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MARY UND PADRAIC COLUM

Unser Freund
James Joyce

Mit einem Vorwort
von Fritz Senn

Aus dem Englischen
von Klaus Pemsel

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Inhalt

Vorwort
zur deutschen Ausgabe

von Fritz Senn

I. DUBLIN

II. PARIS

Bibliografie und
Übersetzungsnachweise

Register

Vorwort

Im Verlauf von vierzig Jahren kreuzten sich die Wege von James Joyce und Mary und Padraic Colum verschiedentlich. Die beiden waren fast von Anfang immer wieder dabei und haben als aufmerksame und ergiebige Zeitzeugen Wissenswertes zur großen Joyce-Biografie von Richard Ellmann beigesteuert.

Im Ulysses kommt Padraic Colum als begabter angehender Dichter vor: «Colums Drover mochte ich ganz gern. Ja, ich glaube, er hat dieses seltsame Etwas, Genie. Glauben Sie, er hat wirklich Genie? Yeats bewunderte von ihm den Vers: As in wild earth a Grecian vase. Tat er das wirklich?» Es ist nicht Joyce, der das sagt, es entstammt einem Gespräch unter irischen Literaten und Bibliothekaren.

Nun also, 1958, gibt Padraic Colum etwas zurück: Er und seine spätere Frau erinnern sich an den jungen aufstrebenden und von sich selbst überzeugten Joyce. Dabei erfahren wir manches über die Figuren, die in eben demselben Kapitel des Ulysses in der Dubliner Nationalbibliothek auftreten, die einzelnen wirklichen Bibliothekare, den Dichter George Russell und John Eglinton. Sie alle hat Colum gekannt und kann sie nun beschreiben, etwas zum Hintergrund beitragen und damit auch den Eindruck im Roman leicht berichtigen, den Joyce hervorruft, wenn er mit ebendiesen Personen leichtfertig und überheblich umspringt. Padraic Colum war Teil der keltischen Renaissance und der kulturellen Rückbesinnung auf irische Ursprünge.

Die Erinnerungen an die Studentenzeit um 1900 herum, aber vor allem auch im Schicksalsjahr 1904, dem des Ulysses, rufen etwas von jener Atmosphäre und die Stimmung eines Aufbruchs wach; sie sind besonders aufschlussreich. Wenngleich der Ulysses vielleicht erstmals die moderne Großstadt in der Literatur ausgebreitet hat, mutet sein Dublin mit Pferdekutschen eher idyllisch an, während Dublin doch schon früh mit elektrischen Trams ausgestattet war. Automobile waren noch selten, und Bloom ist noch auf das einzige Telefon in einer Redaktion angewiesen. Es gab noch wenige Studentinnen (Mary Colum war eine der frühen), und sie trafen sich mit männlichen Kommilitonen nur an bestimmten Orten, wie etwa der Bibliothek.

Padraic und Mary Colum, die sich in ihren Berichten abwechseln, zeigen den ehrgeizig arroganten jungen Joyce bereits als eine auffällige Figur in einer Stadt voller auffälliger Figuren und Talente. Er war damals natürlich keine Berühmtheit, ließ aber Ansätze dazu schon erahnen.

Vermutlich hat andererseits die Lektüre des Ulysses bei den Colums auch die Erinnerungen an die frühen Tage rückwärts aufgefrischt und möglicherweise nachträglich leicht zurechtgerückt.

Einige Passagen des Ulysses lesen sich nun verständlicher und die Hinweise von Padraic und Mary Colum sind fester und wesentlicher Bestandteil der Forschung geworden. Vor einigen Jahren ist ein Buch herausgekommen, das alle bekannten oder vermutlichen Personen, die im Ulysses unter eigenem oder fremdem Namen auftreten, in Kurzbiografien auflistet, was sich wohl mit keinem anderen Roman anstellen ließe. Es stützt sich vornehmlich auf Zeitzeugen wie eben die Colums.

Eine Begabung, sich Geld «auszuleihen» (Joyces Euphemismus) zeigt sich recht früh, gleicherweise seine selbstverständliche Auffassung, dass ihm, zu Größerem berufen, die Welt Unterstützung schuldete, materielle ohnehin. Darin hat er sich bei seinen Forderungen eifriger ins Zeug gelegt als bei späterer Dankbarkeit.

Eine zweite Phase dieser Erinnerungen schildert Joyce bei seinem letzten Besuch in Dublin, als er sich um die Veröffentlichung seiner Kurzgeschichten Dubliners an Ort und Stelle, aber vergeblich, mit Verlegern und Druckern herumschlug und alle Freunde in die Kampagne einbezog. Die Geschichten waren für das damalige Irland noch zu gewagt, sodass Joyce klein beizugeben hatte und sich immerhin in einem unwirschen Schmähgedicht Luft verschaffte. Zum Glück fand sich ein Verleger in England, der die Geschichten zuerst ebenfalls abgelehnt hatte, bald zur Veröffentlichung bereit.

Die dritte Phase von diesmal ausgiebigen Begegnungen fand in Paris statt, als Joyce nach 1922 bereits berühmt und notorisch und damit umworben war. Der sonst eher steif oder abwesend wirkende Autor war den Colums näher als vielen andern, die sich um ihn zu scharen versuchten, und die beiden konnten ihm mehr vertrauliche Äußerungen entlocken. Sie verkehrten in der Buchhandlung Shakespeare & Co, die von Sylvia Beach betrieben wurde. Sie war es, der Joyce seinen Roman anvertraute, was sie zur unverhofften und schwergeprüften Verlegerin einer literarischen Sensation machte. In ihrem Buchladen an der Rue de l’Odéon gab sich bald ein Teil des intellektuellen Paris ein Stelldichein. Auch in den vielen Wohnungen des unsteten Joyce waren die Colums oft zu Gast und machten ihre Beobachtungen. Sie verfolgten das neueste Unternehmen, noch verrückter als selbst der Ulysses, die seriellen Fragmente von Work in Progress – wie Finnegans Wake vor dem Erscheinen 1939 benannt wurde – und dessen komplexe Entwicklung mit Neugier und Aufmerksamkeit, so unter anderem, wie Joyce von einer bestimmten Zeit an ein Kapitel mit Flussnamen aus aller Welt anreicherte. Verschiedene Begebenheiten, denen sie beiwohnten, oder auch Anekdoten gingen in das Werk ein, das durch den Bericht punktuell um einiges verständlicher wird.

Wir erfahren auch von Joyces Angst vor Gewittern oder seinem panischen Aberglauben gegenüber der Zahl dreizehn – etwas, worüber sich Joyces gelungenste Gestalt, Leopold Bloom, im Ulysses souverän hinwegzusetzen vermag, seltsamerweise unbeschwerter als sein Schöpfer. Sein Verhältnis zu Schriftstellern kommt zur Sprache, so zum bedeutenden irischen Romancier George Moore, zu Bernard Shaw oder zu Marcel Proust. Offenbar hatte Joyce trotz seiner schlechten Augen und des Umfangs der Suche nach der verlorenen Zeit einiges, aber bestimmt nicht alles, von Proust gelesen. Padraic Colum berichtet über das einzige Treffen der beiden Großen in einem Gespräch, das verschiedenartig überliefert worden ist, sich aber immer auf den gemeinsamen Nenner reduziert, dass sich die beiden rein gar nichts zu sagen hatten.

Obwohl Joyce als freundlich, hilfsbereit, umgänglich, verständnisvoll, belesen und witzig daherkommt, werden dunklere Seiten nicht verschwiegen, etwa, wie verschwenderisch Joyce mit fremdem Geld umging oder wie rücksichtslos er seine sich aufopfernde Verlegerin am Ende behandelte. Gelegentlich versteifte sich Joyce auf verbissene Kampagnen, etwa als er sich mit skurriler Vehemenz bis an die Grenze der Lächerlichkeit für den angeblich unterschätzten irischen Tenor John Sullivan einsetzte und wiederum seine ganze Umgebung mit einbeziehen wollte.

Natürlich kommt auch der tragische Fall von Joyces Tochter Lucia zur Sprache, der einen tiefen Schatten auf Joyces letztes Lebensjahrzehnt warf; ebenso Joyces vergeblicher Versuch, seine späte Hochzeit mit Nora Barnacle in London von der Presse fernzuhalten.

Es ist ein vielfältiges Bild mit zahlreichen Facetten. Wer Joyce schon kennt, bekommt vielerlei lebendige zusätzliche Einblicke, für Anfänger ist Unser Freund James Joyce ein anregender, freundlicher Einstieg.

Zürich, Dezember 2017

Fritz Senn

Nachtrag zum Vorwort

Padraic Colum war als einer der wenigen übrig gebliebenen Zeitgenossen beim ersten Internationalen James Joyce Symposium in Dublin anwesend. Sein Eintrag im Gästebuch war vermutlich improvisiert:

We did not know

The researching eyes beneath

the peak of cap

Beheld

the Seventh city of Christendom

re-famed.

We did not know

Below your sayings there was

incantation

To give the river back to twilight

field

River of discourse

Anna Livia

River of fable

Plurabelle

Padraic Colum

15 June 1967

Nicht bewusst waren uns

Die forschenden Augen unter

dem Kappenschirm

Sahen

die siebte Stadt der Christenheit

in neuem Ruhm.

Nicht bewusst waren uns

die Zauberformeln unter

deinen Sätzen

Welche den Fluss wieder zurückversetzten ins

Reich des Zwielichts

Im Erzählfluss

Anna Livia

Im Fabelfluss

Plurabelle

Padraic Colum

15. Juni 1967

Die Anregung zu Unser Freund James Joyce kam von Mary Colum. Sie plante auch den Erzählverlauf. Aufgrund einer Krankheit konnte sie jedoch nicht so viele Kapitel schreiben, wie sie vorhatte. Doch über Diskussionen mit mir zum ganzen Werk, durch das Vergegenwärtigen von Erlebnissen und das Wiederauflebenlassen unserer gemeinsamen Erinnerungen führte sie ihr Vorhaben weitgehend durch. … Sie schrieb auf Blätter, die mit dem ersten Vers eines von ihr geliebten Sonetts beschriftet waren, und dieser Vers, der sie so kennzeichnete, soll an dieser Stelle stehen: Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui.1

P. C.

1Gedicht von Stéphane Mallarmé

I. Dublin

1

[ Padraic Colum

Dublin ist eine kleine Stadt, so klein, dass jemand in zwanzig Minuten vom Zentrum zu den Außenbezirken gehen kann. In dieser durch Handel und Bürokratie, nicht durch Industrie gekennzeichneten Stadt werden wenige Geschäfte vereinnahmender Natur getätigt, daher sind die Bürger dem Müßiggang und den geistigen Zerstreuungen zugeneigt. Die geringe Größe der Stadt und die Betätigungen ihrer Einwohner begünstigen das Interesse an Charakteren – ein Interesse, das in allen Zirkeln vorherrschte, aus denen sich das Dublin der Jahrhundertwende zusammensetzte. Taten und Worte einer «Type» machten immer wieder die Runde von Zirkel zu Zirkel und verloren in der Wiederholung nichts an Dramatik und Humor. Als ich 1901 oder Anfang 1902 James Joyce das erste Mal begegnete, entwickelte er sich schon zu einer Dubliner «Type». Es bildeten sich bereits Legenden um ihn.

Diese erste Begegnung fand auf einer der Abendpartys von Lady Gregory statt. Da saßen in einer Ecke zwei junge Männer, die ich, der ungefähr in ihrem Alter war, aber nicht die Universität besucht hatte, als Studenten einschätzte. Im Dublin jener Zeit galten Studenten (die hauptsächlich männlichen Geschlechts waren) wie im Mittelalter als kenntnisreich, ungläubig und in einem gewissen Maß sogar als aufrührerisch; meine Einschätzung der beiden jungen Männer schloss all das mit ein. Doch diese beiden waren offensichtlich keine gewöhnlichen Studenten, da sie sich in einer Gesellschaft (passender wäre hier: in einer Zusammenkunft) befanden, zu der Lady Gregory und William Butler Yeats gehörten. Als mir die beiden vorgestellt wurden, merkte ich, dass ich ihre Namen schon mal gehört hatte. Es waren Oliver Gogarty und James Joyce.

Jeder von ihnen hatte schon einen gewissen Glanz. Oliver Gogarty, damals Student am Trinity College, war als Athlet bekannt – ein Radfahrer und Schwimmer – sowie auch als jemand, dem viele der unerhört geistreichen Bemerkungen, die in Dublin die Runde machten, nachgesagt wurden. Die Besonderheit des anderen war weit weniger allgemeiner Art. Ein oder zwei Jahre vorher hatte James Joyce als gerade mal Achtzehnjähriger etwas erreicht, was einem doppelt so alten Autor hoch angestanden hätte. Er hatte in der bedeutenden Fortnightly Review einen Artikel veröffentlichen können. Es handelte sich um eine Besprechung von Ibsens Wenn wir Toten erwachen. Für diese Rezension hatte der Dramatiker, damals der Großmeister des europäischen Schauspiels, über seinen englischen Übersetzer William Archer seine Anerkennung für den jungen Kritiker ausdrücken lassen. Es war ein lobenswerter Artikel, der von Bildung, Weitblick und – nach eingehender Lektüre – von großer Hingabe zeugte.

Dann war 1901 in den Buchläden ein wohlfeiles Pamphlet von Francis Skeffington und James A. Joyce aufgetaucht. Skeffington war ein glühender Verfechter der weiblichen Gleichberechtigung und seine Hälfte des Pamphlets mit dem Titel «Ein vergessener Aspekt der Universitätsfrage» behandelte den Status von Frauen an den irischen Universitäten. Joyces Teil, eine verbale Attacke auf das vorgesehene Nationaltheater, trug den Titel «Der Tag des Pöbels». Der verächtliche Titel, auf der Vorderseite gut sichtbar unter Skeffingtons maßvoller Überschrift, blieb vielen in Erinnerung, denen das Polemisieren zweier Studenten zuwider war, die durch Vereinigung ihrer Kräfte die Druckkosten für die Streitschrift halbiert hatten. Joyces Schrift brandmarkte den Provinzialismus des irischen Vorhabens und verlangte, dass die Initiatoren sich europäischer zeigen sollten, indem sie Stücke von Ibsen, Strindberg, Hauptmann und Tolstoi aufführten. Diese Dramatiker wurden aber nicht besonders ehrfurchtsvoll erwähnt. Die Leser erfuhren etwas von Strindbergs «hysterischer Kraft». Wie überaus selbstsicher dieser Kollegstudent war!

Doch ungeachtet seiner selbstsicheren Geringschätzung saß da der Polemiker, trank gelassen Tee oder Sherry und lauschte Yeats und Lady Gregory, die über mögliche Stücke, mögliche Aufführungen mit den anderen Gästen diskutierten, die größtenteils zur Gesellschaft des Nationaltheaters gehörten. Ich weiß nicht mehr, ob Joyce sich damals am Gespräch beteiligte. Er saß mit Gogarty abseits in Nähe der Tür, so als ob sie nicht so ganz zur Gästeschar gehörten.

Es mag bei dieser Gelegenheit gewesen sein, dass Lady Gregory Joyce darum bat, «etwas für unser kleines Theater zu schreiben». Über diese Anfrage machte sich der junge Verfasser von «Der Tag des Pöbels» bisweilen lustig. Ich weiß nicht, ob Joyce oder Gogarty den Limerick in die Welt gesetzt hat, der häufig Joyce zugeschrieben wird:

Die Dame mit Nachnamen Gregory

Sucht Dichter arm in Allegorie

Doch groß ihr Befremden

Als tausend Studenten

Schrien: «Wir sind in dieser Kategorie.»

[ Mary M. Colum

Ich hörte von James Joyce das erste Mal unter seltsamen Umständen. Ich wohnte in einem Studentenheim in Dublin und bereitete mich auf die Immatrikulationsprüfung vor. Eine der Studentinnen im Haus – sie war schon graduiert, meine ich – erhielt von einem Studenten eine Postkarte, deren Inhalt sie sehr aufbrachte. Auch wenn Königin Victoria längst tot war, so empörten sich junge Frauen in Irland damals immer noch über jegliche unaufgeforderte Kommunikation oder Annäherung vonseiten des männlichen Geschlechts. Einige von uns jungen Studentinnen erfuhren, was auf der Postkarte stand. Der Schreiber, so erinnere ich mich, schlug ein Treffen oder Rendezvous vor und unterzeichnete mit «James A. Joyce».

Die Angeschriebene schien den Schreiber zu kennen, denn sie verfasste höchst indigniert eine hochnäsige Antwort, die diesen James A. Joyce erniedrigen und beleidigen sollte. Postwendend erhielt sie eine genauso hochmütige Erwiderung, aber in äußerst höflichem Ton gehalten, die ihr jedoch vermittelte, wie dämlich die Vorstellung sei, dass er, James A. Joyce, solch ein Schreiben verfasst haben sollte, da er sich nicht erinnern könne, sie jemals gesehen zu haben, und sowieso niemals mit Studentinnen, die nicht zum Familienkreis gehörten, in Verbindung trete. Der extreme Hochmut der Erwiderung offenbarte nach unserer Auffassung eine Persönlichkeit von solcher Arroganz, dass wir in unserer jugendlichen Unreife uns alle einig waren, Joyce könne kein Gentleman sein, wenn er einer jungen Dame in dem Ton schrieb. Wir dachten, es hätte ja genügt, wenn er erklärt hätte, dass ein Kommilitone seinen Namen benutzt hätte. Zwischen der Handschrift auf der ersten Postkarte und der auf der Erwiderung bestand nämlich keine Ähnlichkeit.

Einige Zeit später erblickte ich James Joyce zum ersten Mal. Ich wurde in der Kildare Street auf ihn aufmerksam gemacht, wo sich die Nationalbibliothek befindet. Meine Begleiterin bemerkte: «Dort ist James Joyce, nach eigener Einschätzung das große Genie der Universität.» Wie ich erfuhr, hatte er bereits den Magisterabschluss hinter sich, und zwar an der neusprachlichen Fakultät, ganz so, als gehöre er zu unserem Geschlecht. Von Studentinnen wurde zu der Zeit erwartet, dass sie sich auf moderne Sprachen und Literatur spezialisierten, wohingegen die Domänen der Studenten die alten Sprachen, Mathematik und ähnliche männliche Interessensbereiche waren. Weder diese Information noch die Erscheinung von James Joyce waren ansprechend, und die über ihn im Umlauf befindlichen befremdenden Gerüchte waren für uns junge und unbedarfte Hühner schockierend. Es hieß, er habe sich von der Religion abgewandt und verkehre in allen möglichen üblen Kreisen. (Wenn auch einige der übelsten und rufschädigendsten Gerüchte über Männer, die ich je erfahren habe, in der Stadt an der Liffey kursierten, so bin ich doch allgemein der Auffassung, dass Dublins Ruf als besondere Gerüchteküche eher unbegründet ist. Die Stadt ist nicht so klatschhaft wie New York, London oder Paris; nichtsdestoweniger waren die umlaufenden Gerüchte zu meiner Zeit dort giftig genug.)

Studentinnen und Studenten brachten zu jener Zeit wenig Aufmerksamkeit füreinander auf, da solche Beziehungen von der Verwaltung schief angesehen wurden. Wenn eine Studentin einmal mit ihrem ebenfalls studierenden Bruder sprach, so tat sie das nur bei besonderen Gelegenheiten. Heiraten zwischen Studierenden untereinander waren selten, wenngleich nicht unbekannt. Später, als durchsickerte, dass Joyce aus romantischen Gründen auf den Kontinent durchgebrannt war, wussten wir, dass er das nicht mit einer Studentin getan haben konnte. Wir hörten auch, dass sich Joyce im Gegensatz zu einem seiner Zechkumpane, der unverschämterweise eine Geldheirat eingegangen war, eine Liebste gewählt hatte, die keinen Penny besaß. Sie hatte ihren Lebensunterhalt in einem Hotel verdient.

Jahre später, als ich ihn besser kennenlernte, war Joyce überrascht, wie wenig ich von ihm an der Universität erfahren hatte, insbesondere von den Studenten, die in der Nationalbibliothek zusammenkamen. Ich verriet ihm nicht, dass meine markanteste Erinnerung an ihn sein an einem schwarzen Brett angeschriebener Name wegen unterlassener Gebührenzahlungen war. Damals wusste ich überhaupt nichts von den Kalamitäten seiner Familie.

Joyce und ich genossen die gleiche Erziehung, die typisch dafür war, was dem Mittelstand im Irland jener Zeit offenstand. Wir beide wurden zuerst auf eine Reihe privater Schulen geschickt, Hauptschule und Gymnasium, die von der Regierung kontrolliert und bezuschusst wurden. Eine große Rolle spielten bei diesen Schulen auf der Gymnasialebene die wettbewerbsartigen Prüfungen, bei denen ausgezeichnete Schüler Preise oder Stipendien in beträchtlicher Höhe gewinnen konnten. Die Summe für den Juniorabschluss, der drei Jahre umfasste, betrug zwanzig Pfund (damals war diese Summe fast dreimal so viel wert wie derzeit); für den mittleren Abschluss, der zwei Jahre umfasste, betrug sie dreißig Pfund, und für den Seniorabschluss, der ein Jahr umfasste, betrug er fünfzig Pfund. Die irischen Zeitungen behandelten die mittleren Abschlüsse und die Reifeprüfungen wie Pferderennen oder Boxkämpfe, brachten ausführliche Berichte über den Wettbewerb zwischen katholischen und protestantischen Schulen wie auch den zwischen den unterschiedlichen Schulen gleicher Konfession und generell über die Vorbereitung von Jungen und Mädchen auf nationale Meisterschaften. Joyce, der etliche Auszeichnungen gewann, war einer der Meisterschüler seiner Zeit.

Wenn jemand die strengen Abschlussprüfungen für die Hochschulreife geschafft hatte, war er befugt, sich an einer Universität zu immatrikulieren. Doch da warteten weitere Prüfungen. Nach einem Studienjahr erfolgte das erste Examen, danach folgten «First Arts», «Second Arts», die Bachelor-Prüfung und schließlich, wenn einer noch weiter kommen wollte, die Prüfung zum Magister.

Joyce und ich immatrikulierten uns an der damals Royal University genannten Hochschule. Sie war der Nachfolger der Universität, die Kardinal Newman projektiert hatte, doch sie war nicht konfessionell, also keine katholische Universität, obwohl eines der Colleges, University College, das Joyce besuchte, katholisch war. Später wurde die Royal University die nationale Universität. Joyce machte seinen Abschluss an der Royal, während ich als die Spätere meinen von der nationalen Universität erhielt.

Ich habe oft abfällige Worte über die Royal University gehört, weil sie keine Internatsuniversität so wie die Universität Dublin (Trinity College) war. Tatsächlich brachte die Royal einige der gebildetsten Menschen hervor, die ich je gekannt habe. Sie vermittelte keine praxisorientierte oder pragmatische Bildung, aber sie brachte mit Erfolg kultivierte und sogar vielseitig gebildete Personen hervor, zu denen Joyce gehörte.

2

[ Padraic Colum

James Joyce wohnte im nördlichen Dublin, das heißt nördlich des Flusses. In einer so kleinen Stadt sollte dieser Tatsache keine gesteigerte Bedeutung zukommen. Doch nach Dubliner Ansicht hatte sie das: Die Nordseite war etwas weniger und die Südseite etwas mehr bürgerlich. Joyces Eltern hatten schon in verschiedenen Vierteln gewohnt, doch zur Zeit unseres Kennenlernens war er ein Nordstädter, so wie Leopold Bloom im Ulysses. In den wenigen Jahren, seit ich in die Stadt gekommen war, hatte ich auf der Südseite gewohnt. Joyce war für mich daher ein Mann aus einer anderen Stadt.

Etliche Male nach der ersten Begegnung bei Lady Gregory hatten wir auf der Straße oder in der Nationalbibliothek Sichtkontakt, aber wir kamen nicht ins Gespräch. Joyce war reserviert und seine blauen Augen, wohl wegen seiner Kurzsichtigkeit, schienen keine Annäherung zuzulassen. Gewöhnlich suchte er die Rotunde des Lesesaals der Bibliothek zwischen acht und neun Uhr abends auf. Ich möchte nicht sagen, dass er voll Arroganz eintrat, aber er kam wie jemand herein, der zu den dort Versammelten Distanz wahren wollte. Ich war nicht neugierig auf seine Lektüre, doch einmal, als ich nach ihm an den Schalter kam, sagte ein Angestellter von einem offenbar zur Reservierung beiseite gelegten Buch: «Für Mr. Joyce». Es war ein Buch über Wappenkunde.

Dann kam die Zeit, da ich doch auf Joyce zutrat. Der Schritt wurde durch seinen vorübergehenden Aufenthalt in einem Kreis veranlasst, dem ich angehörte.

Der Patron junger Dichter – besser gesagt der Förderer der Poesie – in Dublin damals war «Æa», George William Russell, Dichter, Maler und Theosoph von großer Herzensgüte. Æ hatte eine Gruppe um sich versammelt, die sich an den Sonntagabenden in seinem Haus traf, um kürzlich erschienene oder vor der Veröffentlichung stehende Werke zu besprechen und den Gehalt der kommenden irischen Literatur zu umreißen. Er hatte bereits Gedichte von Poeten in ihren Zwanzigern gesammelt und veröffentlicht, zu denen auch ich gehörte. (Im Rückblick erscheint dies als ein Akt praktischer Nächstenliebe.) Ich erfuhr also, dass Joyce – der freilich nicht zu unserer Gruppe gehörte – mit einem Manuskript in der Hand ins Haus von Æ gegangen war und dass eine Unterredung stattgefunden hatte. Die Begegnung wurde wie alle die Literaten betreffenden Ereignisse von den Berichterstattern entsprechend dramatisiert. Æ soll zu ihm gesagt haben: «Ich weiß nicht, ob Sie ein Brunnen oder eine Zisterne sind.» Und, was seine Gedichte betraf: «Ich glaube nicht, dass Sie genug Chaos in sich haben, um eine Welt zu erschaffen.»

Da Joyce und ich gleichaltrig waren, war im Gespräch von Æ mit ihm offenbar mein Name gefallen. Diese Erwähnung empfand ich als Herausforderung. «Was für eine Art Gedichte schreibt er denn?», fragte ich meinen Informanten. «Ach, so wie deine – subjektiv-objektive Lyrik», lautete die wenig aussagekräftige Antwort.

Da nun Joyce in meinen Gesichtskreis getreten war, hielt ich es für angebracht, mich mit ihm zu messen. Das setzte ich an einem Abend in die Tat um, als wir uns in der Bibliothek trafen. Als er durchs Drehkreuz nach draußen ging, folgte ich ihm und sprach ihn auf der Treppe an.

Ich denke, er fasste meine Annäherung als eine Art Huldigung auf (was sie auch war) und war bereit, sich auf ein Gespräch mit mir einzulassen. Wir traten auf die Kildare Street hinaus und gingen weiter durch die O’Connell Street, wo wir uns seiner Wohnung zuwandten. Mittlerweile sprach Joyce von sich persönlich, oder ich sollte lieber sagen, von seiner Biografie.

Im Rückblick auf jenen Spaziergang wird mir klar, dass ich keine bessere Einführung in die Persönlichkeit und den Geist dieses einzigartigen jungen Mannes hätte bekommen können. Er sprach wohl wie eine ausgeformte Persönlichkeit zu jemand, den er für unausgeformt hielt. Er gab wie so oft in jenen Tagen einige vorgefasste Reden von sich. Wie reif er mir schon erschien!

Das Ereignis, welches das Zusammentreffen ausgelöst hatte, wurde bald von ihm abgetan, denn die Großherzigkeit von Æ erschien ihm als geistig hohl. In Anbetracht der abendländischen Bildung des einen und des Neuheidentums des anderen erschien ihr kurzzeitiges Zusammentreffen an einem Nachmittag schwer fassbar. Den weiteren Dichter unserer Stadt stellte Joyce auf ein anderes Podest. «Yeats hat wirklich Literatur geschrieben – sogar Dichtung», sagte er und ließ sich dann über eine seiner Geschichten aus, Die Anbetung der Heiligen drei Könige. Der neuen nationalistischen Bewegung, der Gaelic League, schenkte er keine Beachtung. «Ich misstraue jeglicher Begeisterung», meinte er.

Der Gedanke lag nahe – vermutlich hatte ich ihn auch –, dass ein junger Mann, der jeglicher Begeisterung misstraute, ein hervorstechender Charakter war. Und wenn Joyce in jener Zeit in Dublin so etwas sagte, machte er sich zum Häretiker oder Schismatiker, zu jemand, der den Bodensatz des Glaubens aufwühlt. «Und wenn Geschichte und die Lebensgegenwart uns versagen, liegen da nicht unter diesen Speerspitzen und goldenen Krägen drüben im Neuen Museum Anregungen jenes Zeitalters vor der Geschichte, als Kunst, Legenden und wilde Mythologien vom frühesten Irland sich aus dem Nichts erhoben? Dort allein befindet sich genug von dem Stoff, aus dem die Träume sind, um uns tausend Jahre lang zu beschäftigen.» Das hatte Yeats geschrieben, als er so alt wie Joyce gewesen war. Für uns bedeutete damals die Zugehörigkeit zu «einer Bewegung» Gefolgschaft und Aufmunterung. Das hieß, die Verzagtheit der Generation davor zu verlassen und neuen nationalen Ruhm anzustreben. Wer wäre nicht gern in einer solchen Bewegung gewesen? Und sie wurde durch Begeisterung angefeuert.

Ich versuche, eine Bezeichnung für die Art zu finden, wie der junge Mann an der Straßenecke sagte: «Ich misstraue jeglicher Begeisterung.» Das geschah nicht mit jugendlichem Überschwang. Es klang eher wie ein singuläres Veto nach einer ermüdenden Auseinandersetzung.

An derselben Straßenecke sprach Joyce von seinen Eltern auf eine Art, die der würdevollen Rolle, die er an jenem Abend spielte, nicht abträglich war. Und nach was sah diese Rolle aus? Nach einem Mentor vielleicht. Joyce war ein Solitär in seinem Denken, doch er war erfreut, einen Jünger zu haben. Er muss es wohl als notwendig empfunden haben, diesem möglichen Jünger einen Teil seines Lebens zu offenbaren. Wie dem auch sei, dazumal präsentierte er sich als Spross einer bemerkenswerten Familie. Sein Vater, der aus Cork nach Dublin gekommen war, hatte zuletzt einen Posten als Steuereinnehmer gehabt. Er hatte ihn verloren und sein Vermögen in ausgelassener Gesellschaft verjubelt. Joyce verfiel ein wenig in einen Predigerton: «Was ich hatte, verlor ich; was ich gab, habe ich. Wenn mein Vater das sagen konnte, braucht er nicht zu bereuen, was aus ihm geworden ist.»

Der Vater von Joyce, John Stanislaus Joyce, war wohlbekannt in den Bars, den Restaurants und auf den Rennbahnen Dublins. Sein Ansehen in der Stadt war so, wie es eben einem Mann, der seine Existenzgrundlagen in ausgelassener Gesellschaft verplempert hat, in jedem beliebigen lockeren sozialen Milieu zukommen kann. Er verfügte über eine gute Stimme und setzte sich zuweilen in einem Pub ans Klavier, klimperte drauflos und sang ein Volkslied oder eine Opernarie. Zur Zeit meiner ersten Begegnung mit James Joyce machte eine kennzeichnende Geschichte über John Stanislaus die Runde. Sie trägt sich im Regen zu, als er und ein Kumpan eine Droschke besteigen, um zum Pferderennen zu fahren. John Stanislaus flucht. Der Kumpan, ein frommer Mann, weist ihn zurecht: «Weißt du denn nicht, dass Gott die Welt ersaufen lassen kann, John?» «Das könnte er, wenn er sich zu einem verdammten Narren machen möchte.» Das Komische an der Geschichte lag im salbungsvollen Ton des einen und im knorrigen Klang des anderen.

Doch an jenem verheißungsvollen Abend blieb mir nicht der junge Joyce, der sich vom Rest von uns absonderte, in Erinnerung, auch nicht der Sohn eines stadtbekannten Müßiggängers, sondern der Joyce, der wunderschön gedrechselte Gedichte schrieb. Ein Dichter hatte zu jener Zeit seine Gedichte auswendig zu kennen und auch bereit zu sein, sie vorzutragen. Ich hatte Æ, von Vokal zu Vokal schaukelnd, deklamieren hören:

Die Säume geschäumt mit Amethyst und Rubin,

Verwelkt aufs neu die alte blaue Blume des Tags.

Und ich hatte Yeats in echten Singsang verfallen hören:

Oh Frauen, die ihr einst an geweihten Geländern kniet,

Wenn dann meine Liebeslieder euch stören im Gebet.

Joyce sprach seine Verse entschieden und exakt, doch mit einer natürlich schönen Stimme, die von einer Gesangsausbildung zeugte. Die Wirkung war persönlicher als bei Æ oder Yeats. Das war Joyce in einer Weise, in der er sich frei wusste:

Was hat dir der verkappte Mond

Ins Herz geflüstert, scheues Kind,

Von Liebe, die im Vollmond wohnt,

Von Sternen, die ihm Diener sind –

Ein Weiser, dem an List verwandt

Der Kapuziner-Komödiant?

Glaub lieber mir, dem weisern Mann,

Dem Göttliches geringe gilt:

In diesen Augen – schau sie an –

Erzittert wahr ein Sternenbild!

Nie wieder mache tränenblind

Der Mond dich, süß gefühlig Kind!

«Die simple Befreiung eines Rhythmus», so lautete seine Definition der Lyrik jener Zeit. Seine Wiedergabe von Lieblingsgedichten bleibt mir fest in Erinnerung. Er trug sie ohne den Nachdruck vor, den irische Dichter normalerweise dem Vers geben, den sie aufsagen, wodurch das Gedicht zur stilisierten Rede wurde (doch mit außergewöhnlichem Wohlklang der Stimme). Mir ist noch sein Vortrag von Ben Jonson in Erinnerung.

Stets so geputzt, geschmückt so reich,

Als gings zu einem Feste gleich,

Gepudert, parfümiert zum Schluss:

Da, Lady, denkt man mit Verdruss –

Wird keiner auch die Kunst gewahr,

Nicht alles sei gesund und klar.

Gebt einen Blick mir, ein Gesicht,

Draus Einfachheit und Anmut spricht,

Nur lose fließend Haar und Kleid:

Glaubt mir, solch süße Lässigkeit

Den Zauber aller Künste bricht –

Es trifft das Aug, das Herze nicht!

Ich werde auch immer in Erinnerung behalten, wie er Beatrices Lied im letzten Akt von The Cenci von Percy B. Shelley intonierte: «Falscher Freund, wirst du lächeln oder weinen / Wenn mein Leben enden wird?» Und Verse von Mangan, die sogar die eifrigsten Leser dieses Poeten übergangen haben, wurden in Joyces Wiedergabe denkwürdig.

Verhüll den Spiegel nicht, Amine,

Bis Nacht verhüllt auch jeden Stern!

Ein zwiefach Wunder siehst du an:

Ein Antlitz, das so hübsch wie dein,

Und Augen, die, ob nah ob fern,

Nur eine leidlos schauen kann.

Es war irgendwann im Frühjahr 1902, ob vor oder nach unserem Zusammentreffen, weiß ich nicht mehr, als Joyce auf einem Podium der literaturgeschichtlichen Fakultät der Universität stand, um einen Vortrag über James Clarence Mangan zu halten. Kommilitonen, die ihn hörten, sagten, er war so gesittet und würdevoll, wie es nur irgend ging. Und doch hatten genau diese Studenten ihn gehört, wie er von seinen schäbigen Abenteuern erzählte und wie er, von seiner bezwingenden Sprechweise in eine heisere wechselnd, selbst verfertigte Verse skandalöser Art wiedergab. Der Dichter, über den er sprach, war von Yeats als beispielhaft bezeichnet worden:

Nicht minder gelten möcht ich schon,

Als Davis, Mangan, Ferguson …

… diesem Mann

War eine Bruderschaft verwandt,

Die sang, zu lindern Irlands Schmach

Balladen, Epen, mannigfach.

Mangan wurde vom jugendlichen Joyce nicht für seine Treue zur nationalen Idee gelobt, sondern für seine Kunstfertigkeit, und er erwähnte vier oder fünf Gedichte, die ihn bis zum Ende seiner Tage erfreuen würden.

Der Vortrag, der in der Zeitschrift des Colleges, St. Stephen’s, im Mai 1902 publiziert wurde, ist weniger ein Essay über Mangan als ein imaginäres Porträt – zweifellos von Paters Herangehensweise und Stil beeinflusst. Die Weisheit und die Musik darin sind bemerkenswert. Es lässt Weisheit erkennen, wenn der damals kaum zwanzigjährige Student verkündet, dass «Poesie, wenn auch noch so fantastisch anmutend, immer eine Revolte gegen das Künstliche ist, eine Auflehnung gegen die Aktualität gewissermaßen». Der ganze Vortrag ist musikalisch gestimmt, was von Anfang an nicht nur in den Gedichten von Kammermusik, sondern in Joyces gesamtem Schreiben spürbar war. Und der feierliche Ton, der schon in seinem Artikel über Ibsen zu hören war, klingt in einigen Passagen wieder an: «Schließlich muss man bei jedem Künstler fragen, in welchem Verhältnis er zum höchsten Wissen und zu jenen Gesetzen steht, die keinen Urlaub nehmen, weil die Menschen und die Zeit sie vergessen. Das heißt, man darf nicht nach einer Botschaft Ausschau halten, sondern muss dem Naturell näherzukommen suchen, das das Werk geschaffen hat, eine betende alte Frau oder ein junger Mann, der seinen Schuh bindet, und dann feststellen, was daran gut gemacht ist und wie viel es bedeutet.»

Den Vortrag von Joyce über Mangan als nur eine weitere, jedoch außergewöhnlich tiefsinnige und imaginative Rede eines Studenten zu betrachten, der darauf bedacht ist, von der Literaturgeschichtlichen Gesellschaft gehört zu werden, wäre eine Fehleinschätzung. Der Vortrag wurde, wie sich C. P. Curran erinnert, in einem Tonfall gehalten, der «metallisch in seiner Klarheit und wohlüberlegt war, als käme er von einem alten und fernen Orakel»; er war, wie von Joyce beabsichtigt, ein Ereignis im literarischen Leben seiner Zeit. Die anwesenden Studenten erkannten es verständlicherweise nicht als solches. «Das Referat stellte seine Zuhörer vor eine schwere Prüfung. Eine Sinfonie kann kaum beim ersten Hören schon voll eingeschätzt werden», berichtet uns Dr. Felix Hackett2. Sobald Joyce geendet hatte, löste sich die von ihm erzeugte Spannung auf. Die anschließende Diskussion verlief im gewöhnlichen Rahmen. Es wurden die üblichen Plattitüden geäußert. Dr. Hackett erinnert sich: «In Anerkennung der Danksagung verkündete Joyce die trotzige, von Disraeli stammende Prophezeiung, dass eine Zeit kommen werde, da er gehört werden würde.»

Eine Person war bei dem Vortrag anwesend, die wohl eine Ahnung von dessen Bedeutung hatte, denn den Vorsitz hatte Dr. William Magennis, der als Prüfer dem Schüler Joyce zwei erste Preise im Englischaufsatz zugesprochen hatte.

2Dr. Hackett, ein Klassenkamerad von Joyce, der seinen Vortrag hörte, hat dieses denkwürdige Ereignis in der Jahrhundertgeschichte der Literaturgeschichtlichen Gesellschaft als Sinfoniekritik festgehalten: «In der grundlegenden Tonlage der Romantik und Klassik beginnend, stieg der erste Satz auf zu einer Erörterung der Beurteilung des Künstlers in Relation zum ‹höchsten Wissen› … Der zweite Satz befasste sich mit dem Menschen Mangan. Der dritte Satz über den Schriftsteller Mangan bestand aus sprachlichen Arabesken, verknüpft mit rhythmischen Zitaten aus den Versen über sein orientalisches Traumland … Dieser Satz schloss mit einer eloquenten Passage in Anlehnung an den Satz am Anfang des gedruckten Essays: ‹einen Ort des Gedenkens wollte ich haben … ein beständiges Zusammensein mit denen, die mich lieben›, was die Beschäftigung Mangans mit dem Tod und dem Orient in Erinnerung brachte. … Der letzte Satz befasste sich wieder mit den höchsten Abstraktionen über Poesie in Bezug zu den traurigen Versen von Mangan, wobei das Finale anhob mit ‹Schönheit, der Glanz der Wahrheit, ist eine gütige Präsenz, wenn die Imagination intensiv die Wahrheit ihres eigenen Seins oder die sichtbare Welt betrachtet, und der Geist, der sich aus Wahrheit und Schönheit ergibt, ist der heilige Geist der Freude›, und in einem Schlussakkord musikalischer und rhetorischer Klänge gipfelte.»

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[ Padraic Colum

Die modernen Gebäude, welche die herzogliche Residenz Leinster House flankierten – das Nationalmuseum rechterhand, wenn man durch das Tor in der ruhigen Kildare Street kam, und die Nationalbibliothek linkerhand, mit der Grünfläche dazwischen – gab es zu der Zeit, als ich Joyce kennenlernte, erst seit einer Generation. Womöglich in der Nationalbibliothek hat der junge Yeats, voller Begeisterung für die Zukunft, die von mir schon zitierten Zeilen über das Museum gegenüber geschrieben: «Nur da ist der Stoff, aus dem die Träume sind, um uns tausend Jahre beschäftigt zu halten.»