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Corinna Kastner

Die geheimen Schlüssel

Roman

hockebooks

Für Karlchen Bommel von Hohenstein
– Gesundheitstänzer, Chef, Superminister,
Special Agent und noch viel mehr –
und
für seinen Papa


Und besonders für meine Eltern
Ursula & Horst Koch.
Danke für alles!

»Menschen, die nicht auf ihre Vorfahren zurückblicken,
werden auch nicht an ihre Nachwelt denken.«

Edmund Burke

Liebe Leserin, lieber Leser,

fallen Ihnen bei Salzburg auch sofort Mozart, die Festspiele, schneebedeckte Berge, romantische Altstadtgassen, Salzburger Nockerln und österreichischer Charme ein? Das war das, woran ich bei meinem allerersten Salzburg-Besuch dachte. Dass die Stadt noch sehr viel mehr zu bieten hat, auch an historischen Persönlichkeiten, lernte ich erst später – als ich über Paracelsus stolperte.

Salzburgs Berühmtheiten interessieren Juta allerdings wenig, als sie im Krankenhaus aufwacht – obwohl ihr vielleicht ein Heiler wie Paracelsus hätte helfen können, doch dem begegnet sie erst sehr viel später. Vorerst weiß sie nicht, dass sie überhaupt in Salzburg ist – noch schlimmer: Sie weiß nicht einmal ihren eigenen Namen. Mit dem oben erwähnten österreichischen Charme allerdings macht sie bald Bekanntschaft, als Leon ihr Leben tritt – ein Mann, den sie kennen müsste, an den sie sich aber nicht erinnert. Seine Absichten sind undurchsichtig – ist er ihr Freund oder ihr Feind? Bald quälen sie Alpträume, sie spürt, dass sie aus einem bestimmten Grund in Salzburg ist, jemand braucht dringend ihre Hilfe. Sie selbst wiederum scheint Leons Hilfe zu brauchen, um dem Geheimnis ihres Lebens auf die Spur zu kommen.

Folgen Sie Juta und Leon auf der Jagd nach den geheimen Schlüsseln – eine Jagd, die sie quer durch Europa und sogar durch die Zeit führt: vom heutigen Österreich bis in Englands Nachkriegszeit, zurück auf den Kontinent und bald hinab in eine Welt, in der Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen.

Ich wünsche Ihnen eine spannende, abwechslungsreiche Lektüre und würde mich freuen, wenn Ihnen die Schlüssel-Jagd Spaß macht.

Herzliche Grüße

Corinna Kastner

Teil 1

Salzburg

1.

Langsam begannen sich die Nebel zu lichten, nach und nach kehrten die Sinne in meinen Körper zurück. Mit geschlossenen Augen bewegte ich meine rechte Hand ein klein wenig hin und her. Ich spürte Stoff unter meinen Fingern ebenso wie über meinem Handrücken. Den Arm konnte ich nicht heben, er stieß auf weichen Wiederstand. Eine Bettdecke? Ich versuchte es mit den Füßen. Dasselbe Ergebnis. Ja, offensichtlich lag ich in einem Bett. Auf dem Rücken. Das war ungewöhnlich, ich schlief niemals auf dem Rücken.

Was mir danach bewusst wurde, schien erheblich entscheidender: Ganz offensichtlich war ich nicht tot. Es sei denn, es gab harte Betten im Himmel – oder in der Hölle. Mir schoss durch den Kopf, warum um alles in der Welt ich damit rechnete, tot zu sein, aber es gelang mir nicht, den Gedanken lange genug festzuhalten, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Stattdessen brachte ich es mit Mühe fertig, die Augen zu öffnen. Was ich erkennen konnte, sah wenig ermutigend aus. Ein Gerät neben mir blinkte in regelmäßigen Abständen, ein Schlauch verband es mit meinem Arm. Nicht direkt Hölle, aber fast. Krankenhaus.

Ich wagte nicht, mich mehr als eben zu bewegen, aus Angst, etwas zu tun, das Schmerzen verursachen könnte. Warum lag ich in einem Krankenhaus? Hilflos starrte ich an die weiße Decke, doch selbst das strengte mich nach einer Weile so an, dass ich meine Augen wieder schloss.

»Frau Berg?« Eine weibliche Stimme mit einem Dialekt, den ich nicht gleich einordnen konnte, unterbrach meinen Dämmerzustand. »Hören Sie mich?«

Irgendwie erwartete ich nicht, sprechen zu können, deshalb versuchte ich zu nicken, was ich sofort wieder sein ließ, weil sich alles um mich zu drehen begann.

»Ja«, krächzte ich stattdessen und hob mühsam meine Lider.

Das Gesicht über mir gehörte einer Frau Ende vierzig, die mich aus hellen Augen ansah und nun ein Lächeln auf ihre Züge zauberte. »So ist’s recht. Sie werden sehen, wir haben Sie bald wieder ganz beieinander.«

»Wo …«

»Im St. Johanns-Spital«, sagte sie noch immer lächelnd.

»Spital?«, wiederholte ich. Dann fiel mir ein, woher ich den charmanten Dialekt kannte. Er klang österreichisch, was zu dem Ausdruck passte, den sie für Krankenhaus benutzte.

»Richtig. Ich bin Dr. Wallner. Sie waren zwar ziemlich lange bewusstlos, was uns ein bisschen Sorgen bereitet hat, aber alles in allem haben Sie nur eine Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen davongetragen.«

»Ich …«

»Alles andere klären wir später. Sie müssen sich ausruhen«, unterbrach sie mich.

»Aber warum …«

Dr. Wallner runzelte die Stirn. »Wissen Sie nicht mehr, was passiert ist?«

Wie verrückt suchte ich nach einer Erinnerung, aber es wollte mir keine einfallen, also fragte ich das Naheliegendste: »Hatte ich einen Unfall?«

Das neuerliche Stirnrunzeln der Ärztin verriet mir, dass sie auf eine andere Antwort gehofft hatte und überlegte, wie sie reagieren sollte.

»Was ist denn nun passiert?« Ich merkte, dass in meiner Stimme Panik mitschwang.

»Schlafen Sie ein wenig«, wich sie aus. »Morgen wird es Ihnen schon viel besser gehen.« Damit wandte sie sich an eine Krankenschwester, die schon die ganze Zeit hinter ihr gestanden haben musste, und murmelte etwas. Die Schwester trat auf mich zu, und kurz bevor ich wieder in weiche, weiße Nebel versank, dachte ich, dass es da etwas gab, das ich Dr. Wallner unbedingt fragen musste. Etwas von immenser Bedeutung. Ich war sicher, dass sie mich vorhin angeredet hatte. Aber wie? Natürlich sollte ich das selbst wissen, jeder wusste schließlich, wie er hieß. Und mein Name war … Mein Name war … Wie um Himmels willen war mein Name?

2.

Als ich das nächste Mal aufwachte, war das blinkende Gerät verschwunden, ich spürte auch keine Injektionsnadel mehr in meinem Arm. Zwar hatte ich ein bisschen Kopfschmerzen und fühlte mich etwas benommen, fand aber diesen leichten Dämmerzustand ganz angenehm. Eine Weile lag ich einfach da und dachte an gar nichts Besonderes, ließ meine Augen nur durch das moderne Krankenzimmer gleiten, über die Wände in hellem, freundlichen Holz-Look und zu den Nachttischen, die mich besonders faszinierten. Dort waren an Schwenkarmen Flachbildschirme montiert, die mehr an Computer als an Fernseher und Radio für Patienten erinnerten.

Dann fiel es mir plötzlich wieder ein. Eine Schockwelle durchfuhr mich, als ich mir klar wurde, dass ich immer noch nicht wusste, wie ich hieß. Aber nicht nur mein Name war ein Buch mit sieben Siegeln für mich, sondern auch alles andere. Mein Leben schien eine einzige große Lücke zu sein, ein Abgrund ins Nirgendwo.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, was ich gleich bereute. Sofort wurde mir schwindelig, die Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Meine rechte Hand fuhr an meine Stirn und anschließend über meine Haare, wo ich auf einen Verband stieß. Dort befand sich auch das Zentrum der Schmerzen. Hatte ich einen Autounfall gehabt und war gegen die Kopfstütze geprallt? War ich ohnmächtig geworden und unglücklich gefallen? Hatte mir jemand einen Schlag versetzt?

Durch die Fragen nach dem unmittelbaren Geschehen, das mich ins Krankenhaus gebracht hatte, drängte ich die viel wichtigeren nach meiner Identität in den Hintergrund. Vielleicht war es ganz gut, mich mit einem einzigen greifbaren Problem zu befassen, statt mit etwas so Komplexem wie einem ganzen Leben. Meinem Leben.

Ich suchte nach einem Klingelknopf neben meinem Bett, drückte darauf und wartete. Meine Finger zitterten, in mir drehte sich alles, was nicht nur mit der körperlichen Anstrengung zu tun hatte. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und eine robuste ältere Frau in hellblauer Schwesterntracht betrat das Zimmer. Erst als sie mit fragendem Blick zielsicher auf mich zukam, fiel mir auf, dass ich die einzige Patientin hier war. Das Bett direkt neben der Tür war leer.

»Guten Morgen, Frau Berg«, sagte sie nüchtern und ohne jedes aufmunternde Lächeln.

Bisher war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich so eine kleine Geste gebraucht hätte. Da waren nicht nur die Panik und die Angst in mir, weil mir jede Erinnerung fehlte, sondern ich spürte aus genau diesem Grund auch unendliche Leere und Einsamkeit. All das trieb mir die Tränen in die Augen, die ich nur mühsam zurückhielt.

»Wie geht es Ihnen denn heute? Etwas besser?«, erkundigte sich Schwester Martina – das kleine Schildchen auf ihrem Kittel verriet mir ihren Namen. Sie sprach im Gegensatz zu Dr. Wallner gestochen Hochdeutsch und hatte außerdem Guten Morgen gesagt statt Grüß Gott. Das machte die Verwirrung komplett. Lag ich nun in einem Krankenhaus südlich der Alpen oder nicht?

»Ja, ein bisschen, danke«, antwortete ich. »Könnte ich was zu trinken haben?« Erst als ich fragte, bemerkte ich, dass mein Mund ganz ausgetrocknet war.

Schwester Martina nickte. »Selbstverständlich. Ich bringe Ihnen gleich das Frühstück.«

Kurioserweise war ich dankbar dafür, dass sie nicht nach meinem Gedächtnis gefragt hatte. Das gewährte mir einen kleinen Aufschub. Obwohl ich nämlich verzweifelt Antworten auf so viele Fragen suchte, fürchtete ich mich gleichzeitig davor. Unruhig wanderte mein Blick zum Fenster. Leider konnte ich zumindest aus dieser Perspektive der Aussicht nicht entnehmen, wo ich mich befand. Ich sah nur ein paar Baumspitzen mit blattlosen Zweigen und undeutliche Umrisse von etwas Dunklem dahinter. Das konnte überall sein, von Flensburg bis Kitzbühel. Wahrscheinlich würde ich erheblich mehr erkennen, wenn ich aufstand, aber das traute ich mir noch nicht zu.

Mein Blick nahm die Wanderung durch den Raum wieder auf, bis er in der Ecke auf dem Schrank kleben blieb, in dem vermutlich meine Sachen untergebracht waren. Bestimmt lag darin eine Handtasche mit meinen Papieren, schließlich wussten die hier doch, wer ich war. Gerade, als ich mich halbwegs entschlossen hatte, jetzt doch aufzustehen, betrat Schwester Martina den Raum. Sie schob einen kleinen Wagen vor sich her, auf dem ein Tablett, eine Wasserflasche und ein Glas standen.

Hinter ihr auf dem Flur hörte ich eine Männerstimme sagen: »… unverantwortlich! Sie können mir doch nicht ernsthaft …«

Worüber sich der Mann aufregte, erfuhr ich nicht. Schwester Martina schloss so demonstrativ die Tür, dass ich für einen Moment glaubte, sie wolle etwas vor mir verbergen. Jetzt fing ich bereits an, unter Verfolgungswahn zu leiden, als hätte ich nicht genug andere Probleme. Immerhin konnte ich nun davon ausgehen, dass ich wirklich in Österreich war, da der Mann ebenfalls mit Dialekt sprach.

Schwester Martina stellte das Frühstück, das aus zwei Scheiben Brot mit Käse und einer Kanne Tee bestand, auf meinen Nachttisch und schenkte außerdem Wasser in das Glas. »Frau Dr. Wallner wird gleich nach Ihnen sehen«, sagte sie dabei, nickte mir in ihrer unnachahmlich sachlichen Art zu und ging wieder.

Draußen vor der Tür hörte ich Dr. Wallner reden. »Sie können sie morgen sehen«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und es hat gar keinen Sinn, wenn Sie uns bis dahin noch länger im Weg rumstehen.« Die Tür öffnete sich erneut, Dr. Wallner kam mir mit einem Lächeln entgegen, ihr Gesicht drückte Besorgnis und Freundlichkeit aus. »Grüß Gott, Frau Berg. Wie geht’s uns denn heute Morgen?« Automatisch griff sie nach meinem Handgelenk, um den Puls zu überprüfen, danach schaute sie sich den Verband um meinen Kopf gründlich an. Bei der Berührung zuckte ich zusammen.

»Bis eben ganz gut«, murmelte ich.

»Ihren Humor haben Sie zumindest schon wiedergefunden«, stellte Dr. Wallner fest, bevor sie wie beiläufig fragte: »Wie steht’s mit Ihrem Gedächtnis?«

»Nicht besonders gut«, sagte ich leise, und das war noch untertrieben.

»Sie können sich also nach wie vor nicht erinnern, was geschehen ist?«

»Nein. Was ist denn nun mit mir passiert?«

Dr. Wallner schien eine Sekunde zu zögern. »Das wüssten wir selbst gern, Frau Berg. Die Umstände, unter denen Sie eingeliefert wurden, waren ein wenig merkwürdig, und wir hatten eigentlich gehofft, dass Sie uns mehr sagen könnten.«

»Mehr worüber denn?« Allmählich begann sich die Panik wieder einzustellen. Diesmal weniger über meine Identität als darüber, in was ich möglicherweise hineingeraten war.

»Sie wurden ohnmächtig in den Katakomben aufgefunden mit einer großen Platzwunde am Kopf. Die kann von einem Sturz herrühren.«

»Kann?«, wiederholte ich. »Was wäre die Alternative?« Eine dumme Frage, die Antwort war offensichtlich.

»Jemand könnte Sie niedergeschlagen haben.«

Das in Worte gefasst zu hören, verschlimmerte es trotzdem. »Sie meinen, ich bin überfallen worden?«

Dr. Wallner zuckte mit den Schultern. »Das würde auch die Polizei interessieren. Ich fürchte, ich kann Ihnen morgen einen Besuch der Beamten nicht mehr ersparen.«

»Sind mir denn meine Wertsachen gestohlen worden? Papiere, Kreditkarte, Schmuck?«

»Nein. Trotzdem will die Polizei einen Überfall nicht grundsätzlich ausschließen, deshalb möchte man Sie befragen.«

Unwillkürlich drängt sich mir eine weitere Frage auf: Wenn man mir weder etwas Offensichtliches gestohlen hatte noch überhaupt feststand, dass ich überfallen worden war, warum legte die Polizei so viel Wert darauf, mit mir zu reden? Wer zum Teufel war ich bloß, und was hatte ich getan, bevor das passiert war? Der Schrecken musste mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Dr. Wallner tätschelte beruhigend meine Hand.

»Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie lagen mit dem Hinterkopf auf einem kleinen Felsvorsprung, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie gestürzt sind. Wahrscheinlich ist Ihnen bei der Führung schlecht geworden, Sie haben sich von der Gruppe abgesondert und wurden dann ohnmächtig. Oder Sie sind einfach gestolpert, das kann da in dem spärlichen Licht leicht passieren.«

Von der Gruppe? Welcher Gruppe? Überhaupt, wo war ich gefunden worden? In den Katakomben? Was für Katakomben? Ich sollte Dr. Wallner endlich sagen, dass nicht nur der Unfall – oder was auch immer – aus meinem Gedächtnis verschwunden war. Ich hatte schon den Mund geöffnet, als Schwester Martina wieder auftauchte.

»Frau Doktor, dieser Mensch von der Polizei ist immer noch hier. Er will …«

Die Ärztin machte seufzend eine resignierte Handbewegung. »Ich dachte, ich wäre deutlich genug gewesen. Nun gut, hilft nichts, ich komme gleich, Schwester.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Die Polizei muss diesen Dingen nachgehen, wenn nur die leisesten Zweifel bestehen. Bestimmt würde der Inspektor an einem Tag wie diesem auch lieber Skifahren. Genau dazu werde ich ihm jetzt raten.«

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Was Ihre Gedächtnislücke angeht: Sie haben eine Gehirnerschütterung und waren längere Zeit ohne Bewusstsein. Die Erinnerung kommt in den meisten solcher Fälle früher oder später zurück.«

Wieder allein mit mir, meinen Gedanken und einem Frühstück, das ich ums Verrecken nicht anrühren mochte, weil mir schon der Gedanke an Essen Übelkeit verursachte, fragte ich mich, warum ich Dr. Wallner nicht einfach aufgehalten und ihr erzählt hatte, wie groß mein Gedächtnisverlust wirklich war.

Ganz tief in mir schien sich eine Erinnerung zu regen. Kein Bild, kein Wort, nur eine Ahnung. Angst. Ein vertrautes Gefühl, denn seit ich im Krankenhaus aufgewacht war, begleitete es mich. Aber diese Angst jetzt war anders, sie hatte einen anderen Ursprung und schon bestanden, bevor ich hier gelandet war, das spürte ich deutlich.

Möglicherweise wäre ein Gespräch mit der Polizei sogar ganz angebracht, dachte ich. Möglicherweise aber auch nicht, widersprach eine zweite Stimme in mir. Solange ich nicht wusste, was diese Angst bedeutete, und vor allem, wovor ich mich eigentlich fürchtete, sollte ich lieber den Mund halten. Wahrscheinlich konnte mir die Ärztin helfen, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu kommen. Die Finger schon um den Klingelknopf gelegt, flüsterte mir die zweite Stimme wieder eine Warnung zu. Wer weiß, was dabei rauskommt und was Dr. Wallner dann tut. Nein, Frau Berg, das musst du schon alleine lösen.

Frau Berg. Wenn ich wenigstens meinen Vornamen wüsste. Der Schrank zog meinen Blick geradezu magisch an, er schien mir jetzt verlockender als je zuvor. Darin lag mein »Ich«. Mir war klar, dass mir das Aufstehen wahrscheinlich schlecht bekommen würde, trotzdem schwang ich meine Beine über die Bettkante, wo ich einen Moment lang sitzen blieb. Unwillkürlich griff ich nach dem Glas auf meinem Nachttisch und trank einen Schluck. Das kühle Wasser rann meine Kehle hinunter und erfrischte mich auf erstaunliche Weise. Es schien durch mich hindurchzuströmen, meinen Körper und meinen Geist zu beleben. Nachdem ich das Glas geleert hatte, fühlte ich mich ruhiger, beinah gelassen.

Es bereitete mir kaum Mühe, auf eigenen Beinen zu stehen, und auch das Schwindelgefühl hielt sich in Grenzen. Langsam bewegte ich mich auf den Schrank zu, in dem ein schwarzer Steppmantel, eine Jeans und ein dicker roter Rollkragenpullover hingen. Darunter stand ein Paar gefütterte Winterstiefel, und in einem Regal lag sorgfältig zusammengelegte Unterwäsche. Nichts davon rief eine Erinnerung in mir hervor. Neben den Stiefeln fand ich schließlich, was ich gesucht hatte: ein kleiner Rucksack. Ich musste mich bücken, um ihn aufzuheben, und mein Kopf begann wieder mehr zu pochen. Ich wollte so schnell wie möglich zurück in mein Bett, aber da sah ich zufällig zum Fenster. Mit dem Rucksack in der Hand ging ich hinüber und erkannte jetzt hinter den Bäumen eine Kirche mit grünspanbedecktem Glockenturm und noch weiter dahinter einen Berg – der dunkle Schemen, den ich zuvor nur undeutlich wahrgenommen hatte.

Langsam wandte ich mich um und legte mich zurück ins Bett. Ein weiteres Glas Wasser tat mir fast so gut wie eben und gab mir den erforderlichen Mut, mich mit dem Rucksack zu befassen. Schon von außen war ersichtlich, dass weit weniger drin war, als hineingepasst hätte. Wieso meinte also Dr. Wallner, dass mir nichts gestohlen worden war? Vielleicht hatte es ja derjenige, der mich niedergeschlagen hatte, auf etwas ganz Bestimmtes abgesehen gehabt, es an sich genommen und Geld und Kreditkarte verschmäht. Unprofessionell, murmelte wieder die Stimme in mir. Wenn niemand außer dem Täter gewusst hätte, dass du was Wertvolles bei dir trägst, hätte er sicher alles getan, damit es wenigstens so aussah, als wäre es ihm auf Wertsachen angekommen.

Mit zitternden Fingern öffnete ich die Schnalle des Rucksacks und ließ ganz langsam meine Hand hineingleiten. Als Erstes ertastete ich etwas Weiches, Glattes. Ich zog einen blautürkisfarbenen Seidenschal heraus, auf dem in einer Ecke eine kleine Meerjungfrau auf einem Felsen thronte. Ich runzelte die Stirn und glaubte plötzlich zu wissen, dass das keine Meerjungfrau, sondern eine Nymphe war. Wieder griff ich in den Rucksack und bekam diesmal ein Buch zu fassen: ein Salzburg-Reiseführer.

Salzburg also! Vergeblich suchte ich in dem Reiseführer nach Lesezeichen oder einem Eselsohr, woraus hervorgehen mochte, was ich mir angesehen hatte. Ich schlug das Register auf und suchte nach den Katakomben, in denen ich laut Dr. Wallner gefunden worden war. Unter K stand alles Mögliche, bloß nichts von Katakomben. War ich doch nicht in Salzburg, sondern hatte mir den Stadtführer gekauft, weil ich demnächst hinfahren wollte?

Als Nächstes förderte ich ein Schlüsselbund zutage, mit dem ich nichts anfangen konnte, dann etwas, das sich bei näherer Betrachtung als Hotelzimmerkarte herausstellte. Sie war weiß und trug in dunkelroten Buchstaben die Aufschrift Altstadthotel Amadeus. Das klang nach Mozart, und der war in Salzburg geboren. Ich nahm den Stadtführer in die eine und die Karte in die andere Hand und wurde mir zunehmend sicherer, in einem Salzburger Krankenhaus zu liegen.

Durch diese Erkenntnis ermutigt, wagte ich endlich in den Rucksack hineinzusehen, statt wie bisher nur blind nach Dingen zu greifen. Da herrschte ein ziemliches Durcheinander von angebrochenen Tempo-Packungen, einer zerknüllte Brötchentüte und zwei halb aufgebrauchten Lippenbalsamstiften. Ich schien die Ordnung nicht gerade gepachtet zu haben, sogar mein Handy lag unter diesem ganzen Chaos verborgen. Nachdenklich betrachtete ich es und stellte fest, dass der Akku glücklicherweise noch halb voll war. Bestimmt fand ich im Adressbuch Nummern von Menschen, die ich kannte, die mir etwas bedeuteten.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich hochschrecken, als sei im Nachttisch eine Bombe explodiert. Ärzte und Schwestern pflegten ihr Kommen nicht vorher anzukündigen. War es also diesem Polizeibeamten gelungen, sich an Dr. Wallner vorbeizuschmuggeln? Oder wer sonst hätte ein Interesse daran, mich zu sehen?

3.

Die Tür öffnete sich zentimeterweise, gerade weit genug für den Mann, seinen Kopf hereinzustecken und sich vorsichtig umzusehen. Erst als er sicher war, dass sich außer mir niemand im Zimmer befand, kam er schnell ganz herein.

»Hallo«, sagte der Mann, lächelte etwas schief und zog sich eine Strickmütze vom Kopf, unter der sehr kurzes braunes Haar zum Vorschein kam.

Für eine Sekunde hatte ich den Eindruck, er wartete, wie ich auf sein Erscheinen reagierte. Anscheinend hatte ich ihn zu kennen – tatsächlich war mir sein Gesicht mit den tiefen Furchen in den Wangen und der etwas zu langen Nase über dem immer noch lächelnden Mund vollkommen fremd.

Bevor ich noch überlegen konnte, was ich sagen sollte, fuhr er schon fort: »Diese verbiesterte Schwester wollte mich nicht reinlassen, ich musste warten, bis sie von einem Arzt gerufen wurde. Wenn sie also gleich kommt und mich hier im hohen Bogen wieder rausschmeißt, wundern Sie sich nicht. Aber ich quatsche zu viel. Dabei wollte ich doch nur kurz fragen, wie’s Ihnen geht.«

Bei ihm klang das Österreichisch noch charmanter als bei Dr. Wallner, seine Stimme war angenehm ruhig, dabei ein bisschen rau. Obwohl er mich besorgt musterte, lag in seinen Augen, deren Farbe ständig zwischen blau und grau zu wechseln schien, ein halb belustigter Ausdruck.

Unwillkürlich erwiderte ich sein Lächeln, zögerte aber doch wohl ein bisschen zu lange mit meiner Antwort, denn jetzt trat er wieder einen Schritt von meinem Bett zurück, und auch sein Lächeln kühlte ab.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »Sie müssen sich fragen, wieso ausgerechnet ich hier einfach so reinschneie, wo wir uns doch so gut wie fremd sind und Sie noch nicht mal meinen Namen kennen. Ich bin Leon Eisner, und ich …«

Er redete weiter, doch ich hörte nicht mehr richtig zu. Seine Äußerung ließ zwar darauf schließen, dass wir uns schon mal begegnet waren, uns aber nicht wirklich kannten. Das erleichterte mich, denn es bedeutete, dass ich nicht allzu viele Fehler machen konnte.

Leon Eisner hatte mir wohl angesehen, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders war. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er.

»Ja«, murmelte ich. »War in der letzten Zeit nur alles ein bisschen viel für mich. Könnten wir einfach noch mal von vorn anfangen? Sie hatten sich gerade vorgestellt …«

Leon Eisner lächelte wieder. »Schon recht. Ist meine Schuld, ich hätte mich eben an den Befehl ihrer Schwesterlichkeit halten sollten. Aber ich fühle mich ein bisschen verantwortlich für Sie. Ich hab Sie nämlich bewusstlos in den Katakomben gefunden und den Rettungswagen gerufen.«

Er hatte mich gefunden! Möglicherweise verdankte ich also diesem Mann mein Leben, schließlich war mir immer noch schleierhaft, was ich eigentlich wie und warum in diesen geheimnisvollen Katakomben getan hatte. Vielleicht konnte er mir wenigstens mehr dazu sagen, wo und wann er über mich gestolpert war.

»Dann«, begann ich, »ist ein sehr großes Danke fällig. Wenn Sie nicht gekommen wären, läge ich vielleicht immer noch da.«

Ein leichtes Stirnrunzeln verriet mir, dass ich was Falsches gesagt hatte. »Das möchte ich doch bezweifeln«, sagte Leon Eisner eine Spur sarkastisch.

»Weshalb? Bitte verstehen Sie mich richtig, ich wollte Ihnen nur danken, aber ich hab mich wohl etwas unklar ausgedrückt.«

Leon Eisner legte den Kopf schief. Nach einer Pause meinte er: »Die Mönchsbergkatakomben sind nicht besonders weitläufig. Wenn ich es nicht gewesen wäre, wäre in den nächsten drei Minuten jemand anders gekommen und hätte Sie gefunden.«

»Oh«, machte ich. Sah so aus, als müsste ich ihm zumindest zur Hälfte reinen Wein einschenken. Gleichzeitig wollte ich mir auf jeden Fall den Namen merken: Mönchsbergkatakomben. Das musste einfach in diesem Reiseführer stehen. »Das wusste ich nicht. Die Ärztin hat nur was von Katakomben gesagt, genau wie Sie vorhin. Ich kann mich leider überhaupt nicht mehr erinnern, was mit mir passiert ist. Auch nicht, wo ich war. Die … Stunden vor dem … Unfall sind einfach weg.«

Der Ausdruck, der sich für einen kurzen Augenblick auf seinem Gesicht abzeichnete, war schwer zu definieren. Dann wich er jedoch Betroffenheit. »Das tut mir leid. Sie waren zwar ohnmächtig und haben ziemlich geblutet am Kopf, aber dass Ihnen der Sturz so zugesetzt hat … Sie haben wirklich alles vergessen?«

Das Mitgefühl, das ich vorhin bei Schwester Martinas unpersönlicher Art schmerzlich vermisst hatte, tat mir einerseits gut. Ich merkte allerdings auch, dass ich damit schlecht zurechtkam und nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Wahrscheinlich war ich ein Mensch, der weniger bemitleidet, sondern angespornt werden wollte, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Betont beiläufig zuckte ich mit den Schultern.

»Jedenfalls einiges.« Untertreibung des Jahrhunderts. »Wahrscheinlich wissen Sie mehr als ich darüber, wie dumm ich gestolpert bin.«

Bedauernd schüttelte Leon Eisner den Kopf, während er sich kurzerhand einen Stuhl heranzog und sich setzte, nachdem er noch einen kurzen Blick über die Schulter zur Tür geworfen hatte. »Ich fürchte nein. Wenn ich Zeit habe und nachdenken will, gehe ich manchmal vormittags in die Katakomben. Kurz nach der Öffnung sind sie in dieser Jahreszeit noch nicht so mit Touristenströmen überfüllt. Trotzdem war schon eine Gruppe drin, wohl die, zu der Sie gehörten. Ich hab alle ein Stück vorausgehen lassen, damit ich meine Ruhe hatte. Als ich dann in die Gertraudenkapelle kam, sah ich etwas in der dunklen Ecke zwischen Altar und Felsenwand liegen, was ich zuerst für einen vergessenen Rucksack hielt.«

»Stattdessen war ich das?«, fragte ich leise.

Er nickte. »Ich habe versucht, Sie anzusprechen und zu bewegen, aber dann sah ich, dass Sie verletzt waren, und hab die Ambulanz gerufen. Ich bin nicht sehr bewandert in Erster Hilfe.« Letzteres fügte er fast entschuldigend hinzu.

»Sie haben großartige Hilfe geleistet.«

»Ja, ich bin richtig stolz auf mich«, bestätigte Leon Eisner. »Ich hab’s tatsächlich geschafft, von meinem Handy die Notrufnummer zu wählen.« Ein selbstironisches Lächeln begleitete seine Worte, in seinen Augen blitzte es auf. Dann fiel sein Blick auf meine Bettdecke. »Ist es klug, im Krankenhaus ein Handy zu benutzen? Wer weiß, was das mit den Geräten hier anstellt.«

»Daran hab ich gar nicht gedacht«, gab ich schuldbewusst zu. Hastig griff ich danach, um es auszuschalten, da begann es wie aufs Stichwort plötzlich zu vibrieren. Ich las noch schnell den Namen Tobias auf dem Display, bevor ich es abwürgte, froh, einen Grund zu haben, nicht unvorbereitet mit Tobias, wer immer er sein mochte, sprechen zu müssen.

Einen kurzen Moment blieb es still zwischen uns, bis Leon Eisner feststellte: »Es ist bestimmt ein seltsames Gefühl, sich an ein Stück aus seinem Leben nicht erinnern zu können.«

»Ziemlich beunruhigend«, gab ich zu. Besonders, wenn man sich genau genommen an gar nichts erinnerte. »Aber Dr. Wallner sagte, dass das vorübergeht.«

»Na also. Was ist denn das Letzte, was Sie noch wissen?«

Die Frage hatte mir gerade noch gefehlt. Einen winzigen Augenblick lang dachte ich daran, Leon Eisner ins Vertrauen zu ziehen, schüttelte das Bedürfnis aber sofort wieder ab. Wenn ich schon beschlossen hatte, der Ärztin gegenüber zu schweigen, warum sollte ich mich einem völlig Fremden gegenüber anders verhalten? Weil er dir geholfen hat!, flüsterte mein inneres Stimmchen. Ein zweites antwortete prompt: Behauptet er. Du weißt nicht, ob das, was er sagt, der Wahrheit entspricht. Dieser Gedanke kam aus dem Nichts heraus, er setzte sich in mir fest, ohne dass ich es wollte. Wovor hatte ich solche Angst? Das Gefühl musste derart tief in mir verankert sein, dass es mein Unterbewusstsein durchbrach und mich handeln ließ, wie ich handelte.

»Das Frühstück im Hotel«, log ich deshalb.

»War’s gut?«

»Ich hab wenig gegessen«, sagte ich spontan und wusste instinktiv, dass das stimmte.

»Wo wohnen Sie denn eigentlich? Ich meine, wenn Sie nicht gerade dieses Luxusapartment hier belegen.«

»Im Amadeus«, sagte ich spontan, weil ich wenigstens diese Frage beantworten konnte. Ich bereute es sofort.

Leon Eisner nickte. »Klar, das ist ja fast nebenan.«

»Nebenan vom Krankenhaus?«, fragte ich und merkte an seinem Blick, dass ich erneut einen Fehler gemacht hatte. »Oder neben den Mönchsbergkatakomben?«, versuchte ich mit einem Lächeln zu retten, was zu retten war. Leider verstärkte sich daraufhin sein Stirnrunzeln.

»Nein. Gleich beim Don Giovanni natürlich. Ich hätte mir denken können, dass Sie in der Nähe wohnen, wo Sie doch häufig im Café waren.«

Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er meinte, geschweige denn, wie ich das überspielen sollte.

Plötzlich grinste Leon Eisner. »Es sollte mich wohl weniger überraschen, keinen großen Eindruck bei Ihnen hinterlassen zu haben.«

Allmählich begann ich zu verstehen, worauf er hinauswollte. »Sie arbeiten im Don Giovanni, natürlich!«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm. »Das ist mir jetzt wirklich unangenehm, und ich schätze, Sie halten es für eine blöde Ausrede, wenn ich Ihnen versichere, dass ich noch nie ein gutes Gedächtnis für Gesichter hatte?«

Leon Eisners Grinsen wurde breiter. »Kein schlechter Versuch! Aber es wundert mich wirklich nicht. Sie waren die meiste Zeit ziemlich abwesend oder damit beschäftigt zu …«

»Was, glauben Sie, tun Sie hier? Ich habe Ihnen doch deutlich genug gesagt, dass Frau Berg ihre Ruhe braucht!« Schwester Martina hatte sich den ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, in unsere Unterhaltung zu platzen. »Raus!«, herrschte sie ihn an. »Und wenn ich Sie vor morgen Nachmittag noch mal hier erwische, kriegen Sie ernsthafte Schwierigkeiten!«

Leon Eisner versuchte gar nicht erst, zerknirscht zu gucken oder sich zu entschuldigen. Stattdessen seufzte er übertrieben und zwinkerte mir zu. »Wir sehen uns! Falls Sie möchten, natürlich nur.«

Ich lächelte. »Gern.« Das meinte ich durchaus ernst, denn es sah immerhin ganz so aus, als könnte ich durch ihn wenigstens ein paar Dinge über meine unmittelbare Vergangenheit erfahren. Er war die zwar ziemlich dürftige, aber einzige Verbindung zu meinem bisherigen Leben.

4.

Schwester Martina sah ihm hinterher, bis er draußen war, dann warf sie einen Blick auf mein unangerührtes Frühstück. »Auch wenn Sie keinen Hunger haben, sollten Sie ein bisschen essen. Sie sind seit gestern Vormittag hier und haben noch keine feste Nahrung zu sich genommen.«

Etwas widerwillig griff ich nach dem ersten Käsebrot und biss an.

»So ist’s recht«, sagte die Schwester.

»Den Rest können Sie mitnehmen«, erwiderte ich kauend. »Bis auf das Wasser.« Da mir das vorhin so ausgesprochen gutgetan hatte, wollte ich den Rest auch noch trinken.

Nachdem sie fort war, aß ich widerwillig, aber gehorsam das Brot auf. Wenn schon mein Geist nicht richtig funktionierte, sollte wenigstens mein Körper bald wieder in Ordnung sein.

Danach wischte ich mir die Finger an der Bettdecke ab und widmete mich wieder meinem Rucksack. Das Handy legte ich erst mal wieder hinein, mein Schrecken beim Anruf des unbekannten Tobias hatte mich eher entmutigt, mich näher mit dem Adressbuch zu beschäftigen. Stattdessen durchsuchte ich das Innere des Rucksacks weiter und entdeckte einigermaßen sicher verstaut in einer Seitentasche mein Portemonnaie. Meine Barschaft belief sich auf ein bisschen Kleingeld und hundertfünfzig Euro in Scheinen. Im hinteren aufklappbaren Fach entdeckte ich meine Bankkarte, meine Kreditkarte, die Krankenversichertenkarte, einen Bibliotheksausweis, einen Führerschein – und meinen Personalausweis. Alles ausgestellt auf den Namen Juta Berg.

Juta. Wie ungewöhnlich. Hatte ein Standesbeamter womöglich versehentlich ein t vergessen? Und falls ja – vor wie vielen Jahren? Über mein Alter hatte ich bisher überhaupt nicht nachgedacht. Ich horchte in mich hinein und fand, dass ich ebenso gut fünfundzwanzig wie fünfunddreißig sein konnte. Ein Blick auf das Geburtsdatum verriet mir, dass ich damit gar nicht so verkehrt lag: Ich war einunddreißig. Erst jetzt sah ich auch auf das Foto, was fast noch eine größere Herausforderung war.

Ein schmales Gesicht schaute mir entgegen, umrahmt von rotbraunen langen Haaren, die ich schon bemerkt hatte. Auf dem Foto trug ich sie hochgesteckt, nur ein paar Strähnen umspielten meine Wangen. Meine Nase war gerade und, ähnlich wie Leon Eisners, etwas zu lang, mein Mund mittelgroß, die Oberlippe etwas schmaler als die Unterlippe. Das Lächeln wirkte gequält, wie üblich auf den meisten Passfotos. Die Augenfarbe unter den geschwungenen Brauen konnte ich nicht erkennen. Kein Model-Gesicht, aber es hätte schlimmer sein können. Plötzlich schob sich ein anderes Bild vor das auf dem Ausweis. Dasselbe Gesicht, aber mit kurzen, brünetten Haaren, und ich wusste genauso plötzlich, dass ich mich da im Ton vergriffen und danach beschlossen hatte, nie wieder ein Färbemittel an meine Haare zu lassen. Schließlich erinnerte ich mich, dass meine Augen hellgrau waren mit einem dunkelgrauen Kranz rund die Iris.

Ich drehte den Perso um, und genau das stand auch dort. Augenfarbe: grau. Größe: 1,68 m. Außerdem las ich da meine Adresse: Boltenhagen, Ostseeallee. Ich sah einen Häuserblock vor mir, der in den sechziger Jahren gebaut worden sein mochte, und eine zweispurige Straße, auf der einiger Verkehr herrschte. Trotz des kurzen Erinnerungsmoments wollte mir nichts weiter zu Boltenhagen einfallen. Die Adresse Ostseeallee legte Norddeutschland nahe. Wieder horchte ich in mich in hinein und befand, dass das richtig klang. Ganz davon abgesehen, dass ich dialektfrei sprach, fühlte ich mich tatsächlich norddeutsch.

Juta Berg aus Boltenhagen also. Allerdings war ich nicht dort geboren, wie mir mein Ausweis weiter verriet, sondern in Lüneburg. Was hatte mich Nordlicht nach Österreich gebracht? Skiurlaub? Winter war es ja wohl, aber ebenso wie ich wusste, dass ich meine Haare nie wieder färben würde, wusste ich, dass ich nicht Skifahren konnte.

Eine Weile grübelte ich über das Phänomen nach, dass ich mich an einzelne Versatzstücke aus meinem Leben erinnerte, andere, viel wesentlichere jedoch vergessen hatte. Immer wieder tauchten Dinge vor meinem inneren Auge auf, manchmal sogar Namen und verschwommene Gesichter. Aber nie reichte es für ein komplettes Bild, für eine Vorstellung von meinem Leben. Zudem schien all das, was ich sah, längst vergangen zu sein, nichts davon war eine frische Erinnerung.

Schließlich knöpfte ich mir wieder den Reiseführer vor und suchte nach den Mönchsbergkatakomben. Dabei erfuhr ich, dass sie oberhalb des Petersfriedhofs lagen und im dritten und vierten Jahrhundert entstanden waren. In der Communegruft befanden sich die Gräber von Michael Haydn, dem Bruder von Josef Haydn, und Nannerl, der Schwester Mozarts. Damit schienen diese Felsenkatakomben tatsächlich ein besonderer touristischer Anziehungspunkt zu sein. Falls ich aus einem anderen Grund dort gewesen war, blieb er mir verborgen.

Dr. Wallner sah noch ein-, zweimal nach mir, erkundigte sich nach meinem Gedächtnis und untersuchte meine Kopfwunde. Sie war auch weiterhin nicht beunruhigt, dass mir die Zeit vor dem Unfall und das Geschehen selber fehlten. Immer noch wollte ein Teil von mir ihr erzählen, was mit mir los war, aber der andere Teil siegte jedes Mal. Ich versuchte mir selbst einzureden, dass ich zumindest diesen einen Tag abwarten wollte.

5.

Mein Zögern war mir selbst ein Rätsel, aber ich schwieg weiter, obwohl sich auch nach der mir selbst gesetzten Frist an meinem Zustand nur Unwesentliches geändert hatte. Aus den Kopfschmerzen war ein mehr oder weniger dumpfer Druck geworden, meist konnte ich sogar aufstehen, ohne dass mir schwindelig wurde. Außerdem erinnerte ich mich an eine Frau mit dunklen Locken, die mich in den Arm nahm, als ich weinend nach Hause kam, und an einen hochgewachsenen schlanken Mann mit grauen Haaren, der mich aus blauen Augen scharf ansah, es aber nicht halb so streng meinte, wie es wirkte: meine Eltern, die namenlos blieben. Ein anderer Mann tauchte in meinem Gedächtnis nicht auf. Vielleicht gab es ja keinen, der besonders wichtig für mich war. Keinen Mann, kein Kind, keine kleine heile Familie. Bei dieser Überlegung überfiel mich völlig unerwartet ein heftiges Gefühl des Verlustes. Hatte ich all das mal gehabt und verloren?

Bei diesem Gedanken geisterte mir plötzlich wieder jener Tobias durch den Kopf, der mich am Tag zuvor übers Handy hatte erreichen wollen. Sollte ich ihn anrufen? Vielleicht konnte ich auf diese Weise behutsam bei jemandem vorfühlen, der mir so vertraut war, dass ich ihn nur unter seinem Vornamen abgespeichert hatte.

Gerade wurde mir bei diesem Plan etwas optimistischer zumute, da betrat Dr. Wallner in Begleitung eines untersetzten Mittvierzigers mein Zimmer. »Das ist Inspektor Schlögl von der Salzburger Kriminalpolizei, der ein paar Fragen an Sie hat«, stellte sie ihn vor.

Der Inspektor reichte mir die Hand. »Grüß Gott, Frau Berg. Ich hoffe, es geht Ihnen den Umständen entsprechend gut.« Er musterte mich eingehend, als würde er mich einer Prüfung unterziehen. Sicher hatte Dr. Wallner ihm von meiner Amnesie erzählt. Glaubte er mir vielleicht nicht? Nahm er an, ich simulierte bloß? Aber weshalb sollte er? Ich hatte schon mal gedacht, dass diese Angst, die ich innerlich verspürte, möglicherweise die Angst vor der Polizei war. Dann müsste dieses Gefühl mich jetzt, da ein Beamter direkt vor mir saß, eigentlich warnen. Nur ließ sich mein Gefühl nicht so eindeutig bestimmen. Mir war unwohl, aber ich geriet nicht in Aufregung.

Stattdessen berichtete ich wahrheitsgemäß, dass sich bezüglich meines Erinnerungsvermögens nichts geändert hatte, und als ich vorschlug, mit Leon Eisner zu reden, erfuhr ich, dass das bereits geschehen war. Inspektor Schlögl äußerte den Verdacht, dass, falls ich tatsächlich überfallen worden sein sollte, derjenige möglicherweise von Leon gestört worden war. »Haben Sie auf dem Weg von Ihrem Hotel etwas Auffälliges bemerkt? Ist Ihnen jemand gefolgt?«

Ich erschrak. »Gefolgt? Warum sollte mir jemand gefolgt sein?« Urplötzlich war die Angst wieder da, überdeutlich, bis in meine Fingerspitzen. Jemand folgte mir. Ein Mann. Er blieb unsichtbar, ich konnte niemanden erkennen, nicht mal den Schatten eines Schattens, und trotzdem spürte ich eine fremde Gegenwart. War das auf dem Weg zu den Katakomben gewesen? Oder gewann da eine ganz andere Erinnerung die Oberhand, die schon viel länger zurücklag?

»Manchmal gucken sich solche Kleinkriminellen ihre Opfer schon eine Weile im Voraus aus«, erklärte der Beamte inzwischen. »Sie schätzen ab, ob sich ein Handtaschenraub lohnt, dann folgen sie dem Opfer, bis sich eine passende Gelegenheit ergibt, und schlagen zu.«

Das klang plausibel. Vielleicht war es so gewesen, das würde zumindest zum Teil auch meine unspezifische Angst erklären. Dennoch bezweifelte ich, dass dieses Gefühl in mir in diesem Fall dermaßen stark sein sollte. Helfen konnte ich dem Inspektor nicht. »Ich fürchte, mir fehlt auch die Erinnerung an meinen Weg zu den Katakomben.«

»Es liegt mir wirklich fern, Sie beunruhigen zu wollen«, sagte er beim Abschied, »und wie Dr. Wallner schon sagte, ist ein Sturz oder eine Ohnmacht am wahrscheinlichsten. Aber Sie verstehen sicher, dass wir einer Sache nachgehen müssen, die nicht zur Gänze geklärt ist. Auf jeden Fall gute Besserung für Sie, und falls Ihnen noch was einfällt …«

»… werde ich mich bei Ihnen melden.«

Dr. Wallner, die dem Gespräch zwischen Inspektor Schlögl und mir stumm gefolgt war, begleitete ihn hinaus. Bevor die Tür hinter beiden ins Schloss fiel, hörte ich noch, wie der Inspektor fragte: »Wann kann Frau Berg denn entlassen werden?«

Leider bekam ich die Antwort, die mich selbst sehr interessierte, nicht mehr mit. Ich wusste nicht, ob ich meine Entlassung herbeisehnen oder ihr mit Schrecken entgegensehen sollte. Einerseits war da diese Angst. Nicht nur vor etwas, das ich nicht benennen konnte, sondern auch davor, allein mit einem unbekannten Leben klarkommen zu müssen. Auf der anderen Seite wollte ich so schnell wie möglich genau diesem Leben auf die Spur kommen, auch wenn das bedeutete, mich mit der Angst, deren Ursache und deren Folgen auseinandersetzen zu müssen.

Offenbar war ich nicht erpicht darauf, dass jemand etwas über mich erfuhr, sonst hätte ich Dr. Wallner längst gesagt, wie es um mich stand. Inzwischen ahnte ich aber auch, dass ich nicht die Polizei oder eine andere Behörde fürchtete. Eher einen unbekannten Verfolger, wenn ich meine Reaktion auf die Frage des Inspektors richtig deutete. Unruhig stand ich auf, wanderte vor dem Fenster hin und her und betrachtete dabei die Kirche zwischen den Bäumen. Da war außer der diffusen Angst noch was anderes. Es spornte mich an, etwas Wichtiges zu tun, und die Zeit drängte. Abrupt blieb ich stehen. Das war neu. Zum ersten Mal hatte ich gespürt, dass es einen Grund für mein Hiersein gab. Ich musste so bald wie möglich hier raus, um … etwas zu tun.

Vielleicht wusste dieser Tobias darüber Bescheid. Entschlossen schälte ich mich aus meinem Krankenhaus-Nachthemd und zog die Sachen an, die im Schrank hingen. In dem Rollkragenpullover hing der letzte Rest eines dezenten Parfümduftes, der mir gefiel, auch wenn ich nicht drauf kam, was es war.

Die Krankenhausflure wirkten ebenso modern wie die Zimmer. Sie waren freundlich mit hellem Holz ausgekleidet, es gab keine geraden Gänge, das Gebäude schien wie ein großzügiger Halbkreis gestaltet zu sein. Auf dem Tresen des »Stationsstützpunktes« standen Blumen, die Schwestern in hellblauen Hosen und Kitteln eilten hin und her. Indem ich den Hinweisschildern zum Ausgang folgte, gelangte ich zum Fahrstuhl und stellte fest, dass ich mich offenbar im dritten Obergeschoss der »Unfallchirurgie West« befand. Der Fahrstuhl brachte mich ins Erdgeschoss, wo ich durch die Flure ging und mich fast ein bisschen normal fühlte, weil ich jetzt gekleidet war wie die Besucher, die dort zwischen den Patienten herumliefen. In der Mitte eines längeren Flurs mit großer Glasfront befand sich ein Bistro und am Ende der Empfang und der Eingang des Gebäudes. Ohne es wirklich zu verlassen, stellte ich mich an die äußerste Ecke der Glastür und schaltete nervös mein Handy ein. Zwei SMS kündigten jeweils eine Nachricht auf meiner Mailbox an. Das erste Mal meldete sich Tobias mit Namen und bat um Rückruf, und zwar zu dem Zeitpunkt, als ich das klingelnde Handy in Leon Eisners Gegenwart abgewürgt hatte. Das zweite Mal war er weniger förmlich, dafür anscheinend unsicher, ob er verärgert oder besorgt sein sollte.

Dann würde ich ihm jetzt den Gefallen tun. Ich drückte die 1, um mich verbinden zu lassen. Umsonst. Es klingelte nicht mal, nur eine Stimme sagte mir, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Ich stöhnte leise auf und ging entmutigt zu dem kleinen Bistro zurück.

»Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?«, fragte das junge Mädchen, das hinter dem Tresen bediente.

»Einen Kaffee, bitte.« Ich dachte, das wäre eine ganz einfache Bestellung, aber da täuschte ich mich.

»Melange, Kapuziner oder Brauner?«

Mein Gesicht musste ein einziges Fragezeichen gewesen sein, denn das Mädchen begann zu erklären, was sich dahinter verbarg. Ich entschied mich schließlich für eine Melange, einen Kaffee mit Sahne. Leon Eisner hätte mir bestimmt sagen können, was ich im Don Giovanni immer trank. Mit meiner Melange vor mir saß ich lange auf einem der graublauen Stühle und beobachtete die Leute, die kamen und gingen. Erst nach einer ganzen Weile wurde mir bewusst, dass ich darauf wartete, zwischen all den fremden Menschen einen auftauchen zu sehen, den ich kannte: Leon. Immerhin hatte er versprochen, mich heute wieder zu besuchen. Aber während um mich herum Patienten mit ihren Besuchern schwatzten, blieb ich allein.

Das war fast noch frustrierender, als in meinem Bett zu liegen. So ging das einfach nicht weiter, ich musste raus hier. Körperlich fehlte mir schließlich nichts außer einer Gehirnerschütterung. Das durfte ich nicht unterschätzen, aber die Kopfschmerzen waren längst nicht mehr so schlimm, und das Schwindelgefühl kam nur noch, wenn ich sehr plötzlich aufstand. Vielleicht wurde meine Erinnerung ja gerade durch etwas außerhalb dieser Krankenhausmauern angestoßen.

Die Nacht verbrachte ich unruhig. Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen, wollte aber die Schwester nicht um ein Schlafmittel bitten. Obwohl ich den Schlaf herbeisehnte, überfiel mich gleichzeitig eine leise Unruhe, als könne er mir etwas bringen, worauf ich nicht vorbereitet war.