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»Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren,
ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals
etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren,
die aus derselben zu ziehen gewesen wären,
gehandelt haben.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Bei dem vorliegenden Werk wurde Bildmaterial von zahlreichen Soldaten und aus unzähligen Nachlässen zusammengetragen. Dabei war es oft schwierig, festzustellen, wer der Inhaber des Urheberrechts ist. Sollte bei der einen oder anderen Reproduktion unwissentlich das Copyright verletzt worden sein, so bitten Verlag und Autor, dieses Versäumnis zu entschuldigen.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2007

© 2018 Edition Förg, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Inhalt

1. Das Unternehmen »Barbarossa«

2. Das deutsch-sowjetische Kräfteverhältnis

3. Der Aufmarsch

4. Die Grenzschlachten in Galizien

5. Die Pogrome von Lemberg

6. Gefechtslärm in der Ukraine

7. Der Durchbruch durch die »Stalin-Linie«

8. Der Kampf um Winniza

9. Die Umfassungsschlacht bei Uman

10. Der Vormarsch zum Dnjepr

11. Die Kesselschlacht um Kiew

12. Der uferlose Krieg

13. Die Kämpfe in der Nogaischen Steppe

14. Die Eroberung des Donezgebietes

15. Die Kämpfe am Mius

16. Die Winterkrise vor Moskau

17. Gefangen im russischen Winter 1941/42

Nachwort

Anmerkungen

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1.

Das Unternehmen »Barbarossa«

Friedrich I., den die Italiener wegen seines roten Bartes Barbarossa nannten, war der mächtigste Herrscher der Staufer, die aus Schwaben stammten. Als im Jahre 1184 das prunkvolle Mainzer Hoffest gefeiert wurde, stand der Kaiser auf der Höhe seiner Macht und beherrschte ein Reich, das von der Ostsee bis nach Mittelitalien reichte. Doch sechs Jahre später, anno 1190, ertrank Friedrich Barbarossa während des dritten Kreuzzugs in Kleinasien in den Fluten des Saleph.

Nachdem sich die Kunde von seinem Tod verbreitete, war die Trauer dermaßen groß, dass sich sehr bald Sagen und Legenden, Lieder und Mythen um ihn rankten, die über die Jahrhunderte hinweg überliefert wurden und den Kaiser mit dem langen roten Bart unsterblich machten. Einer dieser Sagen zufolge soll Friedrich I. nicht im Vorderen Orient ertrunken sein, sondern im Kyffhäuser in den Thüringer Bergen ruhen und auf bessere Zeiten für sein Reich hoffen. In der Romantik hatten diese Sagen Hochkonjunktur, und 1896 wurde auf dem Kyffhäuser gar ein Nationaldenkmal errichtet, dessen Relief eine Allegorie darstellt: Mit seinem Gefolge und der flachsspinnenden Uta wartet der Kaiser in einer Höhle des Kyffhäuser-Gebirges, von Raben umflogen, auf die Zeit seiner Rückkehr zu Macht und alter Herrlichkeit. Uta ist eine germanische Schicksalsgöttin, der Kaiser ist Wotan und die Raben sind die ständigen Begleiter des alten germanischen Gottes.

Einer anderen Legende nach, die sich ursprünglich auf Karl den Großen bezog, schläft Kaiser Rotbart im Untersberg der Berchtesgadener Alpen der Stunde entgegen, in der das Stauferreich, das wie kein anderes im 19. und 20. Jahrhundert die nationale Fantasie beflügelte, im alten Glanz wiederersteht. Im rund 2000 Meter hohen, wuchtigen Gebirgsstock des Untersberges gibt es unzählige Höhlen, 140 davon sind bekannt, 70 erforscht; jede ist stark verzweigt und bis zu 14 Kilometer lang.

»Für den, der in der Höhle ist, bleibt die Zeit stehen«, heißt es in einer mittelalterlichen Sage über diesen Gebirgsstock. »Wenn in der Höhle zehn Minuten vergehen, verstreichen in der Außenwelt 14 Tage.«

War es nun die örtliche Nähe des Untersberges zum Obersalzberg, auf dem Hitler militärische und politische Entscheidungen fällte, oder war es einfach nur die mythische Gestalt des Stauferkaisers, die den »Führer« und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht dazu bewogen hatte, den »Kreuzzug« gegen das mächtige sowjetrussische Reich als »Unternehmen Barbarossa« zu bezeichnen? Beides mag bei der Namensgebung für den Ostfeldzug eine Rolle gespielt haben.

»Wenn ›Barbarossa‹ steigt«, hatte Adolf Hitler am 3. Februar 1941 verkündet, »hält die Welt den Atem an und verhält sich still.«

Aber nicht nur die Welt war geschockt, in besonderem Maße stockte den deutschen Soldaten, die in diesen Feldzug gegen das gewaltige sowjetische Riesenreich geschickt wurden, der Atem, der ihnen später, im bitterkalten Winter 1941/42, zu Raureif gefrieren sollte.

Wie kam es, so fragten sich die Offiziere, die im Ostfeldzug eingesetzt wurden, dass Hitler gegen alle Vernunft den Befehl gegeben hatte, die UdSSR anzugreifen?

Welches waren die Gründe, die Motive und die auslösenden Faktoren?1

Im Folgenden seien kurz die wichtigsten Gründe genannt, wobei wir uns zuerst der militärpolitischen Lage zuwenden wollen:

Die deutschen Truppen hatten im April 1940 Dänemark und seit dem 10. Mai binnen knapp sechs Wochen Belgien, Luxemburg, Frankreich und die Niederlande besetzt. Seit dem 25. Juni 1940 herrschte an der Westfront Waffenruhe. Doch das »Freie Frankreich« unter General de Gaulle in Großbritannien und General Weygand in Afrika rief zum weiteren Kampf auf, und die Résistance formierte sich.

In Skandinavien waren, nachdem deutsche Truppen zur Sicherung der Erzzufuhr Norwegen besetzt hatten und General Dietl mit dem Gebirgs-Armeekorps Norwegen in Nordfinnland und an der sowjetischen Grenze stand, etwa acht Divisionen gebunden.

Im Süden und Südosten waren im April 1941 in nur wenigen Wochen Jugoslawien und Griechenland von der Deutschen Wehrmacht überrannt und besetzt worden. Diese beiden Feldzüge hatten Hitler zwar zum Herrn des gesamten Balkans gemacht, doch die militärpolitischen Sorgen des Großdeutschen Reiches waren damit keineswegs kleiner geworden. Im Gegenteil: Auch in diesen Ländern formierten sich Widerstandsbewegungen und banden Ressourcen.

Zwar trat Italien im Juni 1940 auf Seiten Deutschlands in den Krieg ein, und auch die mehr oder weniger faschistisch regierten Länder Ungarn, Rumänien und Bulgarien unterstützten die Achsenmächte als Verbündete, doch General Franco gelang es, Spanien weiterhin als »nicht Krieg führend« aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten.

In Nordafrika hatte General Rommel mit dem Deutschen Afrikakorps und italienischen Verbänden zwar die Cyrenaika zurückerobert; nachdem Tobruk eingeschlossen war, stand er aber mit den Briten an der ägyptischen Grenze im harten Kampf. Und die britische Flotte beherrschte auch nach der Eroberung von Kreta durch deutsche Fallschirmjäger und Gebirgstruppen das Mittelmeer.

Die Schlacht im Atlantik war anfänglich für die deutsche Kriegsmarine gut angelaufen, aber es gelang nicht, die Britischen Inseln zu blockieren. Auch die »Luftschlacht um England« ging verloren, so dass an eine »Operation Seelöwe«, d. h. an eine Landung in England, nicht mehr zu denken war. Großbritannien blieb unter seinem unnachgiebigen Premierminister für Hitler auch nach den siegreichen Feldzügen in Polen, Skandinavien, im Westen und auf dem Balkan der größte Gegner.

Später bekannte Winston Churchill: »Bis Ende März war ich weder davon überzeugt, dass Hitler entschlossen war, sich auf einen mörderischen Kampf mit Russland einzulassen, noch wusste ich, wie nahe dieser bevorstand.«2

Churchills kompromisslose Haltung und die Sorge vor einem späteren Zusammengehen der Sowjetunion mit Großbritannien verleiteten Hitler schließlich zum Erstschlag gegen die UdSSR. Das hatte einen militärtaktischen Grund. Nach dem Motto: »Je früher, desto besser!« war der Präventivkriegsgedanke Generationen von deutschen Generalstabsoffizieren als die strategische Lösung für die Mittellage Deutschlands im Herzen Europas eingetrichtert worden.3 In keinem anderen Generalstab der Welt war von jeher die Offensive, also die auf Vernichtung des Gegners zielende Kampfführung, traditionell so gepflegt worden wie im deutschen. Daher entstand bereits im Spätsommer 1940 der Gedanke, Russland anzugreifen, bevor die Westgefahr endgültig gebannt war. Dem entgegen stand der Mythos von der militärischen Unbesiegbarkeit Russlands. »Aber Hitler war nach den überraschenden Siegen der Jahre 1939/40 so selbstbewusst geworden, dass er sich einredete, mit Russland ebenso schnell fertig zu werden wie mit der [seiner Meinung nach] von seinen militärischen Ratgebern überschätzten Westgefahr.«4

Der unverhohlen expansive Drang der Sowjets in Richtung Westen war augenfällig. »Hitler hatte die Gefährlichkeit Russlands und des Bolschewismus klar erkannt, klarer als seine westlichen Gegner«, schrieb der General der Panzertruppen Hermann Balck in seinen Erinnerungen. »Die Folgerungen, die er daraus zog, waren bedingt durch seine Erlebnisse als Infanterist der Westfront des Ersten Weltkrieges. Das Erlebnis des ersten Krieges hatte ihn geformt. Hiervon kam er nicht los, aber auch nicht darüber hinaus. Sein Urteil über Russland war daher das des Infanteristen der Westfront [19]14/18 – die Russen sind dumm, eine stupide Herde, sind schlecht geführt, die Führung korrupt, technisch unterentwickelt. Beim ersten scharfen Stoß bricht das System zusammen. Das russische Volk, das sich nie selbst regiert hat, wird sich nach einer Niederlage willenlos einer deutschen Herrschaft fügen. Ein tönerner Koloss ohne Kopf und Füße. Gegen das, was er las und hörte, war Hitler skeptisch und lehnte es meist ab. Ich sehe in dieser Beurteilung Russlands die entscheidende Ursache zum Präventivkrieg gegen Moskau. Später sagte er: ›Wir sind in Russland auf ein Volk, nicht auf ein System gestoßen‹, und zu Guderian: ›Hätte ich gewusst, dass die Zahlen über die russische Panzerproduktion in Ihrem Buche richtig waren, hätte ich den Krieg nicht begonnen.‹«5

Generaloberst Franz Halder, Chef des Generalstabes des Heeres von 1938 bis 1942, bestätigte, dass sein Oberster Befehlshaber auf Grund von Stalins Drang nach Westen und der Gefahr eines Zweifrontenkrieges durch den befürchteten Kriegseintritt der USA auf Seiten der Alliierten sich zum vermeintlichen Präventivschlag gegen Russland gezwungen sah: »Stalin kokettierte mit England, um England im Kampf zu erhalten und uns zu binden, um Zeit zu haben, das zu nehmen, was er nehmen will und was nicht mehr genommen werden kann, wenn Friede ausbricht«, lesen wir in Halders Kriegstagebuch. »Er wird Interesse haben, dass Deutschland nicht zu stark wird. Aber es liegen keine Anzeichen für russische Aktivität uns gegenüber vor. […]

Russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen treffen. Dem Führer ist gemeldet:

a) Aufmarsch dauert 4–6 Wochen.

b) Russisches Heer schlagen oder wenigstens so weit russischen Boden in Hand nehmen, als nötig ist, um feindliche Luftangriffe gegen Berlin und schlesisches Industriegebiet zu verhindern. Erwünscht, so weit vorzudringen, dass man mit unserer Luftwaffe wichtigste Gebiete Russlands zerschlagen kann.

c) Politisches Ziel: Ukrainisches Reich. Baltischer Staatenbund. Weiß-Russland – Finnland. Baltikum – Pfahl im Fleisch […].«6

Auch Henry Picker hat in seinem viel beachteten Dokumentarwerk »Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier« die wahren Absichten des roten Diktators gegenüber dem Großdeutschen Reich beschrieben: »Stalins politisches Ziel war laut seiner eigenen Erklärung vor dem Politbüro vom 19. August 1939 die Herbeiführung eines Erschöpfungskrieges zwischen Deutschland und dem anglo-französischen Block. Er selbst wollte in diesen Krieg erst nach entsprechendem Ausbluten beider Seiten – sozusagen als ›lachender Dritter‹ – eingreifen. Den Beginn seiner – für die Dauer als unvermeidbar angesehenen – Auseinandersetzung mit NS-Deutschland konzipierte er auf frühestens 1942. Vorher war die Umorganisation der Roten Armee auf modernste, weitgehend genormte, in der Handhabung primitiv einfache und in der Wirkung äußerst brisante Waffen nicht möglich. Man denke an den Einsatz der alten russischen Panzer durch den winterfesten T 34, der alten Feldgeschütze durch die Katjuscha-Viel-Raketen-Geschütze (Stalinorgel) und der alten Militärflugzeuge durch die Allzweck-Kampfflugzeuge […].«7

Beim Feldzug gegen die UdSSR spielten aber vor allem ideologische Gründe die ausschlaggebende Rolle. In Hitlers Denkweise vermischten sich Antikommunismus und Antisemitismus zur zwanghaften Vorstellung von der Notwendigkeit der Vernichtung des »jüdischbolschewistischen Todfeindes«, sprich des Sowjet-Kommunismus. Hinzu kamen weitere rassenideologische Motive: Das deutsche »Herrenvolk« sollte in einem Eroberungs- und rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen angeblich »minderwertige« Ostvölker seinen »Lebensraum« auf Kosten der Besiegten erweitern. Die Sowjetunion sollte »zur Kolonie des nationalsozialistischen Imperiums« degradiert werden, ihren Bewohnern war bestenfalls eine Helotenrolle zugedacht. Außerdem waren die im »Kreuzzug gegen den Bolschewismus« zu erobernden russischen Gebiete mit den für das rohstoffarme Großdeutsche Reich äußerst wertvollen Bodenschätzen dazu bestimmt, die Erweiterung des »germanischen Lebensraumes« vom Großdeutschen zum »Großgermanischen Reich« zu verwirklichen. Denn, so Hitler, der Krieg gegen die UdSSR öffne die »Pforte der Weltherrschaft«.8

Dieses »Großgermanische Reich« – mit Berlin als gigantischer, alle menschlichen Dimensionen und Proportionen sprengender Welthauptstadt »Germania« – »ein Phantasiegebilde, das gewiss auch von Vorstellungen des universalen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in spezifisch nationalsozialistischer Form genährt wurde, als blockadefestes, autarkes Wirtschaftsimperium, sollte dem angelsächsischen Weltwirtschaftssystem und zusammen mit der asiatischen Vormacht Japan auch Amerika überlegen sein«.9

Wie war es nun zu der besorgniserregenden, ja hoch explosiven militärpolitischen Lage zwischen Deutschland und der Sowjetunion gekommen, wo doch beide Staaten erst am 23. August 1939 einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatten?

Seit dem Hochsommer 1940 bestand für Deutschland auf Grund der sowjetischen Expansionspolitik auf dem Balkan – noch während des Westfeldzuges hatte Stalin Rumänien ultimativ zur Herausgabe der Nordbukowina und Bessarabiens genötigt – ständig die Gefahr, von den für die deutsche Kriegswirtschaft unentbehrlichen rumänischen Erdöllieferungen aus Ploesti abgeschnitten zu werden. Ende 1940 wurden überdies die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen entgegen dem deutsch-sowjetischen Freundschaftsund Nichtangriffspakt als Sowjetrepubliken der UdSSR einverleibt. Damit hatte sich der sowjetische Machtbereich wieder ein bedrohliches Stück in Richtung Großdeutsches Reich vorgeschoben. Um weiteren Annexionsgelüsten Stalins einen Riegel vorzuschieben, sandte Hitler seinerseits »Lehrtruppen« nach Rumänien. Mit Finnland, das nach dem harten und verlustreichen sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 an die UdSSR die Karelische Landenge und Teile von Ostkarelien abtreten und den strategisch bedeutsamen Flottenstützpunkt Hangö verpachten musste, schloss das Dritte Reich daher ein Bündnis ab.

Doch damit nicht genug: Zahlreiche diplomatische Verstimmungen, die es bereits seit dem Sommer 1940 zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR gegeben hatte, führten zu einer weiteren dramatischen Verschärfung der Lage, so dass am Ende dieses Prozesses der Entfremdung die Konfrontation des nationalsozialistischen Großdeutschen Reichs mit der kommunistischen Sowjetunion stand. Diese Entwicklung war nicht nur ideologisch, sondern auch geopolitisch bedingt. Denn wie Hitler, so besaß auch Stalin »ein langfristiges Programm. Er wollte […] den Streit der ›imperialistischen Mächte‹ ausnutzen, die eigene strategische Lage systematisch zu verbessern und zuletzt eingreifen.«10

Aufgrund der skizzierten unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion befasste sich die deutsche Führung immer intensiver damit, einen Angriffsplan für einen Feldzug gegen die UdSSR auszuarbeiten. »Die Sphinx Russland, mit ihren nicht klar einzuschätzenden Machtmitteln, ihren nicht durchschaubaren Plänen, ihrer gefährlichen Ideologie bedrückte und beengte Hitler. Er hoffte, das Rätsel in einem schnellen Feldzug lösen und der Welt die Hohlheit des sowjetischen Staates, seiner Lehre und die Brüchigkeit seiner Fassade zeigen zu können.«11

Daher wurden Studien, Pläne und erste Operationsentwürfe unter anderen von den Generalstabsoffizieren Oberst Hans von Greiffenberg, Oberstleutnant Gerhard Feyerabend und Oberstleutnant Bernhard von Loßberg vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW) sowie von den Generalen Erich Marcks und Friedrich Paulus vom Oberkommando des Heeres (OKH) erarbeitet. Diese Operationspläne wurden als Kinzel-, Feyerabend-, Marcks-, Loßberg-, Sodenstern-, Salmuth-, Kluge-, Blumentritt-, Rundstedt-, Hoth-, Halder- und Hitler-Plan bezeichnet. Und wieder hatte Hitler das Gefühl, »unter höchstem Zeitdruck zu stehen. Nach der einen Seite hatte er die absolute Höhe seiner militärischen Macht erreicht und kontrollierte den größten Teil des europäischen Festlands. Andererseits wusste er, dass sein Griff nach der europäischen Hegemonie auch einen Wettlauf mit der Zeit bedeutete.«12

Wie die Generale von Brauchitsch, Halder, Keitel, Jodl und der Admiral Raeder, so rechneten auch die am Unternehmen »Barbarossa« beteiligten Generalstabsoffiziere mit einem weiteren »Blitzkrieg«, dieses Mal im Osten. Dementsprechend knapp war die Zeitplanung bemessen. Allgemein, so können wir dem »Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht« entnehmen, rechnete die deutsche Wehrmachtführung mit einem Feldzug von nur drei bis fünf Monaten.13 Dieser viel zu eng bemessene Zeitraum wirkte sich später – als der russische Winter früh hereinbrach – verhängnisvoll, ja kriegsentscheidend aus.

Nach den Operationsentwürfen der Generalstäbler Kinzel und Feyerabend, die eine nach Osten gerichtete Schlieffenplan-Lösung vortrugen, wurde der junge Generalmajor Marcks von Generaloberst Halder mit einer Studie über den Russlandfeldzug beauftragt. Dieser Operationsentwurf, der mit dem 5. August 1940 datiert ist, stellt ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument dar:

»Zweck des Feldzuges ist«, so heißt es unter anderem in der Marcks-Studie, »die russische Wehrmacht zu schlagen und Russland unfähig zu machen, in absehbarer Zeit als Gegner Deutschlands aufzutreten. Zum Schutz Deutschlands gegen russische Bomber soll Russland bis zur Linie unterer Don – mittlere Wolga – nördlich Dvina besetzt werden. Russlands kriegswirtschaftliche Hauptgebiete liegen in dem Lebensmittel- und Rohstoffgebiet der Ukraine und des Donezbeckens und in den Rüstungszentren um Moskau und Leningrad. Die östlichen Industriegebiete sind noch nicht leistungsfähig genug. […] Die Russen werden uns nicht den Liebesdienst eines Angriffs erweisen. Wir müssen damit rechnen, dass das russische Heer uns gegenüber in der Abwehr bleibt und nur die Luftwaffe und die Marine, namentlich die U-Boote, offensiv wirken. Russlands Kriegsführung wird darin bestehen, dass es sich der Blockade anschließt. Zu diesem Zweck ist ein russischer Einbruch nach Rumänien wahrscheinlich, um uns das Öl zu nehmen. Zum mindesten ist mit starken Luftangriffen auf das rumänische Ölgebiet zu rechnen. Andererseits kann sich der Russe nicht wie 1812 jeder Entscheidung entziehen. Eine moderne Wehrmacht von 100 Divisionen kann ihre Kraftquellen nicht preisgeben. Eine gute Verteidigungsstellung wird es in der Linie Düna bis Polozk – Beresina – Tiefe der Pripjetsümpfe – Zbrutsch – Pruth oder Dnjestr finden. Diese Linie besitzt von früher her Befestigungen. Auch ein Zurückweichen bis zum Dnjepr ist möglich. Vor dieser Linie wird der Russe voraussichtlich nur hinhaltend kämpfen. […]

Führung des Feldzuges: Bei der Größe des Kriegsgebietes und seiner Teilung durch die Pripjetsümpfe kann die Entscheidung gegen das russische Heer nicht in einer einzigen Kampfhandlung herbeigeführt werden. Man wird anfangs gegen die beiden Hauptteile des russischen Heeres getrennt vorgehen müssen, mit dem Ziel, später zu einer einheitlichen Operation jenseits der großen Wälder zu kommen.

Operationsabsicht: Das deutsche Heer schlägt mit seinen Hauptkräften den in Nordrussland stehenden Teil des russischen Heeres und nimmt Moskau. Es geht hierzu mit Schwerpunkt aus der Linie Brest – Insterburg gegen die Linie Rogatschew – Witebsk vor. Südlich der Pripjetsümpfe verhindern schwächere Kräfte durch Angriff aus der Linie Jassy – Ussok – Przemysl – Hrubieszow auf Kiew und den mittleren Dnjepr ein Vorgehen der feindlichen Südgruppe gegen Rumänien und bereiten ein späteres Zusammenwirken mit den Hauptkräften ostwärts des Dnjepr vor.«

Nach dem Operationsentwurf von Generalmajor Marcks lag der Schwerpunkt der Offensive gegen die UdSSR eindeutig in Nordrussland mit dem Hauptziel Moskau. Später wurde der Marcks-Plan jedoch in wesentlichen, vielleicht sogar in kriegsentscheidenden Punkten abgeändert.

Eine weitere Studie, mehr ein Kriegsspiel, stammte von General Paulus, einem der besten deutschen Generalstäbler, der später als Generalfeldmarschall mit der 6. Armee im Kessel von Stalingrad in aussichtsloser Lage kapitulierte. Als »Kriegsspiel« bezeichnete man seinerzeit eine Übung, die im operativen Rahmen mit zwei Parteien in einem Saal stattfand. Auf diesen beiden Studien, vor allem aber auf dem »Operationsentwurf Ost« von Generalmajor Marcks fußend, entstand der endgültige Plan für den Feldzug gegen die UdSSR, dessen Entwurf der Chef des Generalstabes des Heeres am 5. Dezember 1940 Hitler überreichte.

Zur Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion erließ Hitler dann schließlich am 18. Dezember 1940 – also einen Tag nachdem Roosevelts Englandhilfe verkündet worden war – die schicksalsschwere »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa«, die schließlich zum Ausgangspunkt der jahrzehntelang in zwei ideologische Blöcke geteilten Welt werden sollte. Sehen wir uns dieses wichtige militärhistorische Dokument daher zunächst sehr genau an, um zu erfahren, unter welchen Rahmenbedingungen die Armeen der Wehrmacht während des Russlandfeldzuges insbesondere im Südabschnitt der Ostfront eingesetzt wurden:

Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa

Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa).

Das Heer wird hierzu alle verfügbaren Verbände einzusetzen haben mit der Einschränkung, dass die besetzten Gebiete gegen Überraschungen gesichert sein müssen.

Für die Luftwaffe wird es darauf ankommen, für den Ostfeldzug so starke Kräfte zur Unterstützung des Heeres freizumachen, dass mit einem raschen Ablauf der Erdoperationen gerechnet werden kann und die Schädigung des ostdeutschen Raumes durch feindliche Luftangriffe so gering wie möglich bleibt. Diese Schwerpunktbildung im Osten findet ihre Grenze in der Forderung, dass der gesamte von uns beherrschte Kampf- und Rüstungsraum gegen feindliche Luftangriffe hinreichend geschützt bleiben muss und die Angriffshandlungen gegen England, insbesondere seine Zufuhr, nicht zum Erliegen kommen dürfen.

Der Schwerpunkt des Einsatzes der Kriegsmarine bleibt auch während eines Ostfeldzuges eindeutig gegen England gerichtet.

Den Aufmarsch gegen Sowjetrussland werde ich gegebenenfalls acht Wochen vor dem beabsichtigten Operationsbeginn befehlen. Vorbereitungen, die eine längere Anlaufzeit benötigen, sind – soweit noch nicht geschehen – schon jetzt in Angriff zu nehmen und bis zum 15. 5. 41 abzuschließen.

Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, dass die Absicht eines Angriffes nicht erkennbar wird.

I. Allgemeine Absicht:

Die im westlichen Russland stehende Masse des russischen Heeres soll in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden.

In rascher Verfolgung ist dann eine Linie zu erreichen, aus der die russische Luftwaffe reichsdeutsches Gebiet nicht mehr angreifen kann. Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Russland aus der allgemeinen Linie Wolga – Archangelsk. So kann erforderlichenfalls das letzte Russland verbleibende Industriegebiet am Ural durch die Luftwaffe ausgeschaltet werden. […]

II. Voraussichtliche Verbündete und deren Aufgaben:

1.) Auf den Flügeln unserer Operation ist mit der aktiven Teilnahme Rumäniens und Finnlands am Kriege gegen Sowjetrussland zu rechnen.

In welcher Form die Streitkräfte beider Länder bei ihrem Eingreifen deutschem Befehl unterstellt werden, wird das Oberkommando der Wehrmacht zeitgerecht vereinbaren und festlegen.

2.) Rumäniens Aufgabe wird es sein, den Angriff des deutschen Südflügels, wenigstens in seinen Anfängen, mit ausgesuchten Kräften zu unterstützen, den Gegner dort, wo deutsche Kräfte nicht angesetzt sind, zu fesseln und im Übrigen Hilfsdienste im rückwärtigen Gebiet zu leisten.

III. Die Führung der Operationen:

A.) Heer (in Genehmigung der mir vorgetragenen Absichten):

In dem durch die Prip[j]etsümpfe in eine südliche und eine nördliche Hälfte getrennten Operationsraum ist der Schwerpunkt nördlich dieses Gebietes zu bilden. Hier sind 2 Heeresgruppen vorzusehen.

Der südlichen dieser beiden Heeresgruppen – Mitte der Gesamtfront – fällt die Aufgabe zu, mit besonders starken Panzer- und mot. Verbänden aus dem Raum um und nördlich Warschau vorbrechend die feindlichen Kräfte in Weißrussland zu zersprengen. Dadurch muss die Voraussetzung geschaffen werden für das Eindrehen von starken Teilen der schnellen Truppen nach Norden, um im Zusammenwirken mit der aus Ostpreußen in allgemeiner Richtung Leningrad operierenden nördlichen Heeresgruppe die im Baltikum kämpfenden feindlichen Kräfte zu vernichten. Erst nach Sicherstellung dieser vordringlichen Aufgabe, welcher die Besetzung von Leningrad und Kronstadt folgen muss, sind die Angriffsoperationen zur Besitznahme des wichtigen Verkehrsund Rüstungszentrums Moskau fortzuführen.

Nur ein überraschend schnell eintretender Zusammenbruch der russischen Widerstandskraft könnte es rechtfertigen, beide Ziele gleichzeitig anzustreben.

Bei der südlich der Pripjet-Sümpfe angesetzten Heeresgruppe ist der Schwerpunkt im Raum von Lublin in allgemeiner Richtung Kiew zu bilden, um mit starken Pz.Kräften schnell in die tiefe Planke und den Rücken der russischen Kräfte vorzugehen und diese dann im Zuge des Dnjepr aufzurollen.

Sind die Schlachten südlich bzw. nördlich der Pripjet-Sümpfe geschlagen, ist im Rahmen der Verfolgung anzustreben: im Süden die frühzeitige Besitznahme des wehrwirtschaftlich wichtigen Donez-Beckens, im Norden das schnelle Erreichen von Moskau.

Die Einnahme dieser Stadt bedeutet politisch und wirtschaftlich einen entscheidenden Erfolg, darüber hinaus den Ausfall des wichtigen Eisenbahnknotenpunktes. […]14

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Hitlers »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa« war der Auftakt zum verhängnisvollen Russlandfeldzug. In seinem »unerschütterlichen Glauben« an die bis dahin unbezwungene Schlagkraft der Wehrmacht und an die Unfehlbarkeit seiner Entscheidungen befahl der Oberste Befehlshaber am 30. April 1941, dass der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, um 3.15 Uhr früh, zu erfolgen habe. Nach der Auffassung von Joachim Hoffmann war er »mit der Eröffnung der Kriegshandlungen dem von Stalin vorbereiteten Angriffskrieg nur kurzfristig zuvorgekommen«.15

An dem Tag, als die Deutschen die Sowjetunion angriffen, erklärten Italien und Rumänien, das die UdSSR und den Kommunismus besonders fürchtete, Sowjetrussland den Krieg. Die unter deutschem Einfluss stehende Slowakei folgte am 23. Juni 1941, Finnland am 26. Juni und Ungarn am 27. Juni. Am 30. Juni brach die französische Vichy-Regierung die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR ab. Die Türkei blieb ebenso wie Bulgarien formal neutral.

2.

Das deutsch-sowjetische Kräfteverhältnis

Wie groß war nun vor Beginn der größten militärischen Auseinandersetzung der Weltgeschichte das jeweilige Kräftepotenzial? So viel ist gewiss: »Was die Deutschen angeht, so war ihnen das tatsächliche Ausmaß der Stärke der Sowjetunion verborgen geblieben […]. Die deutschen Kommandobehörden zeigten sich nach dem 22. Juni 1941 […] überrascht von dem gegnerischen Potenzial, auf das sie östlich der Grenze stießen.«16

Wenden wir uns zunächst den deutschen Truppen und ihren Verbündeten zu. Das deutsche Heer verfügte über 145 Divisionen (110 Infanterie- und Gebirgs-Divisionen sowie 19 Panzer-, 15 motorisierte und eine Kavallerie-Division) mit zusammen rund drei Millionen Mann; Rumänien über zwölf Infanterie-Divisionen und zehn Brigaden (davon drei Gebirgs-Brigaden); Italien über drei Infanterie-Divisionen; Finnland über elf Infanterie-Divisionen und fünf Gebirgs-Brigaden (Ski); Ungarn über zwei Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade; die Slowakei über zwei Infanterie-Divisionen.

Im Einzelnen vollzog sich der deutsche Aufmarsch im Osten in folgenden Etappen: Bis zum 20. Juli 1940 waren 23 Divisionen vorhanden, am 7. Oktober waren es 30 Divisionen. Am 26. Oktober erfolgte die Neugliederung des Heeres. Am 21. Dezember waren 34 Divisionen einsatzbereit; im Februar/April 1941 in der 1. bis 2. Aufmarschstaffel 103 Divisionen und bis zum 20. Mai 1941 in der 3. Aufmarschstaffel 120 Divisionen. Mitte Mai begann die Verlegung der deutschen Luftstreitkräfte von Westen nach dem Osten. Bis zum 2. Juni 1941 waren an der Ostfront 129 Divisionen aufmarschiert. Vom 3. bis 23. Juni 1941 erfolgte die Zuführung von 12 Panzer- und 12 motorisierten Divisionen. Das entsprach 75 % des deutschen Feldheeres.

Die sowjetischen Truppen umfassten 185 Divisionen (davon 133 Schützen-, 10 Panzer-, 24 Kavallerie-Divisionen sowie 36 Panzer- und motorisierte Brigaden) mit zusammen über fünf Millionen Mann. Waffen und Material waren reichlich vorhanden, jedoch vielfach veraltet. Die Rote Armee befand sich am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges noch in einer Phase der Reorganisation. Sie besaß etwa 24 000 Panzer (davon nur ein Viertel des modernen Typs), zahlreiche gute Artillerie und vor allem viele Soldaten, allein über 12 Millionen ausgebildete Reservisten. »Bis zum 1. Juli 1941 wurden 5,3 Millionen Mann in die Streitkräfte einberufen«, erfahren wir aus sowjetischer Quelle. »Zu den Konzentrierungsräumen wurden, vor allem im Eisenbahntransport, 291 Schützendivisionen, 94 Schützenbrigaden und mehr als 2 Millionen Mann befördert. Gleichzeitig wurde eine große Menge materieller Mittel, hauptsächlich Munition, Treibstoff und Militärtechnik, transportiert.«17

Drei Verteidigungslinien, die von unterschiedlichem militärischen Wert waren, sollten einen deutschen Angriff in Russland aufhalten – die erste entlang der Demarkationslinie, die zweite entlang der alten russischpolnischen Grenze an der sogenannten »Stalin-Linie« und die dritte hinter dem Dnjepr und der Düna.

Doch die Sowjetunion stand nicht allzu lange allein. Bereits am 23. Juni 1941, also nur einen Tag nach dem deutschen Überraschungsangriff auf die UdSSR, hatte die amerikanische Regierung den Sowjets jede mögliche Hilfe zugesagt. So wurde die Sowjetunion nicht zuletzt auf Grund des amerikanischen Leih- und Pachtgesetzes mit gewaltigen Mengen an kriegswichtigem Material beliefert. Unter anderem gewährten die offiziell noch neutralen USA der hart bedrängten UdSSR einen 100-Millionen-Dollar-Kredit sowie 21 866 Flugzeuge, 12 218 Panzer, 5035 Panzerabwehrkanonen, 8200 Flakgeschütze, 135 000 Maschinengewehre und 343 000 Tonnen Sprengladungen; ferner 2 680 000 Tonnen Stahl, 3 000 000 Tonnen Erdölprodukte, 3 786 000 Autoreifen, 461 780 Motorfahrzeuge, 1981 Eisenbahnlokomotiven, 11 155 Eisenbahngüterwagen und 90 Frachtschiffe sowie Nahrungsmittel, Woll- und Baumwolltuche, Schuhe und Leder.18

Nicht umsonst bekannte Winston Churchill nach Kriegsende: »Amerika und England verhinderten es allein, dass Hitler nicht Stalin hinter den Ural zurücktrieb.«19

Wie sah nun der Angriffs- und Aufmarschplan der Deutschen und die Verteidigung der Sowjets aus, vor allem im Südabschnitt der Ostfront? Darüber hinaus werfen wir auch einen Blick auf das Kräfteverhältnis im Mittel- und Nordabschnitt der Ostfront, um die Operationen der Heeresgruppe Süd in Verbindung mit der mittleren Heeresgruppe besser nachvollziehen zu können. Beginnen wir zunächst im Südabschnitt der Ostfront bei den Deutschen und ihren Verbündeten:

Die Heeresgruppe Süd stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt – und zwar mit der 11. Armee des Generalobersten Ritter von Schobert, der 17. Armee des Generals der Infanterie von Stülpnagel, der 6. Armee des Generalfeldmarschalls von Reichenau und der Panzergruppe 1 des Generalobersten von Kleist sowie mit der 2. und 4. rumänischen Armee mit 32 Infanterie-, 5 Panzer- und 4 motorisierten deutschen und 16 rumänischen Divisionen. Die Heeresgruppe Süd, die durch die Luftflotte 4 des Generalobersten Löhr unterstützt wurde, hatte den Auftrag, den Schutz der rechten Heeresflanke mit der 11. Armee und rumänischen Truppen sicherzustellen und den Angriff aus dem Raum Lublin in Richtung Kiew mit der 17. und 6. Armee vorzutragen. Dabei sollten Panzerkeile der Panzergruppe 1 vorauseilen, um den Gegner abzuschneiden, einzukesseln und entlang des Dnjepr aufzurollen.

Die dem Südabschnitt der Ostfront zugewiesenen Armeen hatten ihre Aufmarschräume von Norden nach Süden wie folgt bezogen: Die 6. Armee zwischen Lublin und Przemysl, die 17. Armee zwischen Przemysl und Tomaszow, die Panzergruppe 1 hinter den inneren Flügeln der beiden vorgenannten Armeen, die 11. Armee beiderseits von Jassy in Rumänien. Sie lag zwischen der 3. und 4. rumänischen Armee eingeschoben, während ungarische Brigaden im Karpatenraum sicherten.

Die Heeresgruppe Mitte stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Fedor von Bock – und zwar mit der erst später unterstellten 2. Armee des Generalobersten Freiherr von Weichs, der 4. Armee des Generalfeldmarschalls von Kluge, der 9. Armee des Generalobersten Strauß sowie der Panzergruppe 2 des Generalobersten Guderian und der Panzergruppe 3 des Generalobersten Hoth mit 31 Infanterie-, 1 Kavallerie-, 9 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen. Die Heeresgruppe Mitte, die durch die Luftflotte 2 des Generalfeldmarschalls Kesselring unterstützt wurde, hatte den Auftrag, aus dem Raum Warschau vorzustoßen und den Feind in Weißrussland zu zersprengen, um anschließend gemeinsam mit der Heeresgruppe Nord gegen Leningrad zu operieren.

Die Heeresgruppe Nord stand unter dem Oberbefehl des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter von Leeb – und zwar mit der 16. Armee des Generalobersten Busch und der 18. Armee des Generalobersten von Küchler sowie mit der Panzergruppe 4 des Generalobersten Hoepner mit 20 Infanterie-, 3 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen. Die finnischen Verbände, die an diesen Kämpfen teilnahmen, unterstanden nicht dem deutschen Kommando. Die deutsche Heeresreserve bestand aus 22 Infanterie-, 2 Panzer-, 2 motorisierten und einer Polizei-Division. Die Heeresgruppe Nord, die durch die Luftflotte 1 des Generalobersten Keller unterstützt wurde, hatte den Auftrag, von Ostpreußen aus ins Baltikum vorzustoßen, um dann im Zusammenwirken mit schnellen Truppen der Heeresgruppe Mitte Leningrad und Kronstadt zu nehmen.

Wechseln wir an dieser Stelle kurz die Fronten, um uns über den Aufmarsch der Sowjets zu informieren. Wir beginnen auch hier wieder im Südabschnitt der Ostfront.

Die Heeresfront »Südwest« stand unter dem Oberbefehl von Marschall Semjon Michailowitsch Budjonny mit einer Gruppe von 11 Schützen-, 1 Kavallerie-, 2 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen zwischen Pruth und Dnjestr; mit einer zweiten Gruppe von 27 Schützen-, 17 Kavallerie-, 3 Panzer- und 4 motorisierten Divisionen dahinter gruppiert bis zum Slutsch sowie mit einer dritten Gruppe von 12 Schützen-, 3 Kavallerie-, 1 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen zwischen Slutsch und Bug. Der Auftrag für die sowjetische Heeresfront »Südwest« lautete: Zunächst Abwehr. Alle weiteren Maßnahmen waren dann gemäß den sich ergebenden operativen Lagen zu treffen.

Der deutschen Heeresgruppe Mitte lag die sowjetische Heeresfront »West« unter Marschall Semjon Konstantinowitsch Timoschenko mit 36 Schützen-, 8 Kavallerie-, 2 Panzer- und 9 motorisierten Divisionen gegenüber. Zwei Drittel dieser Verbände lagen im Raum Bialystok, ein Drittel bei Minsk. Der Auftrag für diese Heeresfront lautete: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.

Die Heeresfront »Nordwest«, auch »Baltikum« genannt, stand unter dem Oberbefehl von Marschall Kliment Jefremowitsch Woroschilow. Sie lag mit 7 Schützen-Divisionen ostwärts und südlich von Ostpreußen sowie mit 22 Schützen-, 2 Kavallerie-, 2 Panzer- und 6 motorisierten Divisionen bzw. Brigaden tief gestaffelt im Raum Wilna – Kowno – Pleskau. Ihr Auftrag lautete ebenfalls: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.

Die Rote Armee sollte sich anfangs defensiv verhalten. Das Prinzip der sowjetischen Verteidigung bestand nämlich darin, Raum aufzugeben, um erstens Zeit zu gewinnen und zweitens die deutschen Truppen immer tiefer in die gewaltige russische Landmasse hineinzuziehen. Der weite Raum sollte – wie einst die Franzosen im napoleonischen Russlandfeldzug – die Deutschen aufsaugen, zermürben und schließlich verschlingen.

Darüber hinaus rechneten die Sowjets mit gravierenden Fehlern in der deutschen Strategie. »Der schwerwiegendste war die Unterschätzung der Möglichkeiten der Sowjetunion und der Fähigkeit der Roten Armee, nicht nur den Überfall der feindlichen Kriegsmaschine abzuwehren, sondern sie auch zu zerschlagen«, heißt es in einem Abriss zur Geschichte der UdSSR. »Die nazistischen Führer, die ihre Hoffnungen auf den ›Blitzkrieg‹ setzten, unterschätzten die Möglichkeiten der sowjetischen Wirtschaft und ihre Fähigkeit, in kurzer Zeit alle Arbeitsreserven und materiellen Hilfsquellen für den Kriegsbedarf zu mobilisieren.«20

Endziel des deutschen Angriffsplanes war jedoch, »Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen«21, um den Krieg noch vor Einbruch des russischen Winters und vor dem Wirksamwerden der umfangreichen alliierten Pacht- und Leihgesetz-Lieferungen zu beenden.

Nach Ansicht des Sowjet-Marschalls Gretschko musste die UdSSR »einen Schlag von ungeheurer Wucht auffangen«. Denn Deutschland verfügte zu dieser Zeit über ein militärökonomisches Potenzial, das außer auf die eigene Wirtschaft auch noch auf die Ressourcen der okkupierten Länder Westeuropas zurückgreifen konnte. Die Deutschen verfügten nach Meinung des Sowjet-Marschalls zum Beispiel »vor Beginn der Aggression gegen die UdSSR über 2- bis 2,5-mal mehr Kapazitäten zur Erzeugung von Metall- und Elektroenergie und zur Kohleförderung als die Sowjetunion. Die deutsche Industrie lieferte 1941 mehr als 11 000 Flugzeuge, über 5000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 30 000 Geschütze und viele andere Kampftechnik und Bewaffnung.«22 Und der Sowjet-Marschall Kyrill Semjonowitsch Moskalenko resümierte: »1941 war die faschistische Wehrmacht die stärkste der kapitalistischen Welt. Sie hatte große Erfahrungen in der Führung von Gefechtshandlungen und verfügte über ein gut ausgebildetes Generals- und Offizierskorps. Sie hatte gut organisierte Stäbe und war vollständig mobilisiert.«23

Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, ja stellenweise hautnah miterleben, welcher Seite es am schnellsten gelungen ist, dem Gegner das Gesetz des Handelns zu diktieren, ihn zum Kampf zu stellen und – was das Ziel jeder militärischen Operation ist – ihn zu besiegen.

3.

Der Aufmarsch

Der Aufmarsch des deutschen Ostheeres umfasste von Ostpreußen über die Slowakei und Galizien bis Rumänien fast 3 Millionen Soldaten. Bei Beginn des Russlandfeldzuges war das XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps des Generals der Infanterie Ludwig Kübler mit der 1. Gebirgs-Division des Generalmajors Hubert Lanz, der 68. Infanterie-Division des Generalmajors Georg Braun und der 257. Infanterie-Division des Generalleutnants Karl Sachs sowie später mit der 4. Gebirgs-Division des Generalmajors Karl Eglseer, der 100. leichten Infanterie-Division des Generalmajors Werner Sänne, der 97. leichten Infanterie-Division des Generalmajors Maximilian Fretter-Pico und der schnellen slowakischen Panzer-Brigade unter Oberst Pilfousek im Rahmen der 17. Armee des Generals der Infanterie Carl-Heinrich von Stülpnagel in Richtung Lemberg angesetzt, um dann frühzeitig den Raum um Winniza zu erreichen. Für den Kommandierenden General und seine Gebirgssoldaten bedeutete das, dass sie Lemberg nach dem Polenfeldzug nun ein zweites Mal zu erobern hatten.

Bis Anfang Mai 1941 waren alle Teile des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps und der 1. Gebirgs-Division nach einem Bahntransport über Wien, Preßburg und Kaschau in der nördlichen Slowakei im Raum von Presov – Krynica – Neu Sandez versammelt. Meist wurde nachts gefahren und marschiert, um den deutschen Aufmarsch so lange wie möglich zu verschleiern. Zwischen den Waldkarpaten und der Hohen Tatra – also unweit der historischen Schlachtfelder aus dem Ersten Weltkrieg – warteten die Infanteristen und Gebirgsjäger dann auf die weiteren Befehle.

Zunächst dankte Generaloberst Halder dem Kommandierenden General und seinen Truppen am 24. Mai 1941 »zum Abschluss für die bisher geleistete mustergültige Vorbereitung« und gab der Erwartung Ausdruck, »dass der deutsche General-Stab auch im kommenden Feldzug wieder Vorzügliches leisten werde.«24

Die Regimenter, Abteilungen und Bataillone der 4. Gebirgs-Division, die vorläufig noch für ein paar Tage dem XXXXIV. Armeekorps unterstellt war, waren nach mühevollen Tag- und Nachtmärschen vom Ausladebahnhof Humenné über den Dukla-Pass in die Gegend von Rzeszow verlegt worden. Das geschah teilweise in vier Fuß- und drei motorisierten Marschkolonnen, die der 100. leichten Infanterie-Division in Richtung deutsch-sowjetischer Demarkationslinie folgten.

Ende Mai 1941, als die ersten Vorbefehle für das »Unternehmen Barbarossa« bei der Truppe eingingen, schwirrte die Luft von Gerüchten. Es war eine Zeit, in der das Wort »Latrinenparole« groß geschrieben wurde.

»Nur Grenzsicherung im Osten«, meinten die unverbesserlichen Optimisten und spielten weiter Karten, als ginge sie der ganze unheimliche Aufmarsch, der sich da vor ihren Augen vollzog, nichts an.

»Krieg gegen Stalin«, raunten die anderen, die Pessimisten, hinter vorgehaltener Hand.

»Warum ausgerechnet gegen Russland?«, warfen die politisch Interessierten ein. »Deutschland und die UdSSR haben doch erst im August 1939 einen Nichtangriffspakt abgeschlossen. Wer wird denn da wort- und vertragsbrüchig werden?«

»Das Ganze ist als Ablenkungsmanöver für eine bevorstehende Landung auf den Britischen Inseln gedacht«, dozierte ein Oberjäger, der seinerzeit bei den Vorbereitungen für das dann doch wieder abgebrochene Unternehmen »Seelöwe«, der vorübergehend geplanten Invasion auf den Britischen Inseln, dabei gewesen war.

»Vielleicht geht es nach Indien«, meldete sich plötzlich jemand zu Wort.

»Wieso nach Indien?«

»Um das britische Weltreich von Russland aus im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent zu schlagen«, kam die nicht ganz abwegige Antwort.

Doch allzu lange brauchten die Landser sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, denn die militärischen Aktivitäten steigerten sich so sehr, dass auch der Letzte einsah, dass ein neuer Waffengang bevorstand. Karten und Merkblätter, die sich ausschließlich mit Russland befassten, wurden nun an die Truppe ausgegeben. Als es Anfang Juni in Richtung Osten ging, löste sich die ungeheure Anspannung. Die Skeptiker, die an kein schnelles Ende des Krieges glauben mochten, sollten einmal mehr Recht behalten.

Der Stab des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps hatte sich in Lancut im märchenhaft anmutenden und gut ausgestatteten Barockschloss des Grafen Potocki einquartiert. Der freundliche und hilfsbereite Adelige und seine Mutter, eine geborene Radziwill, die beide fließend Deutsch sprachen, wohnten in einem Seitenflügel und fuhren täglich mit zwei Lakaien aus. Der Dienstbetrieb verlief fast ungestört und friedlich. Er wurde aber zunehmend hektischer, als sich der ungefähre Angriffsbeginn erahnen ließ. In dieser Zeit besuchte General Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes seinen jüngeren Bruder Ferdinand. Dieser war Generalstabschef des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps. Nun kamen für das Korps und damit auch für die unterstellten Divisionen die entscheidenden Anweisungen für den 22. Juni 1941. Es war der Tag des Angriffs auf die Sowjetunion. Die Spannung wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher.

»Das wird ein Unternehmen, das weder Deutschland noch die Welt je erlebt haben«, triumphierte der Chef des Wehrmachtführungsstabes.

»Das wird unser Verhängnis«, antwortete der Kommandierende General überaus pessimistisch.25

In dieselbe Kerbe schlug der Architekt der deutschen Gebirgstruppe später, als ein hoher SS-Mann davon sprach, dass die deutschen Operationen aufgrund des schnellen Vorstoßes der Panzer so weit über den Ural hinausgehen würden, dass dieser bald ein Teil des Großdeutschen Reiches sei. Darauf gab Kübler zu bedenken, dass die Panzerwaffe ohne begleitende Infanterie nicht viel wert sei. Weil die Infanterie aber bedeutend langsamer sei als die motorisierten Teile einer Armee, sei der schnelle Vormarsch zum Ural fraglich.26

Am 12. Juni 1941 traf beim Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 der Befehl für den Vormarsch aus dem Raum um Lancut in den Raum südostwärts von Tarnograd ein. Am folgenden Tag bereitete sich das Regiment für den Abmarsch vor. Wiederum einen Tag später fuhr das Quartiermacher-Vorkommando voraus. Durch Regenfälle war der Zustand der Straßen sehr schlecht. Alle Ortschaften waren mit Truppenteilen belegt.27

Der Kommandeur der II./Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 nahm daraufhin an einer von General Lanz geleiteten Erkundung an der sowjetischen Grenze in der Gegend südostwärts von Dzikow teil. »Wir beobachten, dass auf der feindlichen Seite besonders Frauen und Kinder mit Peitschen zum Bauen von Schützengräben gezwungen werden«, heißt es in der Batteriegeschichte.28

In aller Frühe des 15. Juni traf die II. Gebirgs-Artillerie-Abteilung über Zolynia und Lecajsk in Podklasztor ein. Erwähnenswert ist nach einer Eintragung im Kriegstagebuch der Gebirgsartilleristen die wundervolle, von Mönchen im Jahre 1680 gebaute Orgel in der schönen Klosterkirche von Podklasztor. Von dort erfolgte um 23 Uhr der Weitermarsch der Gebirgsartillerie über die Straße Miastro – Kurylowka – Kulno nach Lzyskow. Tags darauf erreichte die Stabs-Batterie und die 5. Batterie den Westteil von Lzyskow; die 4. und 5. Batterie den Wald westlich von Lzyskow. Noch am selben Tage marschierten die Gebirgsartilleristen der 1. Gebirgs-Division über Tarnograd nach Konsoy Ulica, das nach zwanzig Kilometern erreicht wurde.

Am Abend des 17. Juni zog die Gebirgsartillerie über Dobrupol ostwärts. Die Vormarschstraße bestand aus schlechten Wegen und Knüppeldämmen sowie aus fußtiefem Schlamm. Tags darauf kamen die Stabs-Batterie und die 4. Batterie in Dzikow-West an, die 5. und 6. Batterie in Cewkow-Ost. Um 8.30 Uhr erfolgte die Einweisung der Batterie-Chefs und der Batterie-Trupps im Gelände und in den Bereitstellungsräumen der II. Gebirgs-Artillerie-Abteilung durch den Kommandeur.

Am 19. Juni blieb die II./Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 in den erreichten Quartieren. Alle Vorbereitungen für ein schnelles und reibungsloses In-Stellung-Gehen wurden getroffen. Vorsichtig und unauffällig erkundete der Abteilungskommandeur die auf einer freien Anhöhe dicht vor dem sowjetischen Grenzraum liegenden B-Stellen. Aus Tarnungsgründen musste diese Erkundung in den Uniformen der Grenzbeamten durchgeführt werden. In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni wurden die Geschütze, die Munition und anderes Kriegsgerät in den Bereitstellungsraum vorgezogen.