Buchcover

Franz Braumann

Der weiße Tiger

Abenteuer aus aller Welt

SAGA Egmont




Pest im Hamun

Thiemo Hardegg erwachte dadurch, daß das schwarze Zelt knatternd zu flattern begann. Klatschend schlug ihm das schwere, rauhe Tuch ein paarmal ins Gesicht. Noch im Halbschlaf hörte er durch das stoßartige Wehen des Bas-e-sad-u-bist-ruz, des „Windes der hundertzwanzig Tage“, das nächtliche Heulen der Schakale.

„Sahib, verzeihe die Störung. Aber wir haben noch eine lange Reise vor uns!“ krächzte von draußen die heiser verrauchte Stimme Narrimans, des Karawanenführers.

Thiemo erhob sich verschlafen und trat hinaus. Dämmrige Nacht hing noch über der Wüste. Die Sterne zitterten wie flackernde Lichter. Drei hohe Lastwagen standen in der weiten Wanne des flachen Tales. Eben löste sich der bewaffnete Wächter von der Bordwand des ersten Wagens, an dem er stumm gelehnt hatte.

Die Lastwagen-Karawane, der sich der Arzt Dr. Thiemo Hardegg angeschlossen hatte, verkehrte planmäßig einmal in der Woche von Kirman bis zur persischen Grenze gegen Afghanistan. Diese Straße – oder richtiger Wüstenpiste – war während der Regierungszeit des Schahs Reza Pahlevi bis an die Ostgrenze des Reiches angelegt worden. Seither war Zabulistan nicht mehr nur eine sagenhafte Gegend aus Tausendundeiner Nacht. Für Personenbeförderung war die Wüstenstrecke allerdings nicht eingerichtet; die mitreisende Menschenfracht mußte eben sehen, wie sie sich zwischen hohen Warenstapeln verstaute.

Inzwischen war in einer kleinen Bodenhöhlung ein niedriges Feuer angefacht worden. Bald wanderte eine Kanne heißen schwarzen Tees reihum, und jeder der zwölf „Fahrgäste“ kaute schläfrig am Fladenbrot. Später dröhnten die schweren Dieselmotoren auf, die Scheinwerfer stießen einen scharfen Lichtkegel in die diesige, mit staubfeinem Flugsand erfüllte Dämmerung. Die Wagen rollten langsam an.

Thiemo hatte einen Vorzugsplatz im Führerhaus des ersten Wagens. Sein Ausweis als staatlich angestellter Arzt in Teheran, der unendlich fernen Hauptstadt, hatte ihm das erwirkt. Seit drei Jahren lebte er nun bereits in Persien. Noch zwei Jahre Dienst, dann lief der Kontrakt wieder ab, und er konnte heimkehren nach Europa.

Narriman, der zwischen Thiemo und dem Wagenlenker saß, blickte suchend in die Nacht. Kleine, spitze Erdhügel oder aufrecht gestellte Steinplatten markierten die „Straße“. Die Wagenspur der letzten Fahrt war längst wieder vom Wind verweht.

Jetzt schielte Narriman kurz zu Thiemo hinüber: „Was führt dich in dieses wilde Land an der Grenze, Sahib?“

Thiemo lächelte. „Ich will sogar über die Grenze!“ entgegnete er.

„Hamdullilah!“ rief der Alte erschrocken. „Du willst zu diesem afghanischen Räubervolk hinüber? Ich warne dich: Du wirst dort keinen einzigen ehrlichen Menschen finden! Schmuggel und Raub ist ihr Handwerk, und du wirst bald bis aufs Hemd ausgeplündert sein!“

Thiemo erschrak nicht allzusehr bei diesen Worten. Nachbarvölker lieben sich selten – warum sollte es zwischen Persern und Afghanen anders sein? Allerdings galt der Iran gegenüber Afghanistan noch als zivilisiertes Land. Dort drüben sollte abseits der befahrenen Hauptstraßen die Polizeigewalt bald zu Ende sein, und manche Volksstämme hatten sich dem fernen Herrscher in Kabul noch gar nicht richtig unterworfen. Ja, in den Schilfmeeren des Hamun-Sumpfes, in dessen abflußlose Senke der Hilmendfluß mündete, sollte noch ein fast unerforschter Volksstamm leben: die Sayad.

Von diesem Grenzvolk hatte der junge Arzt in Teheran gelesen. Die Sayad hatten sich im 13. Jahrhundert vor den Einfällen der Mongolen in das unzugängliche Sumpfland geflüchtet, und seither lebten sie dort fast ganz abgeschlossen von den umwohnenden Afghanen. Sie sollten noch in Pfahlbauten hausen, da alljährlich zur Schneeschmelze der Spiegel der Hamun-Seen um einen bis zwei Meter anstieg. Sie lebten von Fischfang, Jagd und Flechtarbeiten. Vielleicht brachte auch der Schmuggel einiges ein: Stoffe und Seide und das verbotene Opium waren ja begehrte Schmuggelgüter.

In Thiemo war damals ein Entschluß herangereift. Wo lebte noch das Abenteuer in dieser fast restlos erschlossenen Welt? Bald würde er wieder daheim im alten Europa sitzen, und was blieb dann noch als Erinnerung an seine fünf Jahre im Orient? Der Aufenthalt in Teheran mit Schnellverkehr und Flugplatz, mit Rundfunk und Autorennen, sonst nichts weiter!

Da wußte er, was er in seinem nächsten Urlaub unternehmen würde: Er wollte die geheimnisvollen Sayad im Hamun-Sumpf besuchen.

Langsam wurde es Tag; das wüste Land gewann wieder Kontur und Farbe. Das hohe Wüstenplateau senkte sich allmählich. Bis die Sonne heraufkam, war Schahr Zabul, die letzte persische Stadt vor der Grenze, erreicht.

Als Thiemo vor der Karawanserei aus dem Lastwagen stieg, riß ihn der Sturm fast um. Staubverkrustet kletterten auch die anderen Fahrgäste von den Wagen. Hier war die Straße zu Ende, kleine Mietpferde standen mit ihren Führern zum Ritt an die Grenze bereit. Thiemo nahm kurzen, herzlichen Abschied von der Karawane.

Nach einer Weile scharfen Rittes stand er allein an der Grenze. Die Pferdeverleiher ritten zurück. Die persischen Zöllner waren freundlich und großzügig bei ihrer Kontrolle. Dann wanderte Thiemo fast eine Stunde lang durch menschenleeres Niemandsland. Das große Abenteuer begann!

Drüben nahmen wildblickende afghanische Grenzsoldaten Thiemo in ihre Mitte. Er hatte einige Worte des Putschu-Dialektes gelernt. So verstand er auch, daß bei der sorgfältigen Untersuchung immer wieder das Wort „Spion“ auftauchte. Aber Thiemo war ohne Sorge. Er trug das Empfehlungsschreiben der afghanischen Gesandtschaft bei sich, das ihm auch die Einreiseerlaubnis in diese sonst verschlossene Landschaft verschafft hatte.

In Kal’äh Kang, der ersten Siedlung, umringte ihn vor dem Zollhaus bald eine Schar finsterer, stolzer Gestalten. Schon ihre weißen Turbane, die hellen Hosen und die flatternden Hemden wirkten malerisch; dazu die langen Flinten, die sie bei sich trugen. Alle blickten abweisend feindlich auf den Besucher.

Endlich kam der Grenzoffizier mit seinem Paß wieder aus dem Wachthaus. Er verneigte sich höflich und sagte im klaren Afghanisch des Regierungsbeamten: „Es ist alles in Ordnung! Wann reisen Sie weiter?“

Thiemo hätte wohl kaum eine Erlaubnis zum Besuch der Sayad im Hamun-Sumpf erhalten. Wer hätte dort den Schutz des Fremden übernehmen und für seine Sicherheit garantieren können! So hatte er sich längst eine Ausrede zurechtgelegt: „Ich möchte hier einen Freund aus Herat im Norden erwarten. Wir haben uns verabredet. Wie lange kann ich in Kal’äh bleiben?“

„Solange Sie wollen. Nur die Abreise müssen Sie melden!“

Die Haltung der Zuschauer hatte sich inzwischen gewandelt. Jetzt rief sie auch der abendliche Gebetsruf des Muezzin fort, und wer noch blieb, legte dem Fremden nichts mehr in den Weg. Ein Wachtposten begleitete Thiemo zu einer kahlen, aber sauberen Herberge – dann war er endlich allein in dem fremden Land…

In den nächsten Tagen versuchte Thiemo unauffällig, die Zugänge zu dem Schilfdschungel der Hamun-Senke zu erkunden. Mit diesem Hintergedanken hatte er sich die Erlaubnis zu kleinen Jagdausflügen in die Umgebung verschafft. Er hatte Glück. Auf dem dürftigen Markt von Kal’äh Kang boten nämlich eines Tages einige Fischer ihren Fang feil, und diese Männer waren Sayad aus dem Schilfland! Seinen Fragen begegneten sie zunächst mit Mißtrauen. Erst als er einige Münzen zum Vorschein brachte, wurden sie allmählich gesprächiger.

Den jungen Arzt befiel eine wachsende Erregung; er sah das Ziel seiner großen Reise greifbar nahe vor sich. Ich werde der erste Europäer sein, der die Sayad im Hamun-Sumpf besucht! dachte er. Und laut sagte er zu einem der Männer: „Ich möchte mit euch auf Fischfang ziehen!“

Der Angeredete wich anfangs aus. „Zu uns darf kein Fremder. Ich weiß auch nicht, ob es unser Dorfältester erlauben würde!“

„Wie weit ist es zu eurem Dorf?“ fragte Thiemo. Der Fischer beschrieb mit unbestimmter Bewegung des Armes einen weiten Bogen. „Zwei Tage – vielleicht länger, wenn das Wasser steigt.“

Das Wasser? Thiemo erinnerte sich, daß die Frühjahrswässer des großen Hilmendflusses den Hamun-See inmitten der riesigen Schilfsenke zum Steigen brachten.

„Wann steigt das Wasser?“ fragte er.

Der Sayad zuckte die Schultern. „Wer weiß es!“

In Thiemo wuchs die Ungeduld. „Ich komme mit, unauffällig! Kein Grenzwächter braucht es zu erfahren!“

Im Auge des Fischers blitzte etwas auf – dann nickte er stumm.

Thiemo rüstete sich in seiner Herberge in fieberhafter Erregung. Er packte Zeichenstift, Filme und Fotoapparat zu dem Proviant, steckte den Kompaß und das kleine Barometer zu sich, vergaß auch nicht reichlich Munition für sein Gewehr. Gegen Abend schlenderte er dem hellgrünen Weidengehölz an einem flachen Seitenarm des großen Hilmendflusses zu.

Unter einer hohen Tamariske erwartete ihn der Fischer. „Hat dich niemand gesehen?“ fragte er lauernd.

Thiemo schmeckte das Abenteuer auf der Zunge. Er lächelte übermütig. „Ich bin auf die Jagd gegangen – sonst nichts!“

Die Wanderung begann. Auf schmalem Pfad schritten sie schweigend hintereinander. Hohe Tamariskenwälder wechselten ab mit undurchdringlichem Weidendickicht. Zuweilen gluckste das Wasser unter jedem Tritt, und zwischen dem Schilf spiegelten sich die ersten Sterne auf einem reglosen Flußarm. Der Abendwind hatte nachgelassen, nur der eintönige Schrei eines Nachtvogels unterbrach das Schweigen. Spät nach Mitternacht erreichten die Wanderer eine Hütte, die hoch in das Geäst einer uralten Weide hinaufgebaut war. Eine Leiter aus Lianen hing herab. Sie kletterten daran empor und waren so vor unliebsamen Überraschungen – vor Schakalen und auch Tigern, die im Schilf hausen sollten – einigermaßen sicher. Thiemo schlief bald tief und traumlos ein.

Am Morgen des folgenden Tages erkannte Thiemo, daß sich die Welt um ihn verändert hatte. Übermannshohe Schilfmauern schlossen den Pfad ein, auf dem er dahinschritt. Dieser verzweigte sich von Zeit zu Zeit nach drei, vier Richtungen. Der Fischer schien an unsichtbaren Merkzeichen zu erkennen, wohin er sich wenden mußte – jeder Fremde aber hätte sich rettungslos verirrt und wäre irgendwo im Sumpf oder Wasser gelandet. Und wie sollte er den Rückweg finden in diesem Labyrinth von Gängen und Wildwechseln? Thiemo fühlte bei diesem Gedanken eine leise Warnung aufsteigen. War er nicht völlig auf Gedeih und Verderb seinem schweigsamen Begleiter ausgeliefert?

Pah! Das war doch übertrieben. Er trug ein gutes Gewehr an der Schulter, er kannte seine unfehlbaren Karate-Griffe. Und wer konnte schon ein Interesse an ihm, dem einfachen Fremden, haben?

Jetzt tippte er dem Voranschreitenden auf die Schulter: „Wie weit ist es noch bis zum Dorf?“

Der Sayad nickte mit unergründlicher Miene. „Warte hier auf mich. Wir sind nahe, ganz nahe!“

Thiemo fand es natürlich, daß er als Fremder erst angemeldet werden mußte. Drei Pfade liefen auseinander – er wollte sich gut einprägen, auf welchem sie gekommen waren und wohin der Sayad gegangen war. Allerdings glich ein Pfad dem anderen. Deshalb schnitt Thiemo etliche hohe Schilfhalme als Markierung ab. Dabei betastete er mehrere Halme genauer und – fand plötzlich scharfe Kerben im Rohr! Aufwärts wiesen sie an einer Seite, abwärts an der entgegengesetzten – drei Kerben auf dem Pfad, den sie gekommen, eine Kerbe auf den Nebenpfaden. Thiemo suchte weiter. Alle zehn Schritte die Kerben… Er hatte die Pfadmarkierung entdeckt!

Thiemo atmete erleichtert auf. Jetzt kannte er den Weg aus dem Schilfmeer. Beruhigt ließ er sich an der Pfadkreuzung nieder und schrieb rasch seine bisherigen Erfahrungen in sein Tagebuch.

Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte nicht hinter ihm etwas geraschelt? Er blickte sich um – nichts. Hoch in den Lüften schrie ein Zug wilder Gänse. Der „Wind der hundertzwanzig Tage“ fiel wieder in rauschenden Stößen ein.

„Komm, Fremder!“

Urplötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, war der Sayad hinter ihm. Woher war er gekommen? Thiemo verbarg seine Überraschung, auch als sein Führer in einen der beiden Nebenpfade einlenkte. Nach kurzer Zeit stieg der Boden etwas an, das Schilf trat zurück. In der Lichtung, die sich öffnete, stand auf hohen Holzpfählen eine Hütte – eine einzige Hütte!

„Ist das alles?“ fragte Thiemo enttäuscht.

„Nicht alles; das Dorf liegt drüben!“

Aha, eine Art Empfangshaus also! Doch kein Mensch war um die Hütte zu sehen. Tamariskengebüsch wucherte neben dem Pfad. Der Sayad schritt voran und trat neben dem offenen, halbdunklen Eingang zur Seite. „Tritt ein, Fremder!“ sagte er einladend.

Thiemo trat einen Schritt vor – da prallte er mit dem Gesicht auf ein Netz. „Hallo!“ rief er. In diesem Augenblick schlug das Netz über ihm zusammen. Mit jähem Ruck wurde Thiemo zurückgerissen, daß er stürzte. Von rechts und links sprangen zwei Männer aus dem Gebüsch und warfen sich auf ihn. Er wollte um sich schlagen, doch das Netz behinderte jede Bewegung. Ein wuchtiger Hieb machte ihn schließlich bewußtlos.


Thiemo erwachte aus seiner Betäubung von dem Schnattern wilder Gänse, die ganz in der Nähe sein mußten. Er öffnete die Augen und blickte um sich. Das Netz war fort, aber er fühlte Fesseln.

Im Winkel der Schilfhütte erhob sich eine Gestalt. Sie war jung und kräftig, mit schwarzen, funkelnden Augen. „Du bist in meiner Gewalt, Fremder!“

Dem Gefangenen war nicht gerade wohl in diesem Augenblick. Er dachte an Narrimans Warnung: afghanisches Räubergesindel! Aber er vertrieb diese Gedanken und fragte: „Was soll das sonderbare Spiel bedeuten?“

„Spiel?“ Der Wächter lächelte höhnisch. „Du wirst diese Hütte erst verlassen, wenn Lösegeld eingetroffen ist.“

Thiemo erkannte den Ernst seiner Lage. Er schwieg und wandte den Kopf zur Seite. Er überlegte. Endlich wurde es dem Wächter zu lang. „Hat der Fremde dazu nichts zu sagen?“ fragte er.

„Führe mich zu eurem Ältesten! Nur mit diesem werde ich sprechen!“ forderte Thiemo rauh.

„Oho, willst du mir etwas befehlen?“ fuhr der Wächter auf.

Thiemo sprach weiterhin kein Wort mehr. Da verließ der Sayad die Schilfhütte.

Jetzt versuchte der Gefesselte die Riemen, die ihm ins Fleisch schnitten, zu lockern. Aber sie waren auf eine unangenehme Art angelegt: Sie liefen nämlich über die Schultern und dann zwischen den Beinen hindurch, und Thiemo lag zusammengerollt wie ein Igel. Ein Befreiungsversuch schien hoffnungslos.

Da verdunkelte sich der Eingang, und Thiemo wurde roh emporgerissen. Man lehnte ihn an die Hüttenwand.

„Wieviel bietest du?“ fragte ein älterer, dunkelhäutiger Sayad.

„Führe mich erst zu eurem Dorf! Dort setzen wir uns zusammen und beraten“, befahl Thiemo wieder.

Der Dorfälteste – denn das war der Fragende – lachte spöttisch auf. „Wer bist du überhaupt, daß du so sprichst?“

„Ich bin ein Mann der Medizin. Wer sich an einem solchen vergreift, der fordert den König heraus. Der läßt euer Schilfmeer niederbrennen und rottet euch aus!“

Das Wort von der Medizin machte auf den Alten Eindruck. Doch dann lachte er laut: „Ho-ho, du kommst von drüben! Was kümmert uns der Schah. Er soll zahlen, wenn er dich zurückhaben will.“

Der Schah! Der war fern und wußte überhaupt nichts von der Existenz des Arztes Dr. Thiemo Hardegg. An ihn konnte sich der Gefangene nicht wenden. Gleich darauf lächelte er überlegen. „Ich bleibe bei euch und heile eure Kranken! So nütze ich euch und mir.“

„Inschallah! Schweig endlich!“ rief der Alte wütend. „Wir wollen Lösegeld für dich – sonst nichts!“

Thiemo wandte sich ab. „Dann behandelt mich menschlicher und kommt morgen wieder. Bis dahin will ich errechnen, wieviel ich wert bin. Das sollt ihr bekommen – in Geld oder Taten!“

Er hatte seine Ruhe wiedergefunden. Diese Sayads waren Naturmenschen, denen im harten Kampf ums Leben – abgedrängt in den Sumpf und verachtet von den wohlhabenden Afghanen auf sicherem Boden – auch Raub als gewöhnliches Handwerk galt. Mit solchen mußte man geduldig verhandeln; Schritt um Schritt mußte man sie gewinnen und von den eigenen Vorschlägen überzeugen. Festigkeit imponierte ihnen am ehesten, nicht aber zaghaftes Bitten!

Ein Wink des Alten, und Thiemos Lage wurde erleichtert. „Ich komme morgen wieder!“ knurrte der seltsame Dorfvorsteher und ging.

Den zwei Wächtern schenkte der Gefangene kein weiteres Wort mehr. Er war erschöpft und versuchte jetzt zu schlafen, und endlich gelang es ihm auch.

Doch am nächsten Morgen erschien der Dorfälteste nicht! Thiemo lag lauschend in seiner „Gästehütte“ aus Schilf und konnte nichts von der Umgebung sehen. Als die beiden Wächter abgelöst wurden, horchte er gespannt auf ihre Worte. Er verstand soviel aus ihren Reden im Putschu-Dialekt, daß der Alte, der wohl im ganzen Sumpfland Ansehen besaß, überraschend zu einem anderen Dorf geholt worden war, um einen Streit um Fischereirechte in einigen Lagunen des Hamun-Sees zu schlichten. Es ging zwischen zwei feindlichen Dörfern heiß her, und der Schiedsrichter würde erst in einigen Tagen zurückkommen.

In einigen Tagen! Bis dahin war Thiemo vermutlich unbehelligt! Nur die Wächter würden bleiben. Inzwischen konnte manches geschehen – seine Flucht zum Beispiel!

Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er kannte doch die Pfadmarkierung aus dem Schilflabyrinth! Allmählich entstand ein Fluchtplan. Er würde sich einfach krank stellen – er als Arzt verstand das gut. Er wollte Erleichterung verlangen, sogar mit dem Sterben drohen, wenn man nicht darauf einging. Die Angst um den wertvollen Gefangenen würde die Wächter gefügiger machen! Fielen einmal die Fesseln, dann würde er bald ganz frei sein. Es war jetzt Vollmond – die beste Zeit zur Flucht!

Am Nachmittag lag er stöhnend auf seinem Lager. Die Wächter erschraken und brachten einen Medizinmann. Dieser murmelte beschwörende Zauberformeln; ein Kessel wurde über die Feuerstelle gehängt und ein Trank gebraut, von dem es Thiemo fast den Magen umdrehte. Seine Fesseln wurden gelöst, dafür aber die Wächter verdoppelt. Die halbe Dorfschaft lungerte vor der Hütte des Fremden herum; und die ganze Nacht brannte ein Feuer in der Hütte, um die krankheitbringenden Geister zu bannen.

Am dritten Tag gab Thiemo auf. Sein so klug scheinender Plan war fehlgeschlagen. Er hatte die Aufmerksamkeit der Sayad einschläfern wollen – nun hatte er sie erst recht auf sich gezogen! So erklärte er sich den staunenden Sumpfmenschen plötzlich wieder als gesund, aß alles, was man ihm erleichtert vorsetzte, und mußte es sogar gelten lassen, daß man ihn wieder fesselte. Immerhin, das Eis der feindlichen Stimmung war gebrochen. Thiemo führte jetzt mit seinen Wächtern lange Gespräche und erfuhr viel über die Lebensweise und Kultur dieses seltsamen Volkes. Auch er berichtete den aufmerksam lauschenden Menschen aus seiner Heimat. Eine Gefahr für Thiemos Leben bestand kaum mehr. Das Lösegeld – man würde ja sehen. Am Abend dieses dritten Tages schlief er ohne weitere Fluchtgedanken ein…


„Auf, Sah’b, auf!“ Jemand rüttelte Thiemo in höchster Eile. „Komm mit uns! Nurred, der Dorfvorsteher, ist schwer krank heimgekehrt!“

Über dem Schilfmeer war ein neuer Tag heraufgestiegen. Man hörte in der Nähe zwischen den Windstößen Wellenschlag. Da und dort glänzte auf dem Pfad eine Pfütze. Begann der See zu steigen?

Thiemo zählte im Gehen die Schritte. Nach neunhundert öffnete sich eine Lichtung, und zehn, zwanzig Hütten standen da vor ihm auf hohen Pfählen aus krummem Schwemmholz – ein Pfahlbaudorf wie aus prähistorischer Zeit! Zwischen den Hütten liefen Stege auf Stangen. Draußen aber silberte ein weites, unübersehbares Wasser; der Hamun-See!

Durchs Dorf der Sayad geisterte Unruhe. Gruppen von Männern standen mit verstörten Gesichtern beisammen, Kinder drückten sich scheu vorbei. Von Frauen war nirgends etwas zu sehen. Der Wächter führte den Gefangenen auf die größte Hütte in der Mitte des Dorfes zu. Sie stiegen acht, zehn Sprossen empor. Nurred, der Dorfvorsteher, lag kauernd auf einer Flechtmatte. Seine Augen flackerten glanzlos und müde, die dunklen, mageren Hände zitterten.

Thiemo fühlte den unruhigen Puls des Alten, sah das Weiße in dessen Augen rot entzündet. Er hatte in einem Tropeninstitut seine ärztlichen Kenntnisse vertieft. Ihm waren auch alle die schrecklichen Krankheiten vertraut, die noch heute als Geißeln unter den Völkern Asiens wüten. Doch hier stand er ohne jene technischen Hilfsmittel, wie sie die großen Laboratorien der Spitäler Teherans boten. Allein auf seine Kenntnisse und auf seine Augen mußte er sich verlassen! So starrte er auf die Hände und die unbedeckten Arme des Kranken. Sie waren dunkel verfärbt; da und dort hoben sich entzündete Schwellungen – wie Beulen!

Wie Beulen! Ein furchtbarer Verdacht stieg dem Arzt auf. Er riß die Hüllen des Kranken auseinander. Als der leise Stöhnende nackt vor ihm lag, weiteten sich Thiemos Augen. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf, jeder Zweifel schwand. Langsam wandte er sich um und blickte in die Augen der umstehenden Männer. „Das ist die Pest!“

Die Sayad wichen bei diesem Wort zurück und stürzten aus der Hütte. Der Alte richtete sich mühsam auf. „Die Pest, sagst du? Einmal bin ich ihr entflohen – vor vierzig Jahren – über den See, in die Wüste – und heute – heute – holt sie mich ein!“

Thiemo verlor keinen Augenblick die Fassung. Er entsann sich, gelesen zu haben, daß vor vierzig Jahren die Pest ebenfalls aus dem Hamun-Sumpf gekommen war. Damals war der Schwarze Tod nicht nur über Afghanistan, sondern auch über halb Persien hinweggerast. Man kannte zu dieser Zeit die Schutzimpfungen noch nicht, und so waren die Menschen zu Tausenden der Seuche erlegen. Seither hatte sich viel geändert. Thiemo wußte es plötzlich sehr zu schätzen, daß er selber in Teheran gegen die Pest geimpft worden war!

Er deckte den Burnus wieder über den Körper des Kranken und sagte: „Es ist die schwächere, nicht immer tödliche Art: Die Beulenpest. Eine Impfung kann dich vielleicht retten!“

Der Alte schaute ungläubig. „Kannst du helfen – gegen diese Pest?“

Thiemo überlegte kurz. Er wußte, daß jede persische Stadt den Impfstoff gegen die Pest besaß. „Bringt mich auf schnellstem Wege nach Schahr Zabul!“ Dann trat er aus der Hütte und rief einige Männer herbei. Zögernd kamen sie bis an den Eingang heran. Der Arzt verstand nicht, was ihnen der Dorfälteste in abgerissenen, heiseren Worten befahl; aber ihre düsteren Mienen hellten sich allmählich auf. Die Wächter ließen die Waffen sinken. In die Menschen des Pfahlbaudorfes kam allmählich Leben. Worte flogen von Hütte zu Hütte, selbst Frauen und Kinder tauchten auf und schauten zu dem Fremden, der die Rettung kannte. Zehn, zwanzig Männer erboten sich sofort, Thiemo aus dem Schilf zu führen.

Zunächst brachte man ihm seine Habe wieder. Mit den Männern schritt er dann die leichte Erhöhung des Dorfes hinunter zum See. Das hohe Schilf umschloß sie wieder und verschluckte die geheimnisvolle Siedlung. Der Pfad wurde weicher, schlammig, und verlief sich schließlich in größeren und tiefer werdenden Pfützen.

„Der See steigt! Wir erreichen das afghanische Ufer auf dem Schilfpfad nicht mehr!“ stellten die Männer der Sayad plötzlich verstört fest.

„Wo liegt der offene See, das freie Wasser?“ fragte Thiemo. „Gibt es an allen Ufern nur Schilf und Sumpf?“

Ein Mann wies gegen Westen hinüber. „Dort drüben liegt das höhere persische Ufer. Aber das ist für uns verbotenes Land!“

„Bringt mich hinüber; gemeinsame Not öffnet alle Grenzen!“

Sie kehrten um, umwanderten das Sayaddorf und wateten durch knietiefes Wasser bis zu den hochgebauten Landestegen hinaus. Die Sayad nahmen diesmal nicht die langen, schmalen Boote; sie wählten ein starkes, schwerfälliges Floß für die weite Fahrt. Als sich das Schilf vollends öffnete, brauste den Männern von Norden der „Wind der hundertzwanzig Tage“ entgegen. Aber die Schiffer wußten sich zu helfen. Sie spannten an kurzen, verkrüppelten Masten grobe Segel auf. Gischtend schlugen die Wellen über den flachen Boden des Floßes – doch dieses trieb nun flott gegen Westen hinüber. Das weite Schilfmeer auf dem afghanischen Ufer blieb zurück; zuletzt war es am Horizont ein schmaler Strich, dann verschwand auch dieser hinter den schäumenden Wellenbergen.

Bevor die Sonne versank, stieg im Westen das persische Ufer herauf. Und als die Dämmerung hereinfiel, legte das Floß in einer menschenleeren Bucht an. Die Sayad kannten die Ufer wohl von ihren nächtlichen Schmuggelfahrten – nun war diese heimliche Kenntnis die Rettung! Einer hinter dem andern stiegen die Männer die kahlen Höhen hinauf. Das Brausen des Wassers blieb zurück. Blind vertraute Thiemo der Orientierungsfähigkeit seiner schweigsamen Begleiter, die aus der Stellung der Sterne den Weg durch das wüste Land fanden. Sie wanderten die ganze Nacht. Im Morgengrauen standen sie auf einer Anhöhe vor Schahr Zabul.

„Du mußt jetzt allein gehen. Wir warten hier auf dich!“ sprach einer der Männer und wies auf eine geräumige Höhle.

Thiemo eilte zur Stadt hinab. Bald hatte er sich bis zum Krankenhaus durchgefragt. Dort wies er seinen Ausweis vor und wurde sogleich zum Chefarzt geführt. Ein paar höfliche Worte der Vorstellung, dann sagte Thiemo: „Ich komme von den Sayad im Hamun-Sumpf. Die Pest ist dort ausgebrochen!“

Dieses Wort wirkte elektrisierend. Der Funk rief in den Äther hinaus: „Pest im Hamun-Pest im Hamun-helft, helft!“ Die kleine Stadt summte bald wie ein Bienenschwarm. Militärflugzeuge wurden eingesetzt; sie brachten neuen Impfstoff gegen die gefürchtete Seuche heran. Alle Bewohner meldeten sich zur Impfung.

Noch am gleichen Tag fuhr Thiemo mit besonderer Bewilligung der Behörden wieder über den Hamun-See zurück. Die Pest mußte an ihrem Herd bekämpft werden! Bis die Afghanen selbst eingriffen, war es vielleicht zu spät.

Diesmal trieb der Wind die Segel gegen Osten. Nach Stunden stieg wieder das Schilfmeer aus der einsamen Wasserwüste empor. Als das Floß durch die Einfahrt glitt, standen selbst die vermummten Frauen auf den Landestegen und warteten. Mit Angst in den Augen wurde der Fremde empfangen. Sie sprachen kein Wort – nur ihre Blicke fragten: Bringst du Hilfe?

Der Dorfälteste lag bereits im Sterben. Auch einige Kinder waren erkrankt. Jede Familie bangte, daß bei ihr die Seuche ausbräche.

Doktor Thiemo Hardegg begann die abenteuerlichste Behandlung seines Lebens. Er hatte in der Versammlungshütte des Sayaddorfes eine Ordination aufgeschlagen. Auf dem Boden brannte ein Feuer; mit kochendem Wasser desinfizierte er seine Instrumente. Stumm und mit angstweiten Augen verfolgten die scheuen Menschen seine Vorbereitungen. Doch dann ließ sich jeder bereitwillig impfen.

„Wie weit ist es zum nächsten Dorf?“ fragte Thiemo, als alle behandelt waren. Jetzt erfuhr er von jeder Siedlung in dem rauschenden Schilfmeer des geheimnisvollen, von der Welt abgeschnittenen Hamun! Durch schmale Wasserpfade ließ sich Thiemo tagelang von Dorf zu Dorf rudern. Ein Ruf lief ihm voraus: „Der fremde Mann besiegt die Pest!“

Nach einer Woche kehrte Thiemo wieder in die persische Grenzstadt Schahr Zabul zurück. Der hochgehende Hilmendfluß hatte für Wochen den gewöhnlichen Übergang nach Afghanistan gesperrt.

Vor der Karawanserei in Schahr Zabul standen die alten Lastwagen mit Narriman, dem Karawanenführer.

„Du lebst noch, Sah’b?“ begrüßte ihn der Alte verschmitzt. „Hast du das Geheimnis des Hamun gelöst?“

Thiemo sah ihn ernst an: „Eines konnte ich lösen – das dunkelste!“

Dann dröhnten die Motoren der Wagenkolonne auf. Die moderne Wüstenkarawane rollte aus dem ummauerten Hof hinaus in den „Wind der hundertzwanzig Tage“. Von der öden Höhe über der Stadt blickte Thiemo Hardegg ein letztes Mal auf den fern verblassenden, graugrünen Schilfstreifen des Hamun zurück, der das größte Abenteuer seines Lebens geworden war.

Wirbelnd faßte der Sturm die Karawane an, Staub umhüllte die schweren Lastwagen wie Wolken – die Weite versank hinter ihnen.

Die Kolonne nahm Kurs gegen Westen, der Heimat zu…

Verfolgt am Watch-River

Ich war damals noch ein ziemliches Greenhorn, als ich Mac Leans Ranch hinter den Algak-Bergen im Westen der Rocky Mountains besuchte. Hinter seiner Ranch gab es nur noch Indianer, Sumpf und Wald. Gegen den Winter zu tauchte Pat Bownie auf. Einst war er Cowboy auf verschiedenen Ranches gewesen, aber als er im Pokerspiel auch noch sein Pferd verlor, entdeckte er, daß man sogar zu Fuß überallhin kommt. Mager wie ein Skelett stand der zwei Meter lange Alte nun vor uns.

„Dachte mir’s schon fast, daß du auf deiner Ranch keinen Cowboy brauchst“, lächelte er etwas traurig aus seinen wasserblauen Augen. „Du hast ja starke Söhne, ließ ich mir sagen.“

Mac Lean forderte ihn dennoch zum Sitzen auf. John und Fred, seine Söhne, reichten im Winter leicht für die Bewachung der achthundert Rinder aus. Da hatte Mac Lean einen Einfall. „Du wolltest doch vor Winterbeginn noch nach Fort Williams hinaus – jetzt hast du einen Begleiter!“ sagte er zu mir. Mac Leans Frau briet gerade zwei tellergroße Steaks.

Mir kam dieser Vorschlag sehr gelegen. Mac Lean lieh Pat Bownie eine zahme Stute als Reitpferd. Im Frühjahr wurde Mary, die Tochter der Leans, auf der Haushaltungsschule in Quesnel draußen fertig. Wenn der Vater sie heimholte, stand wenigstens schon für sie ein Pferd bereit. Die Ranchers am Batnuni-Fluß hatten gewiß nichts dagegen, ein Pferd mehr durch den Winter zu füttern.

Der Ritt nach Williams war auf vier Tage berechnet, wenn nicht etwa plötzlicher Schneefall einen Streich spielte. Wir packten Fleisch- und Teevorrat ein und vergaßen auch zwei Bündel Heu für die Pferde nicht. Der Abschied von der Rancherfamilie am letzten Rand der bewohnten Welt war herzlich und kurz. Auf der Anhöhe wandten wir uns noch einmal zurück und winkten. Die unübersehbare Weide schimmerte jetzt im Rauhreif; vor uns stiegen in weiten, sanften Wellen die verschneiten Algak-Berge an.

Allmählich fiel Wind in die Bäume. Vor der Höhe zog sich ein stellenweise versumpfter Talboden stundenlang zwischen den schwarzen, stillen Wäldern gegen Osten dahin.

Am ersten Tag erreichten wir den Watch-River nicht mehr. Am Abend stellten wir das Zelt mit dem doppelten Überzelt auf, deckten seine Wände gegen die Kälte auch noch mit flechtenzottigen Ästen dicht zu und kochten ein paar geräucherte Lendenstücke eines Rothirschen. Der Teeduft verbreitete Behagen, und zufrieden mit Gott und der Welt krochen wir bald in das Zelt. Die Pferde waren an langen Lassos angekoppelt, damit sie weiden konnten.

Am nächsten Morgen kam eine blasse Sonne durch die Wolken. Ich weckte den Gefährten, der noch laut schnarchte. „Heute trifft dich der Kochdienst, Pat. Wie wäre es mit einem saftigen Bratenstück?“

„Bist eben ein immer hungriges Greenhorn!“ brummte Pat, als er sich verschlafen aus den Decken schälte.

Ich tröstete ihn. „Laß dir Zeit. Will einen kurzen Rundritt machen. Vielleicht entdecke ich dort drüben den Watch-River!“

Plötzlich horchte ich auf. Von weither kam ein Laut, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Er klang wie ein unwirklicher, unheimlicher Schrei, bald glockenhell, dann wieder wie eine jammervolle, versinkende Klage. Selbst die Pferde schnaubten jetzt unruhig.

„Hör einmal zu, Pat – du kennst das sicher!“ versuchte ich mein jäh aufsteigendes Unbehagen zu verbergen.

Während Pat Bownie weiter Dürrholz über den Knien brach, nickte er. „Ein Elchkalb, das die Mutter verloren hat! Manchmal wird viel zu spät im Jahr noch eines geboren, aber gerade einen solchen Spätling liebt die Elchmutter am meisten. Hoffentlich findet sie das verlaufene Kind bald wieder. Solange sie sucht, ist es nicht ratsam, der alten Dame zu begegnen.“

Ich ärgerte mich jetzt über meine Angst. „Na, hoffentlich besucht sie dich nicht im Lager, während ich fort bin!“ brummte ich und schwang mich in den Sattel. Pat schwieg. Als ich die Stelle erreichte, wo ein kleiner Waldbach in einem Sumpf versickerte, mußte ich eine kurze Strecke waldein reiten, bis der Talboden wieder fester wurde. Die bereiften Gräser streiften den Bauch meines Pferdes. Es war beißend kalt, aber der Ritt erwärmte mich bald.

Wegen des feuchten Bodens hielt ich nahe an den Büschen. Unerwartet machte das Pferd einen Satz zur Seite, daß ich fast aus dem Sattel rutschte. Ich fuhr herum – da stockte mir das Herz! Zwischen dem gelben Laub der Weidenbüsche tappte ein Rudel Elchkühe heraus, die klobigen, langen Köpfe hoch erhoben und die großen, schwarzen Augen starr auf mich gerichtet.

Reiten – reiten – nicht zur Kenntnis nehmen! befahl ich mir wortlos und trieb das Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Jenseits der Krümmung erhob sich ein dicht bewachsener, flacher Hügel aus dem hohen Weidegras. Ich hatte die Büsche fast erreicht, als ein junges, fleckiges Elchkalb unbeholfen heraustorkelte. Es geriet fast unter die Beine meines Pferdes und schrie von neuem ängstlich.

In diesem Augenblick schoben sich zwei mächtige Elchkühe aus dem Gebüsch. Sie schnauften böse mit tiefem Gurgeln.

Ich hatte mit einem heftigen Ruck das Pferd herumgerissen und galoppierte jetzt auf die offene, versumpfte Weide hinaus. Am liebsten wäre ich umgekehrt, doch das Elchrudel verstellte mir den Weg zum Lager. Auf dem feuchten Boden klirrte unter den Hufen dünnes Eis.

Ein dumpfes Dröhnen des gefrorenen Bodens ließ mich umblicken. „All devils!“ entfuhr mir ein Ausruf. Die Elche trappten hinter mir her; ihre hohen Rücken schwankten auf und ab. Auch mein Pferd schnellte mit einem Satz nach vom, als die schwerfälligen schwarzen Riesen auf uns zukamen.

Ich tätschelte beruhigend die Flanke des Braunen. „Wir werden uns doch vor diesen Trampeltieren nicht fürchten! Ein kurzer, scharfer Galopp, und wir haben sie abgehängt!“

Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß ich das Jagdgewehr im Lager gelassen hatte. Der Reitwind pfiff um meine Ohren. Bald spritzte das Wasser unter den Hufen, bald dröhnte der gefrorene Boden. Und hinter uns das harte, dumpfe Gepolter der Elche!

„Wohin soll ich reiten?“ knirschte ich zornig. Ich mußte auf einem Umweg das Lager wieder erreichen! Ohne meinen Galopp zu verringern, blickte ich über die Schulter zurück. Was ich sah, trieb mir von neuem das Blut zum Herzen. Der Abstand zwischen den Elchen und mir war geringer geworden! Ich drückte meinem Pferd die Sporen heftiger in die Seite. Die stur hinterher stampfenden Elche hatten den Vorteil der inneren Linie. Auch sie bogen mit mir in die Kurve. Die schweren Tiere sanken anscheinend weniger tief ein als das Pferd.

„Herrgott!“ Jetzt war mir endgültig das Fluchen vergangen. Ich lag fast auf dem Rücken des Pferdes, damit auch die Hinterhufe nicht mehr so tief in den Boden sinken sollten. Ich spürte, wie ich immer mehr an den Buschrand jenseits des Talbodens abgedrängt wurde. Wenn ich dorthin geriet, verfing sich mein Pferd viel eher in dem Gestrüpp als das urweltliche Wild. Dann – dann war ich verloren! Einmal hatte mir Mac Lean, der Rancher, erzählt, daß ein wütender Elch mit seinen mächtigen Hufen Roß und Reiter zu Brei zerstampfen kann.

Jetzt begann mein Pferd von dem jagenden Galopp zu dampfen. Die Atemluft schnob wie weißer Rauch aus seinen Nüstern. Aus der läppischen Begegnung war ein Wettlauf mit dem Tod geworden! Schlamm spritzte unter den Hufen. In langgezogenem Trab dröhnten die Elche mit dumpfem Brüllen und böse funkelnden Augen näher und näher heran.

Der Abstand hatte sich auf zehn Pferdelängen verringert. Die Flucht zielte jetzt geradewegs auf den Waldrand drüben zu. Die Wand der Büsche schwamm förmlich heran. Da und dort ragten Bäume darüber hinaus. Bäume – einer davon muß mir zum Retter werden! Ich muß aus dem Sattel kommen, solange es noch Zeit ist! Das Pferd allein wird von den Elchen nicht eingeholt! dachte ich verzweifelt.

In dem Gewirr aus Büschen und Gestrüpp wuchsen einige Ahornbäume. Wenn ich schnell genug vom Erdboden wegkam, war ich gerettet!

Die ersten lockeren Büsche rauschten auf. In diesem Augenblick fiel in der Ferne ein Schuß. Ich hatte schon die Beine aus den Steigbügeln gezogen und schnellte zur Seite. Ich schlug zwischen krachenden Zweigen auf den Boden hin. Dort – vor mir – der Ahornstamm! Ich sprang empor, hing baumelnd am unteren Ast und zog mich keuchend hoch.

Hinter mir brach berstend durch das Gestrüpp ein schwerer Koloß. Ein zweiter Ast über meinen Augen, ein Ruck – jetzt saß ich rittlings oben. Das Pferd war durch das Gebüsch weitergejagt.

Zwei Meter unter mir funkelten die bösen Augen der Elchkühe. Eine neigte ihren Kopf und stieß an den kaum drei Spannen dicken Stamm, daß der Baum bis an den Wipfel erzitterte.

Zwei bellende Schüsse aus der Ferne! Die Elchkuh stellte nur die Ohren hoch. Das blökende Kalb war weit zurückgeblieben. Ich sah, wie es draußen über eine Wasserrinne hopste.

Und weit drüben bemerkte ich jetzt einen Reiter: Pat Bownie.

Warum kam er nicht näher und schoß aus dieser Ferne? Auch die kurzsichtigen Elche horchten hinüber. Pat ritt nicht weiter; er wendete sein Pferd zum Lagerplatz zurück.

Warum hilft er mir nicht? fragte ich mich bitter. Das Elchrudel umstand den Ahorn. Endlich tappten die unheimlichen Verfolger durch das krachende Gebüsch davon.

Als die großen Tiere nicht mehr zu hören waren, ließ ich mich vom Ahornbaum gleiten. Ich mußte zu Fuß das Lager erreichen! Sehr mutig kam ich mir in dieser Lage nicht vor. Die Galle stieg mir hoch.

Ich schlich mich, durch das Gestrüpp gedeckt, nach Westen zurück. Später tauchte der Braune, mein treues Pferd, mit nachschleifenden Zügeln wieder auf. An seinen zerkratzten Flanken war das Blut schon eingetrocknet. Ich lobte den Braunen überschwenglich: „Du bist der einzige, auf den man sich verlassen kann!“ Dann wagte ich den Ritt über die offene Weide hinweg.

Als ich mich schweigend neben dem Feuer niederließ, stocherte Pat nachdenklich in der Asche herum. „Dein Frühstück ist inzwischen etwas eingetrocknet!“

Ich schnaubte zornig durch die Nase. „Es war ein reizender Ritt ohne einen Kameraden, der mich herausgehauen hätte!“

„Hab’ ich getan! Aber ahnte schon, daß du’s nicht erfaßt hast.“ Er hob den Kopf ein wenig. „Du kennst den Bach dort vorn – wäre bald vor Eile im Sumpf versunken. Hast du meine Schüsse nicht gehört?“

„Dann dachtest du, ich säße auf dem Ahornbaum gut genug!“

Pat, der alte Waldläufer, lächelte traurig über soviel Unverstand. „Genau das dachte ich! Denn hinüberreiten und die Elche ein zweites Mal reizen, wollte ich uns doch ersparen. Wer einen der schwarzen Riesen auf den ersten Schuß nicht erlegt, kann sich meistens den zweiten sparen. Außerdem warst du ja schon sicher auf dem Baum.“

Diese Logik war ernüchternd, aber sie stimmte. Pat trug schwer an meiner Enttäuschung. Aber wie sollte man einem Greenhorn aus dem Süden etwas beweisen, das es nicht verstand? –

Wir ritten drei Tage lang nach Nordosten. Als wir die Batnuni-Ranches erreichten, war mein Zorn längst verraucht. „Den Menschen erkennt man daran, wie er Niederlagen hinnimmt. Du mußt ein schlechtes Bild von mir bekommen haben, damals bei den Elchen, Pat!“

Der alte Cowboy fuhr mit der Hand durch die Luft. „Du hattest einen guten Schutzengel in den Algak-Bergen, das ist alles!“…

Im Sertao verschollen

Bernd Hoyer konnte seine Erregung nicht unterdrücken, wenn er an die bevorstehende Reise dachte. Was er sich seit seinen Jugendjahren gewünscht hatte, wurde nun Wirklichkeit: Ein leichtes Ruderboot, eine Montaria, trug ihn den obersten Rio Cujaba aufwärts, dem Quellgebiet des Rio Xingu entgegen! Bernd Hoyer, der deutschstämmige Südbrasilianer, wollte zusammen mit dem jungen Völkerkundler Enrico Branco aus Rio zu der Serra do Roncador vorstoßen, jenem sagenhaften Bergland zwischen Rio Xingu und Rio das Mortes.

Zwei Tage lang waren sie mit ihrem Motorboot von Cujaba im Mato Grosso aus rasch nach Norden durchgedrungen. Dann hatte sich weit hinter der letzten armseligen Ufersiedlung die im Schlamm wühlende Antriebswelle verklemmt. Nach stundenlangen Reparaturversuchen gab man es auf, den Motor wieder in Gang zu bringen. Seither hatten die vier Männer der Expedition – zwei Caboclos, Torro und Camario, begleiteten die Forscher – nichts anderes mehr gesehen als Fluß, hohen Urwald und blaß verschleierten Himmel. Die Ruderer blickten schweigend die fast zugewachsene Wasserrinne entlang. Die Sonne mußte bereits tief stehen; Bernd Hoyer schaute nach der nächsten trockenen Sandbank für das Nachtlager aus.

Eine schmale Praia tauchte auf. Der Kiel knirschte über schlammigen Sand; Camario sprang ins seichte Wasser und zog die Montaria aufs Trockene. Am ersten Tag der Reise hatten die halbindianischen Caboclos kopfschüttelnd dem Aufbau eines Zeltes für die Nacht zugesehen. „Wozu tragt ihr ein Haus mit euch, Senhors? Es wird viele Wochen nicht regnen!“ hatte Camario gefragt.

„Wie schlaft ihr denn in der Nacht?“ fragte Bernd dagegen.

Torro kniete hin und wühlte mit den Händen einen grabenähnlichen Streifen in den trockenen Sand. Er warf den Poncho darüber, ließ sich in die Vertiefung fallen und deckte sich bis zum Gesicht hinauf zu. In der Tat, dies war die einfachste Art, sein Bett zu machen! Auch Bernd mußte zugeben, daß man darin weich und warm lag. Vielleicht gewöhnte man sich selber später einmal daran!

An diesem Abend sank rasch die Dämmerung herab. Während Camario im Kesselchen über einem kleinen Feuer die übliche Farinha kochte, schrieb Enrico Branco seine Eintragungen in das Tagebuch. Leichter Nebel stieg wie Rauch aus dem Fluß empor; ein Schwarm schwarzer, fasangroßer Jacus fiel krächzend in das Gestrüpp ein. Bernd hatte einen Augenblick nichts zu tun und starrte in das reglose Dikkicht des Dschungels. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Menschen, den sie zu suchen ausgezogen waren. Er wußte zwar längst, was Mac Parkins in den Sertao der Serra do Roncador gelockt hatte, in dem er seit einem Jahr verschollen war. Mit Enrico hatte er jenes alte, geheimnisvolle Dokument gelesen, das als „Manuskript 512“ in der Bibliothek National in Rio de Janeiro aufbewahrt wird. Es handelte sich um das Logbuch einer portugiesischen Expedition, die im Jahre 1743 auf der Suche nach Gold in den Mato Grosso eindrang. Jenseits des Rio das Mortes entdeckte sie eine geheimnisvolle Bergkette. Auf ihrer Höhe ging sie in ein flachwelliges Tafelland über. Nach vielen Tagen tauchte vor der Expedition der Umriß einer Ruinenstadt aus massiven Steinblöcken auf. Die Ruinen waren unbewohnt. Man entdeckte Inschriften, die kopiert und zurückgebracht wurden; niemand vermochte die Schrift zu entziffern. Aus dem Sand eines Flusses wusch man soviel Gold, wie man mit sich tragen konnte. Die Regenzeit überfiel die Reisenden. Unter unsäglichen Schwierigkeiten wandte man sich zur Rückkehr. Erst Jahre später tauchten die letzten Überlebenden an der Küste um Bahia auf. Die „Goldstadt“ in der Serra do Roncador blieb unauffindbar bis heute. Kartographische Flugaufnahmen der letzten Jahre bestätigten nicht mehr als die Existenz eines niedrigen Bergzuges zwischen Rio Culuene und Rio das Mortes… – Bernd Hoyer hob den Kopf. „Parkins ist längst tot!“ sagte er laut. „Wer braucht auch ein Jahr für eine Strecke von vier- oder fünfhundert Kilometern! Wir finden höchstens ein Stück seiner Ausrüstung in einer Hütte der Cajapos-Indianer!“

Enrico Branco blickte auf. „Wir haben unsere Suchfahrt nach ihm lange genug überlegt. Einem Menschen in Not aber kann nie durch Reden geholfen werden. Dazu gibt es einzig nur die Tat!“