Wo Inspektor Lognon eine Leiche entdeckt
und darüber klagt, dass sie ihm weggeschnappt wird

Maigret gähnte und schob die Papiere an den Rand des Schreibtisches.

»Unterschreibt das, Kinder, dann könnt ihr ins Bett gehen.«

Die »Kinder«, das waren wahrscheinlich die drei hartgesottensten Kerle, die die Kriminalpolizei im letzten Jahr gesehen hatte. Einer von ihnen, Dédé genannt, sah aus wie ein Gorilla, und der Schwächlichste, der mit dem Veilchen, hätte sein Geld als Ringkämpfer auf dem Jahrmarkt verdienen können.

Janvier gab ihnen die Papiere und einen Stift, und nun, da sie endlich gestanden hatten, machten sie keine Scherereien mehr und unterschrieben das Protokoll, ohne es vorher noch einmal zu lesen.

Die Marmoruhr zeigte kurz nach drei, und die meisten Büros am Quai des Orfèvres waren in ein Dunkel getaucht. Seit langem hörte man keine anderen Geräusche als ein entferntes Hupen oder die

Seit über dreißig Stunden saßen sie zwischen den immer gleichen vier Wänden, mal zusammen, mal einzeln, während Maigret und fünf seiner Mitarbeiter sie abwechselnd in die Enge trieben.

»Blödmänner!«, hatte der Kommissar gesagt, als er sie zu Gesicht bekommen hatte. »Das wird lange dauern.«

Bei so bockigen Blödmännern dauert es immer am längsten, bis sie auspacken. Sie bilden sich ein, sie könnten davonkommen, wenn sie nichts oder einfach irgendwas antworten, auf die Gefahr hin, sich alle fünf Minuten zu widersprechen. Da sie sich für schlauer als alle anderen halten, markieren sie am Anfang immer den starken Mann.

»Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich reinlegen …«

Seit Monaten operierten sie rund um die Rue La Fayette, und die Zeitungen nannten sie die Mauerbrecher. Dank eines anonymen Anrufs hatte man sie schließlich drangekriegt.

Ein Bodensatz Kaffee war noch in den Tassen, eine Kaffeekanne aus Emaille stand auf dem Kocher. Alle sahen mitgenommen, aschfahl aus. Maigret hatte so

»Sag Vacher, er soll sie abführen.«

In dem Augenblick, als sie das Büro verließen, läutete das Telefon. Maigret nahm ab, eine Stimme sagte:

»Wer bist du denn?«

Er runzelte die Stirn, antwortete nicht sofort. Am anderen Ende der Leitung fragte man nach:

»Jussieu?«

So hieß der Inspektor, der eigentlich Bereitschaft hatte und den Maigret gegen zehn nach Hause geschickt hatte.

»Nein, Maigret«, brummte er.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Hier ist Raymond von der Zentrale.«

Der Anruf kam aus dem anderen Gebäude, wo in einem riesigen Zimmer alle Notrufe zusammenliefen. Sobald die Scheibe einer der roten Notrufsäulen, die fast in ganz Paris aufgestellt waren, zerbrach, blinkte eine Lämpchen auf einer großen Wandkarte, und ein Mann schob seinen Stecker in eine der Buchsen der Vermittlungsanlage.

»Zentrale.«

Mal handelte es sich um eine Schlägerei, mal um ei

Der Mann in der Zentrale schob seinen Stecker in eine andere Buchse.

»Die Wache in der Rue de Grenelle? … Bist du das, Justin? … Schick einen Wagen, Höhe Hausnummer 210 …«

Zu zweit oder zu dritt schoben sie in der Zentrale Nachtdienst und machten sich wohl auch einen Kaffee. Manchmal, wenn es sich um etwas Ernstes handelte, verständigten sie die Kriminalpolizei. Es kam auch vor, dass sie am Quai anriefen, um mit einem Kumpel zu plaudern. Maigret kannte Raymond.

»Jussieu ist nicht da. Irgendwas Besonderes, was du ihm sagen willst?«

»Nur, dass gerade die Leiche einer jungen Frau gefunden wurde, auf der Place Vintimille.«

»Keine Details?«

»Die Männer vom zweiten Revier müssen vor Ort sein. Ich habe den Anruf vor drei Minuten bekommen.«

»Danke.«

Die drei Muskelprotze hatten das Büro verlassen. Janvier kam zurück, die Augenlider leicht gerötet, wie jedes Mal, wenn er Nachtdienst hatte, und mit Bartstoppeln, die ihn kränklich aussehen ließen.

Maigret warf sich seinen Mantel über, suchte seinen Hut.

Sie gingen nacheinander die Treppe hinunter. Eigentlich wollten sie ja in den Hallen eine Zwiebelsuppe essen. Vor den schwarzen, im Hof geparkten Autos zögerte Maigret jedoch.

»Man hat gerade auf der Place Vintimille eine tote junge Frau gefunden.«

Dann, wie jemand, der einen Vorwand sucht, um nicht schlafen zu gehen:

»Sehen wir nach?«

Janvier setzte sich ans Steuer eines der Wagen. Sie waren beide von dem stundenlangen Verhör zu abgestumpft, um miteinander zu sprechen.

Maigret kam nicht in den Sinn, dass das 2. Revier der Bereich von Lognon war, dem seine Kollegen den Spitznamen Inspektor Griesgram gegeben hatten. Hätte er daran gedacht, so hätte es keinen Unterschied gemacht, denn Lognon hatte nicht zwangsläufig Nachtdienst auf der Wache in der Rue de La Rochefoucauld.

Die Straßen waren verlassen, nass, überzogen mit feinen Tropfen, die den Gaslaternen einen Glorienschein verliehen. Nur selten huschten Silhouetten an den Hauswänden vorbei. An der Ecke Rue Montmartre/Grands Boulevards war noch ein Café geöffnet, und etwas weiter entdeckten sie die Leuchtschilder von zwei oder drei Nachtclubs und Taxis, die am Straßenrand warteten.

Sofort erkannte Maigret den kleinen, dünnen Lognon. Inspektor Griesgram hatte sich von der Gruppe gelöst, um nachzusehen, wer da kam, und er erkannte seinerseits Maigret und Janvier.

»Eine Katastrophe!«, brummte der Kommissar.

Denn Lognon würde ihm sicherlich vorwerfen, das absichtlich getan zu haben. Das hier war sein Revier, sein Bereich. Ein Drama ereignete sich, während er Dienst hatte, verschaffte ihm vielleicht die Gelegenheit, sich auszuzeichnen, worauf er seit so vielen Jahren wartete. Nun aber führte eine Folge von Zufällen Maigret hierher, fast zur gleichen Zeit wie ihn!

»Man hat Sie zu Hause angerufen?«, fragte er argwöhnisch, schon überzeugt, dass man sich gegen ihn verschworen hatte.

»Ich war am Quai. Raymond hat angerufen. Ich wollte nur vorbeischauen.«

Bloß aus Rücksicht auf Lognon würde Maigret nicht fortgehen. Erst musste er wissen, was passiert war.

»Sie ist tot?«, fragte er und zeigte auf die Frau, die auf dem Gehsteig lag.

Lognon nickte. Drei Polizisten in Uniform wa

»Wer ist sie?«

»Keine Ahnung. Sie hat keine Papiere bei sich.«

»Keine Handtasche?«

»Nein.«

Maigret machte drei Schritte, beugte sich vor. Die junge Frau lag auf der rechten Seite, eine Wange auf dem feuchten Gehsteig, ein Schuh fehlte.

»Den anderen Schuh hat man nicht gefunden?«

Lognon verneinte. Ein unerwarteter Anblick, die Zehen durch den Seidenstrumpf schimmern zu sehen. Sie trug ein Abendkleid aus hellblauem Satin. Es war ihr zu groß, vielleicht schien es auch nur so, weil sie auf dem Boden lag.

Sie hatte ein junges Gesicht. Maigret vermutete, dass sie kaum älter als zwanzig war.

»Der Arzt?«

»Ich erwarte ihn. Er müsste längst hier sein.«

Maigret wandte sich Janvier zu:

»Ruf den Erkennungsdienst an. Sie sollen Fotografen schicken.«

Auf dem Kleid war kein Blut zu sehen. Der Kommissar nahm eine der Taschenlampen der Polizisten

»Kein Mantel?«, fragte er noch.

Es war März, die Luft ziemlich mild, doch nicht so, dass man nachts, dazu bei Regen, in einem leichten schulterfreien Kleid spazieren geht, das nur von dünnen Trägern gehalten wird.

»Vermutlich ist sie nicht hier getötet worden«, murmelte Lognon düster und gab sich den Anschein, bloß seine Pflicht zu tun, indem er dem Kommissar half, und sich nicht persönlich für die Angelegenheit zu interessieren.

Absichtlich hielt er sich etwas abseits. Janvier war in eine Bar an der Place Blanche gegangen, um zu telefonieren. Ein Taxi fuhr kurz darauf vor, mit einem Arzt aus dem Viertel.

»Werfen Sie einen Blick drauf, Doktor, aber verändern Sie ihre Lage nicht, ehe die Fotografen kommen. Sie ist tot, kein Zweifel.«

Der Arzt beugte sich hinunter, befühlte ihr Handgelenk und ihre Brust, erhob sich, teilnahmslos, ohne ein Wort, und wartete wie die anderen.

»Kommst du?«, fragte die Frau, die sich bei ihrem Mann untergehakt hatte und zu frieren begann.

»Wart noch etwas.«

»Worauf?«

»Ich weiß nicht, irgendwas werden sie gleich tun.«

»Sie haben Ihren Namen und Ihre Adresse angegeben?«

»Dem Mann dort, ja.«

Sie zeigten auf Lognon.

»Um wie viel Uhr haben Sie die Leiche entdeckt?«

Sie sahen sich an.

»Wir haben den Nachtclub um drei verlassen.«

»Fünf nach drei«, stellte die Frau richtig. »Ich habe auf meine Armbanduhr gesehen, als du zur Garderobe bist.«

»Ist doch egal. Wir haben nur drei oder vier Minuten hierher gebraucht. Wir gingen gerade um den Platz herum, als ich einen hellen Fleck auf dem Gehsteig sah.«

»Sie war schon tot?«

»Vermutlich. Sie rührte sich nicht.«

»Sie haben nichts angefasst?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Ich habe meine Frau losgeschickt, um die Polizei zu rufen. Es gibt eine Notrufsäule an der Ecke Boulevard de Clichy. Ich kenne sie, denn wir wohnen am Boulevard des Batignolles, ganz in der Nähe.«

Janvier war schon wieder da.

»Sie werden in ein paar Minuten hier sein«, verkündete er.

»Moers war wahrscheinlich nicht da, oder?«

Ohne dass er hätte sagen können, warum, spürte

Als Erstes kam ihm der Gedanke, dass ein Animiermädchen auf dem Heimweg von jemandem überfallen worden war, der ihr die Handtasche gestohlen hatte. Aber in diesem Fall wäre nicht einer der Schuhe verschwunden, und man hätte sich kaum die Mühe gemacht, den Mantel des Opfers mitzunehmen.

»Sie muss woanders getötet worden sein«, sagte er halblaut zu Janvier.

Lognon, der die Ohren spitzte, hörte zu und begnügte sich damit, das Gesicht krampfhaft zu verziehen, denn er hatte diese Theorie zuerst aufgestellt.

Warum hatte man, falls sie woanders umgebracht worden war, ihren Leichnam auf diesem Platz abgelegt? Es war unwahrscheinlich, dass der Mörder die junge Frau geschultert hatte. Er musste einen Wagen benutzt haben. In diesem Fall wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sie irgendwo zu verstecken oder in die Seine zu werfen.

»Kommen Sie kurz her, Lognon.«

Maigret nahm ihn beiseite.

»Ich höre, Chef.«

»Haben Sie eine Idee?«

»Sie wissen zu gut, dass ich nie Ideen habe. Ich bin nur ein kleiner Inspektor.«

»Haben Sie dieses Mädchen schon mal gesehen?«

Lognon kannte die Umgebung der Place Blanche und der Place Pigalle bestens.

»Nein.«

»Ein Animiermädchen?«

»Wenn, dann keine, die das regelmäßig macht. Die kenne ich fast alle.«

»Ich werde Sie brauchen.«

»Sie müssen das nicht sagen, um mir eine Freude zu machen. Von dem Moment an, wo man sich am Quai des Orfèvres um die Sache kümmert, geht mich das nichts mehr an. Und denken Sie nicht, dass

»Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn man jetzt gleich die Türsteher der Nachtclubs befragt?«

Lognon warf einen Blick auf den ausgestreckten Körper und seufzte:

»Ich geh schon.«

Für ihn hieß das, dass man ihn loswerden wollte. Er überquerte in seinem stets müden Gang die Straße und zwang sich dazu, nicht zurückzuschauen.

Der Wagen des Erkennungsdienstes fuhr vor. Einer der Beamten mühte sich damit ab, einen Betrunkenen zu verscheuchen, der sich darüber empörte, dass niemand der »kleinen Dame« zu Hilfe kam.

»Ihr seid doch alle gleich, ihr Polypen. Nur weil man ein Glas zu viel getrunken hat …«

Nachdem die Fotos gemacht waren, konnte sich der Arzt über die Leiche beugen und sie auf den Rücken drehen. Nun sah man das ganze Gesicht, das so noch jünger wirkte.

»Woran ist sie gestorben?«, fragte Maigret.

»Schädelbruch.«

Der Arzt fuhr der Toten mit den Fingern durchs Haar.

»Man hat ihr mit einem sehr schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen, einem Hammer, einem Schraubenschlüssel, einem Bleirohr, was weiß ich?

»Können Sie sagen, wann sie gestorben ist?«

»Meiner Meinung nach zwischen zwei und drei Uhr am Morgen. Doktor Paul wird Ihnen nach der Autopsie genauere Angaben machen.«

Der Kastenwagen der Gerichtsmedizin war ebenfalls vorgefahren. Die Männer warteten nur auf ein Zeichen, um den Körper auf eine Trage zu legen und zum Pont d’Austerlitz mitzunehmen.

»Dann mal los«, seufzte Maigret.

Sein Blick suchte Janvier.

»Essen wir was?«

Sie hatten beide keinen Hunger mehr, setzten sich aber trotzdem in eine Brasserie und bestellten Zwiebelsuppe, weil sie es sich eine Stunde zuvor so vorgenommen hatten. Maigret hatte Anweisung gegeben, den Zeitungsredaktionen ein Foto der Toten zu schicken, damit es nach Möglichkeit schon in den Morgenblättern erschien.

»Gehen Sie hin?«, fragte Janvier.

Maigret wusste, dass er das Leichenschauhaus meinte, das man jetzt Gerichtsmedizin nannte.

»Glaub schon.«

»Doktor Paul wird dort sein. Ich habe ihn angerufen.«

»Einen Calvados?«

»Warum nicht.«

»Gehst du nach Hause?«

»Ich begleite Sie«, beschloss Janvier.

Es war halb fünf, als sie die Gerichtsmedizin betraten, wo Doktor Paul, der kurz vor ihnen angekommen war, gerade seinen weißen Kittel anzog. Wie bei jeder Autopsie klebte eine Zigarette an seiner Unterlippe.

»Haben Sie sie schon untersucht, Doktor?«

»Nur flüchtig.«

Der Körper lag auf einer Marmorplatte, und Maigret wandte sich ab.

»Was denken Sie?«

»Ich denke, sie ist zwischen neunzehn und zweiundzwanzig. Sie war gesund, aber vermutlich untergewichtig.«

»Ein Animiermädchen aus einem Club?«

Doktor Pauls Äuglein funkelten:

»Sie wollen sagen, dass sie mit den Gästen schlief?«

»Ja, so ungefähr.«

»Dann sage ich: Nein.«

»Wie können Sie sich so sicher sein?«

»Weil dieses Mädchen noch nie mit jemandem geschlafen hat.«

»Sie sind sicher?«

»Völlig.«

Er zog seine Gummihandschuhe an und legte sich auf einem Emailletisch seine Instrumente zurecht.

»Sie bleiben hier?«

»Wir gehen nach nebenan. Brauchen Sie lange?«

»Keine Stunde. Es hängt davon ab, was ich finde. Wollen Sie eine Analyse des Mageninhalts?«

»Gern. Man weiß nie.«

Maigret und Janvier gingen in das Büro nebenan. Mit angespannten Mienen saßen sie da, wie Patienten im Wartezimmer. Beide hatten das Bild des jungen, weißen Körpers noch vor Augen.

»Ich frage mich, wer sie ist«, murmelte Janvier nach langem Schweigen. »Man zieht sich doch nur ein Abendkleid an, um ins Theater, in gewisse Nachtclubs oder zu einem Empfang zu gehen.«

Sie mussten beide den gleichen Gedanken haben. Irgendetwas stimmte da nicht. Von den mondänen Empfängen, für die man sich in Schale warf, gab es nicht viele, und selten sah man dort ein so billiges und verblichenes Kleid wie das der Toten.

Andererseits war nach dem, was der Doktor gesagt hatte, schwer vorstellbar, dass das Mädchen in einem der Nachtclubs am Montmartre arbeitete.

»Glauben Sie?«

»Nein.«

Maigret seufzte, während er sich eine Pfeife anzündete.

»Warten wir ab.«

Sie schwiegen zehn Minuten, bis der Kommissar zu Janvier sagte: »Würde es dir etwas ausmachen, ihre Kleider zu holen?«

»Muss das sein?«

Maigret nickte. »Es sei denn, dir fehlt’s an Mut.«

Janvier öffnete die Tür. Als er keine zwei Minuten später zurückkam, war er so blass, dass Maigret fürchtete, er könne sich übergeben. Er hielt das blaue Kleid und weiße Unterwäsche in der Hand.

»Ist Paul fertig?«

»Ich weiß nicht. Ich hab lieber nicht hingesehen.«

»Gib mir das Kleid.«

Es war oft gewaschen worden, und unter dem Saum war die Farbe ganz verblichen. Auf dem Etikett stand: Mademoiselle Irène, 35, Rue de Douai.

»Das ist in der Nähe der Place Vintimille«, bemerkte Maigret.

Er untersuchte die Strümpfe, einer der Füßlinge war durchnässt, den Slip, den Büstenhalter, einen schmalen Strapsgürtel.

»Nein. Der Schuh stammt aus der Rue Notre-Dame-de-Lorette.«

Immer noch im selben Viertel. Gab man nichts auf die Aussage von Doktor Paul, passte alles zu einer Animierdame oder zu einer jungen Frau, die am Montmarte ein Abenteuer suchte.

»Vielleicht findet Lognon etwas heraus«, sagte Janvier.

»Wohl kaum.«

Beide fühlten sich unwohl, denn sie dachten unwillkürlich daran, was hinter der Tür geschah. Es verging eine Dreiviertelstunde, bis sie sich endlich öffnete. Der Leichnam war nicht mehr da, ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin schloss gerade eines der Metallschubfächer, in denen die Leichen aufbewahrt wurden.

Doktor Paul zog seinen Kittel aus und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich habe nichts Besonderes festgestellt«, sagte er. »Gestorben ist sie an dem Schädelbruch. Es hat nicht nur einen Schlag gegeben, sondern mehrere, drei oder vier, und zwar gewaltige. Ich kann nicht sagen, womit. Ein Werkzeug vielleicht, ein kupferner Kaminbock oder ein Kerzenständer, irgendetwas Schweres und Hartes. Die Frau ist zuerst auf die Knie gefallen und hat versucht, jemanden zu packen, denn ich habe dunkle Wollfasern unter ihren Fingernägeln ge

»Es hat also einen Kampf gegeben.«

Doktor Paul öffnete einen Schrank, wo er neben seinem Kittel, seinen Gummihandschuhen und anderen Dingen eine Flasche Cognac aufbewahrte.

»Nehmen Sie auch ein Glas?«

Maigret stimmte ungeniert zu, und als Janvier das sah, nickte er.

»Was ich jetzt sage, ist nur meine persönliche Meinung. Bevor man ihr mit irgendeinem Gerät eins verpasst hat, hat man sie mit der Faust oder sogar mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Fast würde ich sagen, dass man ihr ein paar Ohrfeigen verpasst hat. Ich weiß nicht, ob sie dabei auf die Knie gestürzt ist, aber ich glaube, dass es so war, und dann hat man beschlossen, sie zu erledigen.«

»Anders gesagt: Sie kann nicht von hinten angegriffen worden sein?«

»Sicher nicht.«

»Es handelt sich also nicht um einen Dieb, der ihr an einer Straßenecke aufgelauert hat?«

»Meiner Ansicht nach nicht. Und nichts beweist, dass es im Freien passiert ist.«

»Der Mageninhalt hat nichts ergeben?«

»Doch. Und die Untersuchung des Bluts auch.«

»Was?«

»Vorsicht! Ich muss Sie enttäuschen.«

Er ließ sich Zeit, wie wenn er eine der guten Geschichten erzählte, auf die er spezialisiert war.

»Sie war ziemlich betrunken.«

»Sind Sie sicher?«

»Sie werden es morgen in meinem Bericht sehen, den Alkoholanteil in ihrem Blut. Ich schicke Ihnen auch das Ergebnis der vollständigen Analyse des Mageninhalts. Sie hat ihre letzte Mahlzeit sechs oder acht Stunden vor ihrem Tod zu sich genommen.«

»Wann ist sie gestorben?«

»Gegen zwei Uhr morgens. Eher vor zwei als danach.«

»Das heißt, dass sie ihre letzte Mahlzeit um sechs oder sieben zu sich genommen hat.«

»Aber nicht ihr letztes Glas.«

Es war unwahrscheinlich, dass die Leiche lange auf der Place Vintimille gelegen hatte, bevor sie bemerkt worden war. Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Bestimmt nicht länger.

Sodass mindestens eine Dreiviertelstunde vergangen war zwischen dem Todeszeitpunkt und dem Moment, als man sie auf den Gehsteig gelegt hatte.

»Schmuck?«

Paul ging hinaus, um ihn zu holen. Ein Paar goldene Ohrstecker, die Blüten aus winzigen Rubinen

»Mehr nicht? Haben Sie ihre Hände untersucht?«