Für Julian & Luise

Vorwort

Die Zeit ist reif. Mehr als jemals zuvor sind die Menschen heute dazu aufgerufen, eigenständig zu denken. Wir müssen einander dabei helfen, dies zu tun. Und wir müssen die Menschen würdigen, die dies tun.

Eigenständig zu denken erfordert jedoch beachtlichen Mut. In dem Moment, in dem wir beginnen, für uns selbst zu denken, in dem wir die gewohnten Pfade verlassen, Fragen stellen, unheilvolle unwahre Annahmen, denen wir bisher Glauben geschenkt haben, entlarven, Licht ins Dunkel bringen – in diesem Moment ergreift uns auch ein Schauer. Er kann von allen Seiten kommen: von oben, wenn Vorgesetzte uns kritisieren, von der Seite, wenn unsere Freunde sich von uns abwenden; von vorne, wenn der Coach das Denken für uns übernimmt. Und manchmal auch von innen: Wurden wir als Kinder dafür bestraft, wenn wir selbstständig gedacht haben, erschaudern wir auch heute als Erwachsene wieder. Eigenständiges Denken ist so wichtig und zugleich so selten.

Sogar im Bereich des professionellen Coachings ist unabhängiges Denken rar. Das sollte nicht so sein. Coaching als die moderne Form der Unterstützung menschlicher Weiterentwicklung sollte einen Weg aufzeigen für dringend notwendige neuen Ideen, für unverbrauchte, gut realisierbare Systeme, beispiellos intelligente Führung und für Leben voller Bedeutung, voller Musik – kurzum: für eine Welt, die tatsächlich funktioniert. Und das will Coaching auch. Jeder Coach hat diese Intention. Aber dann geschieht etwas.

Die Routine übernimmt. Coaches scheitern unvermeidlich an derselben Einschätzung, der die meisten „Zuhör-Experten“ aufsitzen: Wir gehen davon aus zu helfen, indem wir reden. Wir meinen zu helfen, indem wir das Denken für unsere Klienten übernehmen. Wir glauben, wir müssten nur lange genug zuhören, um selbst mit einem cleveren Input aufwarten zu können. Wir formulieren unseren Input natürlich üblicherweise in Form einer strategischen Frage. Aber dennoch: Es ist und bleibt Input. Und fast immer ist dieser viel zu früh, und oft nicht mal notwendig. Was dabei auf der Strecke bleibt, das sind die noch nicht gedachten Gedanken unserer Klienten; auf diese Weise kann nichts Neues entstehen.

Aus meiner Sicht verstehen viele Coaches dieses Phänomen nicht in seiner ganzen Dimension. Sie haben noch keine Erfahrung gemacht mit der verborgenen Fähigkeit ihrer Klienten, selbst die ausgezeichnetsten Erkenntnisse zu generieren – weil diese Coaches die Bedingungen dafür nicht hergestellt haben. Die meisten Coaches haben auch selbst noch nicht ihre eigene aufkeimende Fähigkeit zu ganz unabhängigem und fabelhaft reichem Denken erfahren. Tatsächlich ist es aber diese Umgebung, die „einfach richtig ist für brillantes unabhängiges Denken“, die das Coaching völlig umkrempelt. Umkrempelt, weil eine Denkumgebung, ein Thinking Environment, mit einer beunruhigenden Prämisse beginnt: Wenn die Bedingungen richtig sind, wird der Klient fast immer besser denken können, als es der Coach für ihn hätte tun können. Und ich bin davon überzeugt, dass es die Aufgabe des Coaches ist, dieses hervorragende Denken im Klienten anzuregen. Seine Aufgabe ist nicht, dieses hervorragende Denken selbst zu generieren.

Diese Prämisse erschüttert uns bis ins Mark, aber sie befreit uns auch und macht uns zur begehrtesten Unterstützung für unsere Klienten. Sie verleiht uns einen unermesslichen Wert, denn wir haben die wichtigste Ressource unserer Klienten wiederhergestellt: das erstaunliche Vermögen ihres eigenen Geistes.

Coaches auf der ganzen Welt, die dieses Phänomen begreifen, gestalten sowohl ihre Profession neu als auch die Gesellschaft. Sie sorgen nicht nur für Ideen und Taten einzigartiger Qualität, sondern auch für zunehmend „hochwertigere“ Denker sowie eine Welt, die das Potenzial hat, aus menschlichem Leben ein Kunstwerk zu machen.

Marion Miketta ist solch ein Coach und solch eine Denkerin. Mit diesem Buch hat sie das Tor zur Welt des unabhängigen Denkens aufgestoßen. Sie zeigt uns, wie wir die fruchtbaren Bedingungen schaffen, unter denen Menschen für sich selbst denken können – mit Genauigkeit, Einfallsreichtum, Mut und Anmut. Und sie tut dies mit Fachwissen und Eloquenz.

Dieses Buch bestätigt mich in meinem Glauben daran, dass die Welt im Allgemeinen und die Welt des Coachings im Besonderen offen und bereit dafür ist, dieses fehlende Stück des Weges in Richtung auf unsere wunderbare Denkfähigkeit zu gehen. Wir alle wissen, dass dies längst überfällig ist.

Wie verheißungsvoll!

Oxfordshire, England, im Frühjahr 2018
Nancy Kline

Einleitung

An einem sonnigen, aber kalten Tag Ende Januar stehen wir – eine Gruppe aus 13 Personen – auf dem Alexanderplatz in Berlin. Gemeinsam suchen wir nach Antworten auf die Frage, wie wir auf die zunehmende gesellschaftliche Spaltung reagieren und welchen Beitrag wir für mehr Verbundenheit leisten können. Wir halten Pappschilder in die Höhe, auf denen steht: „Was bewegt Sie? Ich höre zu.“ Die Kunst des Zuhörens „auf die Straße“ zu bringen und jedem vorurteilsfrei ein offenes Ohr zu schenken, erscheint uns lohnenswert. Und offenbar sind wir damit nicht alleine: „Is dit geil“, ruft uns eine Frau zu, „wenn ich damit anfange, dann höre ich gar nicht mehr auf!“ Allein die Vorstellung, dass ihr zugehört wird, bereitet ihr gute Laune. Andere bleiben stehen. Sie erzählen uns von gestiegenen Mietpreisen, ihrer Obdachlosigkeit, Diskriminierungserfahrungen als Roma oder auch der Sorge vor Überfremdung. Uns wird Wohlwollen und Neugier entgegengebracht. Der Wunsch, sich auszutauschen, einander zu begegnen und miteinander in Kontakt zu treten, ist deutlich spürbar.

Nur unsere Schilder und der Blickkontakt laden die Passanten ein, auf uns zuzukommen. Sie werden nicht aktiv von uns angesprochen. In keinem Fall unterbrechen wir sie oder drängen unsere eigenen Sichtweisen auf.

Das Ergebnis dieses Experimentes ist verblüffend: Nicht nur durch die Gespräche selbst, sondern schon allein durch unsere einladende Präsenz verändert sich die Atmosphäre. Es kommt uns vor, als würden wir mit unserer Haltung den Raum um uns herum gestalten. Als würden wir ein Gegengewicht bilden zu all dem „Senden“ der Werbeindustrie rings um uns herum: Wir sind auf „Empfangen“ eingestellt.

* * *

Das Thinking Environment basiert auf einer Beobachtung und einer sich daran anschließenden Frage: Die Qualität all dessen, was wir tun und entscheiden, ist abhängig von der Qualität des vorangegangenen Denkens. Was aber brauchen wir, um frei und eigenständig denken zu können?

Es ist die Kultur des aufmerksamen Zuhörens, die ein Umfeld schafft, in dem Menschen Zugang zu sich selbst und ihrem eigenen Denken bekommen können. Sie begegnen dabei nicht nur einem wohlwollenden, interessierten Gegenüber, sondern auch sich selbst: Eigene Gedanken und Gefühle, die weit über plakative Meinungen und vor sich her getragene Positionen hinausgehen, bekommen Raum und dürfen gezeigt, dürfen geäußert werden. Viele Menschen erleben das als wohltuend und erhellend.

Warum mehr Denkraum nötig ist

Leider bietet der Alltag erstaunlich wenige Gelegenheiten zum bewussten Nachdenken (und Zuhören). Ständig haben wir Wichtigeres zu tun. Immer häufiger stehen wir immer komplexeren Herausforderungen gegenüber. Der Druck wächst und wir reagieren darauf, indem wir mehrere Dinge gleichzeitig tun, um den Anforderungen gerecht werden zu können.

Die Aufmerksamkeit für das, was wir jeweils gerade tun, oder auch für die Person, mit der wir gerade interagieren, ist eingeschränkt. Zudem geraten wir leicht in einen Modus des Funktionierens: Jede freie Minute muss effektiv genutzt, To-do-Listen abgearbeitet, Nachrichten beantwortet werden. Muße und ruhige Momente des Nichtstuns erscheinen wie Zeitverschwendung und werden mit einem schlechten Gewissen quittiert.

Die Folgen davon sind u. a. das Gefühl von permanentem Getriebensein, eine Leere und die Sehnsucht nach mehr Sinn. Auch das Gespür für die eigenen Bedürfnisse, Klarheit über die eigenen Perspektiven oder auch das eigene Potenzial gehen verloren, solange alles darangesetzt wird, im System zu funktionieren. Die Qualität unseres Denkens ist beeinträchtigt: Die Weisheit, die aus freiem, eigenständigem Denken resultieren kann und jedem von uns eigentlich zur Verfügung stünde, wird nicht ausgeschöpft; die Kreativität leidet. Der Denkprozess ist blockiert oder die Gedanken drehen sich im Kreis. Viele Menschen bleiben unter ihren Möglichkeiten und leiden unter den äußeren Umständen, die ihnen nicht erlauben, ihre (gedankliche) Freiheit stärker auszuleben.

Wie das Thinking Environment helfen kann

Die Amerikanerin Nancy Kline befasst sich seit den 70er-Jahren mit der Frage, in welchem Umfeld wir Menschen am besten denken können – im Sinne von: klar, unabhängig, kreativ – und was genau passiert, wenn wir zu einer Einsicht gelangen. Sie hat herausgefunden, dass für die Qualität des Denkens das Verhalten anderer Menschen, die dabei sind, während wir denken, entscheidend ist. Paradoxerweise können Menschen nämlich v. a. dann gut eigenständig und unabhängig denken, wenn andere Interesse an ihnen zeigen, sie ermutigen und ohne Bewertung zuhören. Von den anderen hängt es also ab, wie gut wir denken können.

In zehn Komponenten beschreibt sie die Bedingungen für eine Denkumgebung, die mutiges, freies, einfallsreiches und eigenständiges Denken ermöglicht, und erläutert, wie wir diesen Raum bewusst kreieren können.

Das Thinking Environment ist weit mehr als ein Coaching-Ansatz oder ein Instrumentarium für die Gruppenarbeit. Es ist eine grundlegende Haltung, mit der Menschen einander begegnen – Einzelpersonen oder Gruppen – und die es erlaubt, dass jeder Einzelne mit sich selbst und seinem ureigenen Denken und Fühlen in Kontakt kommt. Eigene hinderliche Annahmen oder Glaubenssätze können erkannt und aufgelöst werden. Dadurch entstehen neue Freiheiten im Denken, die in praktisches Handeln umgesetzt werden, welches den Werten der denkenden Person entspricht und daher stimmig und wirkungsvoll ist.

Die Arbeit in einem Thinking Environment bewirkt eine „Aufrichtung“ der denkenden Person: Sich des eigenen Denkens zu ermächtigen ist ein Akt der Autonomie und führt zu Selbstrespekt, Selbstbestimmung, Souveränität und Würde.

In ihrer Arbeit wurde Nancy Kline durch andere Denker und Autoren inspiriert und beeinflusst, wie z. B. von Carl Rogers, George Fox, Peter Kline, Alice Miller, Humberto Maturana, Nassim Taleb und Margaret Heffernan. Besonders deutlich ist der Bezug zu Carl Rogers klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie: Auch er beschreibt für den Erfolg einer Psychotherapie die Beziehung zwischen Klient und Therapeut, die von Wärme und Akzeptanz geprägt ist. Seiner Erfahrung nach haben Menschen eine grundsätzlich positive Entwicklungsausrichtung, sie sind prinzipiell konstruktiv, rational und sozial und selbst am besten in der Lage, ihre eigenen Probleme zu lösen. Es ist die bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung, die sie darin unterstützt, ihre eigenen Möglichkeiten zu entfalten.

Bei der Entwicklung des Ansatzes war es Nancy Kline aber ein Anliegen, v. a. ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen damit zu beschreiben, unter welchen Bedingungen Menschen offensichtlich klar, kreativ und eigenständig denken können. (Wobei sie auch dadurch etwas mit Rogers gemein hat, der einmal formulierte: „Erfahrung ist für mich die höchste Autorität“ [Rogers 1976, S. 39]). Ihre Beobachtungen und Erfahrungen hat sie in praxisorientierte, leicht nachvollziehbare und handhabbare Methoden und konkrete Verhaltensweisen übersetzt. Manches daran mag vertraut erscheinen und auch sehr einfach. Aber: „The simple is not always easy!“ – Leicht verständlich zwar in der Theorie, aber die konkrete Umsetzung birgt einige Stolperfallen und erfordert Übung.

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Nach einem einleitenden Blick auf die Fragen, was eigenständiges Denken hier meint und wofür wir ein Thinking Environment überhaupt brauchen, beschreibe ich im ersten Kapitel die Herkunft und die theoretische Grundlage des Ansatzes. Das Modell der zwei Denkwelten (die Welt des Denkens im Austausch und die Welt des unabhängigen Denkens) veranschaulicht in diesem Zusammenhang, inwiefern sich das Thinking Environment von üblichen Kommunikationsmustern unterscheidet. Sie bekommen einen Einblick, wie und in welchen verschiedenen Kontexten sich das Thinking Environment einsetzen lässt.

Das Zusammenwirken der zehn Bedingungen oder Komponenten, die eigenständiges Denken ermöglichen und die der zentrale Orientierungsrahmen für jegliche Arbeit mit diesem Ansatz sind, werden ausführlich im zweiten Kapitel beschrieben.

Das dritte Kapitel widmet sich der Wirkung, die ein Leben und Arbeiten mit dem Thinking Environment auf individueller sowie auf zwischenmenschlicher Ebene entfaltet. Ein Exkurs in die Hirnforschung erklärt neuropsychologisch, warum und wie die Denkumgebung wirkt.

Der zweite Teil des Buches widmet sich der praktischen Umsetzung des Thinking Environment mit Einzelpersonen und Gruppen. Ich stelle meine Erfahrungen anhand praktischer Beispiele vor und thematisiere dabei auch Widerstände, die auftreten können, sowie den Umgang damit.

Zunächst blicke ich im vierten Kapitel auf Einzelsitzungen und kläre, welche Anforderungen der Coach in diesem Ansatz zu erfüllen hat: Welche Haltung ist erforderlich, um anderen Menschen ein Thinking Environment zu sein? Inwiefern unterstützen Prinzipien der Achtsamkeit diese Arbeit?

Sie erfahren, wie ein Vorgespräch für eine Denksitzung aussehen könnte, und lernen den genauen Ablauf und die verschiedenen Arten von Sitzungszielen kennen.

Mehrere Beispiele illustrieren dabei den Prozess und die Wirkungsweise.

Im fünften Kapitel werden andere Einsatzmöglichkeiten des Thinking Environment in Zweierkontexten beschrieben wie die Supervision und das Mentoring.

Im zweiten Abschnitt des praktischen Teils gehe ich auf die Arbeit mit dem Thinking Environment in verschiedenen Gruppenkontexten ein: Wie wirkt sich die Denkumgebung auf die Zusammenarbeit und die Ergebnisse eines Teams oder einer Gruppe aus? Und welcher Art von Widerständen begegnet man in diesem Kontext?

Zentrales Augenmerk bezüglich der Arbeit in Gruppen lege ich dabei auf Meetings (sechstes Kapitel). Was ist erforderlich, um zu einer neuen Meetingkultur zu gelangen? Welche Rolle spielt dabei der sogenannte Facilitator? Wie wirkt es sich auf die einzelnen Personen, aber auch auf eine Organisationskultur aus, Meetings in einem Thinking Environment durchzuführen? Und welche Herausforderungen gilt es zu überwinden?

Im siebten Kapitel beschreibe ich weitere Möglichkeiten für die Anwendung des Thinking Environment in Gruppen und worauf jeweils zu achten ist. Wie hilft das Thinking Environment beispielsweise dabei, während Präsentationen das gemeinsame Denken aufrechtzuerhalten?

Im achten Kapitel werden schließlich das Selberdenken und tiefe Zuhören als Kompetenzen für eine Zukunft dargestellt, in der vieles unsicher ist und permanenter Disruption begegnet werden muss. Anhand von Beispielen und konkreten Übungen gebe ich Anregungen, wie Sie sich selbst dem eigenständigen Denken weiter annähern und eine Routine im Thinking Environment entwickeln können, um diese wertvolle Ressource zum selbstverständlichen Teil Ihres Alltags werden zu lassen.

Für wen ist dieses Buch?

Das Buch wendet sich an alle, die lernen möchten, anderen – und sich selbst – (noch) besser zuzuhören; die sich wahrhaftigere Begegnungen auf Augenhöhe jenseits funktionaler Hierarchien wünschen und die statt auf Gehorsamkeit auf Kooperation setzen; Menschen, die eigenständiges Denken eher als Bereicherung denn als Bedrohung erfahren und nicht nervös werden, wenn ihren eigenen Ansichten widersprochen wird.

Dieses Buch richtet sich an all jene Coaches und Facilitators, die ihren Klienten mit größtem Respekt, Anerkennung und Offenheit begegnen möchten; die es durch ehrliches Interesse und Vertrauen in die Intelligenz ihrer Kunden ermöglichen möchten, dass diese für sich selbst denken können.

Es richtet sich an Menschen, die als Vorbilder einen Einfluss auf andere ausüben, wie Führungskräfte, Lehrer und Eltern, und die Denkräume für Mitarbeiter, Schüler oder die eigenen Kinder eröffnen möchten.

Es möchte diejenigen ansprechen, die spüren, dass etwas in unserem Zusammenleben und -arbeiten, sei es in Organisationen, Institutionen oder Firmen, zu kurz kommt.

Wenn Sie wissen möchten, ob dieses Buch etwas für Sie ist, dann stellen Sie sich zuerst die folgenden Fragen:

Erst dann, wenn Sie diese Fragen mit Ja beantworten können, lohnt es sich, im Sinne des Thinking Environment und im Sinne dieses Buches weiterzufragen: Und wie lassen sich andere Menschen darin unterstützen, frei und eigenständig zu denken?

Der Thinking-Environment-Ansatz wird stetig weiter verfeinert, angepasst und verändert – begleitet von der Bereitschaft, auch einmal falschzuliegen, und der Offenheit, neue und frische Impulse mit einzubeziehen. In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Einladung, den Ansatz zu hinterfragen, ihn mit- und weiterzudenken.

Die Wirksamkeit des Ansatzes, die sich in Form klarer Gedanken oder dem Gefühl tiefer Verbundenheit äußert, ist meines Erachtens nur erfahrbar, indem Sie das Thinking Environment selbst anwenden und so die Komplexität und Tiefe dieser Haltung in der Praxis erleben.

Wofür brauchen wir – gerade jetzt und hier – eigenständiges Denken überhaupt? (Und machen wir das nicht ohnehin?)

„Wir fahren doch ganz gut mit unserer bisherigen Art zu denken und zu kommunizieren. Wozu brauchen wir etwas anderes?“, wurde ich in einem Thinking-Environment-Workshop in einem großen Unternehmen gefragt.

Die meisten unserer Denkprozesse sind „in überwältigendem Maße diffus, ziellos, zerstreut, versprengt und unbeobachtet“ (Steiner 2006, S. 40). Wirkliche Originalität im Denken, ganz eigenständige Gedanken, sind äußerst selten. Das Thinking Environment beleuchtet diese Denkprozesse und holt sie ins Bewusstsein.

In einer Zeit immer komplexer werdender Herausforderungen, die immer enger getaktet auftreten, greifen althergebrachte Herangehens- und Denkweisen oft nicht mehr. Auch ist die Zeit der einsamen richtungsweisenden „Helden“ an der Spitze einer Organisation vorbei. Vernetztes Denken, flachere Hierarchien, laterale Führung und Selbstführung sind stattdessen gefragt.

Das Thinking Environment erfährt in diesen Tagen auch deswegen zunehmende Popularität, weil es diesem Paradigmenwechsel Rechnung trägt: Nach und nach wird immer deutlicher und sichtbarer, wie verwoben wir miteinander und wie abhängig wir voneinander sind. Der Zen-Meister Thich Nhat Hanh bezeichnet dies mit seiner Wortschöpfung „Intersein“ so treffend (1998). Das Vernachlässigen oder Ignorieren dieser Tatsache ist kurzsichtig und Ursache mannigfaltiger Krisen, denen wir heute gegenüberstehen.

Auf individueller Ebene (wenn Menschen z. B. auf der Suche nach ihrer eigenen Stimme sind und nach dem Ausdruck ihres Potenzials) und auch auf gesellschaftlicher Ebene ist das Trainieren des eigenständigen Denkens von Bedeutung: In Zeiten starker globaler Veränderungen und grenzenloser digitaler Vernetzung verbreiten sich populistische Meinungen und Falschmeldungen rasend schnell. Die Verführungskraft ist groß und die Gefahr, manipuliert zu werden, ebenso. „Anstrengungen, das Denken zu rationieren, es auf erlaubte, fest umrissene Kanäle zu begrenzen, bilden das Herzstück jeder Tyrannei. Anarchisches, spielerisches, verschwenderisches Denken ist das, was totalitäre Regime am meisten fürchten“ (Steiner 2006, S. 42). Die einzige Möglichkeit, sich gegen Bevormundung, Suggestion und Panikmache zu immunisieren, ist eigenständiges Denken. Nur ein ständiges Training, ein In-Kontakt-Treten mit der Frage: „Was denke und fühle ich dazu?“, unabhängig von den Erwartungen anderer, von Denkkonventionen und Tabus, führt dazu, sich selbst immer mehr zu vertrauen, authentisch zu artikulieren, um was es einem geht, und so nicht nur mündig(er), sondern auch frei zu werden.

Der Grundsatz „Kooperation statt Konkurrenz“ wird im Thinking Environment konkret umgesetzt, die Bedeutung des vernetzten Denkens und der kollektiven Intelligenz wurde erkannt und soll für ein besseres Miteinander stärker berücksichtigt werden.

Es gibt kaum Räume, wo Menschen dazu eingeladen und ermutigt werden, wirklich für sich selbst, frei und unabhängig, zu denken. Selbst in Schul- und universitären Einrichtungen gilt es, sich anzupassen und zu funktionieren. Daher haben wir unabhängiges Denken oft gar nicht gelernt.

Darin besteht die eigentliche Herausforderung: Sich das wirklich eigenständige Denken wieder anzueignen. Und die Lust und Freude an der eigenen Klugheit und den eigenen Möglichkeiten zu erfahren. Aus der Sicht der denkenden Person kann es sich nicht nur ungewohnt, sondern auch unbequem anfühlen, Verantwortung für das eigene Denken zu übernehmen. Es ist so vertraut, dass andere – vielleicht Personen mit mehr Expertise – den Ton angeben und das Denken für uns übernehmen. Eigenständiges Denken kann sich dann anfühlen, als würde man untrainierte Muskeln ungewohnt belasten.

Meine erste Begegnung mit dem Thinking Environment fühlte sich an, als erhielte ich Antworten auf viele Fragen, die mich die Jahre zuvor umgetrieben hatten und die ich mir und anderen gestellt hatte:

Auch die These, dass wir anderen weniger durch ein Tun, sondern vielmehr durch ein Sein ermöglichen, dass sie über sich selbst hinauswachsen können, fasziniert mich bis heute. Das Thinking Environment postuliert nicht nur, dass jeder Mensch seine Probleme am besten selbst lösen kann, sondern es ist auch erstaunlich konsequent (man könnte auch sagen radikal) in der Schlussfolgerung: An keiner Stelle wird das Denken für andere übernommen. Stattdessen werden der Raum und die Bedingungen aufrechterhalten, die es ermöglichen, für sich selbst und eigenständig zu denken.

Das Thinking Environment gibt viele Anhaltspunkte, wie wir einander grundsätzlich so begegnen können, dass jeder Einzelne Würde und Freiheit erfährt. Menschen, die einander ein Thinking Environment anbieten, erleben ein waches, inspiriertes und lebendiges gemeinsames Miteinander ohne jeglichen Dogmatismus.

Je intensiver man aber in die Praxis des Thinking Environment einsteigt, umso sensibler wird man für das Ausmaß, in dem wir andere Menschen für uns denken lassen. Das fängt damit an, dass unser Gegenüber einen angefangenen Satz vollendet in der Annahme, schon zu wissen, worauf wir hinauswollen. Schildert jemand ein Problem oder eine Herausforderung, sind wir schnell darin, Hilfe anzubieten in Form von Lösungsvorschlägen, zielführenden Fragen, eigenen Erfahrungen oder auch Trost. Es scheint auf den ersten Blick nicht sehr unterstützend zu sein, stattdessen „Was noch?“ zu fragen, wie es im Thinking Environment gehandhabt wird. Dafür aber steht dieser Ansatz: der Intelligenz des Gegenübers und dessen Kompetenz, die eigenen Fragestellungen selbst zu durchdenken, zu vertrauen. Und die eigene Perspektive – wenn überhaupt – erst dann anzubieten, wenn die andere Person danach fragt.

Und dies gilt auch für unsere Selbstermächtigung: Wer könnte besser Entscheidungen für mein Leben treffen als ich selbst? Wer könnte besser wissen, was für mich richtig ist, als ich selbst? Aufwachen – Licht an! Herrlich!

Was meint „Denken“ in einem Thinking Environment?

Es wurde hier bereits viel über eigenständiges Denken gesprochen. Die Art des Denkens, die im Thinking Environment gemeint ist, ist eine ganzheitliche und schließt explizit das Fühlen und den ganzen Körper mit ein. Es geht nicht allein um ein rein rationales Erforschen, sondern auch darum, welche zentrale Rolle Emotionen in unserem Denken spielen und wie sie sich auf Entscheidungen auswirken. Daher lädt das Thinking Environment dazu ein, auch die tieferen, unbekannteren und leiseren Bereiche des Selbst zu erkunden und über das Bekannte und Vertraute, Sichere, rein Kognitive hinauszudenken, nach innen zu spüren und zu lauschen.

Gefühle – eine der zehn Komponenten eines Thinking Environment – sollen nicht nur zugelassen werden und ihren Raum bekommen, ihre Wahrnehmung ist oft sogar Voraussetzung für kreatives, umfassendes und wirkungsvolles Denken. Sie sind eine Quelle, der Zugang zu tieferem Wissen.

Eigenständiges Denken bedeutet, unbeeinflusst denken und auf eigene Erfahrungen, Gefühle und die eigene Kreativität zugreifen zu können – ohne von außen gesteuert zu werden oder sich steuern zu lassen, etwa durch Meinungen oder Ansichten anderer. Das kann auch durch (im Wortsinne) „richtungsweisende“ Fragen anderer geschehen, die das Denken auf einen von außen bestimmten Fokus lenken und damit in den individuellen Denkprozess eingreifen. Eigenständig und für uns selbst zu denken bedeutet, die Aufmerksamkeit auf uns selbst zu lenken. Das Thinking Environment spricht jedem Menschen diese Fähigkeit zu – sofern die zehn Bedingungen gegeben sind, die ich im Folgenden genauer erläutern werde.

Die Aufgabe des Gegenübers (des Coaches, Mentors, Teamleiters etc.) besteht somit darin, den Coachee / den Mentee / das Teammitglied mit sich selbst in Kontakt zu bringen und dazu beizutragen, dass ein Feld zwischen den Anwesenden entsteht, die Denkumgebung.

Einige Hinweise in eigener Sache

An dieser Stelle möchte ich noch Begrifflichkeiten klären, die in diesem Buch häufig verwendet werden:

Ursprünglich hat Nancy Kline das Thinking Environment ganz allgemein für die Arbeit in Zweierkonstellationen entwickelt. Wie können sich zwei Personen gegenseitig die besten Bedingungen schaffen, unter denen sie frei und eigenständig denken können? Diese zwei Personen gehen eine Denkpartnerschaft (Thinking Partnership) ein. Ich verwende hier den Begriff Denkpartner und meine damit Personen, die – nicht notwendigerweise mit jahrelanger professioneller Ausbildung – anderen auf eine Art und Weise zuhören, wie sie hier beschrieben wird, die anderen also ein Thinking Environment zur Verfügung stellen. In der ebenbürtigen Denkpartnerschaft nimmt immer eine Person die Rolle des Denkpartners oder des Zuhörers ein und die andere die des Denkers oder der denkenden Person. Die Rollen sind dabei austauschbar.

Erst über die Jahre hinweg hat Nancy Kline daraus ein Konzept für Coaching und weitere Zweiersituationen sowie auch für Gruppen entwickelt.

Als Coach bezeichne ich hier jemanden, der sich vertieft in diesen Ansatz eingearbeitet hat und der andere Personen professionell durch einen Denkprozess begleitet. Sein Gegenüber ist der Coachee – oder eben die „denkende Person“ oder der „Denker“.

Die Begrifflichkeiten spiegeln sich auch in der formalen Ausbildung wider (siehe hier), die durch Time To Think Ltd. angeboten wird: Der Grundkurs für die Arbeit in Zweierkonstellationen ist der Thinking-Partnership-Kurs, in dem man lernt, Denkpartner zu werden und Denksitzungen (Thinking Partnership Session®) durchzuführen. Ihm schließt sich eine Coaching-Ausbildung zum Time-To-Think-Coach an, die den Ansatz für die professionelle Anwendung weiterführt.

Nancy Kline ist die Begründerin der Time To Think Ltd. in England, über die sie das Thinking Environment bekannt macht und Ausbildungskurse anbietet. Bei ihr habe ich diesen Ansatz kennengelernt. Von ihr habe ich nicht nur die konkrete Umsetzung und die Methoden gelernt, sondern ich habe auch erfahren, wie sie als Person – sehr eindrucksvoll – ein Thinking Environment verkörpern kann.

In großer Wertschätzung und Dankbarkeit für Nancy Kline und allem, was ich von ihr gelernt habe, möchte ich in diesem Buch primär meine Perspektive darauf beschreiben, wie ich diesen Ansatz umsetze und mit anderen Aspekten (wie Achtsamkeit) kombiniere. Es handelt sich also hier um meine Interpretation und um mein Verständnis: Anhand meiner eigenen praktischen Erfahrungen möchte ich die Wirkweise verdeutlichen und einen niedrigschwelligen Zugang zum unmittelbaren Ausprobieren und Erproben ermöglichen.

Sprache ist dabei essenziell. Die spezifische (ursprünglich englische) Formulierung einzelner Fragen, die in der Arbeit mit dem Thinking Environment eine Rolle spielen, wurde über Jahrzehnte weiterentwickelt und angepasst. Leider lassen sich diese Fragen nicht immer wortwörtlich ins Deutsche übersetzen, ohne dabei an Musik und impliziten Konnotationen zu verlieren. Dieses Buch ist somit auch ein Versuch, das Konzept des Thinking Environment kulturell zu übersetzen, sodass es im deutschsprachigen Raum aufgenommen werden kann. Die hier vorgestellten Übersetzungen der Fragen sind daher die bisher bestmögliche Annäherung.

Wissend, dass durch Sprache auch Wirklichkeiten konstruiert werden, bedauere ich, dass es in der deutschen Sprache keine geschlechterneutrale Schreibweise gibt, die ich für gut lesbar halte. Ich habe mich daher (mit etwas Unbehagen) auf die männliche Schreibweise reduziert oder neutrale Formen verwendet, wenn es möglich war. Gemeint sind natürlich immer beide Geschlechter.

3. Die Wirkung einer positiven Denkumgebung

„Das größte Kompliment, das mir jemals gemacht wurde, war, als jemand mich fragte,
was ich denke, und dann meine Antwort anhörte.“

(Henry David Thoreau)

Der Sozialpsychologe Harald Welzer beschreibt die Notwendigkeit eines Umdenkens in unserer Zeit so: „Man muss seine Handlungsmaximen radikal umstellen: nicht Effizienz, sondern Achtsamkeit, nicht Schnelligkeit, sondern Genauigkeit, nicht Weitermachen, sondern Innehalten wären Maximen für den Weg in die reduktive Moderne“ (Welzer 2013, S. 141).

Achtsamkeit, Genauigkeit und ein regelmäßiges Innehalten sind auch die Grundvoraussetzungen für ein gelungenes Thinking Environment. Auf diese Weise können „mentale Infrastrukturen“ (Welzer 2011) hinterfragt werden: Die denkenden Personen wenden sich mit interessierter Aufmerksamkeit ihren Gewohnheiten und blockierenden Annahmen zu, hinterfragen sie und lösen sie auf. An ihre Stelle können sodann neue, förderliche Annahmen treten, die zu einem freien, mutigen und stimmigen Handeln führen, das den eigenen Werten entspricht.

Die Arbeit mit dem Thinking Environment bewirkt nicht nur auf individueller Ebene eine Veränderung, sie strahlt auch auf die Beziehung zwischen den Menschen aus. Diese Wirkungen lassen sich auch aus Sicht der Hirnforschung begründen.

3.1 Individuation und Selbstermächtigung

Teilnehmende der Ausbildungskurse und Klienten staunen immer wieder über die starke Wirkung der achtsamen, aufmerksamen Haltung, die ein Coach in einem Thinking Environment einnimmt. Was so passiv erscheint, ist die wichtigste Kompetenz des Coaches in einem Thinking Environment und hilft dabei, wirklich freies, kreatives und mutiges Denken freizusetzen. Die positiven Erfahrungen in den Denksitzungen erlauben dem Coachee, das Vertrauen in die Qualität einer solch gearteten Denker-Denkpartner-Beziehung zu entwickeln und die Wirkungen auf unterschiedlichen Ebenen zu erleben. Zugleich ist die besondere Haltung des Coaches die Antwort auf die häufig gestellte Frage nach der Wirksamkeit des Ansatzes: „Wenn der Coach gar nichts macht – dann könnte ich das doch auch alles der Wand erzählen! Was ist denn dann der Unterschied?“ – Das konsequente Bereitstellen eines Thinking Environment durch den Coach hilft der denkenden Person, sich selbst freundlich anzunehmen. Der Coachee weiß, dass er keine Leistung abliefern, dass er nicht erst „das Richtige“ herausfinden und auch nicht irgendwelchen Erwartungen entsprechen muss. Er kann anfangen, darauf zu vertrauen, dass er in diesem Kontext wirklich völlige Freiheit hat und die andere Person ihr trotzdem interessiert und freundlich zugewandt bleibt.

Das Sichlösen von vermeintlichen Erwartungen von außen lässt die denkende Person entspannen und ermöglicht es ihr, sich angstfrei dem ureigenen Denken und Fühlen zuzuwenden, auch den Schatten und Unzulänglichkeiten. Dann tritt ein manchmal unerwarteter Effekt ein: Ohne Mühe und eben genau dann, wenn man nicht mehr bestimmten Ansprüchen genügen möchte, findet mutiges und frisches Denken statt.

Oft sind es Momente der Überraschung, wenn Menschen ihre eigenen Möglichkeiten erkennen oder ihre eigene Weisheit erfahren, zu der sie zu Hause und alleine auf dem Sofa kaum Zugang haben. Denken in einem Thinking Environment ist ein Prozess der Selbstermächtigung. Die denkende Person kann sich als selbstwirksam erfahren: Nicht nur, dass sie sich intensiv ihren Fragen gewidmet hat, sie hat sie auch selbst bearbeitet und stimmige Handlungsoptionen entwickelt und ist nicht beraten worden.

Erfährt man diese ermutigende und wertschätzende Denkumgebung eine Zeit lang immer wieder aufs Neue, werden Selbstvertrauen („Ich habe mir das alles allein erarbeitet!“), Selbstwertschätzung („Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so kluge Gedanken haben kann!“) und die Fähigkeit zur Selbstermächtigung („Jetzt weiß ich, wie ich es angehe!“) gefördert. Die gefühlte Abhängigkeit von einer Zustimmung von außen nimmt ab. Gleichzeitig – so meine Erfahrung – nimmt aber der Wunsch zu, eigene Fragestellungen in einem Denkraum, also im Beisein eines Denkpartners, zu bearbeiten. Und auch die Gewissheit wächst, dazu in der Lage zu sein. Es ist die paradoxe Schlussfolgerung: Um eigenständig und unabhängig denken zu können, bin ich bereit, mich dem Denkraum einer anderen Person anzuvertrauen.

3.2 Verbindung und Gemeinschaft

Aber nicht nur die denkende Person erfährt sich dabei neu, auch zwischen den Menschen, die sich in einem Thinking Environment begegnen, passiert manchmal Unerwartetes. Da das Zuhören eine besonders wirksame Art der Zuwendung ist, kann es Menschen auch verbinden und Gemeinschaft stiften. Mitunter erfahre ich die Kommunikation in einem Thinking Environment, sei es in einer Zweiersituation oder in einer Gruppe, als geradezu transformierend und so, wie Otto Scharmer es in seinem Buch Theorie U – Von der Zukunft her führen beschreibt: „In solchen Momenten verlangsamt sich die Zeit, die Atmosphäre verdichtet und der Raum erweitert sich (…). Die Grenze zwischen dir und deinen Gesprächspartnern ist nun geöffnet, in seid in einer gemeinsamen Anwesenheit, in einem gemeinsamen Flow“ (Scharmer 2011, S. 282). Diese Verbundenheit, dieses Feld zwischen den Beteiligten, wird konkret spürbar und erfahrbar. Eine Kursteilnehmerin beschreibt das so: „Ich habe mich am Ende der Denksitzung den Bruchteil einer Sekunde gefragt, wer denn gerade die denkende Person und wer die zuhörende war.“ Andere berichten auch von einem Staunen darüber, dass die – von der anderen Person – durchdachten Fragen sehr eng mit den eigenen verknüpft waren und sich dabei die Trennung zwischen dir und mir in kurzen wundersamen Momenten auflöste. Auch der Denkpartner selbst kann – wenn er auf diese Weise zuhört – von einer anderen Perspektive so berührt werden, dass er eigene Sichtweisen hinterfragt oder erweitert und verändert aus der Sitzung herausgeht.

Die wohlwollende Haltung, die die zuhörende Person einnimmt, strahlt Wärme und liebevolle Zugewandtheit aus, was sich unmittelbar auf die denkende Person auswirkt, denn Liebe ist die einzige Emotion, die die Intelligenz erweitert („Love expands intelligence“, Maturana & Bunnell 2016). Es geht um eine Begegnung von Menschen, in der niemand den anderen verändern oder optimieren will. In einem Thinking Environment fließt keine Energie in den Wettbewerb, in das Trennende. Das Gefühl der Verbundenheit setzt ganz offensichtlich neue Energien frei. So sagte ein Teilnehmer in der Abschlussrunde einer Veranstaltung in einem Thinking Environment: „Ich hatte den Eindruck, dass wir alle immer schöner wurden, als wir uns in dieser Aufmerksamkeit begegneten. Kann man das sehen?“

Verstehen ist eine Handlung

In einem Thinking-Environment-Kurs wurde ein Teilnehmer unruhig: „Es geht hier ja nur ums Denken! Wie kommt man denn dann ins Tun? Das kann ja nun nicht alles sein!“ Es stimmt, dass der Fokus beim Thinking Environment tatsächlich auf dem Denken liegt. Wenn aber in dem Denkprozess die hinderlichen Annahmen, die dem Handeln im Wege stehen, ausgeräumt werden, ist das Handeln fast eine logische Konsequenz und erscheint oft geradezu mühelos. Krishnamurti beschreibt das so: „Man versteht nicht zuerst und handelt dann. Wenn man versteht, wenn man wirklich versteht, dann ist das bereits eine Handlung“ (Quelle: http://www.jkrishnamurti.de).

Die Erfahrung zeigt auch, dass das Ergebnis einer Denksitzung meist positiv erfahrbare Werte beinhaltet: Am Ende gibt es oftmals Momente der Selbstachtung und Selbstermächtigung, des Humors, der Befreiung und der Würde. Nie steht am Ende einer Sitzung ein fertiger Racheplan. Und dafür braucht es keine aktive Steuerung. Das Denken bewegt sich von sich aus in Richtung auf eine in unterschiedlicher Form heilende oder heilsame Wirkung – auf individueller Ebene, aber auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Das tiefe Gefühl, angenommen, gesehen und gehört zu werden, erlaubt es dem Menschen, sich selbst anzunehmen. Diese Art der Beziehung kann heilende Wirkung haben.

3.3 (Neuro-)wissenschaftliche Aspekte

„Es gibt nichts, was die Entfaltung der in jedem Menschen angelegten Potentiale so sehr und so nachhaltig verhindert wie der Verlust der Freude am eigenen Denken und Gestalten.“

(Hüther 2015, S. 144)

Was Kindern noch ganz zu eigen ist, geht uns Erwachsenen leider zunehmend verloren: die Lust, die Begeisterungsfähigkeit, selbst zu entdecken und dabei eigene Erfahrungen zu sammeln.

Uns vertraute Umgangsformen, die geprägt sind durch Konkurrenzdenken, Zeit- und Leistungsdruck, schaffen kein denkförderliches Umfeld, schaffen kein Umfeld, das zum Explorieren einlädt. Selten sind unsere Beziehungen tatsächlich so beschaffen, dass sie zum eigenständigen Denken ermutigen, und viel Potenzial mag durch unsere Art, wie wir miteinander umgehen, verschüttet sein.