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Für alle von Hartz IV
und »Heart’s Fear« Betroffenen –
und für alle, die ihnen beistehen
.

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DANKSAGUNG

Für Unterstützung in hartzigen Zeiten danke ich Tante Anna, Babysitterin Barbara, meiner wehrhaften Wehr-di-Helferin bei ver.di, einem Bürgermeister, meinem Rentenberatungsteam, mitfühlenden KollegInnen, den FreundInnen, die es geblieben sind und den MitbewohnerInnen, die es wurden.

Ich danke weiterhin der Werner Friedmann-Stiftung für Medikamente und kulturelle Teilhabe, der VG WORT für Brille, PC und andere Lebensgrundlagen, meiner Bankfrau für einen Dispo, der mir nicht zustand, meiner ehemaligen Arbeitslosengruppe für wertvolle Inspirationen sowie Frau Liba für ihre unverzagte Weisheit.

Meinem Mann sage ich Danke für sein großes kämpferisches Herz, meiner Herkunftsfamilie für ihr Vorbild in Zivilcourage, meiner Tochter für ihren Pioniergeist und den Mut, mich zur »Tafel« zu begleiten; und meiner kleinen Enkelin wünsche ich, dass sie ihr Leben in Frieden und Freiheit verbringen darf, mit allen, die sie lieben.

Mein besonderer Dank geht an meinen Verlag und an meinen Lektor, die diesem Buch den Weg bereitet haben.

Gesamtherausgabe März 2018 © Verlag Neuer Weg in der Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Alte Bottroper Straße 42, 45356 Essen

Telefon +49-(0)-201-25915

Fax +49-(0)-201-6144462

verlag@neuerweg.de

www.neuerweg.de

Gesamtherstellung:

Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Abbildung auf Seite 1: © Dieter Hanitzsch

ISBN: 978-3-88021-494-1

E-Book ISBN: 978-3-88021-495-8

Bettina Kenter-Götte

HEART’S
FEAR
HARTZ IV

Geschichten von
Armut und Ausgrenzung

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung

aller staatlichen Gewalt.«

Grundgesetz, Artikel 1 (1)

oder, wie Frau Liba sagt:

»Brauch’ ma net Hartz, brauch’ ma mehr Herz!«

VORWORT

DAS RECHT, RECHTE ZU HABEN

Demütigung, Entwürdigung, Entrechtung – was Bettina Kenter-Götte über ihre Erfahrungen mit den Grundsicherungssystemen in Deutschland schreibt, macht sprachlos und wütend. Menschen, die in diese Systeme – ich wage gar nicht dafür den euphemistischen Begriff »Sozialsysteme« in den Mund zu nehmen – gepresst sind, werden ihrer Würde, ihrer Autonomie, ihrer sozialen Kontakte, ihrer Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe beraubt, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und zu entwickeln.

Verantwortlich für diese Situation sind jene Politikerinnen und Politiker von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, die für Hartz IV gestimmt haben. Sie haben mit der Verabschiedung der Hartz-Gesetze zu verantworten, dass Menschen tagtäglich ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden. Denn diese Gesetze bedeuten Armut und Ausgrenzung. Das ist keinesfalls aus Versehen geschehen – nein, das ist gewollt. Weil allen gezeigt werden soll: Seht her, wenn ihr nicht spurt, so wie es das Kapital, der Arbeitsmarkt und wir dies wollen, dann droht euch Armut und Ausgrenzung, Erniedrigung und Stigmatisierung. Auch sollen die Grundsicherungssysteme Menschen abschrecken, die ihnen zustehenden Leistungen zu beantragen: Bis zu 50 Prozent derjenigen, die heute einen Anspruch auf eine Grundsicherung haben, verzichten auf diesen Anspruch. Denn jeder Gang zu Ämtern ist für Arme stigmatisierend und diskriminierend. Der Rechtsanspruch auf die Grundsicherung wird so ausgehebelt.

Die bestehenden Grundsicherungssysteme, die in der Tradition der unseligen Armenfürsorge stehen, führen zu Diskriminierung und Ausgrenzung der Betroffenen. Verwehrt werden ihnen grundlegende Rechte – das Recht auf eine ausreichende Existenz- und Teilhabesicherung, auf freie Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten, das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung, das Recht auf Freizügigkeit, auf kulturelle und politische Teilhabe.

Jeder Mensch hat aber das Recht, diese Rechte zu haben – ohne Wenn und Aber, bedingungslos, weil er Mensch ist. Werden ihm diese Rechte nicht gewährt, muss er sie gemeinsam mit anderen Menschen erstreiten, das heißt erkämpfen.

Das Allermindeste, was sofort erstritten werden muss, ist die Abschaffung der unsäglichen Sanktions- und Leistungskürzungsregelungen bei den Grundsicherungen. Denn diese Regelungen führen dazu, dass selbst die mehr als kärglichen Leistungen bei Hartz IV und der Hilfe zum Lebensunterhalt gekürzt oder ganz versagt werden können. Selbstverständlich müssen soziale Leistungen auch ausreichend hoch sein, also mindestens eine Höhe haben, die über der Armutsrisikogrenze liegt. Das ist derzeit nicht der Fall, die Regelleistungen reichen nicht mal für eine gesunde Ernährung; viele Betroffene müssen umziehen und wohnen in schlechtester Wohnlage, häufig verbunden mit einer ungesunden Wohnsituation, weil die Leistungen für Miete und Heizung nicht ausreichen. Das Konstrukt der Bedarfs- bzw. Einsatzgemeinschaft muss abgeschafft werden: Jede und jeder Einzelne hat das Recht auf eine ausreichende individuelle Absicherung.

Viele, auch ich, plädieren darüber hinaus für eine Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung, also letztlich für ein Grundeinkommen. Damit soll auch eine Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die einen Sozialtransfer zur grundlegenden Existenz- und Teilhabesicherung erhalten, und diejenigen, die einen solchen Transfer nicht erhalten, aufgehoben werden – eine Spaltung, die Diskriminierungen und Stigmatisierungen Vorschub leistet.

Bettina Kenter-Götte beschreibt mit ergreifenden und klaren Worten die Unmenschlichkeit eines bestehenden Systems, eine Unmenschlichkeit, die sie selbst erleben musste. Wer das Buch gelesen hat, wird sich die Frage stellen: Wie muss eine Gesellschaft aussehen, in der das Recht, Rechte zu haben, für alle gilt, in der jede und jeder frei von den Sorgen um die alltägliche Existenzsicherung leben kann und genug hat, um am sozialen Leben und an der Gestaltung der Gesellschaft teilzunehmen?

Katja Kipping

Vorsitzende der Partei Die Linke

VORWORT

UNRECHT ZU RECHT ERKLÄREN

Die Hartz-Gesetze mit dem Kernstück Hartz IV waren Bestandteil der Agenda 2010 der Schröder-/Fischer-Regierung, das größte Sozialabbauprogramm in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands, unter Federführung zweier Parteien – der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und von Bündnis 90/Die Grünen – entstand dieses Werk des Grauens, ein empörender Maßnahmenkatalog zur gesetzlichen Verankerung sozialer Ungerechtigkeit.

Hartz IV stellt Recht und Gerechtigkeit auf den Kopf: Durch falsche, unsoziale und ungerechte Wirtschafts- und Sozialpolitik werden Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben, der Öffentlichkeit werden sie dann als arbeitsscheue Sozialschmarotzer präsentiert, die man sozialisieren müsse und die selbst an ihrer Situation schuld seien. Sie werden systematisch entrechtet und um ihre Ersparnisse gebracht, schlichtweg enteignet. Wenn sie ihrer Entrechtung nicht freiwillig zustimmen, erhalten sie erst gar keine Leistungen oder ihnen werden die Leistungen gestrichen, im Strafgesetzbuch nennt man das Erpressung. Verweigern sie sinnlose und geistlose Maßnahmen, wollen sie sich gegen Psychoterror und Drangsalierung durch Jobcenter wehren, werden sie sanktioniert. Ihnen werden die Leistungen bis zu 100 Prozent, inklusive Wohnungsmiete, gestrichen, das grundgesetzlich garantierte Existenzminimum verweigert. Der Gipfel: Die Bundesverfassungsrichter sehen darin keine grundlegende Verletzung des Grundgesetzes.

Nicht ohne Grund kam es wenige Monate vor Einführung von Hartz IV bundesweit zu Massenprotesten gegen dieses Gesetz. Die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau bedeutete für den Großteil der Menschen zum Jahreswechsel 2005 hohe finanzielle Einbußen. Versicherungsverträge mussten gekündigt, Ersparnisse aufgelöst werden, Kreditraten konnten nicht mehr gezahlt werden. Der sozialer Abstieg und Verschuldung waren und sind die Folge.

Im Spätsommer 2004 gründete sich die bundesweite Montagsdemobewegung gegen die Agenda 2010 und Hartz IV. Jeden Montag wurde und wird auch heute nach 13 Jahren immer noch demonstriert.

Die Montagsdemobewegung entwickelte sich in all den Jahren weiter und festigte sich. Der Montag wurde zum Tag des Widerstands und die Themen des Protestes haben sich erweitert. So stehen seit Jahren zusätzlich zu Hartz IV auch die Umwelt, Aufrüstung und Kriegstreiberei sowie die Flüchtlingspolitik im Fokus der bundesweiten Montagsdemonstrationsbewegung. Zugleich sind die Teilnehmerzahlen zurückgegangen und hat die Bewegung derzeit nicht die gesellschaftliche Kraft, die sie bräuchte und erreichen könnte. Jugendliche des REBELL und als Partei die MLPD unterstützen die Montagsdemobewegung von Anfang an bis heute. Immer häufiger nehmen Belegschaften, die von Massenentlassungen betroffen sind, Flüchtlinge im Kampf um ihre Rechte oder kurdische MitbürgerInnen massenhaft teil. Das stimmt uns zuversichtlich für die Zukunft, dass der organisierte Widerstand voran kommen wird.

Und auch zu den Bundestagswahlen 2017 hatten SPD und Grüne wieder die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. Entweder leiden die Herrschaften selbst an politischer Demenz oder sie halten die Menschen in diesem Land für politisch dement. Diejenigen, die mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen erst für prekäre Arbeitsverhältnisse, Niedriglöhne, Zukunftsängste, Kinder- und Altersarmut (um nur einige Folgen der Agenda 2010 zu nennen) sorgten, wollen nun für »mehr« soziale Gerechtigkeit sorgen? In der Vergangenheit jedenfalls haben sie stets an dem System Hartz IV festgehalten, jede »Nachbesserung« entpuppte sich als Perfektionierung und weitere Verschärfung für die Opfer ihrer asozialen und menschenrechtswidrigen Politik. Mehr noch: Hartz IV spaltet die Gesellschaft und gefährdet den sozialen Frieden.

Wahlen allein werden in diesem Land nichts ändern. Die Geschichte zeigt: Wirkliche Veränderungen wurden nur durch den Druck von Protesten auf der Straße erzwungen. Hier setzt die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung an – organisiert, ausdauernd und mit überzeugenden Argumenten seit 13 Jahren auf der Straße (Infos unter www.bundesweite-montagsdemo.de).

Wer dieses Buch gelesen hat, kann nur zu einem Schluss kommen: Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Hartz IV ist ein gravierender Verstoß gegen die Menschenrechte und Menschenwürde. Hartz IV ist Psychoterror. Hartz IV ist der systematische Einstieg in den sozialen Abstieg.

Aber Hartz IV sagt uns auch: Wir dürfen die nicht gewähren lassen, die Unrecht zu Recht erklären wollen.

Fred Schirrmacher

Sprecher der Bundesweiten Montagsdemo

»Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.«

Grundgesetz, Artikel 6 (4)

»Sozialhilfe hat nichts mit der früheren Fürsorge zu tun. Sie ist eine moderne Sozialleistung, wie das Kindergeld, das Wohngeld und die Ausbildungsförderung. (Sicher freuen wir uns über jede Mark, die in den öffentlichen Kassen bleibt. Hier aber geht es um wichtigeres, nämlich darum, dass Menschen in Not geholfen wird …)«1

Anke Fuchs, SPD, 1982

»Während der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre avancierte das Sozialhilferecht zum Hauptkampfplatz zwischen Anhänger(inne)n und Gegner(inne)n des bestehenden Wohlfahrtsstaates … Es scheint, als sei dem Sozialstaat nach dem Sieg über den ›Staatssozialismus‹ von mächtigen Wirtschaftskreisen der Krieg erklärt worden.«2

Christoph Butterwegge, 2015

1. KAPITEL
LANGE VOR HARTZ IV

ZAHLTAG

Der Tee ist fertig und abgefüllt im Fläschchen. Personalausweis, Trambahnkarte und Kleingeld liegen bereit; Ersatzwindel und Taschentücher, Auto, Teddybär und Bilderbuch stecken in der Tasche; und ein Apfel, kleingeschnitten, eingedost. Viertel nach sieben; ich bin schon im Mantel. »Liebes … aufwachen … « Gleichmäßig tiefer Atem. »Komm, Kleines, wir müssen los!« Müdes Gesichtchen. Schlaftrunkener Blick. »Gehst du auf den Topf?« Ich halte dich, du schwankst vor Müdigkeit. »So … und jetzt anziehen!« – »Namnam!« – »Oh, mein Herz, jetzt nicht, wir müssen los!«

– »Namnam! Namnam!« Weinend krabbelst du übers Bett. Komm, komm, Mäuschen, rein in den Overall und na, wo ist denn jetzt schon wieder der zweite Schuh? Egal, keine Zeit, da ziehst du halt die Puschen an; regnet ja nicht heute; aber wo kann denn der Schuh bloß sein? So, und jetzt noch die Jacke.

Der Abdruck des Kissens ist noch zu sehen auf deiner rosigen Wange, als ich dich im Buggy über die Straße schiebe.

Drei Minuten vor halb acht; schnell zur Rolltreppe! »Fahrtreppe außer Funktion. Wir bitten um Verständnis.« Ich trage dich im Wägelchen die steile Treppe hinunter, stelle den Buggy ab, öffne meine Handtasche, ziehe den Geldbeutel aus der Tasche und die Trambahnkarte aus dem Geldbeutel. Du willst knipsen; ich bücke mich, hebe dich aus dem Buggy auf meine Hüfte, halte dich mit der linken Hand, mit der rechten helfe ich dir, du schiebst die Karte in den Entwerter, das Papier zerknüllt. »Probier’s noch mal! … Guuut!« Die offene Tasche rutscht mir von der Schulter, Perso, Kamm und Spielzeugauto fallen heraus. Mit einer Hand halte ich dich, mit der anderen stecke ich die Karte ins Portemonnaie, Perso, Kamm und Auto in die Tasche, schließe die Tasche, sehe die U-Bahn wegfahren. Wie das zieht hier; ich hätte dir einen Schal umbinden sollen; hoffentlich gibt das nicht wieder eine Erkältung. »Aam! Aam!« Ich bücke mich, hebe dich auf die Hüfte, dein Händchen liegt auf dem Mantelkragen an meinem Hals, süß. Zwanzig vor acht. »Ssug! Ssug!« – »Einsteigen bitte!« Alle Abteile überfüllt; ich quetsche mich rein, mit Buggy, und mit dir auf dem Arm. »Zurückbleiben bitte!« Gedränge, festhalten kann man sich nicht, aber ist ja nur eine Station bis zum Umsteigen. Raus aus dem Zug, mit dir auf dem Arm; ich ziehe die Karre an mich, hebe sie über die zackige Schwelle auf die Rolltreppe. Oben den Bahnsteig entlang, schnell rüber zur anderen Rolltreppe, runter zum Bahnsteig, die U-Bahn steht schon da, einsteigen, schnell rein, zurückbleiben, Zug fährt an. Ich stelle den Buggy ab und mit dem Fuß die Bremse ein. Hier ist mehr Platz; wir setzen uns. Jetzt bist du munter; kletterst auf mir herum; animierst morgenmüde lächelnde Menschen zum Versteckspielen, über die Lehne der Sitzbank hinweg; raufst mir zärtlich die Haare; willst runter; willst im Wagen umherlaufen. »Komm, setz dich in den Buggy, lass dich anschnallen, wir müssen gleich wieder raus.« Sieben Minuten vor acht. Die zehn Minuten Fußweg schaffen wir in sechs.

SOZIALAMT MÜNCHEN MITTE I

Die unteren Türen stehen schon offen. Die einzige kleine Bank am Informationstisch ist besetzt. Ich stelle den Buggy im Hausflur ab und die Bremse ein, beuge mich zu dir, löse den Gurt, nehme dich auf die Hüfte, küsse dein herbstkühles Haar; wir gehen auf und ab; oben werden die Türen erst um Viertel nach acht geöffnet. Du niest; ich hätte dir einen Schal umbinden sollen, hoffentlich gibt das nicht gleich wieder eine Erkältung, ich hab’ doch einen Termin, nächste Woche; und andere Menschen, selbst wenn sie sehr nett sind, hüten kranke Kinder nicht so gern.

Die Luft ist grau von kaltem Rauch, und grau sind die Gesichter der Menschen, die hier auch warten. Man sieht, sie haben schon bessere Tage gesehen. Meine Augen brennen; ich hab’ schon bessere Tage gesehn. Der Mann vom Infotisch hinkt mit einem großen Schlüsselbund in der Hand an uns vorbei; im Wettlauf stürzen die Wartenden die Treppen hinauf hinter ihm her. Vier Treppen; eine alte Dame und ich, mit dir auf der Hüfte, kommen als letzte oben an. Der Gang ist voller Menschen, die Bank vor Zimmer Nummer 50 schon besetzt. Sechs Leute vor uns; mit etwas Glück sind wir in einer Stunde wieder draußen; vielleicht. Ein Türke bietet der alten Dame seinen Platz an. Auch mir würde er gern einen anbieten, sagt er mit einer entschuldigenden Geste in meine Richtung; aber er hat halt nur einen Platz zu vergeben. Ich lächle ihm ein »Danke trotzdem« zu. »So, komm mal vom Arm, Mütze runter, so, Mäntelchen aus, wird zu warm sonst, schau, wir legen das einstweilen … unter die Bank, ist ja sonst klein Platz; magst du Tee?« – »Namnam!« Ach Kindchen, nicht jetzt, ich kann dir im Stehen nicht die Brust geben, nicht hier! »Komm, trink halt deinen Tee, hm, schau, das Bärchen trinkt auch, der Tee ist schön warm!« Du schiebst die Flasche weg; läufst durch die offenstehende Glastür am Ende des Flurs. »Tschuldigung, bin nach Ihnen dran, gleich wieder da!« Bär und Flasche in die Tasche, Tasche über die Schulter; die alte Dame nickt; du bist schon auf dem Weg nach oben. Ich sehe durchs Geländer zu dir hoch; du lachst mich durch die Längsstäbe an; oh, bitte nicht den Kopf durchstecken, rasch pflücke ich dich von der Treppe, trage dich zurück zum Zimmer Nummer 50. Ich schwitze, aber es gibt nichts, wo ich meinen Mantel ablegen könnte.

An der fensterlosen, gelblichen Wand ein Plakat: Knochenhand und Menschenhand, Gläser haltend, einander zuprostend: »Schluck für Schluck kommt man sich näher!« Du hast den Lichtschalter entdeckt. »Nicht knipsen, Liebes, sonst sitzen die Leute hier im Dunkeln!« Auf dem Boden ein überquellender Aschenbecher; eine Schwangere steht an den Türrahmen gelehnt. Um die Ecke kommt ein Mann; an seiner Hand baumelt ein Schlüssel am Band. »Da-da-auch!« sagst du. »Nein, da können wir nicht mit, ich weiß nicht, wohin der geht, aufs Klo vielleicht …« – »A-a«, sagst du, verständnisvoll. »Ja; wahrscheinlich. A-a.« Du hast einen neuen Schalter entdeckt. »Ui, dein Auto, wie gut das hier rollt, auf dem glatten Fußboden!« Du lässt dich begeistern. Ich stehe gebückt; jählings öffnet sich eine Tür, eine Frau steigt mit vorwurfsvoll großem Schritt über dich; ich glaube, wir packen das Auto besser wieder ein. Auf der Bank ist eine Lücke entstanden; rasch drücke ich mich hinein, neben die alte Dame. Du kletterst auf meinen Schoß, rupfst mir am Kleid: »Namnam!« – »Bitte, Liebes, nicht hier!«

– »A-a!« – A-a? Jetzt? Ausgerechnet; also gut; komm! Tschuldigung, wir sind gleich wieder da, halten Sie bitte den Platz frei, ja? Danke!« Das Klo muss um die Ecke sein … »Nur für Mitarbeiter«. Zwei Treppen runter; kein Klo. Vier Treppen runter, mit dir auf der Hüfte; kein Klo; der Informationsschalter ist nicht besetzt; ich öffne die Tür zum Kassenraum: »Tschuldigung, wo ist denn hier ’ne Toilette? … Aber im ersten Stock waren wir doch schon … Bitte? Ach so, links. Danke.« Zwei Treppen rauf, links; besetzt. »A-a!« Ich setze dich ab, schäle dich aus deinen Sachen. Das Klo wird frei. Und danach wollen die Windelklebestreifen nicht mehr halten, verflixt, wo ist die Ersatzwindel? Hatte doch eine eingesteckt, ist die rausgefallen oder was? Na egal, dann lassen wir die alte Windel mal offen; ist ja noch trocken und die Hose hält sie fest. »Ssumachen!« Windel zumachen geht nicht. »Ssumachen!« Gut, dann ganz ohne Windel, riskieren wir’s. Kein Abfalleimer; ich wickle die Windel in Klopapier und lege sie auf den Waschbeckenrand. Hände waschen, Hose rauf, Hemd rein, Overall rauf, Arme rein, Reißverschluss zu, Kuss aufs Haar, komm.

Zwei Treppen rauf. Die alte Dame hat uns den Platz freigehalten; reicht dir ein Stück Schokolade; du lächelst; greifst zu.

Ich bedanke mich; hole das Bilderbuch aus der Tasche; fröhlich lutschend sitzt du auf meinem Schoß; ich lese vor und achte darauf, dass du der Dame nicht an die helle Jacke fasst mit deinen Schokofingerchen.

Du steckst das Buch in meine Tasche und holst die Geldbörse raus; sie fällt unter die Bank; ich bücke mich, du schlüpfst mir vom Schoß, läufst zur Schokoladendame. Sie bricht noch ein Stück ab von der Tafel; diesmal lässt sie das untere Ende in Silberpapier gewickelt. Du reißt das Papier kleinfetzig ab, hältst den Schokoriegel fest in der warmen Hand. Ich bücke mich. »Ach ja, die Kinderchen!« seufzt die Schokoladendame lächelnd.

Wir sind dran. »Möchten Sie zuerst?« Die Schokoladendame bedankt sich; drei Mal. Mutter sein ist das größte Risiko für Altersarmut. Wo hab’ ich das gelesen, neulich? Ich bücke mich, sammle die Aluschnitzel vom Boden auf. Du bist fertig mit dem Schokoriegel und strebst wieder zum Lichtschalter. Wir sind dran. Ich stopfe mein Portemonnaie in die Tasche, hänge die Tasche über die Schulter, klemme Mützchen und Mäntelchen unter den linken Arm und hebe dich mit dem rechten auf die Hüfte, drücke mit dem Ellbogen die Tür zum Zimmer Nummer 50 auf; grüße, nenne meinen Namen, stelle dich ab. Ohne aufzusehen, deutet der Sachbearbeiter auf einen ungepolsterten Stuhl und sucht meine Akte raus. Ich hänge dein Mäntelchen über die Lehne, es rutscht runter, ich lege es unter den Sitz; schwitze, ziehe meinen Mantel aus, hänge ihn über die Lehne, stelle meine Tasche unter den Stuhl, setze mich und grabe das letzte Tempo aus der Tasche, um dir Mund und Hände zu säubern.

»Was gibt’s, Frau Kenter!« (Der Herr Grob nennt mich beim Namen, das ist offenbar Vorschrift, und er fragt ohne die Stimme zu heben, ohne Fragezeichen.) – »Also, ich möchte mal nachfragen … die Sozialhilfe wird mir ja immer zum Monatsersten überwiesen.«

– »Sie können froh sein, dass Sie Sozialhilfe kriegen.«

– »Ja, natürlich. Ich …«

– »Stünden Sie dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung, bekämen Sie Arbeitslosengeld oder -hilfe. Freilich wär’ das besser.«

– »Ich wollte nur sagen, für diesen Monat hab' ich noch kein Geld bekommen, und heute ist schon der Achtzehnte.«

(Du kletterst mir auf den Schoß, zupfst an meinem Kleid; ich zeige dir den Kugelschreiber, der, gesichert mit einer Silberkette, in einem schweren Ständer auf dem Schreibtisch steht; wackle damit; du niest, ich putze dir die Nase mit dem zerknüllten Schoko-Tempo.)

– »Ja, also, das wird jetzt nicht mehr überwiesen, Frau Kenter, das müssen Sie jetzt immer selbst abholen.«

– »Was? Wieso denn das?«

(Du malst mit dem Kuli auf dem Tisch; ich schiebe dir einen Formularvordruck als Unterlage hin.)

– »Ja, das hat technische Gründe, Frau Kenter, das geht nicht mehr.«

– »Aber das ging doch bisher immer.«

– »Ja, da ist was umgestellt worden, Frau Kenter; EDV. Arbeiten tun Sie aber noch nicht wieder.«

(Das Kettchen hat sich aus der Halterung gelöst, der Stift fällt zu Boden; ich hebe ihn auf und lege ihn auf den Tisch neben einen herumliegenden Stempel.)