spitze Lautsprecher bei Bedarf die Anwohner zusammenriefen, war es einstöckig und zog sich fast über die gesamte Breite des Platzes. Neben dem Haupteingang scharte sich bereits eine Horde Kinder und Jugendliche im Schatten der rotbraunen Wand, auf die mit grellgelber Farbe ein großes H gemalt war, die Haltestelle.

»Sven Jake Forrester!«, ertönte eine weibliche Stimme hinter ihm. Ihr folgte der Duft der süßen Wamlomar-Frucht und hüllte ihn ein: Cilja.

Cilja grinste.

»Warum hast du gestern Abend aufgehört, als es gerade am schönsten wurde?«, flüsterte sie ihm zu.

Sie hob eine Augenbraue. »Aber?«

»Dann musst du zusammen mit den anderen, mit denen ich geschnubbelt habe, das Kind versorgen. Das ist nun mal so.« Cilja sah ihn misstrauisch an. »Du willst dich wohl vor der Verantwortung drücken?«

Cilja sah ihn verständnislos an. »Aber alle machen es so!»

Cilja schaute ihn an wie einen Irren. »Und mit keinem anderen mehr? Alter, bist du völlig durchgedreht?!« Sie sprang auf und schritt erhobenen Hauptes zum hinteren Teil des Matros.

Sven zog sein Datcom aus dem Rucksack. Er musste es zwei Mal einschalten, bis es endlich hochfuhr. Dann loggte er sich in die Frequenz der Suchmannschaft ein und folgte dem Kommunikationsablauf der Männer: »Alpha Neuner Neuner. Erreiche Planquadrat QZ297 ... Auswertung ... negativ ... keine Spuren.« Sven lehnte sich in das Polster. Er war sich sicher, sie würden das Raumschiff finden.