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Barbara Saladin

Mörderisches Baselbiet

11 Krimis und 125 Freizeittipps

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Zum Buch

Trügerisches Idyll Was ist nur mit dem Baselbiet geschehen? „Vo Schönebuech bis Ammel, vom Bölche bis zum Rhy“ treiben Kriminelle, Rächer und Entführer ihr Unwesen, eifersüchtige Jäger greifen zur Flinte und erbitterte Feinde trachten sich gegenseitig nach dem Leben. Wenn dann noch der Geist eines Ermordeten aus seinem Badebottich steigt und um den Aussichtsturm streift und sich auf einer Kuhweide im Naherholungsgebiet die tödlichen Freizeitunfälle häufen, dann ist’s definitiv vorbei mit der Idylle im Landkanton.

In elf abwechslungsreichen Kurzkrimis schüttelt die Autorin Barbara Saladin ihre Heimat Basel-Landschaft gehörig durch – mal subtil und mal skurril, mal tiefgründig und mal rasant. Ein spannendes Lesevergnügen, gewürzt mit überraschenden Wendungen, scharfen Beobachtungen und viel Lokalkolorit. Neben den Kurzkrimis laden 125 spannende Freizeittipps im Baselbiet und seiner Umgebung zum Entdecken eines Kantons ein, der völlig zu Unrecht als weisser Fleck auf der touristischen Landkarte gilt.

Barbara Saladin, geboren an einem Freitag, den 13., im Jahr 1976 in Liestal, lebt als freie Autorin im Oberbaselbiet. Sie schreibt vor allem Kriminalromane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Sachbücher. Als freischaffende Journalistin ist sie in der Nordwestschweiz und darüber hinaus unterwegs. Sie fotografiert, lektoriert, ist Freelancerin im Kulturbereich, und auf Auftrag textet sie auch. Vor einigen Jahren realisierte sie mit »Welthund« den ersten Oberbaselbieter Kinofilm aller Zeiten. Seit einem Krimi-Stipendium auf Juist ist sie – literarisch gesehen – sowohl in den Baselbieter Jurahügeln als auch an der Nordseeküste zu Hause. 2017 wurde Barbara Saladin mit dem Kantonalbankpreis in der Sparte Kultur ausgezeichnet. www.barbarasaladin.ch

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Wer mordet schon am Rhein? (2016, zus. mit Nadine Buranaseda, Anne Grießer; neu 2019 unter dem Titel "Mörderisches vom Rhein")

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Kartendesign: Barbara Saladin

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Barbara Saladin

ISBN 978-3-8392-5816-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Haftungsausschluss

Karte

Waidmanns Unheil

Falschmünzer in der Römerstadt

Von den fatalen Schwingungen eines Rollschinklis

Blueschtfahrt im Baselbiet

Feuer und Flamme

Fluch des Ammeler Weihers

Nachts um den Wisenberg

Zappenduster

Entfaltung im Faltenjura, oder: Die Weltherrschaft

Über Bord

Keine Wahl

Was ich noch sagen wollte (ein Nachwort)

Glossar

Lesen Sie weiter …

Lieblingsplätze aus der Region

Karte

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Waidmanns Unheil

Die Musik dröhnt in den Ohren, und das Trommelfell kitzelt den Takt dazu. Zum Davonlaufen! Der Sound wütet in der Magengrube, und dass irgendwo eine Boxe kaputt zu sein scheint und scheppert, stört offenbar niemanden. Dabei ist das eine Zumutung für alle, die akustisch gesehen keine Freunde von Presslufthämmern oder Fussballstadien sind. Also zum Beispiel für Adrian. Grimmig hält er sich an seiner Stange Lagerbier fest und versucht, sein Unbehagen so gut es geht hinunter zu spülen. Nein, er mag es nicht hier in dieser Kellerbar, in der früher wohl mal Kartoffeln gelagert wurden und wo heute die Leute einander Banalitäten an den Kopf werfen, schreiend, weil sie hoffen, so die Musik übertönen zu können.

Aus eigenem Antrieb kommt Adrian nie hierher, wieso sollte er auch. Er kennt hier niemanden. Eigentlich kennt er sowieso nicht viele Leute. Will er auch nicht; vor allem nicht die Lauten und die Mühsamen und die Neuzuzüger. Und all jene, die so bescheuerte Musik mögen wie die, die hier läuft: Alles schnell und geschrien und Englisch, da versteht man ja kein Wort.

Adrian nimmt einen kräftigen Schluck und ordert bei der Frau hinter der Bar, der eine tätowierte Rose aus dem Dekolleté wächst, ein weiteres Bier. In seinem Hinterkopf ermahnt ihn zwar eine Stimme, besser nüchtern zu bleiben, aber diese Stimme bringt er ziemlich schnell zum Schweigen. Wenn er schon hier sitzen und warten muss, um zu erfahren, ob seine Jasmin sich abends tatsächlich heimlich mit dem Michi im Schummerlicht dieser Bar trifft, kann er sich geradeso gut die Kante geben.

Eigentlich will Adrian es gar nicht wissen. Weil er Angst hat davor, dass es stimmen könnte, was der Sämi ihm am Nachmittag gesagt hat, als er ihn in der Begegnungszone im Sissacher Dorfkern getroffen hat. Naja, dort begegnet man eben auch jenen, denen man lieber nicht über den Weg laufen würde, und mit den 20 Stundenkilometern, die man dort höchstens fahren darf, kommt man auch im Auto nicht schnell genug weg.

Als Sämi so zielstrebig auf ihn zugeschritten ist, hat Adrian zuerst gemeint, der Wildhüter wolle ihm mal wieder ins Gewissen reden im Zusammenhang mit dem Umstand, dass ihm sein Jagdpatent vor ein paar Jahren aberkannt worden war. Er hatte halt die Schonzeiten mehrmals nicht eingehalten, und auch danach, als er schon nicht mehr jagen durfte, na ja, seine Flinte vielleicht nicht immer so ganz zu 100 Prozent im Schrank stehen lassen. Aber wie soll er sich denn sonst bitteschön gegen die Wildsauen wehren, die ihm das Feld oben am Waldrand Richtung Bischofstein  1  regelmäßig umpflügen und ihm die Frucht zerstören?

Diesmal war es allerdings anders. Da wollte der Sämi den Adrian nicht zur Vernunft aufrufen oder mit einer Anzeige drohen, wenn er das Jagen nicht endlich lasse, sondern er wollte ihm – in aufrichtiger Freundschaft, wie er ihm versicherte – mitteilen, dass womöglich eine ganz andere Jagd am Laufen sei. In seinem Revier, aber nicht oben am Waldrand. Habe er gehört. Und in dieser Geschichte sei quasi die Jasmin das Wild und der Michi der Oberjäger.

Ausgerechnet der Michi, der Weichling! Ein ehemaliger Kollege einer benachbarten Jagdgesellschaft, der kaum je ein Tier schießt, weil er zu langsam ist und zu zögerlich und sowieso keine Eier hat.

Schon allein der Gedanke daran, dass seine Jasmin einen anderen Mann haben könnte, treibt Adrian kochendes Blut in die Adern, und fast fühlt er den Rauch aus seinen Ohren steigen.

Deswegen ist er nun hier, und er findet es schlimm. Nicht nur das Warten an sich hält er fast nicht aus, sondern auch, dass die Leute um ihn herum alle so gut drauf zu sein scheinen. Er, der von morgens früh bis abends spät krampft, ist abgekämpft und mürrisch, während all die anderen voller Energie zu stecken scheinen. Hallo? Es ist Freitagabend, haben die denn die ganze Woche nichts gearbeitet?

Vielleicht ist es auch ganz gut, dass die Musik so laut ist, grummelt er vor sich hin. So kann er das Gerede der anderen nicht verstehen, und die sind so mit Schreien beschäftigt, dass er nicht auffällt. Und er soll ja nicht auffallen, wenn er hier lauern will, bis – falls Sämis Aussage stimmt – seine Frau und deren mutmaßlicher Liebhaber hier aufkreuzen und sich in trügerischer Sicherheit wiegen. Dann wird seine Zeit gekommen sein, und er wird aufstehen und dem Michi so lange eine runterhauen, bis dieser winselt und seine Zähne einzeln vom bierverklebten Boden klauben kann.

Adrian suhlt sich ein wenig im Ausschmücken seiner Rache, gegen die alle Folterinstrumente im Henkermuseum  2  in der Nähe nur Kinderspielzeuge sind. Eine andere Beschäftigung gibt es hier für ihn nicht, während er sich an eine weitere Stange klammert und die Bässe aus den Boxen seine Eingeweide malträtieren.

Aber an diesem Abend tauchen weder Michi noch Jasmin auf. Vielleicht hat Sämi sich geirrt, denkt Adrian, was ihn allerdings nicht beruhigt. Er ist ziemlich betrunken, als er in seinen Subaru steigt, den er unauffällig auf einem dieser leicht versteckten Parkplätze zwischen dem Bahnhof und dem Cheesmeyerhaus  3  abgestellt hat, und auf den Hof zurückkehrt. Er setzt sich noch lange in den Stall zu seinen Kühen, die friedlich vor sich hin kauen. Der Vollmond steht hoch über der Sissacher Fluh  4 . Erst als ihm fast die Augen zufallen, betritt Adrian die Wohnung und schlüpft ins Bett zu seiner Frau. Da ist sie ja. Von wegen mit Michi unterwegs. Im Schlaf dreht sie sich von ihm weg. Vielleicht ist es ja nicht so, dass sie ihn nicht mehr liebt, denkt er, nachdem er erfolglos versucht hat, ihr etwas Nettes ins Ohr zu flüstern. Vielleicht stinkt er einfach zu stark nach Alkohol.

Blumenkohl: Aktion. Chicorée: 20 Prozent günstiger. Fenchel: drei für zwei. Eisbergsalat: Greifen Sie zu!

Alles nichts für ihn. Lustlos schiebt Michi den Einkaufswagen durch die engen Gänge des Großverteilers, von dessen Regalen ihn auch nach dem hastigen Durchqueren der Gemüseabteilung unzählige überflüssige Dinge zu belauern scheinen. Michi mag das Einkaufen nicht, aber es gehört zu den Dingen, denen er halt nicht ausweichen kann. Sein Lohn als Linienbusfahrer reicht einfach nicht aus, um sich permanent in der Beiz zu ernähren – das heißt, er würde reichen, wenn die Alimente nicht wären, die über die Hälfte seines Verdiensts ausmachen, noch bevor er einen Rappen davon gesehen hat.

Michi beeilt sich, seinen düsteren Gedanken zu entfliehen. Schnell geht er zur Kasse und legt zwei Brötchen, eine Packung Salami, ein Sixpack Bier und drei jener Fertiggerichte aufs Band, die auch jemand kochen kann, der nicht kochen kann.

Draußen empfängt ihn milde Märzenluft. Heute hat Michi seinen freien Tag und muss glücklicherweise mittags keine Sekundarschüler nach Hause fahren, wo sie in kleinen Dörfern in großen Einfamilienhäusern leben und sich rasch an den gedeckten Familientisch setzen, bevor sie sich zurückchauffieren lassen in den Bezirkshauptort, cool und gelangweilt und ohne jedes Verständnis dafür, dass ihre ausgelatschten Turnschuhe auf dem Sitzpolster von Michis Bus nichts verloren haben.

Michi fährt lieber die Kurse während des Morgens oder mitten im Nachmittag, dann sind die Pendler und die Schüler durch, und es warten nur die alten Frauen mit ihren Schottenmuster-Einkaufswagen an den Haltestellen. Dann wird noch gegrüßt und einen schönen Tag gewünscht, und sonst hat er seine Ruhe.

Ruhe hat er auch, wenn er sich in sein Auto mit Vierradantrieb setzt und rausfährt in die ausgedehnten Hügel, um sich irgendwo auf die Lauer zu legen, weit weg von den ausgetretenen Wanderwegen, auf denen sich die Hündeler tummeln. Er hat so seine Orte, an denen er sich am liebsten aufhält und wartet, auf Rehe oder noch besser Gämsen, deren Bestand seit Jahrzehnten wächst und die bereits den gesamten südlichen Teil des Kantons bevölkern. Meistens beobachtet er sie nur und schießt nicht, obwohl er die Flinte natürlich immer dabei hat. Beim Wildblick nahe der Lauchfluh  5  zum Beispiel kann man manchmal ganze Gruppen von Gämsen beobachten, die sich auch von Wanderern kaum stören lassen.

Momentan denkt Michi aber nicht an die Gämsen. Er überlegt sich auch nicht, was er mit seinem freien Tag anfangen soll, sondern er würde am liebsten gleich zu Jasmin fahren. Aber er fürchtet sich, auf dem Hof deren Mann zu begegnen, und dann hätte er keine Erklärung für sein Aufkreuzen und würde ins Stottern geraten.

Er will zu ihr, nur zu ihr. Schon oft hat er den Entschluss gefasst, sich eine neue Wohnung zu suchen und aus seiner kleinen Dreizimmerwohnung auszuziehen, die er nach der Trennung von Anja vor drei Jahren bezogen hat und die so starr und leblos wirkt. Aber er hat es nie geschafft. Und jetzt, ja jetzt will er eigentlich sowieso am liebsten mit Jasmin zusammen ziehen. Wenn sie denn endlich den Schritt wagt, den Adrian zu verlassen und damit einen Schlussstrich unter ihre längst ausgelaugte, trostlose Ehe zu ziehen. Hofft er. Doch vorhin hat er einen Anruf erhalten. Ein Kamerad hat ihm gesagt, der Adrian habe ihm gestern erzählt, dass er den Stall umbaue, um auf Fleischrassen umzusatteln.

»Der Kerl investiert in die Zukunft«, hat der Kamerad gesagt, und ein besorgter Unterton hat in seiner Stimme mitgeschwungen, »und diese Zukunft gestaltet er gemeinsam mit der Jasmin, wenn du jetzt nicht Nägel mit Köpfen machst. Waidmanns Heil!«

Diese Mitteilung hat den Boden unter Michis Füßen zum Schwanken gebracht. Er muss wissen, was Sache ist, muss wissen, ob er mit Jasmin rechnen kann. Sie hat ihm doch ihre Liebe geschworen, und noch einmal sitzen gelassen werden, das erträgt er nicht. Das hat die Anja schon getan, und nun zapft sie nur von ihm Geld ab, ohne dass er seine beiden kleinen Kinder je wieder zu Gesicht bekommen würde.

Verzweifelt drückt er so lange auf die Wahlwiederholtaste seines Handys, bis Jasmin endlich abnimmt.

»Was ist los, ist etwas passiert?«

»Ich muss mit dir reden. Wo bist du, Liebling?«, fragt er atemlos.

»Bei der Scheune, wieso?«

»Allein?«

»Natürlich. Wie sonst?«

Er sagt, er müsse sie sofort sehen, und sie antwortet, dann solle er doch raufkommen zu ihr. Er kennt den Ort, er weiß, was sie mit der Scheune meint, denn sie waren schon oft gemeinsam dort für ein paar ungestörte Stunden: eine heruntergekommene, mindestens 200 Jahre alte Feldscheune  6  auf einer abgelegenen Bergwiese, erreichbar nur über schmale, unbefestigte Straßen, die ins Nirgendwo des Faltenjuras führen und die jeder Wolkenbruch neu modelliert. Manchmal hat Adrian im Sommer ein paar Rinder dort untergebracht, weil das Land und die Scheune seinem Großonkel gehören, der unten in Waldenburg  7  wohnt und regelmäßig zum Vieh schaut. Aber jetzt ist noch nicht Sommer, und jetzt ist da nichts.

Michi ist den Weg zu der Scheune schon oft gefahren, aber noch nie so schnell wie heute. Er fliegt förmlich über die Autobahnauffahrt auf die A 2. Als er an der Fahne des Zunzger Büchels  8  vorbeiflitzt, die im Westwind flattert, hat er bereits mehr als ein halbes Dutzend Lastwagen überholt. Später rast er die kurvige Straße hinauf über den Chilchzimmersattel  9 , wo zum Glück weniger Verkehr herrscht und auch keine Lastwagen unterwegs sind. Dafür ein Traktor, der ihm auf der engen Fahrbahn entgegenkommt und ihn zum Abbremsen zwingt. Sonst ist er fast der Einzige, der hier unterwegs ist, nur auf der Passhöhe, wo ein Weg zu den alten Schützengräben  10  aus dem Ersten Weltkrieg führt, haben die Ausflügler den kleinen Parkplatz zugeparkt.

Auch auf der rasanten Fahrt den Berg hinunter durch den Weiler Schönthal  11 , durch Langenbruck  12  und Richtung Oberer Hauenstein  13  reduziert Michi die Geschwindigkeit nicht wegen Tempolimits, sondern höchstens, um den Flug über die nächste Kurve hinaus in eine Felswand, ein Bachbett, eine Kuhweide oder eine Hausmauer zu verhindern.

Kurz vor Michis Ziel des Verlangens quäkt Beatrice Egli aus dem Autoradio. Michi mag die ganzen Dinge mit Liebe und Herz zwar nicht mehr hören, aber etwas hindert ihn dennoch daran, Beatrice zum Schweigen zu bringen. Es ist, als hätte sie insgeheim Macht über sein Tun erlangt. Wie die Jasmin. Wyyberpack.

Als er den Wald hinter sich lässt, das Sträßchen sich zwischen einem Bachtobel und einer steilen Weide hochschlängelt und der Fernblick sich auftut vom schroffen Felsmassiv der Gerstelfluh  14  bis rüber zum Schwarzwald in der Ferne, denkt er einen kurzen Moment an die Gämsen. Das Kontingent, das zum Abschuss frei ist, ist äußerst klein, aber irgendwann wird auch er eine schießen. Und dann wird er den Schädel mit den Hörnern präparieren lassen und an die Wand hängen: an die Wand der neuen Wohnung, die er mit der Jasmin beziehen wird, wenn …

Der Zweifel, ob an dem Gerücht was dran ist, das er vom Sämi vernommen hat, nagt an ihm und lässt seinen Fuß schwerer aufs Gaspedal drücken. Als er die Feldscheune erreicht, die auf einer Wiese inmitten von Holunderbüschen und Brombeerranken steht wie in einer anderen Welt, sieht er schon das Auto. Jasmin hat offenbar den Subaru ihres Mannes genommen. Michi steigt aus und wirft die Autotür zu.

»Hallo, Liebling«, ruft er. Er will glücklich klingen, doch seine Stimme verrät, dass es anders ist.

»Jasmin! Schätzli! Wo bist du?«

Michi wundert sich, dass Jasmin nicht bereits vor der Hütte auf ihn gewartet hat, und sowieso wundert er sich, was sie überhaupt hier oben macht, wo doch noch gar keine Rinder auf der Weide sind. Dann hört er Schritte im Innern. Endlich, denkt er.

Doch es ist nicht die Jasmin, die die Tür öffnet. Vor ihm steht der Adrian. Mit zornesrot angelaufenem Kopf. Reflexartig macht Michi einen Schritt zurück.

»Du hinterlistiger Lump, wusst’ ich’s doch!«, schreit Adrian.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, will Michi antworten – das sagen sie doch in den Filmen immer, wenn sie in ungeschickten Situationen ertappt werden –, doch ein Blick auf Adrians Hände lässt ihn augenblicklich umdenken. Denn darin liegt dessen Jagdflinte. Und ihr Lauf ist auf Michis Brust gerichtet.

»Du … du darfst aber nicht mehr jagen, du hast doch das Patent abgeben müssen«, stammelt er. Als ob das jetzt wichtig wäre.

»Saucheib, verdammter! Ich wildere nur Tiere, du aber wilderst bei den Weibern. Du wirst die Finger von meiner Frau lassen!«, geifert Adrian. Um seine Worte zu unterstreichen, hebt er den Lauf und zielt direkt in Michis Gesicht. Mit einem Hechtsprung rettet dieser sich zurück in sein Auto, wo am Beifahrersitz seine Jagdflinte lehnt.

»Das werde ich nicht tun. Niemals!«, schreit er und fragt sich gleichzeitig, woher er diesen Löwenmut hat, sich überhaupt zur Wehr zu setzen.

»Doch, das wirst du!«

Beides sind sie nicht Männer der großen Worte. Sondern der Tat. Synchron entsichern sie ihr Gewehr. Einen Moment lang scheint die Welt stillzustehen, wie bei einem Duell auf einer staubigen Straße im Wilden Westen, über der unheilschwanger die heiße Luft flirrt – aber dort gibt es keine Juraberge und keine Feldscheunen, an deren brüchige Mauerecken gelbe Wanderwegrhomben gepinselt wurden. Dann peitschen, Sekundenbruchteile nacheinander, zwei Schrotsalven durch die ländliche Idylle. Beide Männer sacken zusammen. Jeder wollte der Schnellere sein. Jäger und Gejagter. Wobei beide beides waren.

Irgendwann ist das Grollen eines Flugzeugs, das im Landeanflug auf den Euro Airport dröhnend den Himmel nach Nordwesten durchmisst, das einzige Geräusch weit und breit. Sonst herrscht Stille. Das Röcheln ist weg, das Stöhnen auch. Nur irgendwo schmettert ein Zaunkönig. Adrian hat es noch zwei Meter weit geschafft, robbend, zurück Richtung Scheune bis fast zur Türschwelle, bevor er aufgehört hat, sich zu bewegen. Michi sitzt immer noch im Auto.

Erst als sie ganz sicher ist, dass keiner der zwei mehr am Leben ist, klettert Jasmin hinter einer Holzbeige mit Buchenholz des letzten Winters hervor, tritt vor die Scheune und schaut sich die Bescherung an.

Es musste so kommen.

Dann schleift sie Adrians Körper die paar Meter zur Felswand, die unweit der Scheune im dichten Wald abfällt. Dort unten gibt es einen breiten Spalt im karstigen Gestein, das weiß sie. Sie weiß auch, wo genau sie den Leichnam hinunterrutschen lassen muss, damit er den Schlund nicht verfehlt. Erst letzten Herbst hat Adrian an dieser Stelle wieder ein kurz nach der Geburt verendetes Kalb entsorgt, nicht das erste Mal. Das Schreien der Kuh hallt Jasmin noch heute in den Ohren nach.

Nun kommt Adrian zu dem Kalb dazu. Und zur Sicherheit rutscht auch seine Flinte hinterher, damit es immer noch nach Selbstmord mit anschließendem Absturz aussehen kann, sollte er trotz allem je gefunden werden.

Mit diesem Gewehr hat Adrian genug gewildert, denkt Jasmin, und unzählige Wildschweine, Gämsen und Rehe hat er damit erlegt. Und einen Widersacher. Irgendwie eine Ehre, wie sehr er für sie gekämpft hat. So viel Entschlossenheit hätte sie ihm gar nicht zugetraut.

Zurück vor der Scheune wirft Jasmin einen letzten Blick auf Michi. Zusammengesunken hängt er im Fahrersitz. Kein schöner Anblick; der Schrot hat ganze Arbeit geleistet. Die Flinte liegt in seinen Händen, als wolle er sich damit immer noch verteidigen.

Das kommt davon, wenn zwei Kontrahenten zusammentreffen, die beide gut schießen können.

Jasmin prüft die Situation. Sie hat Glück, auch das wird klappen. Sie startet das Autoradio, nimmt den Gang raus und löst die Handbremse. Während Michis Wagen langsam über die von den Kühen terrassierte Wiese rückwärts rollt, beginnt DJ Ötzi unter Hammerschlägen einen Stern hoch am Himmel zu besingen, der deinen Namen trägt. Keine zehn Sekunden später hat das Auto ein beachtliches Tempo erlangt, es holpert auf die enge Waldstraße zu, durchbricht einen Stacheldrahtzaun und springt dann fast schon elegant über die Straße hinaus ins Leere. Als es ins Bachtobel stürzt, verschwindet es auch aus Jasmins Blickfeld. Nur noch das Krachen berstender Äste und den dumpfen Knall kann sie hören, als das Fahrzeug von einem stattlichen Baumstamm aufgehalten wird.

Als sie die Rauchfahne aus der engen Schlucht hochsteigen sieht, weiß sie, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hat. Sie springt in Adrians Subaru und fährt hinunter ins Tal.

Michis schrecklicher Tod ist Gesprächsthema Nummer eins am nächsten Tag, sowohl in seinem Kollegenkreis als auch bei den Jungs des Feuerwehrverbunds, die in der Beiz immer wieder von dem Gestank und dem fürchterlichen Bild erzählen, das sich ihnen bot, als sie zum Brandort kamen. Natürlich war es für das arme Opfer längst zu spät und das Auto vollständig ausgebrannt. Um Michi zweifelsfrei identifizieren zu können, muss zuerst ein DNA-Vergleich her. Alle sind schockiert und fragen sich, wie dieser schlimme Selbstunfall geschehen konnte.

Von Adrians Verschwinden hingegen merkt vorerst keiner was. Jasmin führt den Hof weiter und schaut zu den Kühen. Niemand stellt Fragen. Der Fahrer des Milchtransporters ist der Einzige, der ihm einen Gruß ausrichten lässt.

Erst nach vier Tagen taucht Jasmin mit verschmierter Wimperntusche auf dem Polizeiposten in Sissach auf und gibt eine Vermisstenanzeige auf. Zurück auf dem Hof ruft sie den Wildhüter an und bestellt ihn zu sich.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?«, fragt er und küsst ihr die Stirn, nachdem sie hinter der Tür in seine Arme gesunken ist. Sie blickt ihm tief in die Augen.

»Alles gut, Sämi«, flüstert sie, »gut hast du das eingefädelt. Nun bin ich ganz und gar nur noch für dich da.«

Freizeittipps:

 1  Die Ruine Bischofstein befindet sich an erhöhter Lage im Wald, und zwar auf der Gemeindegrenze zwischen Sissach und Böckten. Ringmauer, Palas und Torbauten sind noch ziemlich gut erhalten. Eine senkrechte Leiter führt auf die Reste des Turms. Die Burg dürfte ums Jahr 1250 gebaut worden sein. Wie mehrere andere Ruinen in der Region wurde sie vom Basler Erdbeben 1356 zerstört und danach nicht wieder aufgebaut.

 2  Das Henkermuseum ist das erste und einzige seiner Art in der Schweiz. Im ehemaligen Zollhäuschen im Zentrum von Sissach betreibt der Tattookünstler Varesi sein einzigartiges Museum, in dem man von der Prangerhalskette über die Henkersaxt und verschiedene Folterinstrumente bis zur Guillotine fast alles findet, womit früher versucht wurde, das »Recht« durchzusetzen. www.henkermuseum.ch

 3  Das Cheesmeyerhaus an Sissachs Hauptstraße – heute Begegnungszone – war einst das erste Warenhaus der Nordwestschweiz. Heute steht das Gebäude unter Denkmalschutz und beherbergt eine Vielzahl von Büros und Praxisräumen, aber auch ein Buchantiquariat, ein Theater und ein Café Bistro. www.cheesmeyer.ch

 4  Die markante Sissacher Fluh ist einer der schönsten Aussichtspunkte über dem Ergolztal. Auf 700 m ü. M. gelegen, bietet sich von der Fluh ein eindrücklicher Blick Richtung Südwesten. Für Hungrige und Durstige steht ein Ausflugsrestaurant zur Verfügung.
www.sissacherfluh.ch

 5  Die Lauchfluh wiederum bietet einen idealen Blick nach Norden. Auf ihr findet sich das »Panzertürmli«, ein Teil der ehemaligen Fortifikation Hauenstein (siehe  10 ). Wer zwischen Waldenburg und Läufelfingen wandert, sollte unbedingt den landschaftlich sehr attraktiven, aber nicht ganz unanstrengenden Weg über den Rehhag und die Lauchfluh wählen.

 6  Die Feldscheune, in der Jasmin sich aufhält, hat kein konkretes, existierendes Vorbild. Allerdings gibt es im Baselbiet noch etwa 270 reale Feldscheunen – Relikte aus einer Zeit, als die Landwirtschaft reine Handarbeit war und das Land im Prinzip der Dreifelderwirtschaft bestellt wurde. In den Feldscheunen, die in ihrer Art im Kanton Baselland übrigens einzigartig sind in der Schweiz, wurde zum Beispiel Heu gelagert oder Vieh untergebracht. Ein Verein kämpft für die Rettung der oft vom Zerfall bedrohten alten Häuschen, da sie ein wichtiges Merkmal des ländlichen Teils des Baselbiets sind. www.feldscheunen.ch

 7  Waldenburg liegt zuhinterst im gleichnamigen Tal, ist Hauptort des gleichnamigen Bezirks und war früher wichtiger Etappenort auf der Reise über den Oberen Hauenstein. Sogar Napoleon soll hier einmal durchgekommen sein. Die historische Altstadt ist sehr klein und sehr hübsch.

 8  Der Zunzger Büchel ist ein auffälliger, halbkugelförmiger Hügel, der am Südrand von Zunzgen steht und den man auch von der Autobahn A 2 aus gut sehen kann. Verschiedene Sagen umweben den Büchel, Archäologen fanden mittlerweile aber heraus, dass es sich bei ihm nicht etwa um die Grabstätte von Attila, dem Hunnenkönig handelt, sondern um einen ehemaligen Burghügel, auf dem früher eine sogenannte Burgmotte stand. Da diese ausschließlich aus Holz gebaut war, ist von ihr heute außer dem Untergrund, auf dem sie einst stand, nichts mehr zu sehen.

 9  Eine Fahrt über den Chilchzimmersattel (991 m ü. M.), einen Nebenpass im Faltenjura zwischen Eptingen und Langenbruck, bietet ein abwechslungsreiches Erlebnis mit vielen schönen Ausblicken. Wichtig: Die enge, kurvenreiche Straße ist etwas für Genießer, nicht für Raser.

 10  Die Schützengräben beim Spitzenflüehli stammen aus dem Ersten Weltkrieg. Sie sind ein Relikt der Fortifikation Hauenstein, einer einst 48 Kilometer langen Verteidigungslinie rund um den Bahnknotenpunkt Olten, die in Millionen Stunden harter Arbeit von 14.000 Mann und 1.100 Pferden mit Beobachtungsposten, Unterständen, Militärstraßen und vielem mehr errichtet wurde. Der Abschnitt beim Spitzenflüehli ist zu Fuß vom Chilchzimmersattel aus zu erreichen.

 11  Beim Kloster Schönthal vereinigen sich Landschaft, Geschichte und Kunst. Das ehemalige Kloster (gebaut im 12. Jahrhundert, einem Bauernaufstand zum Opfer gefallen 1525) dient heute unter anderem als Ausstellungs- und Veranstaltungsort sowie als Herberge. Der benachbarte Skulpturenpark zeigt über 30 Kunstwerke namhafter Künstler in der naturnahen Landschaft rund ums Kloster. www.schoenthal.ch

 12  Heute ist vom Glanz des ehemaligen Luftkurorts Langenbruck nicht mehr sehr viel übrig geblieben. Feriendestinationen in den Alpen liefen dem höchstgelegenen Dorf im Kanton Baselland (700 m ü. M.) sowohl beim Kuren als auch beim Skisport längst den Rang ab. Dafür besitzt Langenbruck, der Geburtsort des Flugpioniers Oskar Bider, heute die weltweit einzige mit Sonnenenergie betriebene Sommerrodelbahn. www.deinkick.ch

 13  Früher war der Obere Hauenstein einer der wichtigsten Straßenpässe über den Jura. Er wird seit Jahrtausenden genutzt. In einem zehnminütigen Spaziergang kann man von der Passhöhe aus die »Römerstraße« besuchen, ein in den Fels gehauenes Stück Hohlweg. Zwar hat die moderne Archäologie herausgefunden, dass diese »Hohle Gasse« viel jünger ist als angenommen und wohl aus nachmittelalterlicher Zeit stammt, aber eindrücklich ist sie dennoch – und sie zeigt auf, wie mühevoll Mobilität früher war.

 14  Die Gerstelfluh als spektakuläre Felsformation liegt östlich von Waldenburg und ist von Weitem sichtbar, wie sie aus dem Wald sticht. Besonders beliebt ist sie bei Kletterern.