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CARLA DEL PONTE

IM NAMEN DER
OPFER

CARLA DEL PONTE

mit Roland Schäfli

IM NAMEN DER
OPFER

Das Versagen der UNO
und der internationalen Politik
in Syrien

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1. Auflage 2018

© Giger Verlag GmbH, CH-8852 Altendorf

Telefon 0041 55 442 68 48

www.gigerverlag.ch

Lektorat: Monika Rohde, Leipzig

Umschlaggestaltung:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagfoto: Markus Senn

Layout und Satz: Roland Poferl Print-Design, Köln

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Printed in Germany

ISBN 978-3-906872-53-7
eISBN 978-3-906872-80-3

Inhalt

Karte: Syrien und angrenzende Länder

Der Anruf

Im Auftrag des UNHRC

Mord und Totschlag werden Alltag

Der erste Bericht vor der UNO

Zwischenspiel in Argentinien

Ein Flüchtlingsjunge im Königreich

Verletzte Ärzte

Ausgebombt

Vertrieben aus dem Land der Gottlosen

Leben unter der schwarzen Fahne

Die Vernichtung der Yazidi

Die NGOs, unsere Augen und Ohren in Syrien

»Wollt ihr sie haben?«

Wer trug die Schuld am Luftangriff?

Vergiftete Politik

Syriens Herz versagt

Alles umsonst?

Dank

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Der Anruf

Solche Anrufe kommen immer aus heiterem Himmel. Sie kündigen sich nicht an. Es gab keine Vorzeichen, nicht die kleinste Andeutung. Ich stand gerade am Abschlag des Golfplatzes von Ascona, und da die Clubregeln Mobiltelefone auf dem Rasen untersagen, nahm ich den Anruf am Rand des Courts entgegen. Es war das EDA, Jean Daniel Ruch. Weil solche Telefonate überraschend kommen, werden sie von Personen geführt, denen man vertraut, und Ruch kannte ich gut. Er war auf dem Balkan mein politischer Berater gewesen. Die Schweiz wolle mich als Kandidatin für die UNO-Untersuchungskommission aufstellen. »Wo? ... Syrien?« Ruch – er ist heute unser Botschafter in Israel – wusste besser als ich über Syrien Bescheid, zu diesem Zeitpunkt war er als Repräsentant der Schweiz im Nahen Osten eingesetzt.

Der März 2011 war in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Datum für mich. Im März war ich aus Buenos Aires in meine Heimat zurückgekehrt, ins Tessin, wo der Golfplatz mich magnetisch anzog. Der Geruch des frisch gemähten Rasens, die Konzentration auf das Wesentliche, dann das Geräusch des Balls beim Abschlag. Von hier reichte der Blick bis in die Berge mit ihren Schneekappen. Meine verchromten Golfschläger waren blank poliert, und ich machte guten Gebrauch von ihnen. Seit meiner Rückkehr hatte ich mich zu jedem Turnier von hier bis Losone gemeldet, mit wachsender Zuversicht, mein Handicap endlich unter 20 zu bringen. Mit anderen Worten: Ohne mich als Rentnerin zu fühlen, genoss ich diesen neuen Lebensabschnitt. Der März 2011 markierte jedoch auch ein unrühmliches Kapitel in unserer jüngeren Geschichte: den Ausbruch der bewaffneten Feindseligkeiten in Syrien. »Sie sind schließlich keine Unerfahrene in der internationalen Verbrecherjagd«, sagte Ruch am anderen Ende der Leitung, »darum sind Sie die Einzige in der Schweiz, die für diese Kommission infrage kommt.« Ruch verstand es, die richtigen Knöpfe zu drücken. Aber sicherlich übertrieb er. Was wusste ich schon von Syrien? Nicht mehr als jeder interessierte Zeitungsleser.

Die Welle des »Arabischen Frühlings«, eine Serie von Protesten und Aufständen in der Arabischen Welt, begann in Tunesien und erreicht schließlich Syrien. Am 4. Februar initiiert die regimekritische Opposition mit wenig Resonanz ihren »Tag des Zornes«. Doch am 15. März verhaften Sicherheitskräfte in der südsyrischen Stadt Daraa Schulkinder – weil sie regimekritische Graffitis auf Hauswände gemalt haben. Einige der Kinder landen im Folterkeller. Zwei Tage danach werden friedliche Demonstrationen in Daraa mit Gewalt unterbunden und der Syrienkonflikt zählt seine ersten fünf Todesopfer (man wird Daraa künftig die »Wiege der Revolution« nennen). Die weiterhin friedlichen Kundgebungen greifen in den nächsten Tagen auf andere Landesteile über. Da beträgt der Blutzoll der Opposition schon über 100 Menschenleben.

Noch im selben Monat jedoch gibt der Präsident, Baschar al-Assad, Anlass zur Hoffnung auf eine friedliche Beilegung. Er kündigt die Freilassung der verhafteten Demonstranten an. Assad beauftragt den neuen Ministerpräsidenten mit der Bildung einer neuen Regierung, ja er hebt sogar den seit 1963 geltenden Ausnahmezustand auf, womit er eine der wichtigsten Forderungen seiner Gegner erfüllt. Doch nur Tage darauf gehen seine Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vor, die zu Dutzenden tot auf den Straßen liegen bleiben. Dann lässt der Machthaber Daraa abriegeln. Am 29. April setzt US-Präsident Barack Obama Sanktionen gegen syrische Regierungsmitglieder in Kraft. Gleichzeitig rufen die in London ansässigen syrischen Muslimbrüder zum Widerstand gegen Assad auf. Die großen Player des größten Stellvertreterkriegs der Neuzeit bringen sich in Position. Am selben Tag verurteilt der Menschenrechtsrat der UN* erstmals die Gewaltanwendung des Regimes, verbunden mit der Forderung einer Untersuchung. Was ist mit dem 13-jährigen Jungen geschehen, der bei der Demonstration in Daraa festgenommen wurde? Seine verstümmelte Leiche wird der Familie zurückgegeben. Er ist augenscheinlich zu Tode gefoltert worden. Menschenrechte scheinen in dem Staat mit seinen 21 Millionen Einwohnern nicht mehr viel zu gelten. So viel war der Welt bekannt, und mehr wusste ich auch nicht.

Schon als mein Ruhestand noch weit weg schien, war ich dem Golfclub beigetreten; selbst die Wohnung im Appartementhaus an der Straße zum Monte Verità hatte ich voller Vorfreude gekauft, als ich noch in Den Haag war. Ihre Glasscheiben bestehen aus Panzerglas. Der Bund hat sie für den Fall einsetzen lassen, falls jemand auf die Idee kommen könnte, sich für meine Arbeit zu revanchieren. Ich hatte mir als Chefanklägerin des internationalen Strafgerichtshofs (ICTY, manchmal auch das »Kriegsverbrechertribunal« der UN genannt) für das ehemalige Jugoslawien ein paar mächtige Feinde gemacht und stand unter dem Schutz der Bundespolizei. Ich ließ mögliche Attentate nicht von meinen Gedanken Besitz ergreifen. Selbst der Sprengstoffanschlag in Sizilien von 1989 war nur noch eine verblassende Erinnerung. Doch nach Buenos Aires wollte ich von der Öffentlichkeit vergessen werden, nur noch bei meiner Familie gefragt sein.

Von der Terrasse aus konnte ich ganz Ascona überblicken. Hätte ich noch geraucht, wäre dies wohl ein idealer Moment gewesen, doch ich hatte meiner früheren Lieblingsbeschäftigung abgeschworen und alle Aschenbecher aus meiner Nähe verbannt. Das hat man davon, wenn man die Schwester von Ärzten ist. Sie reden einem pausenlos ins Gewissen.

Auch auf der Terrasse war ich seitlich durch eine Scheibe geschützt, an der jede Kugel abprallt. Gott sei gedankt für Panzerglasscheiben! Einmal war ein Wagen beschossen worden, in dem ich saß. Der Schuss war nicht zu hören, wohl aber sieht man den Aufschlag, wenn das Fenster splittert. An so etwas gewöhnt man sich nicht. Und dann die Beschimpfungen. Der damalige Justizminister Serbiens hatte mich in einem Schmähbrief als »die Hure Del Ponte« tituliert. Entlang einer serbischen Autobahn stand auf Werbeplakaten »Karla, die Hure« (mich störte eher, dass mein Name in Serbisch mit »K« geschrieben war). Die Mafiosi hatten mir den Übernamen »La Puttana« verpasst. Und im Tessin hatte der Präsident der Lega dei Ticinesi, Giuliano Bignasca, mir als Staatsanwältin den Kosenamen »Carlita la peste« verliehen.

Ich war keine Anpasserin und bin es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Madeleine Albright, die Außenministerin der USA, hatte einmal nach einem überstürzten Meeting am Flughafen Heathrow einige Karteikarten vergessen. Darauf standen Eintragungen, wie mit der Del Ponte am besten umzugehen ist. Einige Zeit später ließ ich es mir nicht nehmen, ihr die »Betriebsanleitung für Del Ponte« zurückzugeben. Ich sagte ihr, dass ich – aus »historischem Interesse« – eine Kopie behalte. Denn es war schon eine lesenswerte Lektüre, wie politisch unangepasst ich sei.

»Wie lange soll das Engagement denn dauern?«, wollte ich wissen. Jetzt war Alexandre Fasel am Apparat, unser Schweizer UNO-Botschafter in Genf; heute ist er unser Botschafter in Großbritannien. Sämtliche Diplomaten schienen meine Privatnummer zu haben. »Drei, maximal acht Monate«, sicherte er mir zu. Den grünen Rasen von Ascona mit den ausgedörrten Wüsten von Syrien tauschen? Ich las ja noch immer mit Vorliebe die Berichte aus Den Haag, wo die Prozesse des Jugoslawien-Tribunals zum Abschluss gebracht wurden. Die Anstrengungen zur Festnahme des untergetauchten Serbenführers Radovan Karadžić und seines Generals Ratko Mladić waren noch nicht von Erfolg gekrönt. Beide liefen frei herum. Ich stand in Kontakt mit meinem Nachfolger am Kriegsverbrechertribunal. Nur eine Frage der Zeit, dessen war ich mir gewiss, bis unsere Strategie zum Ziel führen würde. Und als die Nachricht kam, dass man Karadžić festgesetzt hatte, war ich überglücklich. Er hatte unbehelligt in Belgrad als »Alternativmediziner« gearbeitet. Es war tatsächlich das einzige Mal, dass ich bereute, nicht mehr dazuzugehören. Nur zu gern hätte ich ihn einvernommen, 12 Jahre, nachdem sein Haftbefehl ausgestellt worden war. Wer waren Ihre Fluchthelfer? Das hätte ich ihn gern selbst gefragt. Schließlich hatten wir mehrere Male Kenntnis von seinem Aufenthaltsort, doch stets wurde er vor dem Zugriff gewarnt. Seine Völkermordtaten brachten ihm 40 Jahre ein. Eine geringe Genugtuung für die Menschen von Srebrenica.

Auf dem Balkan und als Chefanklägerin im Ruanda-Prozess hatte ich viele schlimme Dinge gesehen. Und doch, meine Psyche hatte offenbar nichts zu verarbeiten. Da tauchten keine Bilder vor meinem geistigen Auge auf, nachts schlief ich wie ein Murmeltier. Doch wollte ich wirklich wieder an Massengräbern stehen, Exhumierungen von Leichen aus Senkgruben anordnen? Ich hatte ja praktisch erst meine Koffer ausgepackt, war noch nicht ganz zu Hause angekommen.

Sollte ich den Posten annehmen, würden irgendwo bestimmt neue Karteikarten ausgestellt werden: Del Ponte, Carla, unangepasst. Aber ich musste mir eingestehen: Menschenrechtsverletzungen – egal wo auf der Welt – würden immer Teil meines Lebens bleiben, und diese Art von Arbeit verlangte nach einer unangepassten Person. Ich sagte dem EDA zu. Besprach mich mit niemandem. Schließlich, so dachte ich mir, wäre die Aushilfe bei der UNO nur eine Art »Teilzeitbeschäftigung«. Ich war gespannt, welchen Schimpfnamen man sich dieses Mal für mich einfallen lassen würde.

* United Nations, Zusammenschluss von 193 Staaten als United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen). Abgekürzt als UNO oder kurz UN.

Im Auftrag des UNHRC

Als ich im März 2012 zur UN nach Genf reiste, zogen sich die UN-Beobachter gerade aus Damaskus zurück. Rebellen hatten das Stadtzentrum mit Mörserbeschuss belegt und um ein Haar ihr Hotel getroffen. Die Arabische Liga hatte ihre Beobachter aus der Syrien-Mission bereits abgezogen. Die UN und die Arabische Liga hatten daraufhin den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan zum Sondergesandten für Syrien ernannt. Er sollte zwischen den Kriegsparteien vermitteln. Ein kleines Kommando von 250 unbewaffneten UN-Soldaten sollte eine Waffenruhe beobachten (die umgehend gebrochen wurde). Der UN-Sicherheitsrat scheiterte ein ums andere Mal beim Versuch, eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt zu verabschieden. Russland und China hielten zu Assad und blockten dies mit ihrem Veto ab. Währenddessen debattierte in Brüssel die EU, ob nach dem Embargo, das bis Mai bestehen sollte, Waffen an die Rebellen geliefert werden könnten (Frankreich und Großbritannien waren dafür).

Nicolas Sarkozy hatte die Assad-Regierung scharf für den Tod von französischen Journalisten kritisiert. Die Arabische Liga hatte Syrien aus der Mitgliedschaft entlassen. Recep Tayyip Erdoğan hatte alle türkischen Staatsbürger aufgefordert, Syrien zu verlassen. An der Grenze zu Israel kam es zu Schusswechseln zwischen israelischen Truppen und einem syrischen Militärposten. Kurz: Die Destabilisierung der Region war in vollem Gang.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, bezifferte die Zahl der bisherigen Opfer mit 70 000. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, hatte Assad den Tod Tausender Zivilisten vorgeworfen. Und: Pillay hatte dem UN-Sicherheitsrat empfohlen, den Internationalen Strafgerichtshof anzurufen. Die Frau hatte verstanden, worum es ging. Just zu diesem Zeitpunkt betrat ich die Bühne – Ex-Strafanklägerin, Ex-Bundesanwältin. Reaktivierte Verbrecherjägerin.

Von den Vorgängen im fernen Syrien war in den Räumen des Genfer Palais Wilson nichts zu spüren. Auf den sonnendurchfluteten Fluren, über marmorne Treppen mit schmiedeeisernen Geländern, waren UNO-Mitarbeiter ohne erkennbare Hektik unterwegs. Sie trugen Akten von einer Etage in die andere, unterhielten sich mit leisen Stimmen und taten, was man als Angestellter einer globalen Organisation mit 193 Staatsmitgliedern zu tun hat. Der direkt am See liegende, wertbeständige Gebäudekomplex unterhielt das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR). Und die Hochkommissarin – ich kannte »Navi« aus Den Haag, wo sie die Robe einer Richterin getragen hatte – flüsterte mir zu: »Carla, kannst du uns in der Schweiz nicht ein anderes Gebäude finden? Dieses wird zu klein!« Die Schweiz hatte der UN den ehrenwerten Palais mietfrei überlassen, doch er platzte aus allen Nähten. Der Bund hatte aber keinen anderen Palast in petto, den er zum Nulltarif zur Verfügung stellen konnte.

Dieser Bau sollte während der kommenden Monate die Basis unserer Kommission sein. Noch war meine Aufgabe nicht genau formuliert und meine Aufnahme in dieses Gremium unbestätigt. Paulo Sérgio Pinheiro hieß mich höflich willkommen. Der 1944 geborene Brasilianer war 2011, verhältnismäßig bald nach Ausbruch der Kämpfe, zum Kopf dieser Kommission gemacht worden. Er hatte bereits eine lange UNO-Karriere hinter sich. Noch länger war seine akademische Laufbahn. Ich lernte die andere Frau in der Kommission kennen, Karen Koning AbuZayd. Sie war dem Präsidenten treu ergeben. Die 1941 geborene Amerikanerin hatte sich in UN-Kreisen einen Namen in Flüchtlingsfragen gemacht. Neu für die Kommission vorgeschlagen war zusätzlich der Thailänder Vitit Muntarbhorn – er war einige Jahre jünger als der Rest von uns, galt jedoch bereits als Experte auf dem Gebiet der Menschenrechte. An der Universität Bangkok lehrte er Rechtswissenschaften. Die UNO hatte ihn 2004 für sein Engagement in der Lehre der Menschenrechte ausgezeichnet.

Ein recht illustres Grüppchen also, dennoch blieb mir nicht verborgen, dass die Besetzung keinen einzigen Ermittlungsexperten aufwies. Ich war die Ausnahme. Und doch war das Mandat bereits um einen wichtigen Zusatz erweitert worden: In Resolution S-17/1 erteilte das Human Rights Council (HRC) den Auftrag, alle angeblichen Verstöße gegen die Menschenrechte seit März 2011 in Syrien zu untersuchen. Und – das war der entscheidende Punkt – wo immer möglich die Verantwortlichen festzustellen. Sie haftbar zu machen. Das klang schon mehr nach mir. Die Kommissäre sollten also in unserer Mission übereinstimmen, Fakten und Umstände zu belegen. Unsere Gruppe wäre ein »Fact-Finding Body«. Auf begründeten Verdacht hin würden wir zuverlässige Beweise zusammentragen. Um diesen Teil des Mandats zu erfüllen, musste belastendes Material sichergestellt werden, mit dem Ziel, die Verantwortlichen dereinst vor Gericht der Menschenrechtsverletzung überführen zu können. Dazu waren natürlich Informationen aus erster Hand notwendig, die Einvernahme von Zeugen und Opfern.

Die »Swiss Mission«, wie sie gemeinhin genannt wird (Mission of Switzerland to the UN) in der Person von Alexandre Fasel hatte unser erstes Zusammenkommen arrangiert. Wir stießen mit einem Becher Kaffee in der Cafeteria des »Wilson« auf gute Zusammenarbeit an. Die Amtssprache unserer Gruppe war Englisch. Fasel äußerte mir gegenüber seine Bedenken: »Ich weiß nicht, ob Paulo Sérgio Pinheiro dich als Mitglied akzeptieren wird.« Da ich einen guten ersten Eindruck gewonnen hatte, erstaunte mich Fasels Einschätzung. »Habe ich mich nicht gut benommen?« Fasel schüttelte den Kopf. »Du bist als ehemalige Chefanklägerin überqualifiziert.« Bisher hatte die Kommission auf dem diplomatischen Parkett wenig erreicht. In ihrem ersten Bericht hatte sie sich »gravely concerned« gezeigt – sehr besorgt über die Vorgänge in Syrien. Ich hatte mich von Pinheiros angenehmem Wesen überzeugen lassen, dass wir die Sache gemeinsam anpacken würden, und er schien auch von mir eingenommen. Fasel war erstaunt, als Pinheiro am UNHRC meine Ernennung befürwortete. Meines Wissens hatte das EDA ohnehin keinen Back-up-Kandidaten in der Hinterhand.

Erst als sich alle verabschiedeten, fiel mir auf, dass die Kommissäre in verschiedenen Hotels logierten – jeder hatte seine Unterkunft nach eigenem Gutdünken gewählt. Ich sollte erwähnen, dass wir pro bono tätig waren. Ein teures Genfer Hotel hätte das Spesenkonto gesprengt, das man uns gewährte. Dennoch war ich überrascht, dass wir nicht unter einem Dach lebten. In ihrer früheren Zusammensetzung hatte die Kommission sich bereits mit Mitgliedern aller regionalen Gruppen getroffen, einschließlich der Liga der arabischen Staaten und der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit. Mit Vertretern von NGOs, Menschenrechtsvertretern und weiteren Experten hatte man sich ebenfalls ausgetauscht. Alle Personen und Organisationen, die relevante Informationen liefern konnten, waren aufgerufen, sich bei der Kommission zu melden. Zweimal jährlich sollte sie dem UNHRC Bericht erstatten. Der Sicherheitsrat nahm anschließend vom Bericht Kenntnis, jedoch nicht formell. Schon in seiner ersten Zusammenfassung der Ereignisse sprach der Rapport von einer »substanziellen Beweislast« und »schwerwiegenden Verletzungen« der Menschenrechte durch das syrische Militär und die Sicherheitskräfte des Regimes.

Die Missachtung der Menschenrechte war in Syrien freilich kein neuer Zustand. Schon 1982 war es zu beträchtlichen Verstößen gekommen, als die Muslimbrüder in der Stadt Hama den Aufstand probten. Die syrischen Streitkräfte bombardierten damals die Stadt, geschätzte 25 000 Menschen verloren ihr Leben. Dieser Massenmord war ungesühnt geblieben und warf seine Schatten voraus auf die Gräueltaten, die noch kommen sollten. An der Macht war seit dem Militärputsch 1971 Hafiz al-Assad. Mit ihm kamen ganze Dekaden der Unterdrückung. Seit einem halben Jahrhundert wurde Syrien von der Arabisch Sozialistischen Baath-Partei als Einparteiensystem regiert. Das syrische Herrschaftssystem ist nichts anderes als eine Militärdiktatur, geführt von der Minderheit der Alawiten. Es wurde darum allgemein als Lichtblick gewertet, als Hafiz’ Sohn Baschar im Jahr 2000 an die Macht kam (selbst wenn Syrien damit zur präsidialen Monarchie wurde). Tatsächlich rief der junge Präsident einen Reformprozess aus. Nicht ungeschickt, wie er sich mit der Zeit der alten Staatselite entledigte und in seinen ersten sechs Amtsjahren 14 Ministerien neu besetzte. In seiner Vereidigungsrede sprach Baschar gar von Bürgerrechten. Offenbar, so durfte der Westen hoffen, wurden da zaghafte Schritte zur Demokratisierung gemacht.

Die geopolitisch brisante Lage des Staates erlaubte es dem jungen Assad nicht, seine Ziele in Ruhe zu verfolgen: Kaum im Amt, entbrannte die »zweite Intifada«, der gewaltsame Konflikt zwischen Palästina und Israel, dann kam 9/11 und 2003 der Irakkrieg. Auf die Ermordung des libanesischen Premiers Rafik Hariri 2005 zogen sich die syrischen Truppen aus dem Libanon zurück, woraufhin 2006 der Libanonkrieg und 2009 der Gaza-Krieg ausgetragen wurden. Nachdem Assad sich die Macht gesichert hatte, wurde der politische Öffnungsprozess beendet. Die Forderungen seiner politischen Gegner gingen ihm zu weit. Er begann damit, seine Kritiker ins Gefängnis zu stecken. Der Appell der Opposition, mit der »Damaszener Erklärung« den jungen Präsidenten an seine Versprechen zu erinnern, lief ins Leere.

Auf mich machte der 1965 geborene Baschar anfangs noch den Eindruck eines Juniorchefs, der gegen seinen Willen das Familienunternehmen übernehmen muss. Denn eigentlich war sein älterer Bruder Basil als Präsidenten-Nachfolger vorgesehen. Baschar hatte sich bereits auf ein ruhiges Leben außerhalb des Personenkults eingestellt, der um seinen Vater betrieben wurde. Er studierte Medizin in Damaskus, ließ sich in einem Londoner Spital zum Augenarzt ausbilden. Doch als Basil in einem Autowrack umkam, musste der jüngere Bruder nach Syrien zurückkehren. Seine militärische Ausbildung war eher ein Crashkurs. Auch zeigt sich Baschar al-Assad nicht in den Fantasieuniformen, die Militärdiktatoren gern zur Schau tragen, behängt mit Orden, von denen niemand genau weiß, wofür ihr Träger sie erhalten hat.

Baschar trägt mit Vorliebe blaue, gut geschnittene Anzüge, die Krawatte ist sorgfältig ausgesucht. Die kleinen schwarzen Augen liegen tief in ihren Höhlen, sie verleihen ihm ein lebhaftes Aussehen. Allerdings ließ ich mich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Hatten nicht auch die Mafiosi, mit denen ich mich als Staatsanwältin beschäftigte, ein charmantes Auftreten? Gaben sie sich nicht auch als kultivierte Männer von Welt? Und hatten nicht auch sie ihre Taten stets damit erklärt, im besten Interesse ihrer »Familie« zu handeln? So wie die »Paten« nahm auch Assad für sich in Anspruch, als »Familienoberhaupt« nur gute Absichten zum Wohl der syrischen Vielvölker-Familie zu verfolgen. Doch tatsächlich hatte der Augenarzt, Dr. Jekyll, sich vor unser aller Augen in einen Mr. Hyde verwandelt.

Also gingen wir an die Arbeit. Jeder Ermittler weiß, wie wichtig es ist, einen Tatort zu sichern. Beweise zu sammeln, bevor die Spuren verwischt sind. Bald jedoch ging mir auf: Ich war eine Kommissarin, die 3000 Kilometer vom Ort des Verbrechens entfernt blieb. Gleich im ersten Bericht hatte die Kommission ihr tiefes Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass den Mandatsträgern der Zutritt ins Land verwehrt war – es sollte nicht das letzte Mal sein. Assads Sprachrohr in Genf, Faysal Khabbaz Hamoui, war bekannt dafür, auch mal aus dem Ratssaal zu stürmen, wenn sein Präsident kritisiert wurde. Kurz vorher hatte das EDA die Botschafterin Syriens, Lamia Chakkour, zur persona non grata erklärt. Damit protestierte die Schweiz gegen die systematische Verletzung der Sicherheitsratsresolutionen. Die Situation war also, gelinde gesagt, etwas angespannt. Hamoui beantwortete das Anschreiben der Kommission kurz und bündig: Man habe bereits eine unabhängige, eigene Kommission eingesetzt, um alle Ereignisse seit März 2011 zu untersuchen. Eine Möglichkeit der Kooperation der beiden Gremien zu einem späteren Zeitpunkt wurde nicht kategorisch ausgeschlossen. Turnusmäßig wiederholten wir die Aufforderung höflich – schließlich sprachen hier Diplomaten zu Diplomaten –, doch die Unterhaltung blieb einseitig. Unser Mitstreiter Vitit Muntarbhorn hatte Erfahrung darin, als UN-Beauftragter für ein bestimmtes Gebiet dasselbe nie betreten zu haben: Während seiner sechs Jahre in UN-Diensten, in denen er über die Lage der Menschenrechte in Nord-Korea berichten sollte, hatte Nord-Korea ihn nicht einmal ins Land gelassen.

Ein Katalog mit 26 Fragen zu spezifischen Vorfällen, abgefasst nach allen Regeln diplomatischer Sprachkunst, aber nichtsdestotrotz unbequeme Themen berührend, blieb von Syrien weitgehend unbeantwortet. Stattdessen nutzte der syrische Botschafter in seiner Replik die Chance, Amerika und anderen Staaten vorzuwerfen, die Region dominieren zu wollen. Der Druck der EU durch ökonomische Sanktionen, so klagte er, treffe die Menschen in Syrien. Jeder Todesfall, von wem und wo auch immer herbeigeführt, werde registriert, ließ Assads Regierung in der Schweiz ausrichten.

Da wir davon ausgehen konnten, dass die »Registrierung« dieser Todesfälle ins Reich der Fantasie gehörten, würden wir unsere eigenen Leute auf die Aufklärung dieser Morde ansetzen. Ein Dutzend Ermittler standen zu unserer Disposition, die meisten mit kriminalpolizeilichem Werdegang, alles in allem zählten wir, gemeinsam mit einigen Analysten, 23 Personen. Auf den ersten Blick wie eine Task Force der Strafanklage. Der wesentliche Unterschied sollte mir bald klar werden: Im Gegensatz zu einem unabhängigen Büro des Staatsanwalts redete bei uns die Politik mit. »Wie wollen wir vorgehen, was ermitteln wir zuerst?«, wollte ich tatkräftig von Pinheiro wissen. An Morden, die der Aufklärung bedürfen, fehlte es in Syrien ja wahrlich nicht. Paulo schien unschlüssig, wollte die Ermittlungstätigkeit lieber in den Händen eines Koordinators wissen. Ich war der Meinung, dass der Präsident der Kommission diese wichtige Funktion nicht aus der Hand geben sollte. Und wenn, dann müsste sich ein ausgebildeter Chief of Investigation, ein Chefermittler, der Koordination annehmen. Als ich mich nochmals im Palais Wilson umsah, konnte ich unter unseren Mitarbeitenden niemanden erkennen, der die nötige Erfahrung dafür aufwies. Da waren keine der bekannten Gesichter aus der Zeit des Jugoslawien-Tribunals auszumachen. Ich verlor die Zuversicht nicht. Denn allein schon angesichts der schieren Menge der verbrieften Aussagen zu Kriegsverbrechen schien mir klar, der Sicherheitsrat würde gar nicht anders können als mit einem Kriegsverbrechertribunal auf die ungeheuerlichen Vorgänge zu reagieren. Mir schien realistisch, dass schon innerhalb der nächsten Monate ein Strafgerichtshof installiert würde, analog zu den Vorbildern von Ex-Jugoslawien und Ruanda.

Nach unseren ersten vielversprechenden Arbeitstagen im »Wilson« reisten die Kommissäre ab. Paulo ging heim nach Sao Paulo, Karen flog nach Chicago und Vitits Heimadresse war Bangkok. Ich hatte den kürzesten Heimweg. Etwas hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verstanden, ein Unterschied, der unsere künftige Zusammenarbeit belasten würde: Professoren für Menschenrechte stellen in einem Krieg die Frage: Wer ist getroffen worden? Eine Strafanklägerin fragt: Wer hat geschossen?

Mord und Totschlag werden Alltag

Als ich Kofi Annan in Genf begegnete, war der starke Mann der UNO ausgebrannt. Er hatte seine Syrien-Mission zur hoffnungslosen Sache erklärt und war als Gesandter für Syrien zurückgetreten. Annan war nicht mehr der Mann, den ich kennengelernt hatte und der ein »Nein« nicht gelten ließ. Ich erinnerte mich, wie er im Sommer 1999 um ein Treffen ersuchte, ich war Bundesanwältin, und in den Niederlanden sollte der Posten der Chefanklägerin besetzt werden. Ich glaubte nicht an eine reelle Chance, aber da man eine Einladung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nicht ohne Weiteres ausschlagen kann, reiste ich nach New York. Die Hauptadresse der UNO liegt am Ostufer Manhattans. Wer das erste Mal zu diesem unpersönlich wirkenden Monolithen aufsieht, vor dem die Flaggen der Mitgliedsstaaten wehen, mag etwas eingeschüchtert sein. Nicht, wenn man im Maggiatal aufgewachsen ist. Unsere Berge überragen mühelos jeden Wolkenkratzer. Immerhin, dachte ich anerkennend, selbst wenn er auf einem ehemaligen Schlachthofgelände erbaut ist, dieser Bau steht für die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der Menschenrechte.

Im Sekretariatshochhaus ließ Kofi Annan seine diplomatische Kunst auf mich wirken. Er wollte mich als »Madame Prosecutor« des Internationalen Strafgerichts haben. Unser Staatssekretariat hatte meinen Namen ins Spiel gebracht, wohl als Wild Card, denn die Schweiz sträubte sich ja seit Ewigkeiten gegen den Beitritt zu den Vereinten Nationen, um die Neutralität zu wahren und noch aus anderen Gründen. Ruth Dreifuss hatte das symbolische Potenzial erfasst, eine Schweizerin auf diesen Posten zu setzen: Die hohe internationale Ausstrahlung war praktisch garantiert. Ich vermutete, auch Kofi hatte Hintergedanken, allerdings andere: Die NATO hatte soeben Serbien bombardiert. Da stellte ich wohl die gutschweizerische Kompromisslösung dar. Ich konnte nachempfinden, wie eine Braut sich bei einer Zwangsheirat fühlt. Wie man weiß, hat Kofi Annan seinen Willen bekommen – und ich das Amt der Chefanklägerin. Ich vergaß nie, wie er mich anstrahlte: »Wenn es nicht klappt, geben Sie einfach mir die Schuld.«

Jetzt hatte seine eigene schwierige Mission »nicht geklappt«, und Annan strahlte nicht mehr. Er habe »nicht alle Unterstützung bekommen, die der Fall verdient«, gab er als Begründung zum Rücktritt als Gesandter für Syrien an. Gleichzeitig sparte er nicht mit Kritik an der Uneinigkeit des Sicherheitsrats. »Es gibt Unstimmigkeiten innerhalb der internationalen Gemeinschaft.« Damit sprach er auch die Rolle der USA und der Golf-Anrainerstaaten an, die den politischen Verhandlungsspielraum ausgeschöpft sahen und die militärische Lösung befürworteten. Sicher war: Mit Kofi Annans Rücktritt schwanden die Aussichten auf eine diplomatische Lösung in diesem Gemetzel. Die Veto-Stimmen von Russland und China hatten mittlerweile drei Syrien-Resolutionen verhindert. Die fünf Vetomächte blockierten gegenseitig die Möglichkeit von Sanktionen gegen Assad.