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Mein gerettetes Vierteljahrhundert

von Anton G. Leitner

Die Dosis macht das Gift, lautet ein sprichwörtlicher Satz, der auf Paracelsus zurückgeführt wird. Wendet man ihn auf all das an, was wir unter dem Glauben an Gott oder an transzendente Kräfte und die daraus resultierende kultische Praxis subsumieren, dann ist feststellbar, dass die Religion, in maßvollen Dosierungen verabreicht und genossen, Menschen dabei helfen kann, ihr Leben zu meistern – besonders in Krisensituationen. Wenn wir aber etwa an Terroranschläge denken, die verblendete Eiferer im Namen eines Gottes begehen, um »Andersgläubige« oder »Ungläubige« zu vernichten, dann wird uns sehr drastisch vor Augen geführt, wie schnell eine Überdosis »Religion« ihr Giftpotenzial der Intoleranz entfalten kann, mit zerstörerischen Wirkungen für eine Vielzahl von Menschen.

Die Misshandlung von Schutzbefohlenen im Bereich der katholischen Kirche ist für mich kein abstrakter Sachverhalt, der nur Chorknaben in Regensburg oder ehemalige Jesuitenzöglinge betrifft: Ich selbst habe als Grundschüler auf dem Dorf Pfarrer erlebt, die ihr »Himmelreich« besonders gerne Buben aus prekären Verhältnissen mit dem Rohrstock oder der Faust einzubläuen versuchten. Aber mein Glück, als Lehrerkind auf die Welt gekommen zu sein, beschützte mich nicht immer vor ihnen, sie versohlten hin und wieder auch mir den Hintern oder watschten mich im Religionsunterricht ab. Und gleichzeitig bekam ich innerfamiliär mit, was passiert, wenn eine evangelische Frau in eine erzkatholische Familie einheiratet. Solche traumatisierenden Erfahrungen haben mich früh und nachhaltig davor abgeschreckt, mein Leben allzu eng der Religion zu verschreiben, auch wenn mich die Frage »Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?« seit jeher umtreibt, genauso wie die Idee, dass es etwas geben könnte, was alle Religionen im Kern gemeinsam haben.

Nicht die christliche Erziehung war es, die mir als Schüler half, alle Nachteile meiner damals eher schmächtigen Statur und körperlichen Behinderung wettzumachen. Ich wehrte mich gegen Hänseleien von Mitschülern (heute würde man wohl Mobbing dazu sagen) effektiv mit der gebundenen Sprache, sprich mit Versen, Strophen, Rhythmus und Klang. Es war die Poesie und die Art, wie ich sie bis heute Tag für Tag als Kommunikationshilfe einsetzen kann, die für die kleinen und großen Wunder in meinem Leben sorgte. Am ersten Studientag steckte ich heimlich einer Kommilitonin ein Liebesgedicht zu, und bereits am zweiten Studientag waren wir ein Paar. Das ist so unglaublich wie wahr und wunderbar, und es hat mir sogar das trockene Studium der Jurisprudenz erträglicher gemacht.

Sehr früh also verspürte ich, dass die Poesie für mich ein Potenzial bereithält, das mir viele Tage, wenn nicht sogar mein ganzes Leben retten kann, denn außer meinen engsten Verwandten habe ich alle Menschen im Leben, die mir etwas bedeuten, über die Lyrik kennengelernt, natürlich auch meine Frau Felizitas. Wir feierten im Februar 2017 Silberhochzeit. Dass jetzt, neun Monate später, auch diese Zeitschrift ihr 25-jähriges Jubiläum begeht, ist kein Zufall und hängt mit unserer Ehe zusammen. Wenn Felizitas nicht bereit gewesen wäre, als Hausärztin das Geld für unseren Lebensbedarf zu verdienen, würde es DAS GEDICHT nicht geben. Sie hat mir durch diese Entscheidung, zusammen mit meinen Eltern, den Rücken so freigehalten, dass ich einen Großteil meiner Zeit, in der Regel zwölf Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche, ausschließlich der Poesie und ihrer Vermittlung widmen kann. Ohne diesen Rückhalt, aber auch ohne die Hilfe von langjährigen Freunden, die an mich und meine Arbeit glauben, würde ein solches Lebensprojekt nicht funktionieren.

Wer sich hierzulande in der jüngeren Literaturgeschichte umsieht, kann feststellen, dass es bis heute keine vergleichbare »Publikumszeitschrift« für Poesie gibt, die 25 Jahre kontinuierlich, also ohne jede Unterbrechung, unter demselben Verlagsdach erscheinen konnte. Dieses Alleinstellungsmerkmal wird noch dadurch verstärkt, dass die Printausgaben von DAS GEDICHT schon lange über ein Poesieportal (www.dasgedicht.de) und ein täglich aktualisiertes Online-Forum (www.dasgedichtblog.de) multimedial mit dem weltweiten Netz verwebt sind. Dass bereits zwei GEDICHT-Folgen in Form einer internationalen Tochterausgabe in englischer Sprache vorliegen, setzt dem Ganzen noch das Sahnehäubchen auf. Die Erklärung, warum mir gelingt, was andere auf Dauer nicht durchhalten, ist simpel: Ich arbeite wie ein Berserker, verzichte weitgehend auf Urlaub, entnehme kein Gehalt aus meinem Betrieb und habe einige Menschen in der nächsten Umgebung, die mich nach Kräften unterstützen.

Ein befreundeter Mönch hat einmal gefeixt, dass mein Lebensentwurf sehr radikal sei und seinem eigenen ähnle, wenn man die Bürde des Zölibats einmal beiseitelasse: Denn bei mir spiele der Gelderwerb, wie bei ihm, keine nennenswerte Rolle. Tatsächlich interessiert mich der Mammon nur deshalb, weil ich neue Ausgaben von DAS GEDICHT produzieren möchte und dafür die entsprechenden Mittel benötige.

Der Wert eines Gedichts ist unschätzbar und lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Gerade in einer Zeit, in der Geld vielen Menschen alles bedeutet, ist das Verfassen und Verbreiten von Poesie die vielleicht elementarste Form des friedlichen Protests gegen die totale Ökonomisierung unserer menschlichen Existenz. Der Begriff »Downshiften« steht dafür, sein Leben einfacher, bewusster und kontemplativer zu gestalten. Besonders in der jüngeren Generation gewinnt »Downshifting« an Bedeutung. Und da ist er dann auch schon wieder, der Link zur Poesie: Denn was tut sie anderes, als uns dabei zu helfen, uns selbst zu verorten, uns selbst bewusst zu werden? Genau dies macht die Lyrik krisenfest und zukunftssicher – und attraktiv für die nachfolgende Generation.

Auch wenn es gerade für den ständigen Herausgeber und Verleger einer Poesiezeitschrift genügend Anlass zu Klagen und Besorgnis gäbe: Mir ist weder angst noch bang um die Königsgattung der Literatur und um DAS GEDICHT. In diesem Sinne sage ich allen, die mir geholfen haben, dieses Magazin zu dem zu machen, was es heute ist, nämlich eine vitale Quelle für zeitgenössische Lyrik, von Herzen Danke. Und ich denke dabei auch an all jene, die nur noch durch ihre Verse weiterleben und, wie Friedrich Rückert es so tröstlich ausgedrückt hat, vielleicht nur ausgegangen, uns nur voraus gegangen sind, namentlich an Hans Bender, Horst Bingel, Erika Burkart, Wilhelm Deinert, Hilde Domin, Nikolaus Dominik, Hans-Jürgen Döring, Werner Dürrson, Richard Exner, Robert Gernhardt, Günter Grass, Michael Hamburger, Ernst Jandl, Sarah Kirsch, Jean Krier, Karl Krolow, Arnold Leifert, Werner Lutz, Mario Luzi, Peter Maiwald, Rainer Malkowski, Roger Manderscheid, Kurt Marti, Virgilio Masciadri, Gerhard Neumann, Oskar Pastior, Herbert Rosendorfer, Dorothee Sölle, Mario Wirz, Karol Wojtyla und Paul Wühr –, um nur einige unserer verstorbenen Autorinnen und Autoren exemplarisch zu nennen. Das ist die traurige Seite des irdischen Wunders, ein Herzblatt wie DAS GEDICHT ein Vierteljahrhundert lang inhaltlich maßgeblich mitgestalten zu können.

Bitte bleiben Sie uns und der Poesie auch weiterhin gewogen.

Ad multos annos,

Anton G. Leitner

Weßling, im September 2017

SALIGIA

von José F. A. Oliver

Es hätte auch anders kommen können. Es wäre für diese Jubiläumsausgabe ein festlicheres Ansinnen, ein Ariadnefaden der Feierlichkeit möglich gewesen. Die 25 ist stattlich und aller Ovationen wert. Ich gratuliere Anton G. Leitner deshalb sehr herzlich. Chapeau!

Es sollte jedoch keine rückblickende Gedenkveröffentlichung werden. Wir trafen uns in unseren Vorgesprächen für diese 25er-Publikation bald bei einer Zahl, die nicht minder Faszinierendes verbürgt und birgt: die Sieben. Nicht die Sieben-Tage-Woche, auch nicht die Aufforderung: Am 7. Tage aber sollst Du ruhen und DAS GEDICHT preisen. Nein. Wir hatten nachgedacht, und es wurde, es musste ein Thema sein, das uns seit geraumer Zeit eine bedrückende Wirklichkeit beschert: die Religion(en).

Wo einerseits das »Christliche Abendland« mit haarsträubenden Verrenkungen beschworen wird, die zum Himmel schreien, und andererseits der Islam und das damit verbundene Damoklesschwert »Islamismus« als schiere Erklärungshostien verabreicht werden, wollten wir uns einer thematischen Dringlichkeit stellen, die uns eine Art Meditation ermöglichte. Wie reicht das alte Menschheitsthema des Religiösen ins Gedicht? Wohin spürt es nach (oder vor), wenn sich das Gedicht mit den Bedeutungshöfen einer Religion auseinandersetzt?

Religion – es wurde der Singular. Religionen im Plural haben wir uns dann doch nicht zugetraut. Wir wissen zu wenig vom Islam, zu wenig vom Judentum, zu wenig vom Hinduismus, um nur die namensvertrautesten aufzuzählen. Beim »Christentum« sieht das schon anders aus. Scheint es anders auszusehen. Wo immer die eigene Verortung auch liegt.

Schon als Kind haben mich die sogenannten Todsünden beschäftigt und in ihren Bann gezogen. Gut katholisch, der ich erzogen worden bin. Später lernte ich ihre lateinischen Namen und konnte sie mir merken, weil mir ein Kürzel dabei half. Ein Professor der Volkskunde hatte es mir an die Hand gegeben: SALIGIA. S für Superbia; A für Avaritia; L für Luxuria; I für Ira; G für Gula; I für Invidia; A für Acedia. Eine Orientierung im Unwägbaren des Dünkels und des Hochmutes, der Habsucht und des Geizes, der wollüstigen Verschwendungssucht, des zerstörungswütigen Zorns, der Völlerei, des Neides und der Eifersucht sowie der Trägheit und Teilnahmslosigkeit. Der Übersetzungswörter für die lateinischen Termini wären gar viele.

Was wir wollten, sind Spannungen, keine Entspannung; die Vielfalt der Geschichten, die sich in den Gedichten, aber auch in der Zusammenstellung der Beiträge ergeben. Das Gerüst der 7 als vorübergehende Stütze. Nicht nur das einzelne Gedicht als Poesie des Sagbaren, vielmehr die Komposition des gesamten Bandes als eine große, kühne Metapher, um damit auch das Unsagbare in den Raum zu stellen. Jedes Gedicht das Ganze und das Ganze in jedem Gedicht. Hilde Domin schrieb einst in ihrem Gedicht »Lyrik«, dass zwischen den Worten das geheimnisvolle »Nichtwort« ausgespannt sei. So auch das Geheimnis dieser Jubiläumsausgabe: ausgespannt zwischen den Gedichten das unausgesprochene Nicht-Gedicht. Gut und Böse auf dem Prüfstand der Wahrnehmungen.

Schlagen Sie in sich nach. Wie in einem Buch. Vielleicht erfahren Sie auf ihre eigene Art und Weise, woraus die Herausforderungen unserer Epoche – vielleicht gar aller Zeiten – gemacht sind. Worte, die weit über die christlichen Glaubensströme hinausweisen.

Die 7 – ihre leitmotivische Struktur ist eine der vielen Lesarten, die wir zur Verfügung hatten. Die Gedanken und Gefühle, die sie hervorruft – besonders in ihrer anregenden Widersprüchlichkeit – haben uns letzten Endes überzeugt, Sie daran teilhaben zu lassen.

Jose F. A. Oliver

Hausach, im September 2017

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Markus Bundi

Decharge

Einmal angenommen
das Helfen des Tragens
der Kreuze anderer
erleichtere
den aufrechten Gang

Semier Insayif

dort wo
kein weg wo
kein baum wo
kein schritt wo
kein zaun

dort wo
ein schwarz wo
ein grau wo
ein weiß wo
ein blau

dort
fängt es an
hört nicht auf
hängt sich hin
senkt sich ab
drängt sich rein
zwängt sich durch
sengt sich ver
lenkt dich um
mengt sich bei
engt dich ein
renkt dich aus
und hebt auf

Anna Breitenbach

Früher,

als man Gott
noch anrufen
konnte, einfach.

Lutz Rathenow

Schöpfer

Ich will mit Dir reden,
wo auch immer Du,
wer auch immer Du,
wie auch immer Du –
streicheln will ich Dich auch,
der Du ein Gott bist.
Und nicht mein Gott bist.
Ich kann Dich nicht denken.
Will ich Dich zu sehr, zu wenig.
Zu gewaltig. Zu schön. Göttlich
muss außerhalb meines Kopfes sein.
In ihm bliebe kein Platz für Gedanken.
Ich will sinnieren über Dich, wer immer
das ist neben mir. Ich war nie das Kind,
das ich sein werde. Später.

Andreas Peters

gebet

gönne
mir
das
wort,
gott.
ich
gönn
dir
das
wort
gott.

Helmut Eckl

Glaubst?

Glaubst Du an den Lieben Gott?
Natürlich net, oba den gibts!

Glaubst Du an Jesus Christus?
Natürlich net, oba den gibts!

Glaubst Du an den Heilign Geist?
Natürlich net, oba den gibts aa!

Wia dees?

Weils auf dera Welt nix gibt,
wos net gibt!

Glauben mächstas ja net!

Richard Dove

Gott gemäß Google

Am Heiligen Abend dieses Jahres
ergab Gott ungefähr 139 Mio. Treffer,
einschließlich diverser Namensvetter:
Karel Gott, der Sinatra des Ostens,
Gott Immobilien Solingen,
Johannes von Gott Seniorenpflegeheim Neuss,
Mit Gott auf Schalke,
Cacau – Fussball-Gott.com.

Bedeutender, immerhin, als vieles:
Demut 666 Tsd.,
Tummy Tuck 1,06 Mio.,
Immanuel Kant 11,8 Mio.,
Cellulite 22,4 Mio.,
Wahrheit 36,5 Mio.,
Schönheit 37,8 Mio.,
Stolz 38,8 Mio.,
Arnold Schwarzenegger 43,8 Mio.,
Implants 47,6 Mio.,
Krieg 55,3 Mio.,
Angela Merkel 73,9 Mio.,
Beyoncé 84,9 Mio.,
Kirche 85,1 Mio.,
Satan 86,9 Mio.,
Alkohol 91,6 Mio.,
Hitler 102 Mio.,
Buddha 116 Mio.,
Brad Pitt 118 Mio.,
Urlaub 119 Mio.,
Beatles 130 Mio.

Und trotzdem von vielerlei überschattet:
Tod 142 Mio.,
Sterne 150 Mio.,
Lifting 153 Mio.,
Ronaldo 157 Mio.,
Depression 232 Mio.,
Liebe 266 Mio.,
Essen 270 Mio.,
Kunst 305 Mio.,
Leben 321 Mio.,
Welt 336 Mio.,
Kim Kardashian 396 Mio.,
Michael Jackson 409 Mio.,