Mark Mazower

WAS DU NICHT ERZÄHLT HAST

Meine Familie im 20. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Suhrkamp

Für Selma und Jed
und für ihre Cousins und Cousinen
Nina und Clara,
Rachel, Cleo und Nicholas,
Max, Seth und Elliot

Inhalt

Einleitung. Auf dem West Hill

Kapitel 1. Der Bundist

Kapitel 2. 1905

Kapitel 3. Die Yost Typewriter Company

Kapitel 4. Grenzübertritt 1919

Kapitel 5. Briten und Bolschewiki

Kapitel 6. Wood End

Kapitel 7. Das Nachleben

Kapitel 8. Zachar

Kapitel 9. Das wachsende Schweigen

Kapitel 10. André

Kapitel 11. Die Krylenko-Verbindung

Kapitel 12. Frouma

Kapitel 13. Highgate

Kapitel 14. Das schützende Wort

Kapitel 15. Ira

Kapitel 16. Kindheit

Kapitel 17. Der Krieg

Kapitel 18. Oxford und was dazwischen kam

Schluss. Der Schuppen

Danksagung

Anmerkungen

Stammbäume

Familie Mazower

Familie Toumarkine

Bildnachweise

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Hamstead Heath und Highgate, 1930.

1 South Hill Gardens Nr. 19

2 Oakeshott Avenue Nr. 20

3 University College School

4 Marie Curie Hospiz

Einleitung

Auf dem West Hill

Eigentlich hatte ich geglaubt, meinen Vater recht gut zu kennen. Doch an seinem Sterbetag wurde mir allmählich klar, dass ich von vielen Aspekten seines Lebens keine Ahnung hatte. Als wir aus dem Hospiz nach Hause kamen, fragte jemand, wie seine Eltern bestattet worden seien. Da keiner von uns es genau wusste, tat ich das, was meine Historikerausbildung und mein Instinkt mir nahelegten: Ich ging ins Archiv. Oben im Schrank standen seine Kartons mit Familienunterlagen, und einer war mit der Aufschrift versehen: Tagebücher 1941-1996. Ich stieg auf einen Stuhl, holte ihn herunter und setzte mich auf das Bett meiner Eltern. Diesen Karton öffnete ich zum ersten Mal, da war ich mir ziemlich sicher.

Ich hatte meinem Vater immer nahegestanden. Als meine Brüder und ich heranwuchsen, hatte seine Präsenz für uns etwas äußerst Beruhigendes gehabt. Ich erinnere mich, dass wir einmal durch die Cotswolds fuhren, nur er und ich. Es war ein Frühlingstag, damals muss ich wohl zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Wir schauten uns Häuser an, weil er und meine Mutter vorhatten, sich ein Wochenendhaus zu kaufen. Die Straßenkarte lag ausgebreitet auf meinem Schoß, und ich war stolz, dass er sich auf meine Angaben zur Fahrtroute verließ. Er fuhr, ich schaute aus dem Fenster auf die vorüberhuschenden Felder und fühlte mich wohl in unserem einträchtigen Schweigen und gegenseitigen Vertrauen.

Ein einträchtiges Schweigen ist keineswegs undurchdringlich. Mein Vater war nicht sonderlich gesprächig und scheute vor persönlichen Äußerungen zurück wie ein nervöses Pferd. Heikle Fragen entlockten ihm zuweilen ein leises Lächeln, bevor er antwortete. Doch wir konnten ihn alles fragen, und er erzählte uns von seiner Kindheit und seinen Eltern. Einige Jahre vor seinem Tod beschlossen er und ich, diese Geschichten aufzuzeichnen – er war mittlerweile Großvater und die Zeit verging –, also setzten wir uns in sein Zimmer im Dachgeschoss, und ich schaltete das Aufnahmegerät ein. Unsere Gespräche zogen sich über mehrere Nachmittage hin. Ich kann mich nicht erinnern, dass es etwas gegeben hätte, über das er keine Auskunft geben wollte. Die Barrieren bestanden eher in mir: Ich hatte Hemmungen, manche Dinge anzusprechen, und bei anderen kam ich gar nicht erst auf die Idee, ihn danach zu fragen.

In dem Karton lagen zwei alte Adressbücher und viele Letts-Taschenkalender, die über ein halbes Jahrhundert reichten und chronologisch geordnet waren. Darin hatte er meist Termine eingetragen, und so fand ich bald die Informationen, die wir suchten. Es gab keine intimen Geständnisse oder Gefühlsergüsse – was nicht überraschend war –, die Eintragungen, in denen mein Vater eine Stimmung oder Gefühlsregung aufgezeichnet hatte, ließen sich an zehn Fingern abzählen. Auf ihre Art waren diese alles andere als introspektiven Aufzeichnungen jedoch durchaus sprechend, und so fügte sich beim Lesen nach und nach ein Bild von den täglichen Bewegungen und Sozialkontakten zusammen, die sein Leben geprägt hatten.

Aufgewachsen war er in Highgate im Londoner Norden, und wie die Taschenkalender belegten, blieb er diesem Vorort zeitlebens eng verbunden. Als er Anfang Januar 1942 in seinem Schülerkalender vermerkte, er habe sich »im Waterlow Park von Daddy verabschiedet«, war er gerade mal sechzehn Jahre alt. Er musste in seine nach Somerset evakuierte Schule zurückkehren, während sein rasch alternder Vater sich auf den Weg durch die zerbombte Stadt zu seinem Kriegsdienst bei der Postzensurstelle machte. Zehn Jahre später lagen sein Studium in Oxford und der Militärdienst bereits hinter ihm, und in dem Jahr, in dem sein Vater starb, kamen seine Vettern aus Paris zu Besuch, und er »ging mit den Kindern auf der Heath spazieren«, also im Park Hampstead Heath. Mit »Kindern« waren nicht etwa meine Brüder und ich gemeint, denn uns gab es noch gar nicht. Im Kalender von 1954 ist am 11. April ein »Spaziergang auf der Heide mit Miriam« verzeichnet; damals kannten er und meine Mutter sich seit knapp einem Monat. Es dauerte nicht lange, bis auch wir kamen und sie mit uns auf den Wiesen oberhalb der Weiher spielten und zwischen den Rhododendren hinter Kenwood House, dem ehemaligen Herrensitz der Familie Mansfield, spazieren gingen.

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Als meine Mutter und mein Vater Eltern wurden, fingen sie an, uns zu filmen, und sobald wir etwas älter waren, holten sie an Winterwochenenden nachmittags als besondere Vergünstigung den Projektor heraus, zogen die Vorhänge zu und zeigten uns Aufnahmen von uns als Kleinkindern: Daves erste torkelnde Schritte über den Sand in Devon auf die Kamera zu; Ben im Kinderwagen in unserem Garten; Jony auf dem Klettergerüst. Eine ihrer ersten Filmaufnahmen stammte aus dem Sommer 1958. Es ist ein sonniger Tag, und meine Mutter muss wohl die Kamera halten, die sich meine Eltern von einem Freund geborgt haben. Sie machen ein Picknick in der Hampstead Heath und haben wie üblich die karierte Decke auf dem Boden ausgebreitet, da das Gras selbst im Juli und August häufig leicht feucht ist. Dad liegt auf dem Rücken und hält mich über seinen Kopf: Er ist voller Leben und wirkt stark und glücklich, wie ich ihn eigentlich während meiner gesamten Kindheit in Erinnerung habe. Doch als ich den Film anhalte, fällt mir auf dem Standbild etwas im Hintergrund auf: Hinter ihm, jenseits des Weihers und der Baumreihe ragt der Kirchturm von St. Michael auf dem West Hill in Highgate auf. Mit seltsamer Präzision markiert er genau die Stelle, an der ich ein halbes Jahrhundert später täglich auf ein Taxi warten sollte, um ihn in den letzten Monaten seines Lebens im Krankenhaus zu besuchen.

Im Sommer 2009 hatte ein Forschungsjahr mich wieder nach London geführt. Kurz nach meiner Ankunft hatte sich der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechtert. Da ich kein Auto hatte, ging ich immer zu Fuß auf den West Hill in Highgate und wartete dort auf ein Taxi. Es war ein ungewöhnlich milder Herbst – soweit ich mich erinnere, gab es kaum Regentage –, und der Spaziergang erlaubte es mir meine Gedanken vom Bild meines Vaters in seinem Krankenhausbett weg zu den Themen schweifen zu lassen, über die er gerne sprach: den Krieg, seine Kindheit, Geschichte, Russland.

Etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich auf das Taxi wartete, stand ein Wegweiser an einer Abzweigung: Ein Pfeil wies nach »Highgate Village«, der andere nach »Norden«. Während die Autos auf ihrem Weg in die Stadt oder hinaus vorbeirasten, ließ irgendetwas an diesem Schild – vielleicht die schlichte Wahl, die es anbot, oder der altmodische Schrifttyp der Jahrhundertmitte – mich über die Orte nachdenken, die mein Vater als Zuhause empfunden hatte. Mir fiel auf, dass er seine mehr als achtzig Lebensjahre, abgesehen von seinem Militärdienst, seinem Studium und seinen Geschäftsreisen, an einer Reihe von Orten rund um Hampstead Heath verbracht hatte, also rund um jenen weitläufigen Park, der sich unterhalb von meinem Standort ausbreitete. Anders als seine aus Russland vertriebenen, von ihren Familien getrennten Eltern, die viel durchlitten hatten, bis sie sich in London niederließen, erlebte er im Laufe seines Lebens ein Gebiet als Zuhause, das sich weitgehend auf einen Tagesmarsch rund um meinen Standort auf dem West Hill beschränkte. Nun endete es nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem es begonnen hatte, und ich fragte mich, ob die Zufriedenheit, die ich mit ihm verknüpfte – ein Akzeptieren des Lebens, eigentlich eine gewisse Art von Glück, wenn es nicht anmaßend ist, es so zu nennen –, irgendwie mit seiner dauerhaften Bindung an diese Umgebung zusammenhing, was immer seine Eltern nicht nur nach England, sondern gerade in diesen Teil Londons geführt und veranlasst haben mochte, ihn zu ihrem und seinem Zuhause zu machen.

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Seit ich einige Jahre zuvor nach New York gezogen war, hatte ich akutes Heimweh nach meiner Heimatstadt verspürt. Als ich dort aufwuchs, war vieles noch ganz ähnlich wie zur Zeit meines Vaters: Die Lyons Teahouses waren zwar verschwunden, und es entstanden die ersten Sainsbury’s-Supermärkte. Doch die viktorianischen Klassenzimmer in der Schule, die schäbigen Toiletten am anderen Ende des Spielplatzes, die behaglichen Stadtbibliotheken und der von Standesdenken getragene Ethos Englands hatten sich mehr oder weniger gehalten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwand das alles sehr rasch. London veränderte sich zusehends, getrieben vom massiven Kapitalzustrom. Als mein Vater im Krankenhaus lag, dachte ich über Heimweh und das nach, was ihm vorausgeht. Wie kommt es, dass wir die Orte, an denen wir leben, irgendwann als unsere empfinden? Was hatte es für den schweigsamen Vater meines Vaters, Max, bedeutet, dass er seinen Geburtsort nie wiedergesehen hatte? Wie war Dads liebevolle, intuitive Mutter Frouma damit zurechtgekommen, dass sie dreißig Jahre von ihrer Familie in Moskau getrennt war? Welche seelischen Kämpfe, welchen mühevollen Verzicht hatte es erfordert, ihrem Sohn in Highgate ein Zuhause zu bieten, in dem er aufwachsen konnte? Diese Fragen erlangten nach meiner Rückkehr nach Manhattan für mich neue Bedeutung. Je mehr ich darüber nachdachte, umso stärker schien mir dieser doppelte Verlust – der Tod meines Vaters und das Verschwinden Londons, wie ich es als Kind gekannt hatte – untrennbar miteinander verwoben zu sein.

Dahinter stand noch ein dritter, weiter zurückliegender Verlust. Die Eltern meines Vaters hatte ich nie richtig kennengelernt, da Max schon vor meiner Geburt gestorben war und Frouma, als ich sechs Jahre alt war. Doch nach allem, was wir gehört hatten, war Dads Schweigsamkeit nichts im Vergleich zu der seines Vaters. Wie sonst hätte sich erklären lassen, dass Max seiner Frau Frouma offenbar nie den Namen seiner Mutter gesagt hatte, obwohl die Eheleute sich so nahegestanden hatten? Anders als bei meinem Vater verbargen sich hinter Max’ Schweigen echte Geheimnisse. Bevor er Frouma kennenlernte, hatte er sich im zaristischen Russland als revolutionärer Sozialist engagiert, Aktivitäten, über die er später nie mehr sprach, nachdem er sein Leben im Untergrund hinter sich gelassen hatte. Viele seiner engsten Genossen starben eines gewaltsamen Todes, erschossen von den Bolschewiken oder den Nazis. Sein Entschluss, nach England zu kommen, Frouma zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen, war eine Vorbedingung unserer Existenz. In Frouma hatte er eine Frau gefunden, der die Pflege von Familienbanden eine Möglichkeit bot, die schmerzhafte Geschichte zu ertragen. Doch Max musste für die Familiengründung seinen Aktivismus aufgeben: Ein Heim zu schaffen und politische Desillusionierung waren untrennbar verbunden.

Vielleicht erklärt dieser Umstand, dass mein Bild von ihm von der melancholischen Aura enttäuschter Hoffnungen durchdrungen war. Im Mut und Engagement seiner Jugend sah ich etwas Exemplarisches für unser zynischeres Zeitalter mit seinen Demagogen, seinem obszönen Reichtum und seiner zunehmenden Nabelschau. Heutzutage sind anscheinend viele zu ernüchtert und von ihrem Misstrauen gegenüber selbst den praktischsten Gesellschaftsutopien zu gelähmt, um für etwas zu kämpfen, was über die Vervollkommnung ihrer eigenen Seelen hinausreicht. Max hatte hart für andere gekämpft – getrieben von einem äußerst altmodischen Gerechtigkeitsstreben, das sich aus dem eigenen Erleben von Armut und Ausbeutung speiste. Instinktiv war er gegen Stammesdenken jeglicher Art, vor allem ethnisches und religiöses, eine Opposition, die ebenso stark aus dem Bauch wie aus dem Verstand kam. Die Bewegung, für die er vor über hundert Jahren gekämpft hatte, hatte verloren und war in Vergessenheit geraten, doch das spielte kaum eine Rolle. Von den Verlierern der Geschichte können wir mehr lernen als von den Gewinnern. Kein Sieg währt ewig – was zählt, ist das, was man aus Niederlagen macht.

Als ich wieder in Highgate war, musste ich an das Antiquariat Fisher and Sperr auf der Hauptstraße, gleich neben dem Hilltop Beauty Salon, denken. Ich weiß nicht, warum es mir in den Sinn kam – vielleicht weil nichts besiegte Ideen besser bewahrt als ein alter Buchladen, der die Möglichkeit ihrer Entdeckung und Wiederauferstehung birgt. Vielleicht fiel mir deshalb wieder ein, wie bestürzt ich war, als einige Monate nach dem Tod meines Vaters ein staubiger grüner Vorhang hinter dem vertrauten Erkerfenster von John Sperrs Tod zeugte. So lange hatte diese Buchhandlung schon existiert, dass ich einfach angenommen hatte, es würde sie ewig geben. Mr Fisher war zwar schon vor Jahren verschwunden, aber John Sperr hatte bis zum Ende an der Theke gestanden. Er war mittlerweile extrem schwerhörig geworden und hatte Kunden angebrüllt, doch hatte man erst einmal sein Vertrauen gewonnen, hatte er den Schlüssel hervorgeholt, widerstrebend das höhlenartige Hinterzimmer mit all seinen Schätzen aufgeschlossen und das Licht eingeschaltet. Der Raum war immer eiskalt und bis unter die Decke vollgestopft mit Büchern, die allmählich verstaubten und nur selten angerührt wurden. Eines Nachmittags entdeckte ich dort eine kleine, ledergebundene Ausgabe der Anthologia Lyrica Graeca, deren Deckblatt in einer akkuraten, winzigen Schuljungenhandschrift mit der Signatur »V. E. Rieu« und dem Datum »Nov. 10th 1902« versehen war. Ich kaufte das Buch, weil ich von Rieu gehört hatte, der später die erste Homer-Übersetzung im Taschenbuchformat besorgte und Penguin Classics gründete, jenen Verlag, der das Bildungsgut der Welt verbreitete. Er hatte ganz in der Nähe gelebt, war dort gestorben und hatte seine Bibliothek hinterlassen, die in alle Winde zerstreut, von einem Antiquar wieder zusammengestellt wurde und so ein Nachleben fand.

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Rieu war nicht der einzige Ortsansässige, der Ideen und Bücher zu schätzen wusste: Highgates Höhenlage war anscheinend wie geschaffen, zum Denken anzuregen wie ein urbaner Berggipfel: »Ist man erst einmal oben angekommen und hat den mühevollen Anstieg hinter sich gebracht, hat man das Gefühl, einen Hafen erreicht zu haben«, vermerkte Ernest Aves, ein scharfsichtiger Beobachter der viktorianischen Londoner Straßen, nachdem er an einem milden Dezembertag 1898 in das Dorf hinaufgegangen war. »Hier sollten Philosophen oder Quäker leben.«1 Das taten sie denn auch, zusammen mit Dichtern, Romanciers, konservativen Romantikern, Anarchisten und Revolutionären. Auf dem dortigen Friedhof liegt der berühmteste Kommunist der Geschichte begraben. Viele waren Emigranten wie Karl Marx. Andere wie Rieu waren die Kinder ausländischer Eltern. Es war geradeso, als locke der Blick auf die Stadt von den Hügeln im Norden Londons die Kontemplativen und Idealisten an und verleihe ihren Reizen eine besondere Bedeutung für alle, die politische Unruhen erlebt und Zuflucht gesucht hatten, ohne sich von der Welt abwenden zu wollen.

»Meist waren es Schritte, raschelndes Laub«, um es mit den Worten des englischen Dichters und Viktoriana-Barden John Betjeman zu sagen, der seine Kindheit auf dem West Hill in Highgate verbrachte. Als mein Vater dort aufwuchs, zogen noch Pferde den Milchwagen über die Langbourne Avenue, und über die North Road wurden Schafe getrieben. Seinen Eltern gefiel das gemächliche Tempo des Viertels, und nachdem sie sich im Holly Lodge Estate, einer Zwischenkriegssiedlung mit Fachwerkhäusern und breiten Straßen an der Flanke des West Hill, niedergelassen hatten, weigerten sie sich, sich noch einmal entwurzeln zu lassen. Als familiäre Umstände sie zwangen, ihr erstes Haus zu verkaufen und in ein kleineres zu ziehen, holte der Möbelwagen ihr Mobiliar ab und stand nur fünf Minuten später vor ihrem neuen Zuhause: Es befand sich gleich um die Ecke. Und nach dem Tod von Dads Vater zog seine Mutter in eine Wohnung, die keinen halben Kilometer entfernt lag. An einem Ort bleiben zu dürfen und selbst entscheiden zu können, wann man umzieht, ist ein Privileg, das die Eltern meines Vaters dank der Umwälzungen, Ängste und Entbehrungen ihres früheren Lebens zu würdigen wussten.

In diesem Umfeld wuchs mein Vater auf, und er kannte es in- und auswendig. Es gab ihm, glaube ich, ein Selbstvertrauen, wie es vielleicht nur aus dem Wissen erwächst, woher man kommt, dass man dort glücklich war und die Nähe dazu bewahrt hat. In seinen letzten Lebenswochen brachte ich ihm die Memoiren eines Mannes ins Krankenhaus, der in den ärmlichen Seitenstraßen von Highgate New Town unterhalb des Friedhofs aufgewachsen war. Als ich meinen Vater nach einem Straßennamen fragte, den der Autor erwähnt hatte, erkannte er ihn auf Anhieb, weil er dort Plakate für die Labour Party geklebt hatte, bevor sie in jenem magischen Sommer 1945 ihren historischen Wahlsieg errang. Als sein Gesundheitszustand sich verschlechterte und er auf einer lauten Station mit Blick auf die abschüssigen Straßen zu den West-Heath-Weihern lag, beunruhigte ihn kaum etwas stärker als die Möglichkeit, er könne vorübergehend den Weg von zu Hause zum Krankenhaus vergessen. Ein Stadtplan half seinem Orientierungssinn wieder auf die Sprünge.

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Hampstead Heath, Mitte der dreißiger Jahre.

Diese Fähigkeit, sich zu orientieren und zu wissen, wo er sich gerade befand, war ihm schon immer wichtig gewesen. Zu den ersten Fotos, die er als Junge in den frühen dreißiger Jahren geschossen hat, zählen Aufnahmen in der Parklandschaft von Hampstead Heath – ein Beleg für den Reiz und die Faszination, die für ihn von diesem Ort ausgingen. Nach den kahlen Bäumen und der Kleidung der unscharf erfassten Personen jenseits des Weihers zu urteilen, sind die Fotos vermutlich an einem Frühlingstag entstanden. Nicht die Menschen haben den Blick des Kindes gefesselt, sondern die Hänge, die Skyline und die Hecken. Darin ist bereits eine aufkeimende Verbundenheit zu erkennen, die er als eine von vielen Gaben an uns weitergegeben hat.

Seine Verbundenheit und auch die seiner Eltern. Für sie hatte sie allerdings einen Preis – den alle Flüchtlinge zu zahlen haben –, denn England zu ihrer Heimat zu machen hatte bedeutet, andere Orte aufzugeben, mit denen ganz eigene, frühere Erinnerungen verknüpft waren. Über den einen oder anderen wussten wir ein bisschen Bescheid, da wir als Kinder hin und wieder gehört hatten, wie unser Vater in fließendem Russisch mit Verwandten in Moskau und Leningrad telefonierte. Andere Orte waren nie mehr als Namen – Smolensk, Wilna, Grodno, Riga –, die gelegentlich in Anekdoten vorkamen. Ich wusste nicht genau, wo sie lagen oder wer dort gewohnt hatte. Das alles schien so weit weg.

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Max, um 1926.