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Reinhardt Badegruber

Wiener Intrigen,
Skandale und
Geheimnisse

Inhalt

Vorwort

Schottentor: Kopflose Unterhaltung

Palais Ephrussi: Nazis ohne Bernsteinaugen

Herrengasse: Gebetet, geschossen, Blut vergossen

Niederösterreichisches Landhaus: Scheidungskampf der Bundesländer

Freyung: Seismografen ohne Strom

Austriabrunnen: Goethes Enkelin und der Zigarettenschmuggler

Platz Am Hof: Schwarzhändler kaufen Grünzeug

Latour und Radetzky: Revolution und Lynchjustiz

Irisgasse: Verbotene Spiele

Café Central: Schnorrer treffen Literaten

Hotel Klomser: Ein Schuss, den keiner hörte

Café Herrenhof: Kokain zum Dessert

Schwarzwaldschule: Begabte Mädchen auf dem Dach

Wiens erstes Hochhaus: Ehestandsfeindliche Freiheit

Michaelerplatz: Gefährliche Touristenfalle

Altes Burgtheater: Laster wie in Hollywood

Café Griensteidl: Watschen für den Größenwahn

Looshaus: Was war los, Herr Loos?

Hofapotheke: Lust und Leiden

Joseph II.: Vom Kaiser, der fluchte

Brennpunkt Josefsplatz: Ballsaal in Flammen

Prunksaal der Nationalbibliothek: Kulisse der Macht

Palais Pallavicini: Wo der Mörder wohnte

Lobkowitzplatz: Ein Ort für Schweinereien

Jan Sobieski in der Augustinerkirche: Ein Reporter mit Krone

Canovas Grabdenkmal: Die Prinzessin und der Tod

Hrdlicka-Denkmal: Stein des Anstoßes

Denkmäler im Burggarten

Franz Joseph: Majestät ist denkmallos

Mozart: Ein Dandy, den Japaner lieben

Franz I. Stephan: Ein Reiter, der kein Cowboy war

Maria Theresia: Ein Schwergewicht sitzt auf dem Thron

Erzherzog Carl und Prinz Eugen: Pferde, die nicht stürzen dürfen

Ballhausplatz: Regenten, Mörder, Diplomaten

Parlament: Akten, die nicht brennen wollen

Denkmal der Republik: Verhüllte Gesichter

Karl-Renner-Denkmal: Kanzler im Vogelkäfig

Die Ringstraße

Franzensring: Die Angst des Kaisers vor dem Bürger

Ring des 12. November: Paradestrecke mit Ablaufdatum

Ignaz-Seipel-Ring: Prälat ohne Mitleid

Josef-Bürckel-Ring: Hitlers Klau- und Gauleiter

Karl-Renner-Ring: Zigarren für den Anschluss-Freund

Karl-Lueger-Ring: Der schöne Karl mag keine Juden

Volksgarten und Theseustempel: Der delogierte Held

Kaiserin Elisabeth-Denkmal: Majestät trägt keinen Unterrock

Burgtheater: Herr Peymann lässt sich nicht beschimpfen

Rathausplatz: Kaiser Max im Russen-Blech

Löwelstraße 20: Kapitale Jagdbeute erlegt, Bankrott erzielt

Palais Lieben-Auspitz: Wo Alma Gustav traf

Liebenbergdenkmal: Oben ohne für den Sieg

Pasqualati-Haus: „Ludwig van“ als Mauerbrecher

OPEC-Zentrale: Der „Schakal“ im Blutrausch

Anmerkungen

Register

Karte

Vorwort

Der Herr Bürgermeister hat auch nicht gewusst, dass er einen Russen auf dem Dach hat. Warum, wie, wieso? Das verrate ich Ihnen an dieser Stelle nicht, weil Sie dieses Buch, das Geheimnisse lüftet und Rätsel löst, lesen sollen. Denn: Wer kann schon beantworten, warum die Wienerinnen und Wiener ihrem Lieblingskaiser so lange ein Denkmal vorenthalten haben? Wer weiß schon, weshalb so viele Denkmalenthüllungen von Kunst- und Bauskandalen begleitet werden? Und warum wird der Stadthistoriker ständig mit dem Sexualleben der Habsburger konfrontiert? Oder kann einer erklären, warum junge Frauen nicht im Hochhaus wohnen sollten? Wieso verheimlicht man die schmutzigen Phantasien der Kaffeehausliteraten? Wo wurden Schöngeister handgreiflich? Weshalb wurde die Ringstraße mehrmals umgetauft? Welche Wiener Bürgermeister wurden umgebracht? An welchen Häusern fehlt die Hinweistafel: „Hier hat sich Oberst Redl erschossen“ oder: „Hier wurde ein Kriegsminister gelyncht“?

Den Wienerinnen und Wienern ist klar, in ihrer Stadt werden nicht nur Tote, sondern auch Vergangenheiten begraben. Diese Vergangenheit ist entweder ganz „schön schrecklich“ oder „schrecklich schön“. Wie dem auch sei, Schönheit bereitet Freude: bisweilen Schadenfreude. Viele meinen, man solle an der Vergangenheit nicht kratzen. Aber dann kratzt man doch, weil die Vergangenheit juckt.

Diese Juckreizbesänftigung macht süchtig. Es ist wie beim Wimmerlzupfen. Man sollte es nicht tun, aber man tut es trotzdem. Also nehmen Sie das vorliegende Buch und genießen Sie die Nacktheit dieser Stadt. Sie ist ein Objekt der Begierde: Man ahnt, dass unter der Hülle etwas verboten Attraktives steckt, aber man schaut g’schamig weg. Allerdings gelingt dieses Wegschauen nicht immer, wie der Leibarzt von Kaiserin Elisabeth schmerzhaft erfahren sollte und der Leser dieses Buches weiß: Majestät trug bisweilen keinen Unterrock. Dem Enthüllungsjournalisten offenbaren sich unerwartete Einsichten, wenn er in den Akten der Hofapotheke blättert oder dem Privatleben „sittenstrenger“ Kaiser nachspürt.

Was unter der Oberfläche zum Vorschein kommt, mag vielleicht entrüsten. Aber: „entrüsten“ ist ein befreiendes Wort, weil so eine Rüstung ganz schön viel wiegt. Also legt man sie ab. Das entlastet. Ohne dieses historische Gepäck können wir gemütlich durch die Innenstadt schlendern und in diesem Buch blättern. Sollte Sie jemand fragen, warum Sie so gut Bescheid wissen über das, „was wir täglich sehen, aber nicht bemerken“, nennen Sie getrost den Titel dieses Buches. Das macht Sie dem Gegenüber sympathisch, weil Sie entwaffnend ehrlich sind. Dem Autor werden Sie noch sympathischer, weil Sie für ihn Reklame machen.

Das ist nichts Neues. Um die entwaffnende Wirkung der Reklame wusste schon der Kaiser Bescheid. Die Botschaft seiner Helden auf Reiterdenkmälern sollte umwerfend sein. Sie selbst durften jedoch nicht vom Sockel stürzen, wie das Schicksal des Prinzen Eugen beweist.

Weil in Wien die Zeit bisweilen stehen bleibt, passen wir den Rhythmus unserer Streifzüge dem Puls der Stadt an. Wir halten daher immer wieder inne und lassen die Blicke schweifen. Als informierte Leserinnen und Leser wissen wir, was wir suchen. Doch plötzlich beschleunigen wir den Schritt und machen uns auf zur krummen Tour. Wir beschreiten den Zick-Zack-Kurs. Das vorliegende Buch lässt uns schon nicht in die Irre gehen. Lassen Sie uns ungestraft in die Wiener Vergangenheit stolpern. Aber Achtung: Auch unsere Beine fordern ihr Anrecht auf Erholung. Ich glaube, es ist Zeit für eine Melange.1 Also lassen wir uns in einem Schanigarten2 nieder. Oder sollen wir in ein Beisl3 einkehren? Machen wir es wie die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts und führen uns bei einem Seidl4 „Intrigen, Skandale und Geheimnisse“ zu Gemüte.

Wenn wir uns dann wieder auf den Weg machen und die Herrengasse entlang schlendern, liegen uns zweitausend Jahre zu Füßen. Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen: Wienerinnen und Wiener sind es gewohnt, ständig auf ihrer Geschichte herum zu trampeln. Stoßen Sie sich auch nicht daran, wenn „Einheimische“ hoch erhobenen Hauptes durch die Innenstadt stolzieren. Das ist keineswegs ein Zeichen selbstbewusster Arroganz, sondern ein Ausdruck des Interesses, denn: Oben, unter dem Gesims, lauern die Doppeladler, rekeln sich vollbusige Karyatiden und lassen Atlanten ihre Muskeln spielen. Und Insider wissen: Auf dem Dach des Café Herrenhof wurde geturnt. Außerdem suchen manche Blicke schon seit Jahrzehnten nach dem berühmten Hochhaus, das keiner sehen kann.

Warum Madame Tussauds die Straßen der Innenstadt meidet, ist klar. Ihre Statuen sind aus Wachs und könnten dahinschmelzen, während unsere Denkmalgrößen aus Metall sind. Darum heißen bei uns Prinzen auch Erz-Herzöge. Aber auch Kaiser sind eherne Reiter. So wie Joseph II. Der hat sich auf dem nach ihm benannten Platz einen besonders aussichtsreichen Standort ausgesucht. Hier ist immer was los. Da brennt neben ihm doch glatt der Ballsaal ein paar Mal ab. Hinter ihm erhebt sich eine prächtige Kuppel, die schon zu seinen Lebzeiten Gegenstand eines Bauskandals war. Und vor ihm liegt der Unterschlupf eines berühmten Mörders. Wie der Gangster heißt, verrate ich an dieser Stelle nicht. Das müssen Sie schon selbst nachlesen.

Wenn ich mit Ortsunkundigen, aber auch mit Wienern durch den Ersten Bezirk bummle, muss ich häufig entsetzt gestehen: Ich fühle ich mich ein bisschen wie ein Fremder in der eigenen Stadt. Weil es so vieles gibt, was ich noch nicht kenne, was ich bis dahin nicht bemerkt habe. Andererseits ist das gut so, denn es gibt täglich Exotisches zu entdecken. Auf diese Weise befriedige ich meine touristische Neugier und erspare mir teure Flugtickets ins Ausland. Weil sich das Alleinsein mit dem Wiener Gemüt nicht verträgt, lade ich Sie ein: Kommen Sie mit! Unternehmen wir gemeinsam eine vergnüglich-makabre Fernreise bei uns daheim.

Schottentor:

Kopflose Unterhaltung

Das Schottentor war bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein eine eher finstere Gegend. Heute sieht man vom offenen, lichten Platz auf die verspielt-filigrane neogotische Votivkirche. Früher lag das Tor aber im tiefen Schatten der Mölker Bastei, eines gigantischen Verteidigungsspitzes, der sich mit einer brutalen Wucht bis in das Gelände der heutigen Universität hineinbohrte. Vor den Mauern der Wehranlage wurde gehängt und gefoltert.

Wenn man stadtauswärts schauen wollte, verstellte, rechts neben dem Stadttor, vor dem heutigen Uniqa-Bankhaus (ehemalige CA-Zentrale), die riesige Schottenschanze die Fernsicht. Das war ein der Stadtmauer vorgelagertes Bollwerk, das über die heutige Ringstraße hinausragte. In Rufnähe, beim heutigen Schlickplatz, schrien sich gefolterte Menschen ihre Kehlen wund, denn hier fanden noch im 18. Jahrhundert Hinrichtungen statt. Männer wurden zumeist gerädert, d. h. man zertrümmerte ihnen mit dem Richtrad die Glieder. Hernach wurden die Körper auf das Rad geflochten und auf eine Stange emporgehievt, damit sie in lichter Höhe von den Vögeln des Himmels zerkratzt, zerhackt und gefressen würden. Den gefiederten Aasverwertern zur Ehre wurde der Platz auch „beim Rabenstein“ genannt.5 Manche Männer wurden in einem blutrünstigen Schauspiel brutal gevierteilt. Dabei spannte man an die Extremitäten der Delinquenten Rösser, die mit Peitschenhieben auseinandergetrieben wurden. Gehängte fanden im Vergleich dazu einen milden Tod. Auch Frauen wurden vor dem Schottentor hingerichtet, wobei ihnen das Privileg eines vergleichsweise weniger grausamen Ablebens zuteilwurde. Man hat sie fein säuberlich geköpft, so etwa, am 27. Januar 1747, die 40-jährige Anna Maria M. Zuvor hatte man die Gewohnheitsdiebin mit Rutenstreichen gezüchtigt. Am 23. November 1735 fiel das Haupt des 36-jährige Kindermädchens Anna Clara E. in den Korb. Der zweifachen Mutter war nachgewiesen worden, aus dem Kanzleischrank ihrer Herrschaft immer wieder Münzen entwendet zu haben. Das Gericht sprach von einer langfristig geplanten Tat, denn die perfide Diebin habe sich abgemüht, einen Nachschlüssel kunstfertig zurechtzuschleifen. Die Körper der Armen und mittellosen Sünder wurden hernach von einer „Totenbruderschaft“ bestattet und zum Teil dem Anatomischen Institut übergeben.

Die Obrigkeit hatte den Platz vor dem Schottentor deswegen gewählt, weil man für das Hinrichtungsspektakel, das den Charakter eines Volksfestes hatte, ein entsprechend großes Terrain anbieten wollte. Zeitweilig war die Gegend die begehrteste Todeszone Wiens. Einer der bekanntesten Events findet am 8. Januar 1795 statt:

Die Trommel wird gerührt, Franz Hebenstreit von Streitenfeld wird „wegen Hoch- und Landesverrat durch den Strang hingerichtet.“ Die Zuschauer johlen. Über 90.000 Wienerinnen und Wiener sind gekommen. Sie wollen den Umstürzler zappeln sehen. Das morbide Spektakel erfreut sich unge heuerlicher Popularität, man bedenke, dass im modernen Ernst-Happel-Stadion bloß 50.000 Fans unterkommen. Hier, im Graben vor dem Schottentor, soll eine Stimme der republikanischen Freiheit sein Leben aushauchen. Hatte doch der „Revoluzzer“ Hebenstreit wenige Monate zuvor ein lateinisches Gedicht, „Homo Hominibus“ („Mensch unter Menschen“), verfasst. Dort wird in 500 Versen das soziale Unrecht angeprangert und behauptet, dass sich die Kraft jedweden Gesetzes stets gegen die Armen aus dem Volk richte („pro misero lex nulla viget“). Hebenstreit ruft: „Ein König kann ohne Volk nicht sein, ein Volk aber ohne König.“ Kaiser Franz hört’s und fürchtet um sein Leben. Einstweilen war Hebenstreit die Rolle als Rebell keineswegs in die Wiege gelegt worden. Der Sohn eines Prager Universitätsprofessors studiert zunächst schön brav Philosophie und Rechtswissenschaften und strebt eine biedere militärische Laufbahn an. Die adeligen Ulanenoffiziere lassen den bürgerlichen Eindringling indessen schmerzhaft spüren, dass er machen könne, was er wolle, die besseren Kreise würden ihn niemals als einen der ihren akzeptieren. 1773 desertiert Hebenstreit. Von der Idee der Boston Tea Party angespornt, will er sich nach Amerika durchschlagen, wird jedoch von den Preußen abgefangen und in deren Armee gepresst. Nach fünfjährigem Kadavergehorsam kann er fliehen, wird Freimaurer und bringt es in Wien bis zum Platzoberleutnant. Aber Wien hat sich inzwischen geändert, das Bürgertum glüht für die Französische Revolution, und Hebenstreit schließt sich dem jakobinischen Kreis eines gewissen Andreas Riedel an. Riedel wird von seinen Freunden „Kommunist“ genannt, eine eigenartige Bezeichnung, die zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht im allgemeinen Sprachgebrauch stand. Was aber noch mehr erstaunt: Riedel darf sich zu den engen „Beratern“ des Kurzzeitkaisers Leopold II. zählen, weshalb er und seine Revoluzzer für kurze Zeit allergnädigsten Schutz genießen. Ja mehr noch: Der Kaiser outet sich selbst als Sympathisant einer konstitutionellen Monarchie. Aber dann erfolgt plötzlich der Schock. Franz I. erklimmt 1792 den Thron. Ihn quälen die Bilder der malträtierten Marie Antoinette. Ihm sitzt die Angst vor einem Pariser Aufstand in den Knochen. Er will Rache und den französischen Ungeist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Mit einem Schlag befindet sich Hebenstreit in akuter Lebensgefahr, zumal ihm die Autorenschaft des sogenannten „Eipeldauerlieds“ zugeschrieben wird. In diesem „Volkslied“ heißt es:

„’S is ja das Volk kein Arschpapier/ Und darf auf sich wohl denken /Wer halt nicht lernen will Manier/den Lümmel muss man henken … So manches gutes Mutterkind/ Hat elend sterben müssen,/ Weil enker Franz, von Hoffart blind,/ Will, dass d’ Franzosen büßen.“6

Kaiser Franz fühlt sich persönlich angesprochen und direkt bedroht. Er sucht fieberhaft nach handfestem Belastungsmaterial. Joseph Vincenz Degen, ein Buchdrucker und Spitzel der Krone, zaubert dieses Material herbei. Er wird dafür später mit der Leitung der k. k. Hof- und Staatsdruckerei belohnt. Dem Polizeichef von Wien, Johann Anton Graf Pergen und seinem Ermittler, Franz Josef Graf Saurau, kommt das zugespielte Material höchst gelegen. Sie blasen die dürftigen „Beweise“ zur Grundlage eines gigantischen Technologiespionageskandals auf. Ihm zufolge hätte Hebenstreit einen seitlich mit Sensen säbelnden Streitwagen erfunden und die Konstruktionspläne des Kampfgefährts nach Paris schmuggeln lassen. Diese Wunderwaffe, so lautet das Propagandagerücht, hätte das französische Revolutionsheer und Aufständische aus Polen in die Lage versetzt, gegen die österreichische und russische Kavallerie siegreich vorzugehen. Jetzt setzt in Wien eine Verhaftungswelle ein. Schauprozesse werden anberaumt. Vernaderer und Denunzianten haben Hochkonjunktur. Hebenstreit wird des Hochverrats angeklagt und zum Tod durch den Strang verurteilt, und das zu einer Zeit, in der die Todesstrafe bereits abgeschafft worden war. Aber diese zivile Nachsicht gelte für einen Armeeangehörigen und Platzoberleutnant nicht, denn ein solcher obliege der Militärgerichtsbarkeit. Heute ist nach dem Jakobiner ein Kaffeehaus in der Nähe des Hinrichtungsortes benannt. Hebenstreits mumifizierter Schädel wird bis zum Jahr 2012 im Wiener Kriminalmuseum ausgestellt und erst nach Protesten aus der Vitrine entfernt.

Palais Ephrussi:

Nazis ohne Bernsteinaugen

In der Nacht des Einmarsches der Hitlertruppen stürmen jugendliche Rowdys mit Hakenkreuzschleifen das Palais Ephrussi. Sie beginnen mit einer Zertrümmerungsparty, wirbeln die Damenwäsche durch die Zimmer, lassen silberne Kerzenleuchter und Zigarettenetuis mitgehen, reißen der Hausfrau die Perlenkette vom Hals, ziehen ihr den Ring vom Finger und schmeißen einen wertvollen Sekretär mit kostbaren Intarsien in den Hof. Der Krach macht Spaß. Die Halbstarken drohen wiederzukommen. Sie kommen jedoch nicht wieder. Ihre „Nachfolger“ sind viel höflicher. Es sind sechs Gestapo-Beamte mit anfangs sogar tadellosen Manieren.

„Das Palais hat korinthische Pilaster und dorische Säulen, Urnen und Architrave, an den Ecken vier kleine Türme …“7 So beschreibt Edmund de Waal die Wiener Residenz seiner Vorfahren, das Palais Ephrussi. Der Palazzo erhebt sich schräg gegenüber der Universität an der Ecke Ringstraße/Schottengasse mit der ursprünglichen Adresse „Franzensring 24“. Baron Ignaz von Ephrussi, der zweitreichste Bankier Wiens, ließ 1873 das Gebäude vom Stararchitekten Theophil Hansen erbauen. Im Inneren blitzte Gold. Und natürlich gab es „überall Marmor“. Am 27. April 1938 stattet die Gestapo dem Palais einen Besuch ab. Die „Beamten“ nehmen eine Hausdurchsuchung vor, unter dem Vorwand, dass der Jude Ephrussi den Anschlussgegner und nunmehrigen Staatsfeind Schuschnigg8 unterstützt habe. Die Herren sind vorerst ausnehmend höflich und sachkundig, lassen aber sogleich kostbares Inventar – Gemälde, Porzellan und Teppiche – in vorgefertigte Holzkisten packen. Dann steigern sie ihr „Arbeitstempo“. Sie ziehen andere Seiten auf, durchblättern Bücher, schmeißen diese auf den Boden und reißen Schubladen aus den Schreibtischen. Nun kommen sie ungeschminkt zur Sache: Sie verlangen den Schlüssel zum Safe und nehmen das Goldservice und den Schmuck mit. Die Ephrussis werden vor die Alternative gestellt: Entweder sie übergeben ihr Besitztum den Arisierern oder die Familie wandert ins Konzentrationslager nach Dachau. Das „Land der Dichter und Denker ist zum Land der Richter und Henker geworden.“9 Die Männer im Ledermantel werden abgelöst. Von nun an gehen Profis ans Werk. Schätzmeister und Museumsexperten katalogisieren die Beute. „Drei Alte Meister werden umgehend der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums übergeben, sechs der Österreichischen Galerie, ein Alter Meister wird an einen Händler verkauft …“10 Aber: Die allerbesten Gemälde werden fotografiert. Die Aufnahmen kommen nach Berlin, damit sich der Führer die teuersten Stücke aussuchen kann. Die Bibliothek der Ephrussis wird aufgeteilt, Prachtbände an deutsche Büchersammlungen „verschenkt“ und seltene Folianten in Museen versteckt. Die Firma Ephrussi & Co wird „gelöscht“, taucht aber drei Monate später „unerwartet“ als „Bankhaus C.A. Steinhäusser“ wieder auf. Plötzlich ist sie sechsmal so viel wert wie zuvor. Anna, dem Dienstmädchen, wird indessen beschieden, dass es nicht mehr für Juden arbeiten dürfe. Aber beim „Einpacken“ solle das „Mädel“ helfen. In ihrer Raffgier übersehen die nach „großen“ Werten jagenden Nazis jedoch eine Sammlung kleiner „Spielzeugfigürchen“, die im Ankleidezimmer des Barons aufbewahrt wurden. Anna lässt im Vorbeigehen immer wieder zwei, drei dieser japanischen „Netsuke“ in ihrer Schürzentasche verschwinden. Netsuke sind geschnitzte Figuren aus Wurzelholz, Elfenbein oder Hirschhorn, die im alten Japan als Knopf und Verschluss die Enden einer Seidenschnur zusammenhielten. An diesem „Gürtel“ hing noch im 19. Jahrhundert die traditionelle (Geld-)Dose, denn mit dem Kimono verhält es sich wie mit dem letzten Hemd eines Wieners: er hat keine Taschen. Mit seiner En-passant-Aktion rettete das Dienstmädchen 264 Figuren, die es in seiner Matratze vor der Gestapo versteckte und nach dem Krieg den letzten in England überlebenden Mitgliedern der Familie Ephrussi aushändigt. Einer dieser wertvollen Netsuke-Miniaturen verdankt der internationale Bestseller von Edmund de Waal seinen Titel: „Der Hase mit den Bernsteinaugen.“

Herrengasse:

Gebetet, geschossen, Blut vergossen

Die Herrengasse ist eine sehr wienerische Gasse. In ihr wird gebetet, geschossen, Blut vergossen und Kokain gesnifft. Hier werden Millionen gewonnen und verspekuliert und literarische Kunstwerke geschaffen. 1848 toben hier Straßenkämpfe.

Die Herrengasse zieht sich vom Schottentor bis zum Michaelerplatz (Schauflergasse). Sie ist ein bedeutender Handelsweg, seit der Römerzeit eine „strata alta“. Sie wird demnach Hochstraße genannt (erstmals 1216 urkundlich erwähnt) und führt zu wichtigen Sakralbauten wie Schottenkloster, Minoritenkloster, Michaeler kirche und Augustinerkloster. In der Renaissance, unter Ferdinand dem I., siedelt sich hier der Adel an: die Familien Dietrichstein, Orsini-Rosenberg, Liechtenstein, Lamberg, Trauttmansdorff, Traun, Herberstein, Batthyány, Mollard und Harrach. Sie nützen die (noch) billigen Baugründe in nächster Nähe zum Hof. Hier, am Rand der ehemaligen Hochgasse, errichten schon 1513 die niederösterreichischen Stände, also Prälaten, Herren und Ritter, ihr erstes Tagungsgebäude. Zur Ehre der Herren wird der Straßenzug nun in Herrengasse umgetauft. Damit sind bereits zwei Bedeutungsträger dieser Gasse vorgestellt: die Kirche und die Politik. Später kommt ein dritter Machtpfeiler hinzu – die Geldwirtschaft. Das Nationalbankgebäude11, errichtet von Charles von Moreau an der Ecke Herrengasse/Bank(!)gasse, macht den Anfang. Aufgrund des Bedeutungszuwachses wird die Adresse „Herrengasse“ zum Synonym für „Obrigkeit“ und zum Symbol des Übermaßes. Ziehen die Pariser Bürger im Juli des Revolutionsjahres 1789 vor das Staatsgefängnis, die Bastille, so protestieren die Wienerinnen und Wiener im März 1848 vor dem Niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse 13. Die Gemüter sind erregt, die Gewehre geladen, die soziale Lage ist explosiv, denn die vorangegangenen Jahre waren mager, mit Missernten und heruntergefahrener Industrieproduktion. Arbeitslose plündern Bäckerläden und Greißlereien. In den Fabriken wird 14 bis 16 Stunden täglich gearbeitet, auch an Wochenenden. In nur zwei Jahrzehnten ist die Bevölkerung Wiens um 125.000 Personen auf 400.000 Einwohner gewachsen. Es herrscht Wohnungsnot. Die Lebensmittelpreise schießen in die Höhe. Das Bürgertum bangt um seine Ersparnisse. Es müssen „1845 bei sage und schreibe zwei Drittel der Steuerpflichtigen die Abgaben durch das Militär eingetrieben werden.“12 Eine veritable Wirtschaftskrise zieht auf. Die Nationalbank hat falsche Daten veröffentlicht. Die Wahrheit sickert durch und enthüllt: Die Staatsverschuldung ist um ein Drittel höher als angegeben. Die Obrigkeit tut alles, um den Skandal zu vertuschen. Aber die Bäcker und Fleischhauer reagieren sofort. Sie nehmen kein Papiergeld mehr an. Jetzt geht es den Wienerinnen und Wienern an Kragen und Magen. Das Eingeweide kracht, und die aufgewühlten Städter wollen die morbide Monarchie und ihre unfähige Bürokratie zur Seite schieben. Rechtsanwalt Dr. Alexander Bach und der Dichter Eduard von Bauernfeld fassen den Willen der Bürger in Sätze. Sie fordern Mitbestimmung in Fragen des Finanzhaushaltes und die Teilnahme an der Gesetzgebung. Das ist den viel extremeren, jungen Studenten noch immer zu wenig. Sie legen ein Schäuflein nach und verlangen: Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Lern- und Lehrfreiheit und eine gewählte Volksvertretung. Ihre Parole lautet: „Kommen die Stände nicht zu uns, so gehen wir zu den Ständen.“13 Angeführt wird die Meute der Bürger und Intellektuellen von einem Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhaus, Dr. Adolf Fischhof. Er liest am 13. März der aufgeputschten Versammlung Ludwig Kossuths „Taufrede der Revolution“ vor. Und das im Hof des Landtags. Kossuth hat diesen Aufruf zehn Tage zuvor im nahen, damals ungarischen Preßburg hinausgebrüllt. Die Kernforderung des Pamphlets schreit nach einer Verfassung und lässt auch in Wien die Fenster beben. Die Katzen fliehen aus der Stadt. In dieser ohnedies aufgeheizten Atmosphäre verbreitet sich plötzlich das Gerücht, eine Delegation der Studenten würde im Inneren des Landhauses festgehalten. Jetzt rastet die Menge vollends aus. Die aufgestaute Wut entlädt sich. Demonstranten dringen in das Gebäude ein und machen aus den Möbeln Kleinholz. Der militärische Befehlshaber über die Innenstadt, Erzherzog Albrecht, sieht sich zu raschem Handeln veranlasst. Er lässt die Stadttore schließen und befiehlt italienischen Grenadieren, in die Herrengasse vorzudringen. Die Straßen sind aber verstopft, und die Truppe bleibt im Gewühl stecken. Sie wird verhöhnt und bis zur Schottenkirche zurückgeworfen. Nun beschließt der Erzherzog, höchstpersönlich aufzuräumen. Hoch zu Ross trabt er heran. Ein Hagel von Pflastersteinen empfängt ihn. Dem 72 Jahre alten General Joseph Matauschek kracht ein Holzscheit an die Schläfe. Der abgebrochene Teil einer Ankündigungstafel fegt dem Erzherzog den Hut vom Haupt. Nun verliert Albrecht die Contenance. Er erteilt den Schießbefehl. Panik bricht aus. Aber, wohin soll die Menge ausweichen? Die anliegenden Gassen sind vollgepfercht. Die Grenadiere arbeiten sich wie entmenschlichte Marionetten mit gefällten Bajonetten vor. Eines der prominenten Opfer ist Hans Kudlich, der „österreichische Bauernbefreier“. Er blutet aus einer gefährlichen Stichwunde.14 Inzwischen versuchen verzweifelte Bürger, sich mit Prügeln und Latten zu wehren. Kürassiere reiten die Flüchtenden nieder. Eine Frau und vier Männer bleiben im Staub der Straße liegen. Sie gehen als die „ersten Märzgefallenen“ in die Geschichte ein. Der „Helden-Mythos der Herrengasse“ ist geboren. Die meisten Gefallenen gibt es jedoch erst am Abend. Sie werden vom sogenannten Bürgermilitär niedergemacht, während des Sturms auf Fabriken und Nobelvillen. Ihre Leichen verscharrt man am 17. März in einem Massengrab Auf der Schmelz. Im „Herbst der Gegenrev olution“ ziehen dann die kaisertreuen Truppen in Wien ein und lösen die Akademische Legion und die Nationalgarde auf. Und es wird Bilanz gezogen. Man zählt 2.000 Gefallene; 2.000 Aufständische werden verhaftet und 25 Revolutionäre hingerichtet: unter ihnen der Kommandeur der Nationalgarde, General Wenzel Messenhauser. Der wird im Stadtgraben erschossen, beansprucht dabei aber sein Privileg als Offizier, die Augenbinde zu verweigern und höchstpersönlich den Feuerbefehl zu erteilen. Einer der berühmtesten Sympathisanten der Revolution war zweifelsfrei Johann Strauss Sohn. Ob der „Walzerkönig“ je im militärischen Einsatz auf den Barrikaden stand oder gar in der Her-rengasse demonstrierte, bleibt umstritten. Fest steht jedoch, dass er 1848 einen „Freiheitslieder-Walzer“ und den „Revolutionsmarsch“ komponiert. Populär wie ein Popstar bastelt Strauss nunmehr an seinem Image als Held und erzählt Schnurren aus der Kampfzeit. Einer seiner Anekdoten zufolge, soll sich Kaiser Franz Joseph persönlich an ihm gerächt haben, denn: 1850 werden Strauss und sein Orchester im damals russischen Polen verhaftet und in einen Schweinestall gesperrt. Die Polizei verdächtigt ihn umstürzlerischer Umtriebe. Franz Joseph weilt zu diesem Zeitpunkt auf Staatsbesuch in Warschau, rührt aber nicht den kleinsten Finger für den damals schon international gefeierten Musiker. Befreit wird Strauss schließlich auf Initiative der Zarin, die ihn zum Hofball einlädt. Dort dirigiert Strauss als „Kapellmeister des Zaren“.

Niederösterreichisches Landhaus:

Scheidungskampf der Bundesländer

Trotz des spannenden geschichtlichen Hintergrunds wird kaum ein Gebäude von den Wienern so beharrlich ignoriert wie das Niederösterreichische Landhaus. Das ist unverständlich, denn in seinen Sälen wurde mehrfach über die Zukunft der Republik Österreich entschieden.

Heute ist das Palais vollkommen entpolitisiert. Denn hier, wo sich einst die Stände des „Erzherzogtums Österreich unter der Enns“ versammelt haben, werden nunmehr Gotik-, Renaissance- und Barocksäle für Events, Seminare und private Tauffeiern vermietet. Vergessen ist, dass im Prunkbau in der Herrengasse am 30. Oktober 1918 die Provisorische Nationalversammlung tagte und der Staat Deutschösterreich (ab 1919: Republik Österreich) gegründet wurde. Hier hat Karl Renner am 30. Oktober 1918 sein erstes Kabinett gebildet. Erst Tage danach, am 12. November, übersiedelt die Nationalversammlung von der Herrengasse in das Parlament, dem bisherigen Reichsratsgebäude am Ring. Unbekannt bleibt, dass sich im April 1945 in der Herrengasse die Staatspolizei breit machte: Der Kommunist und Spanienkämpfer Heinrich Dürmayer ist gerade erst dem KZ entkommen und bemüht sich, Kontakt zu seinen früheren Genossen aufzunehmen. Dabei stößt er auf Innenminister Franz Honner. Und dieser eröffnet dem verblüfften Heimkehrer ohne Rechtfertigung und Übergang: „Du bist der Chef der Staatspolizei.“ Dürmayer muss bei null anfangen, er findet keine Infrastruktur vor. Ihm steht nichts zur Verfügung, kein Papier, kein Personal und keine Schreibmaschinen. Er verwaltet ein Amt ohne Zimmer. Also muss er ein geografisch günstig gelegenes Quartier finden und requirieren. Und: „Das war in der Herrengasse 13, wo der Landtag ist“, erzählt der ehemalige Staatspolizist dem Journalisten Hugo Portisch15, „ich hab einfach die Räume beschlagnahmt und aus. Und ich hab mich dort mit meiner Staatspolizei hineingesetzt.“

In der Herrengasse sind also Wirren und Widersprüche zuhause. Hier hatte beides seinen Sitz: der Aufruhr und die Repression. Das Palais ist in der jüngeren Geschichte für die Wienerinnen und Wiener aber auch zum Symbol eines Trennungsschmerzes geworden, denn: 1986 haben die Niederösterreicher und Niederösterreicherinnen in einer Volksabstimmung für ein „Los von Wien!“ und für eine eigene Landeshauptstadt St. Pölten gestimmt. Im Länder-Match Niederösterreich gegen Wien hat die Bundeshauptstadt eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Das verletzte nicht nur Prestige und Selbstwertgefühl, sondern man befürchtete darüber hinaus den Verlust Tausender Arbeitsplätze, den Abzug weiterer Institutionen aus der Bundeshauptstadt und ein vermindertes Steueraufkommen. 1997 ging es dann Schlag auf Schlag. Das Votum wurde endgültig in die Praxis umgesetzt. Der niederösterreichische Landtag übersiedelte nach St. Pölten. Daraus ergab sich klarerweise die Frage: Was soll nun mit dem bisherigen Tagungsort, dem Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse 13 (bzw. Minoritenplatz 7), geschehen, zumal Wien ja Eigentümer der Hälfte der Liegenschaft war? Diese Fifty-fifty-Besitzaufteilung ergab sich aus dem Trennungsgesetz des Dezember 1921. Wir erinnern uns: Die Bundesverfassung aus dem November 1920 gesteht Wien den Satus eines eigenständiges Bundeslandes zu, was in der Praxis hieß: Wien trennt sich von Niederösterreich. In diesem Scheidungsverfahren überträgt Wien seine Eigentumsrechte am Landhaus auf das Land Niederösterreich, allerdings mit der Einschränkung: solange Landtag und Landesregierung in der Herrengasse amtieren. Mit dem Umzug nach St. Pölten lebt somit das Wiener Eigentumsrecht wieder auf. Aber zwischen den Scheidungspartnern bricht kein Rosenkrieg aus, man einigt sich einvernehmlich: Wien überlässt das Landhaus den Niederösterreichern und erhält dafür niederösterreichische Immobilien.16

Freyung:

Seismografen ohne Strom

An der Kreuzung Freyung/Strauchgasse sprengt in luftiger Höhe ein türkischer Reiter auf einem Mauer sockel ums Hauseck. Es ist eine kleine Steinfigur, die einen Krummsäbel schwingt. Die Statuette erinnert an die erste Türkenbelagerung von 1529.

Unter Inanspruchnahme neuester Kriegstechnik setzten die Türken Mineure ein, die Stollen unter die Grundfesten der Stadtmauern zu graben hatten, um die Befestigungsanlagen in die Luft zu jagen. Damit sie den Tunnelvortrieb der Angreifer verfolgen konnten, stellten die Wiener vorsintflutliche Seismografen und Horchanlagen in den Kellern auf. Das waren Wasserbottiche und Trommeln. Kräuselte sich die Oberfläche in den Fässern, wusste man: Achtung, hier nähern sich Maulwürfe. Tanzten die Erbsen oder Würfel auf der Lederbespannung der Pauken, wurde Alarm geschrien. Einer populären Wiener Sage zufolge, versah gerade der Bäckergeselle Josef Schulz im Kellergewölbe des Backhauses am (heutigen) Übergang von der Freyung zum Platz Am Hof seinen Nachtdienst am Ofen, als die Würfel eines Trommel-Radars zu hüpfen anfingen. Der Bursch legte sein Ohr auf den Boden: Kein Zweifel, im Untergrund scharrte der Feind. Nun brachten sich die Wiener Mineure und Tiroler Bergleute in Stellung. Sie buddelten einen Gegenstollen und stießen tatsächlich auf einen Angriffstunnel der Osmanen. Jenes Gebäude, das mit dem Schwarzpulver der Türken in die Luft „geschossen“ werden sollte, wurde von nun an „Zum Heydenschuss“ genannt.

Wie so oft liegt auch dieser Heldenlegende ein wahrer Kern zu Grunde. Die Alarmanlagen der Bäcker hat es wirklich gegeben. Und tatsächlich entbrannten immer wieder unterirdische Kämpfe, bei denen die jeweiligen Gegner versuchten, die Gänge der Widersacher zu untergraben und zu sprengen. Die Angreifer, die Sprengstoff mit sich führten, waren bisweilen sogar im Nachteil, weil Treffer aus Pistolen die Fässer frühzeitig in die Luft jagen konnten. Dennoch gelang es den Türken immer wieder, Schneisen in die Stadtmauer zu schlagen, wodurch ungeheuer viele Abwehrkräfte gebunden wurden. Die schlimmste Bresche wurde am 14. Oktober beim Kärntnertor gesprengt. Die Wiener hatten jedoch Glück im Unglück, denn das Gemäuer fiel nach außen, wodurch eine Erstürmung zu riskant wurde, weil sich die Angreifer über eine Geröllhalde ungedeckt hätten vorarbeiten müssen. Es war aber nicht allein der Verteidigungswille der Wiener, der Sultan Süleyman letztendlich zum Rückzug zwang, sondern vor allem der dauerhafte Herbstregen. Der Tross der Türken blieb im Schlamm der ungarischen Straßen stecken, und die 22.000 Lastkamele waren dem kalten Wetter nicht gewachsen. Außerdem gelang es den Osmanen nicht, auf den unbefestigten Nachschubwegen ihre schwere Artillerie heranzukarren. Deshalb kamen nur 300 leichte Kanonen zum Einsatz. Ganz anders gestaltete sich die Lage während der zweiten Türkenbelagerung. 1683 lag die Stadt unter permanentem Beschuss. Allein der Stephansdom hat über 1.000 Treffer abbekommen. Eine Steinkugel ist noch heute an einem Pfeiler des Kirchenschiffs ausgestellt. Makaber ist das Schicksal der Kugel am Gebäude Linke Wienzeile 172. Von dort wurde sowohl die Originalkugel als auch deren Nachahmung gestohlen. Dafür steckt heute ein Fußball in der Mauernische.

Der Platz „Am Hof“, der nur 200 Meter von der Freyung entfernt liegt, wurde mit einem Steinhagel zugedeckt. Es entstand ein Trümmerfeld. Im Haus Nummer 11 krachte es plötzlich mordsmäßig, Mauerklumpen donnerten von der Decke und die Trinkgläser schepperten. Eine Türkenkugel hatte eingeschlagen. Menschen kamen nicht zu Schaden, aber der marketingtüchtige Besitzer hat sein Beisel hinfort „Zur goldenen Kugel“ genannt. An der Außenfassade des Generalihauses (Am Hof Nr. 11) kann das „Reklameschild“ von damals, ein vergoldeter Steinbrocken, noch immer besichtigt werden.

Austriabrunnen:

Goethes Enkelin und der Zigarettenschmuggler

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