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Barbara Rieger

Bis ans Ende, Marie

Roman

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ALS ICH WIEDER zu Bewusstsein komme, steckt etwas in meiner Vagina. Ich ziehe es aus mir heraus, beginne die Fäden der Erinnerung zu entwirren, ich suche die Spinne in meinem Netz.

MARIE UND ICH auf der Suche nach dem Ort mit der richtigen Musik, dem Lokal mit der richtigen Stimmung, dem Mann mit dem richtigen Versprechen. Ich muss mich nur umdrehen, schon ist er da. Ich bin überflüssig, doch ich folge ihnen bergauf und bergab, vorbei am Geruch von Gras, Pisse und den Abgasen der Autos hinein in die nächstbeste Bar. Ob ich die bessere Hälfte bin, fragt mich der Typ und bestellt uns einen doppelten Wodka. Wie man’s nimmt, sage ich. Wir nehmen, was wir kriegen können, sagt Marie und zieht uns aus dem Lokal, in meine Wohnung, auf die Couch.

Marie und ich, ein Typ und eine Flasche Wodka, überquellende Aschenbecher, der Typ legt einen Arm um sie und einen um mich. Küsst sie, greift mit der Hand in meinen Ausschnitt, sucht meine Brustwarze. Ich küsse ihn auf den Nacken, schiebe die Hand in die Hose. Er dreht den Kopf weg von ihr zu mir, küsst mich. Sie dreht den Kopf weg von ihm zu mir, schiebt sich in mich hinein.

ICH NEHME DAS DING, ich rieche daran, rieche mich oder ist das sie, ich frage mich, seit wann ich es habe, ich betrachte die Spuren auf dem Plastik, ich untersuche die Rückstände, zerkratze die Reste, rolle mich an die Kante des Bettes und versuche zu kotzen. Es kommt nichts, in mir ist nichts, das kommen könnte. Ich drehe mich um, das Ding ist noch immer da, das Ding ist echt.

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ICH BLICKE AUF DEN Rücken der Kellnerin. Sie räumt die Gläser aus dem Geschirrspüler in die Regale, beugt sich hinunter, beugt sich hinauf, die Haare bewegen sich im Rhythmus ihrer Arbeit. Tom tritt aus dem Hinterraum, drei Flaschen Wein in den Armen, er stellt sie ab und kommt auf mich zu. Geht’s dir gut?, fragt er, warum hast du dich nicht gemeldet, geht es dir gut?

Lass das, sage ich.

Die Kellnerin dreht sich um, zündet sich eine Zigarette an, blickt durch den Raum in meine Richtung, ins Leere, wo ich mich befinde, blickt durch mich hindurch.

Okay, sagt Tom, okay, und zuckt mit den Schultern, er dreht sich um und verschwindet im Hinterzimmer. Die Kellnerin drückt die Zigarette aus, kommt hinter der Bar hervor, direkt auf mich zu. Ich starre in mein Glas, ich starre sie an. Ihr Blick ist ungeduldig, als hätte sie mich schon mehrmals was gefragt. Ich bin Marie, sagt sie, was kann ich für dich tun?

Ich setze mich an die Bar und beobachte Tom, er geht von Tisch zu Tisch, nimmt Bestellungen auf, spricht mit den Gästen. Er sagt Marie, was er braucht, und sie zapft Bier, schenkt weiße Spritzer ein, mischt Cocktails, stellt Gläser aufs Tablett. Ein perfektes Team.

Auf Tom, sagt sie. Und wer ist dein Typ?

Dominik, sage ich schnell.

Wer ist Dominik und wo bleibt das Bier?, fragt Tom. Er stellt sich an den Zapfhahn.

Ein Studienkollege, sage ich.

Wenn sie Blut sehen könnte, sagt Tom, wäre sie Ärztin geworden.

Ich hasse Ärzte, sage ich und starre auf das Bier, den Schaum, auf Toms Hände, die ein Glas nehmen, das Glas kippen, das Glas wegtragen.

Sein Hintern ist nicht schlecht, oder? Aber er ist nicht dein Typ, ich weiß, sagt Marie und dreht sich wieder um. Ich starre auf ihre Haare und schüttle den Kopf. Ich stelle mir vor, Dominik betritt den Raum, stelle mir vor, er kommt von hinten auf mich zu, er legt mir die Hand auf die Schulter.

Und sonst?, fragt Marie. Sie schiebt mir einen Long Island Iced Tea hin.

Nichts, sage ich.

Wie langweilig, sagt sie, das solltest du ändern.

Ich nicke, ich ziehe am Strohhalm, rutsche vom Hocker, gehe nach hinten zur Toilette. Besetzt. Ich schaue in den Spiegel, sehe die Tür, sie öffnet sich.

Hey, ruft Julu. Sie umarmt mich, drückt mich an sich, sehr fest. Bist du schon lange da?, frage ich sie.

Nein, und du, wo warst du überhaupt die ganze Zeit?

Und wie geht’s dir?, will sie wissen.

Ich muss aufs Klo, sage ich.

Kommt du noch mit?, fragt sie mich durch die Tür, in den neuen Club, nach der Sperrstunde hier.

Ich kann nicht pinkeln, wenn du mit mir redest, sage ich.

Letzte Runde, sagt Tom.

Natürlich gehen wir noch mit, vergiss deinen Dominik!, sagt Marie.

Du siehst betrunken aus, sagt Julu.

Hey, wie geht’s dir?, fragt Peter.

Ich bin Clemens, sagt jemand zu Marie.

Wir brauchen ein Großraumtaxi, sagt sie.

Julu hakt sich bei mir ein. Wir gehen hinaus, steigen ins Taxi, beim Losfahren werde ich gegen Tom gedrückt, Julu erzählt mir eine Geschichte von einer ehemaligen Schulkollegin. Vor mir, zwischen Peter und Clemens, sitzt Marie. Eine Haarsträhne hängt über die Lehne des Sitzes. Ich greife danach, wickle sie um den Finger. Julu hört auf zu reden und sieht mich an.

Sind die blond oder braun?, frage ich.

Braun, sagt Julu.

Blond, sagt Tom.

Marie, sind deine Haare blond oder braun?, rufe ich.

Blond, sagt Clemens.

Braun, sagt Peter.

Marie lacht. Das Taxi hält, Tom bezahlt. Wir klettern hinaus. Wir gehen die Straße hinunter zum Kanal, vorbei an kleinen Gruppen von Menschen, die zusammenstehen und rauchen, vorbei an den Türstehern, vorbei an der Garderobe, an den Toiletten. Wir zwängen uns durch die Menge. Marie schiebt Männer und Frauen zur Seite, bahnt uns einen Weg zur Bar. Tom folgt Marie, ich folge Tom.

Was willst du trinken?, fragt er.

Wasser, sage ich.

Marie hat einen Spritzer bestellt und trinkt auf ex. Tom reicht mir das Wasser und sieht mich an.

Und wie geht’s deinem Ex?, fragt er.

Keine Ahnung, sage ich.

Was macht er jetzt?, fragt er.

Karriere, sage ich.

Und wer ist dieser Dominik?, fragt er.

Niemand, sage ich.

Ich drehe mich um, schaue zu Marie. Sie hat den zweiten Spritzer getrunken, vielleicht den dritten, sie schwankt, ihr Körper fällt gegen den von Clemens. Tom macht einen Schritt in meine Richtung, Marie lässt ihre Zigarette fallen und kommt auf uns zu. Ihre Hände auf Toms Schultern, ihr Mund an seinem Ohr. Lass uns tanzen, sagt sie.

Sie greift nach meinem Arm, fährt mit den Fingern bis zum Handgelenk und zieht mich weg von Tom. Ich schließe die Augen und wiege die Hüften. Ich öffne die Augen und sehe Marie, die ihre Hüften wiegt. Tom, der mir einen weißen Spritzer hinhält. Marie, die trinkt. Tom, der Marie um die Taille fasst und zu sich zieht. Marie, die das Becken gegen seines drückt, die ihn zu sich zieht und küsst. Ich trinke den Spritzer aus, lasse den Becher fallen. Marie, die mit geschlossenen Augen tanzt. Maries Haare, die durch die Luft fliegen. Toms Hintern. Die Köpfe von Peter, Clemens und Julu. Körper, die durch den Raum treiben. Ich spüre Schweiß auf der Stirn, im Nacken, zwischen den Brüsten. Ein Ziehen im Bauch. Jemand, der aussieht wie Dominik. Er steht auf der anderen Seite, mit dem Rücken gegen die Wand und saugt an einer Bierflasche. Ich spüre, wie er mir entgegenkommt, wir er vor mir steht, mich anlächelt. Wie er sich ganz nahe zu mir beugt und mein Ohr berührt, um etwas zu sagen. Ich verstehe ihn nicht. Ich öffne die Augen. Die Tanzfläche ist fast leer. Das Licht ist an.

Wir gehen, sagt Tom.

Bis bald, sagt Marie.

ICH GEHE WEITER, gehe die Prater Hauptallee entlang, Marie geht neben mir.

Willst du bis zum Ende gehen?, fragt sie mich, deutet geradeaus und dann nach rechts auf eine Bank. Im Schatten sitzt ein Mensch, ein Mann, ein Typ, dunkel, unauffällig, fast zu übersehen. Ihr wollt bis ans Ende gehen?, fragt er. Er streckt uns die Hand entgegen. Take one, it’s gratis, sagt er. Ich schüttle den Kopf, sehe zu Marie. Take one, it’s gratis, wiederholt er. Marie schiebt mich zu ihm. Es ist wie eine Erdbeere, sagt er, eine Erdbeere mit sehr viel Zucker.

Gehst du mit mir bis ans Ende, Marie?, frage ich. Sie nickt stumm und nimmt eine der beiden roten Kapseln von der Handfläche des Mannes. Mund auf, sagt sie und ich öffne meinen Mund. Das schmeckt genauso, wie du sagst, sage ich.

Gehen wir, sagt sie.

Dann bis später, Bussi, Baba, sagt der Mann. Er ist weg. Die Prater Hauptallee liegt unendlich lange vor uns, ich kann das Ende nicht erkennen, ich bin zu müde, die Erdbeere wirkt bei mir nicht, ich will mich bei Marie beschweren, sehe mich nach ihr um, sie ist weg, ich sehe nur die Bäume vor meinem Fenster und die Ziffern auf meinem Wecker. Es ist viel zu früh, denke ich. Ich hebe den Arm, taste nach dem Telefon, stoße gegen ein Glas, das Glas fällt, ich schrecke hoch, das Glas zerbricht, zerbricht in meinem Kopf. Ich lasse mich fallen, drücke den Kopf in den Polster, presse die Augen zusammen und verfluche Marie und ihren Long Island Iced Tea, verfluche Tom und seine weißen Spritzer. Zusammenreißen, sage ich mir, es ist nichts passiert. Aufstehen, sage ich mir oder liegen bleiben, liegen bleiben oder aufstehen, sage ich mir, unter die Dusche, eiskalt, sage ich mir, still, sage ich mir, einfach liegen bleiben, bis es vorbeigeht, weiterschlafen, weiterträumen, bis es anfängt, wieder von vorn, bis das Telefon läutet mit diesem Klingelton, dieser verdammte Klingelton, auch das noch, denke ich mir.

Du schläfst noch?, fragt die Mutter.

Nein, warum, sage ich.

Weil du nicht abhebst, sagt sie.

Jetzt hebe ich ab, sage ich.

Wie es mir geht, will sie wissen, ob ich auch in der Nacht schlafe, nicht nur zu Mittag, ob ich alles habe, was ich brauche, ob ich zurechtkomme, ob ich ordentlich esse und diese Dinge, diese Dinge sind nur Vorwände.

Du denkst an die Geburtstagsfeier?, fragt sie schließlich. Natürlich, sage ich.

Es kommen alle, denen deine Großmutter etwas bedeutet, redet die Mutter weiter, es kommen alle, die ihr etwas bedeuten und ich dachte, dass es schön wäre, Alexander und seine Eltern einzuladen, nachdem ihr so lange zusammen wart und nur weil ihr, weil du –

Ich lasse das Telefon auf das Bett fallen, die Stimme der Mutter ist kaum noch zu hören, ich stehe auf, ich schreie. So schlimm ist es nicht, ruft die Mutter aus dem Bett. Ich greife nach dem Telefon.

Es ist sicher nicht schlecht für dich, ihn zu sehen, seine Eltern zu sehen, es ist höchste Zeit, dass ihr euch aussprecht. Am besten ihr sprecht euch davor noch aus. Dann könnt ihr gemeinsam kommen. Ich bin mir sicher, alles kommt wieder in Ordnung.

Ich muss aufhören, sage ich und lege auf. Ich greife nach der Bettdecke, schiebe sie nach unten, über den Fuß, wickle die Decke um den Fuß, ich darf nicht hinschauen, nicht zuschauen, wie sich die Decke verfärbt, ich darf mir das nicht vorstellen, der Schnitt ist nicht tief, alles kommt wieder in Ordnung, sage ich mir. Ich steige über die Scherben, gehe ins Bad.

ICH SETZE MICH auf die Bank vor dem Museum, ich lese: Psychoanalyse. Literatur. Kultur. Ringvorlesung zur Rezeption Sigmund Freuds. Mir gegenüber sitzen zwei Chinesinnen. Hao, sagt die eine. Dui, dui, dui, sagt die andere. Ich sehe weg. Freud und die Folgen, lese ich, eine Doku-Fiction-Reihe, diesseits des Lustprinzips. Diesseits statt Jenseits, denke ich. Ich stehe auf, gehe weiter, Richtung Uni. Die Berggasse ist steil, steiler als sonst, der Fuß schmerzt, der Schnitt, denke ich, reißt wieder auf, reißt weiter auf, der Schuh ist voller Blut, gleich wird es austreten, die Berggasse hinunterlaufen bis zu den beiden Chinesinnen, sie werden aufspringen, aufgeregt durcheinanderreden, niemand wird sie verstehen.

Ich stehe neben einer Apotheke, ich sollte hineingehen und mir etwas zum Desinfizieren kaufen, ich sollte zum Arzt gehen, ich gehe weiter, presse die Zähne zusammen, gehe durch den Schmerz hindurch. Vor dem Institutsgebäude lehnen einige Studenten und rauchen. Sie beobachten mich, sie fragen sich, warum ich humple, und ein Typ, den ich noch nie gesehen habe, nickt mir zu. Ich nicke nicht zurück und gehe hinein.

Die Inputs zur berufsbezogenen Eignungsbeurteilung machen mich unruhig. Die objektive Wahrheit ist uns nicht zugänglich, ganz etwas Neues, denke ich. Jeder, der über andere entscheidet, kann dies prinzipiell nur auf Grundlage seiner subjektiven Erkenntnisse tun, deshalb ist es besser, gar nicht über andere zu entscheiden, denke ich, aber stattdessen werden Qualitätskriterien festgelegt ohne Analyse des konkreten Wofür. Ich denke an die Mutter, Psychologie zu studieren ist sinnlos, hat sie gesagt, das kannst du als Nebenfach machen, wenn du unbedingt willst. Ich denke, Studieren ist sinnlos. Ob Marie irgendetwas studiert? Ich muss sie fragen, ob sie was macht außer zu kellnern, ob sie irgendeinen Traum hat, ein Ziel, Ziele sind die von jemandem angestrebten Zustände, lese ich in meinen Notizen. Ich muss lachen. Die Vortragende pausiert, sieht auf, sieht mich an. Bei einer Verhaltensbeurteilung können die Beurteiler eine Reihe von Fehlern begehen, spricht sie weiter. Obwohl diese Fehler gut bekannt sind, ist es außerordentlich schwer, sie zu vermeiden. Ich nicke zustimmend und ihr Blick lässt mich los. Primacy-Effekt. Beobachterdrift. Milde-Effekt. Zentrale Tendenz. Und der vielleicht häufigste und mit am schwersten zu bekämpfende Urteilsfehler: der Halo-Effekt. Aber hallo, denke ich und reiße mich zusammen, nicht wieder lachen, nicht lachen. Davon sprechen wir, wenn die zentrale Eigenschaft eines Menschen seine anderen Eigenschaften überstrahlt. Wie der Mond. Der Halo-Effekt erklärt möglicherweise die Tatsache, wie die Sonne, denke ich, wie Maries Haare.

Ich gehe ins Hauptgebäude, ich frage mich, warum die Schwerkraft immer so stark ist im Hauptgebäude, ich schleppe mich die Treppen hinauf und zwänge mich in eine der Sitzreihen, lese im Vorlesungsplan: Ausgewählte Einzelstörungen.

Ein Schatten fällt aufs Papier, ich blicke zur Seite.

Ist da noch frei?, fragt er und lächelt ein bisschen, nur mit den Augen. Ich nicke und sehe wieder auf mein Blatt Papier. Ich muss mich ausziehen, ich habe noch immer meine Jacke an, eine dünne Jacke, eine viel zu warme Jacke für diesen Hörsaal, der Hörsaal ist eng. Mit dem Ellbogen stoße ich gegen ihn, sorry, sage ich, er lächelt wieder, ganz kurz. Er greift in seine Tasche, legt einen Block neben meinen Block, blättert durch die Notizen. Seine Hände sind groß, die Finger lang, schlank, muskulös, ein Gitarrist, denke ich. Ich betrachte die Adern auf seinem Handrücken, ich stelle mir vor, wie das Blut darin pulsiert, es pulsiert im richtigen Rhythmus, denke ich, in der richtigen Geschwindigkeit, es hat die richtige Temperatur. Der Hörsaal wird voller, der Typ rückt noch eine Spur näher an mich, so nah, dass ich den Pullover ausziehen muss, dass sich die Haare auf den Armen aufstellen, dass mir der Schweiß ausbricht. Der Vortragende klopft gegen das Mikrofon, begrüßt uns, psychische Störungen, sagt er und ich überspiele das Lachen in meiner Kehle mit einem Husten, ich huste, räuspere mich, konzentriere mich auf die gleichmäßige Atmung des Typen neben mir, ich schleiche mich ein in seinen Rhythmus, unsere Brustkörbe heben und senken sich, er atmet langsam, das tut mir gut, das beruhigt mich, ich beruhige mich, das Pochen im Fuß beruhigt sich, ich schließe die Augen.

Etwas berührt mich am Ellbogen, jemand berührt mich, er. Er hält mir ein Blatt hin, eine Liste mit Namen und E-Mail-Adressen, ich starre auf das Blatt, starre auf seinen Mund, auf die Barthaare, auf das Kinn. Der Mund öffnet sich leicht. Die Liste zum Eintragen, sagt er, als wäre ich blöd, als würde ich nicht sehen, dass das eine Liste zum Eintragen ist, ich weiß nur nicht, ob ich mich eintragen will, wofür ich mich eintragen soll, aber da bin ich selbst schuld, wenn ich mitten in der Vorlesung einschlafe, wer schläft schon während einer Vorlesung ein, wer gibt schon zu, dass er während einer Vorlesung geschlafen hat, ich nicht. Ich warte, ob er noch etwas sagt, aber er wendet den Kopf, er ist fertig mit mir, denke ich. Ich starre auf die Liste, auf den letzten Namen: Dominik Dokter, dominik.dokter81@gmail.com.

MARIE SITZT an der Bar, mit dem Rücken zu mir, mit dem Rücken zum Eingang, vor ihr eine Espressotasse, ein Aschenbecher, eine Zeitschrift. Marie blättert um, ihr Pferdeschwanz wippt. Ich nähere mich von hinten, sie dreht sich nicht um. Ich setze mich neben sie, sie schlägt die Zeitschrift zu, dämpft die Zigarette aus, sieht mich an.

Ich hasse es zu warten, sagt sie und rutscht vom Barhocker, geht hinter die Bar, leert Soda und Weißwein in ein Glas.

Ich habe Dominik getroffen, sage ich.

Und, sagt sie, habt ihr Nummern ausgetauscht?

E-Mail-Adressen, sage ich.

Super, sagt sie, dann schreib ihm, triff ihn, fick ihn. Und sonst so?

Die Mutter, sage ich, möchte meinen Ex und seine Eltern zur Geburtstagsfeier meiner Großmutter einladen, sie möchte, dass wir wieder zusammenkommen, sie möchte –

Was möchtest du, fragt Marie, und was ist mit deinem Ex?

Der Plan, sage ich, war heiraten, Kinder kriegen, Karriere.

Marie schüttelt den Kopf.

Ich habe, sage ich, eine Planänderung gemacht.

Darauf stoßen wir an, prost, sagt sie.

Prost, sagt Tom von hinten. Er will Marie mit einem Kuss begrüßen, sie dreht sich weg.

Na endlich, sagt sie und trinkt ihren Spritzer auf ex, wir gehen.

Marie schiebt mich durch die Tür. Drinnen ist es heiß, laut, voll mit Menschen. Auf der Bühne stehen vier Männer mit ausgeprägten Muskeln. Einer spielt Schlagzeug, einer Gitarre und einer Bass. Der am Mikro hat die größten Muskeln. Marie grinst. Sie nimmt mich am Arm, zieht mich zur Bar, bestellt weiße Spritzer, schiebt mich weiter nach vorn.

Die sind nicht mehr die Jüngsten, sage ich zu Marie, und verbringen ganz schön viel Zeit im Fitnessstudio. Dafür spielen sie nicht schlecht, sagt sie, wippt mit dem Kopf und schiebt die Hüften hin und her. Sie lacht über die Scherze der Musiker, sie holt uns noch einen Spritzer, sie applaudiert, ruft Zugabe, pfeift. Die Band geht von der Bühne, ein DJ tritt auf, Marie tanzt. Als Einzige. Als Erste.

Ich brauche noch einen Spritzer, sagt sie, geht zur Bar, bestellt. Dann dreht sie sich um, geht über die Tanzfläche, geht an mir vorbei, geht direkt auf den muskelbepackten Gitarristen zu. Ich stehe in der Mitte der Tanzfläche mit meinem Spritzer, ich sehe, wie sie reden, ich frage mich, was sie reden, ich wundere mich, worüber alle hier reden, und ich stehe auf dieser Tanzfläche, auf der niemand tanzt, allein mit meinem Spritzer. Ich zähle bis zehn, dann gehe ich. Nach Hause oder zu ihnen. Zu ihnen oder nach Hause. Ich zähle bis zehn.

Na du Groupie, sage ich zu Marie.

Der Gitarrist prostet mir zu. Wir reden nur ein bisschen, sagt er.

Er kommt aus der Nähe von ihrem Heimatdorf, nur zwei Täler weiter, behaupten sie und suchen das Eck, über das sie sich kennen über Generationen und Musikrichtungen hinweg. Sie finden es nicht.

Wir spielen zum Spaß, sagt er.

Das merkt man, sage ich.

Und du, was machst du?, fragt er Marie.

Ich spiele um mein Leben, sagt sie.

Was spielst du?, fragt er.

Ich singe, sagt sie.

Allein oder mit Band?

Ich war mit dem Gitarristen zusammen, sagt Marie, das ist immer problematisch. Wenn es in der Beziehung kracht, dann kracht es in der ganzen Band, dabei ist eine Band ohnehin wie eine Beziehung. Marie lacht.

Nur, wenn man es ernst nimmt, sonst ist es wie eine Freundschaft, sagt er.

Friends with benefits?, fragt sie.

Ohne Frauen ist es mir lieber, in der Band, meine ich, sagt er und lacht.

Das ist typisch, sagt sie, muskelbepackte Männer als Rockstars und Frauen als Groupies, das ist wieder so typisch, das ist, sagt sie, du bist, sagt er, noch schöner, wenn du wütend bist.

Macho, sagt sie.

Du hast den perfekten Augenaufschlag, sagt er.

Du verlierst den Faden, sagt sie.

Ich will dich küssen, sagt er.

Mir ist schlecht, ich drehe mich um, gehe davon, auf die Toilette. Ich wische die Klomuschel mit Papier ab, setze mich, warte.

Alles klar?, fragt Marie.

Geht so, sage ich.

Was willst du von dem?, frage ich.

Sie kichert.

Interessiert dich der wirklich?, frage ich.

Er sagt, ich soll mit ihm in sein Hotel kommen, er würde sich freuen, wenn ich bei ihm liege und er mich hält, sagt sie und kichert wieder.

Mir ist schlecht, sage ich.

Am besten du kotzt, sagt sie.

Ich kann das nicht, sage ich.

Finger reinstecken, sagt sie.

Das ist doch voll der Macho, sage ich. Der ist doppelt so alt wie du. Das mit dem Liegen und Gehaltenwerden glaubt doch kein Mensch.

Na und, ich habe Lust und du musst was essen vor dem Saufen. Ich muss jetzt in dieses Hotel, ein bisschen liegen und gehalten werden, sagt sie und kichert und verschwindet und ich stütze meine Hände auf die Muschel und warte, bis es vorbeigeht, warte, bis ich sie nicht mehr vor mir sehe, Marie und den Gitarristen, wie sie das Hotelzimmer betreten, wie sie sich anlächeln, wie sie sich küssen. Marie streicht über seine muskulösen Oberarme, über sein schütter werdendes Haar, fragt ihn, ob er Familie hat und hört ihm zu, lässt ihn reden, lässt ihn kommen, lässt ihn weitermachen. Er sagt, er wundert sich, dass sie mit so einem alten Typen –, sie hält ihm den Mund zu, er sagt, er hat noch nie mit einer Frau gefickt, die so geil und gleichzeitig so intelligent, Marie sagt nichts, kommt ein zweites Mal, einmal für mich, denke ich, und schläft zufrieden und gehalten ein, diese pseudofeministische Tussi.

ICH SEHE UNS am Tisch sitzen, die Mutter, die Großmutter, den Vater und mich, ich sehe das Feuer im Kamin. Der Vater blättert in einer Fachzeitschrift, die Großmutter strickt einen Schal, die Mutter wartet. Die Mutter sieht gut aus, wie sie dasitzt und wartet, gut bis zu den Rändern der Fingernägel. Der Vater sitzt im Schatten, der Vater ist ein Schatten im Feuer des Kamins, er blättert die Seiten um, reißt Seiten heraus und wirft sie ins Feuer. Sie knistern, glühen, zerfallen zu Asche, es läutet.

Das Klappern der Stricknadeln verstummt, ich sehe zur Großmutter, ihr Blick eine Umarmung, ihr Blick eine Decke, ihr Blick ein Vorhang. Der Vater wirft eine Seite ins Feuer, die Mutter streicht über die Nägel, die Großmutter strickt weiter, strickt schneller, es läutet.

Willst du nicht aufmachen?, fragt die Mutter. Ich schüttle den Kopf. Der Vater wirft eine Seite ins Feuer, es läutet, der Vater zerfällt zu Asche. Würdest du bitte die Tür aufmachen, sagt die Mutter. Ich stehe auf, die Mutter nickt, ich gehe zur Tür, die Stricknadeln klappern, das Feuer knistert, alles zerfällt zu Asche.

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