Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Die folgenden Untersuchungen gehen von der Überzeugung aus, daß wir uns heute in einer geistigen Krise befinden, wie sie in solcher Tiefe und Weite die Menschheit noch niemals erlebt hat. Die alten Lebenszusammenhänge und mit ihnen die leitenden Ziele sind völlig erschüttert worden, und was als ihr Ersatz geboten wird, das genügt den geweckten Bedürfnissen bei weitem nicht, das ist meist von kläglicher Flachheit. Die Menschheit – nicht alle Einzelnen, wohl aber der Hauptzug des gemeinsamen Lebens – hat zuerst den Glauben an Gott verloren, dann den an eine der Welt innewohnende Vernunft, sie beginnt nun auch den an sich selbst und damit den letzten Halt zu verlieren; im Gesamtergebnis wäre damit das Leben einer völligen inneren Leere und Sinnlosigkeit ausgeliefert. Sich solcher Zerstörung aber wie einem unentrinnbaren Schicksal zu ergeben, dem widersteht schon die Erwägung, daß jene Auflösung selbst nicht ohne eine Hilfe positiver Kräfte möglich war. Denn es gibt keine erfolgreiche Verneinung, in der nicht irgendwelche, wenn auch zurückliegende Bejahung wirkt. Was im Leben der Gegenwart aber an Bejahung steckt, das bleibt einstweilen zerstreut, das faßt sich nicht zu einem Ganzen zusammen, das gewinnt daher weder eine ausgeprägte Gestalt noch eine genügende Stärke. Solche Lage treibt zu der Aufgabe, jenes Bejahende aufzusuchen und in eine Einheit zu fassen, was schwerlich ohne ein Überschreiten des Erfahrungsstandes, ohne ein Vordringen zu begründenden Kräften gelingen kann. Künstlich bereiten läßt sich nämlich jene Einheit nicht, sie muß irgendwie in uns angelegt sein, um unserem Leben eine Befestigung und eine Erhöhung bringen zu können. Solcher Aufgabe möchten nun nach besten Kräften auch die folgenden Untersuchungen dienen; sie können bei der waltenden Ungewißheit über das Ganze nicht einen fertigen Aufbau liefern, ein durchgebildetes System, sie haben sich zu bescheiden mit der Sicherung der Hauptrichtung des Suchens, mit der Ermittlung der Grundlagen des Baues, der Entwerfung der bestimmenden Umrisse; sie würden vollauf zufrieden sein, in dieser Richtung etwas zu bieten. Sie können dabei aber nur dem etwas sein, der mit ihnen die erschütternde Krise anerkennt und auch für sich selbst ein Problem darin findet; wer den gegenwärtigen Stand des Menschheitslebens, sei es befriedigt, sei es gelassen, hinnimmt, dem können sie nichts bedeuten, zu dem sprechen sie nicht. Aber sie sind überzeugt, daß nicht alle so leichtherzig jene Fragen von sich schieben, an denen die geistige Selbsterhaltung der Menschheit hängt.

Jena, im Juni 1918. Rudolf Eucken.

3. Gesamtbeleuchtung des Menschheitslebens

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Unsere Untersuchung konnte sich nicht mit dem Menschheitsleben befassen ohne den großen Gegensatz unablässig vor Augen zu haben, unter dem dieses sich befindet, den Gegensatz der Zugehörigkeit zu einem überwiegend von der Natur beherrschten Dasein und des Aufkommens einer selbständigen Tatwelt im menschlichen Kreise. Wie aber die verschiedenen Lebensordnungen je nach dem Charakter, den sie dem Leben gaben, diesen Gegensatz eigentümlich faßten, so muß es auch die Wesenserzeugung und Inhaltsbildung tun. Das System der Formgebung gab dem Gegensatz nicht die nötige Schärfe, indem es die Natur dem Geiste und den Geist der Natur zu nahe rückte und das eine in das andere überfließen ließ; das religiöse System riß die beiden Seiten so sehr auseinander, daß ihr Zusammenhang gefährdet wurde; wie das moderne Kraftsystem auf einer völligen Einheit der Wirklichkeit bestand, so kann es den Gegensatz in keiner Weise stehen lassen; je nachdem es seine Wirklichkeit aus dem Zusammentreffen der Elemente oder aus innerer Bewegung eines Gesamtlebens hervorgehen ließ, hat es entweder mit dem Empirismus die Tatwelt ganz und gar aus dem Dasein abgeleitet oder umgekehrt in spekulativer Denkart die Bewegung des Geistes als die schaffende Werkstatt aller Wirklichkeit verkündet; beides hat sich als unmöglich herausgestellt, und es hat das erstrebte System der Inhaltsbildung den Zug der Zeit für sich, wenn es beide Seiten gehörig scheidet, sie aber innerhalb eines umfassenden Lebens in fruchtbare Wechselwirkung setzt. Mit seiner Überzeugung, daß erst in der Vertiefung zu einem Selbst und als Entfaltung dieses Selbst das Leben wahrhaftiges Leben werde, muß es die Kluft zwischen der unabweisbaren Forderung und dem vorgefundenen Stande gegen die übliche Fassung erheblich erweitern; es kann dem Leben nicht eine volle Selbständigkeit gewähren ohne den Abstand der menschlichen Lage sowie ihren Widerstand weit größer darzustellen. Als unzulänglich erscheint von hier aus an jener Lage vornehmlich die sie durchdringende Vermengung von Wesenhaftem und Wesenlosem, von echtem und bloß vorgespiegeltem Leben, das aber unter Überwiegen von diesem, und zwar unter dem Schein, als sei es wahrhaftiges Leben. Diese Unzulänglichkeit nimmt aber eine zwiefache Richtung, sie zeigt sich in geistiger Schwäche und in verkehrter Gesinnung. Einmal ist der Mensch in seiner Enge und Beschränktheit den Aufgaben nicht gewachsen, welche das Leben, im besonderen das sich mehr und mehr verwickelnde Kulturleben an ihn stellt, er vermag nicht die endlose Weite der Dinge mit ihren sich durchkreuzenden Aufgaben zu überschauen, er vermag auch nicht die eigne Kraft richtig abzuschätzen; nun zwingt ihn das Leben zu Entscheidungen oft folgenschwerer Art und damit zu einem Eingreifen in der Ereignisse Lauf; indem das geschieht, werden starke Irrungen unvermeidlich. Dazu aber gesellt sich die Verkehrung der Gesinnung, die Erhebung des Niederen und Wesenlosen zum allesbeherrschenden Selbstzweck, die Verdrängung des zur Herrschaft Berufenen von dem ihm gebührenden Platz, im besonderen das Einsetzen selbstischen Wohles an die Stelle der Forderungen des Lebensganzen, ein Entgegenwerfen eines falschen Selbst gegen das echte Selbst zu durchgängiger Verkehrung des Lebens. Dort vornehmlich ein intellektuelles, hier ein moralisches Versagen, dort ein Fehlen, hier ein Irreleiten der Kräfte. Die Kultursysteme haben mehr die geistige Schwäche, die Religionen die moralische Verkehrung vorangestellt und leicht zu sehr das eine über dem anderen zurücktreten lassen, in Wahrheit ist es das Miteinander, die untrennbare Verquickung, eine gegenseitige Steigerung beider, welche die Durchschnittslage der Menschheit so unerquicklich macht. Das läßt eben der gegenwärtige Weltkrieg besonders peinlich empfinden, er zeigt wohl an allen Stellen viel gutgemeintes Wollen, das aber die Beschränktheit der Einsicht auf falsche Wege treibt, er zeigt auch geistige Kraft in Hülle und Fülle, aber nirgends rühriger, nirgends geschickter als in der Verfolgung selbstischer Zwecke; so eine durchgängige Unlauterkeit und eine klägliche Bindung an sie.

Wie die Lebensordnung der Wesensbildung für ihr schaffendes Leben ein enges Zusammenwirken von Kraft und Gesinnung verlangt und zugleich dem Ganzen der Wirklichkeit mehr Seele und Wärme verleiht, so wird sie das Gefühl für das Unzulängliche, ja Unerträgliche dieses Durchschnittsstandes gewaltig steigern, zugleich aber in der Verwicklung nicht ein bloß innermenschliches Phänomen, sondern ein Weltproblem erkennen. Muß ihr doch die Tatsache, daß im All so viel Leben entsteht, ohne ein Selbst und damit einen Inhalt zu gewinnen, so viel leeres und sinnloses Leben, zu einem ungeheuren Rätsel werden, und wird sie bei aller Anerkennung menschlicher Mitbeteiligung und damit auch menschlicher Schuld an jenem Stande der Vermengung und der Verkehrung keineswegs ihm allein die Sache ins Gewissen schieben, wie das Streben die Spannung möglichst zu steigern die Religionen es häufig tun ließ. Denn durchgängig zeigt auch die dem Menschen zugewiesene, von seinem Willen unabhängige Lebensform einen weiten Abstand, ja einen Widerspruch mit den Forderungen selbständigen Lebens. Dieses stellt der Natur mit ihrem Gewebe von Beziehungen und ihrer bedingungslosen Selbsterhaltung der einzelnen Punkte ein neues Reich inneren Zusammenhanges entgegen, der Mensch bleibt weithin im Banne der Natur und der natürlichen Selbsterhaltung; das schaffende Leben verlangt und erweist eine zeitüberlegene Ordnung, der Mensch entsteht und vergeht in der Zeit, nicht bloß der Einzelne, sondern wohl auch das Ganze der Menschheit, auch hängt er an ihrer jeweiligen Lage; jenes Leben umspannt mit seiner Volltätigkeit den Gegensatz von Subjekt und Objekt, der Mensch steht unter ihm und hat harte Mühe ihn irgendwie zu überwinden. So reicht das Problem über den Menschen hinaus in das All; ist schon die Tatsache ebenso unbestreitbar wie rätselhaft, daß verschiedene Stufen des Lebens bestehen, und daß die höhere gegen die niedere mühsam aufklimmen muß, so ist weit rätselhafter noch, daß sich jene gegen diese nicht rein durchsetzen kann, ja daß das auf ihr entwickelte Leben in den Dienst der niederen Stufe gezogen wird. Mag diese Tatsache noch so rätselhaft sein, sie sei deshalb nicht geleugnet oder auch nur im mindesten verdunkelt. Wenn die Lebensordnung der Wesensbildung diese innere Zerklüftung des Lebens selbst, diesen Spalt in der Welt voll zur Anerkennung bringt, so zerstört sie damit aufs gründlichste allen Rationalismus und Optimismus.

Aber sie überliefert den Menschen damit keineswegs einem hoffnungslosen Pessimismus. Denn sie läßt zugleich ersehen, daß das Leben sich nicht in den Stand erschöpft, den jene Zerklüftung beherrscht, daß es vielmehr einen neuen Bereich ihm gegenüber hervorbringt, von da aus eine unablässige Gegenwirkung übt und an solcher Erhöhung auch dem Menschen teilgibt. Das Leben erhebt sich, so zeigt sie, zu selbständigem Schaffen und erzeugt daraus sowohl gegenüber der Natur als dem Durchschnittsstande ein Ganzes der Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, welche allein diesen Namen vollauf verdient. Es erweist sich aber diese Wirklichkeit in der Hervorbringung der Kultur, sobald wir uns vergegenwärtigen, daß in dem, was gewöhnlich Kultur heißt, ein Zwiefaches zusammenrinnt: eine bloße Menschenkultur als Pflege bloßmenschlichen Wohlseins und eine Geisteskultur als Aufbau einer dem Menschen überlegenen Welt. Daß mit dieser etwas wesentlich Neues eintritt, das zeigt deutlich schon die Bildung selbständiger Lebensgebiete und Lebenszusammenhänge, wie Wissenschaft, Kunst, Staat usw. Denn sie enthalten eigne Kräfte und eigne Gesetze, denen der Mensch nachkommen muß, wenn er in ihnen fortschreiten will, innerhalb des Menschen wirksam dienen sie doch nicht dem bloßen Menschen, machen sie mehr aus dem Menschen. Das besondere Gebiet aber ist nur ein Zweig eines umfassenden Ganzen, das freilich nicht fertig vorliegt, aber doch als ein überlegenes und unabweisbares Ziel in uns wirkt. Über die gewöhnliche Fassung geht nun die Wesensbildung mit einem erheblichen Schritte hinaus, indem sie die Bildung von eigentümlichen Lebenskonzentrationen, von Lebensordnungen in den Vordergrund rückt; diese geben dem Ganzen der Kultur einen ausgeprägten Charakter, der nicht die einzelnen Gebiete bloß zusammenfaßt, sondern auf sie alle weiterbildend zurückwirkt; dieses Schaffen von inneren Zusammenhängen bekundet in gesteigertem Maße das Wirken eines Ganzen des Lebens, eines der menschlichen Lage und dem bloßmenschlichen Vermögen überlegenen Ganzen. Woher könnte sonst auch nur das Verlangen nach Einheit und woher das Vermögen ihrer Herstellung kommen? In dem, was sich dabei erschließt, haben wir Eröffnungen, Offenbarungen des Gesamtlebens anzuerkennen; daß dieser Eröffnungen mehrere sind, kann nicht erschrecken, sobald nur gegenwärtig ist, daß in unserem Bereich jenes Leben erst allmählich, erst durch Erfahrung und Kampf hindurch seinen Gehalt erschließt; auch das kann nicht erschrecken, daß dabei verschiedene, ja entgegengesetzte Richtungen erscheinen, da das Leben in der Eröffnung an den Menschen verschiedene Seiten hervorkehren kann, dazu auch nicht in einer einzigen Fläche zu verlaufen braucht, sondern Abstufungen in sich tragen kann, ohne bei aller Mannigfaltigkeit ein Hauptziel aufzugeben. Auch daß schwere Verwicklungen im Weltstande stecken, wie wir eben sahen, sei dabei nicht vergessen. Es erscheint in den Lebensordnungen zunächst eine grundverschiedene Stellung zur Welt: die Systeme der Kultur, sowohl das der Gestaltung als das der Kraftentfaltung, sind ganz und gar mit der Welt befaßt und erwarten von ihrer Durchdringung und Aneignung volle Befriedigung, das religiöse System dagegen bricht mit der Welt und führt von einer Überwelt aus einen Kampf mit ihr. Wie viele Rätsel dies letztere enthalten mag, für den erst im Werden befindlichen Menschen ist beides unentbehrlich: erst die Arbeit an der Welt läßt ihn zu einem der kleinmenschlichen Art überlegenen Leben erstarken, und erst in dem Kampfe mit der Welt gewinnt er Teil an vollem Beisichselbstsein des Lebens, und kann er den ungeheuren Verwicklungen gewachsen werden, welche seine Welt und sein Leben enthält. Schon das gibt der Religion einen eigentümlichen Wert, daß sie uns weitere Möglichkeiten des Lebens eröffnet und uns damit von der lastenden Enge des nächsten Daseins befreit. Nehmen wir z. B. die Bergpredigt. Kleinkluge Nüchternheit hat vollstes Recht, die Undurchführbarkeit ihrer Hauptforderungen im Durchschnittsleben darzutun. Aber ist dieses Leben zweifellos das Ganze der Wirklichkeit, und sind jene Forderungen, weil sie ihm widersprechen, bloße Einbildungen, ist es nicht etwas Großes, etwas Unabweisbares, daß jenem ganzen kläglichen Stande der Vermengung und Unlauterkeit eine neue echte und reinere Art, ein Reich der Liebe und des Friedens, als sein sollend mit einleuchtender Klarheit entgegengehalten und damit ein heller Lichtstrahl in jenes trübe Zwielicht geworfen wird? Fehlt denn alles Empfinden für den Segen einer solchen Erweiterung und Befreiung? Gewiß bleibt ein ungeheurer Konflikt, der einen rationalen Abschluß des Lebensbildes für immer verbietet. In den Welten der Religion und der Kulturarbeit ist uns das Leben in entgegengesetzten Polen gegeben, die unsere Weisheit nun und nimmer zusammenbringt, ja deren Gegensatz schwere Verwicklungen im Weltbestande selbst verrät. Einerseits die Offenbarung einer weltdurchdringenden formalen Vernunft, die alles Einzelne nur als Glied einer Kette oder als Fall eines Gesetzes kennt, die seiner Besonderheit gegenüber völlig gleichgültig scheint und es fortwährend als Opfer fordert, die aber in unverkennbarer Erhabenheit das Ganze durchwaltet vom Unendlichgroßen bis ins Unendlichkleine, in der Natur wie dem Menschenleben. Andererseits aber die Offenbarung eines Reiches der Liebe, das alle seine Glieder beseelt und besorgt, jedem an der Unendlichkeit, Ewigkeit, Vollkommenheit teilgibt und nicht das mindeste von ihnen verloren gehen läßt. Jene formale Weltvernunft unpersönlicher, diese Macht der Liebe persönlicher Art; wer könnte leugnen, daß im Weltanblick beides einander oft durchkreuzt? Wohl können wir versuchen in unseren Begriffen beides einander anzunähern, vom Persönlichen alle bloßmenschliche Art möglichst abzustreifen, beim Unpersönlichen hingegen hervorzukehren, daß es doch auf irgendwelche Einheit zurückweist und schließlich irgendwie in einem Selbst wurzeln muß; aber zusammenbringen tun wir damit jene Größen nicht; nur das dürfen wir geltend machen, daß unser menschliches Vermögen voller Schranken und unser Leben noch mitten im Werden und Suchen begriffen ist, daß daher die Grenze unseres Vermögens, besonders die unseres jeweiligen Vermögens nicht schon das letzte Wort für das All bedeutet, daß dieses nicht auseinanderfällt, wenn für uns eine Kluft verbleibt. Vor allem aber darf alles menschliche Unvermögen die Gegensätze zu versöhnen nicht zu einer Leugnung der einen Seite, im besonderen nicht zu einer Verkennung des Reiches der Liebe führen. Denn dieses ist keineswegs ein bloßer Einfall des Menschen, ein Spiel seiner Phantasie, es ist eine Offenbarung des Gesamtlebens selbst; nicht einmal auf eine Vorstellung seiner hätten wir kommen können, wäre es uns nicht aus einer Tiefe jenes Lebens zugegangen und hätte uns zugleich jene Tiefe erschlossen. Daran hängt alle Erhebung zu einem geistigen Selbst, ja alle Möglichkeit einer Bewegung zu ihm; daher ist dies das Allerursprünglichste und Allergewisseste, was unser Denken und Leben kennt. Endlich sei bei diesem Gegensatz auch dessen gedacht, daß wir Menschen nach unserer Art von verschiedenen Seiten aus arbeiten müssen und jenes bedürfen, um voll in Bewegung zu kommen und alle sonst gehemmte Kraft zu befreien, um besonders der Lebensbewegung sowohl Weite als Tiefe zu geben. Mag uns daher noch so viel Dunkelheit und Verwicklung umfangen, die Sache liegt über unserer Willkür, es sind andere Mächte im Spiel als menschliche Absicht und Laune. Tatsächlich hat nichts die Menschen und Zeiten mehr vor einem Gleichgültignehmen ihres Geschicks und vor matter Verzweiflung behütet als das Gewahren und Erfahren tiefer Konflikte, aber zugleich auch überlegener Mächte im eigenen Lebensbestande.

Eher als zwischen Religion und Kultur läßt sich eine Verständigung zwischen den verschiedenen Lebensordnungen dieser erreichen, obschon es auch hier keineswegs an einem Auseinandergehen, ja einem Gegensatz fehlt. Auf den ersten Anblick nämlich scheinen Formgebung und Kraftentfaltung sich gegenseitig auszuschließen. Die Form dringt auf eine Begrenzung, die Kraft geht ins Unbegrenzte, die Form verlangt scharfe Unterschiede, die Kraft einen ungehemmten Fluß, die Form muß das Äußere schätzen, die Kraft nimmt es leicht als gleichgültig. Aber für das Aufkommen selbständigen Lebens beim Menschen sind beide unentbehrlich, unentbehrlich sowohl um seinen Aufstieg vorzubereiten, als um es bei sich selber weiterzubilden, sie sind Wege zu ihm und sie sind wesentliche Stücke seiner; sie finden dabei ihr Maß am Leben, sie drohen zu sinken und zu hemmen, wenn sie den Zusammenhang damit verlieren und sich allein auf sich selber stellen. Der Form bedarf es zunächst als einer äußeren Ordnung, um die Roheit der bloßen Natur zu überwinden; nach Sicherung eines höheren Lebensstandes aber ist sie, wie wir sahen, eine Hauptseite seiner Entfaltung; sie wirkt dagegen zur Einengung und Erstarrung, wenn sie mit ihren Mitteln das ganze Leben bestreiten will, so im Formalismus der Kunst, so in der Überschätzung politischer Verfassungsformen, die noch immer so viele Gefahren bereitet. Ähnlich ergeht es der Kraft: sie ist ein Mittel des Lebens, indem sie es allererst erweckt; sie wird ein Hauptstück des Lebens, indem sie es bei sich selber befestigt und stärkt. Zunächst rüttelt sie den Menschen aus der natürlichen Trägheit auf und bringt ihn überhaupt in Bewegung, weiter aber wird sie dem schaffenden Leben zur Herausbildung seines Gehalts unentbehrlich, da es unablässiger Anspannung bedarf, um den beharrenden harten Widerstand nicht bloß draußen, sondern auch drinnen zu überwinden. Löst aber die Kraft oder lockert sie auch nur die Verbindung mit dem schaffenden Leben, so sinkt sie leicht zu ungezügelter Lebensgier und verfällt zugleich einer inneren Leere; die Eindrücke der Neuzeit stellen uns die Gefahr dieser Wendung klar vor Augen. Daß aber Form und Kraft nicht beliebige Ausschnitte eines unbegrenzten Ganzen sind, daß sie in gegenseitiger Ergänzung den Umkreis des Lebens ausfüllen, das erweist eine nähere Betrachtung aller Gebiete; so, um nur ein Beispiel anzuführen, in der Naturwissenschaft das Zusammengehen einer exaktmechanischen und einer biologischen Forschung, indem jene sich an die Form, diese sich an die Kraft hält.

Wie aber jene Lebensordnungen miteinander ein Gesamtleben erschließen, so bringt jede in ihrer Besonderheit eine eigentümliche Erschließung jenes Lebens und zugleich einen wesentlichen Charakterzug seiner, das in entschiedener Erhebung über alles bloßmenschliche Vermögen. Wir erkennen in jenem Leben eine Weltmacht des Gestaltens, eine Weltmacht der Krafterweckung und logischen Verkettung, eine Weltmacht aber auch der Liebe. In allem Auseinandergehen und bei allen Gegensätzen bleibt die Aufgabe, die verschiedenen Seiten festzuhalten und sie zu möglichster Erhöhung des Lebens zu wenden; die Wesensbildung liefert zum mindesten einen Boden für ein Streben nach solcher Verständigung. Denn zur gemeinsamen Frage wird hier, was durch die einzelnen Bekundungen hindurch sich an wesenhaftem Leben, an Beisichselbstsein des Lebens eröffnet. Dabei fällt auch das ins Gewicht, daß die einzelnen Bildungen und Charakterzüge für uns in geschichtlichem Werden befindliche Wesen zugleich Tatsachen und Aufgaben sind: Tatsachen dem Grundbestande, Aufgaben der näheren Fassung nach. Denn diese Fassung ist stark bedingt durch die Zeit, deren Gesamtlage sie entsprechen muß, um auf die Menschen wirken zu können. Dem Grundbestande nach aber sind jene Mächte überzeitlicher Art, diese geht durch die Zeiten hindurch, ohne ihrer Besonderheit zu unterliegen, sie hat vielmehr an dieser eine unablässige Prüfung und Sichtung zu üben, immer neu auszuscheiden, was der bloßen Zeit angehört. So sahen wir sich durch die Zeiten hindurch ein zeitüberlegenes Leben bei uns aufarbeiten, einen Zusammenhang anstreben, mehr und mehr dem bloßen Fluß der Dinge entgegenwirken. Dahin zu streben und mit vollster Würdigung des Ertrages der Zeiten eine Erhebung des Lebens ins Überzeitliche zu verbinden, das wird zur besonders dringlichen Aufgabe der Gegenwart, da ihr zu voller Klarheit gewecktes geschichtliches Bewußtsein weder ein teilnahmloses Nebeneinander der verschiedenen Ordnungen, noch ein unterschiedsloses Zusammenrinnen ihrer verträgt; so fehlt es ihr keineswegs an einer eigentümlichen Aufgabe, die allen früheren Epochen gegenüber eine selbständige Bedeutung hat. An dieser Aufgabe gemessen, kann alles Frühere eine bloße Vergangenheit dünken.

Zugleich wird auch das augenscheinlich, daß die Geschichte bei allem, was sie an Bewegung und Wandlung enthält, kein wirres Chaos, auch kein Tummelplatz bloßmenschlicher Kräfte ist; ihrem Lebensgehalt nach ist sie weniger Menschengeschichte als Geistesgeschichte, eine Geschichte der Eröffnung selbständigen Lebens auf dem Boden der Menschheit. Dieses Leben ist für sich selber da und geht seinen eignen Weg, aber es stößt unablässig mit dem Durchschnittsstande des Menschen zusammen und führt einen harten Kampf mit ihm; unablässige Verwicklung bereitet im besondern, daß dieses Leben über den Menschen hinausführt und zugleich doch seiner bedarf, ihn als Mittel nicht entbehren kann, daher immer wieder zu ihm zurückkehren und sich mit ihm auseinandersetzen muß. Das ergibt verschiedene Lagen und Phasen. Der Aufstieg des Lebens hebt den Menschen empor und über sich selbst hinaus, dann aber kommt er an die Reihe, bringt seine besondere Art zur Geltung und zieht das Leben in seinen Dienst. Dessen erwehrt sich dieses, es kann das gründlich und erfolgreich nicht tun ohne sich neu zu erschließen; so blicken wir in ein unablässiges Steigen und Fallen, in ein großes Wechselspiel des Geschehens. Darin kommt das Leben sicherlich weiter, aber tut es auch der Mensch, und kann er, was jenes erreicht, zu eigner Erhöhung wenden? Bringt die Geschichte auch dem Menschen einen sicheren Gewinn, einen Fortschritt?

Die Sache liegt keineswegs einfach, die Antwort nimmt sich nach der Richtung der Frage verschieden aus: je mehr diese nach außen hin auf unser Verhältnis zur Welt geht, desto zuversichtlicher wird ihre Bejahung; je mehr sie sich ins Innere wendet, desto größer wird der Zweifel. Im Gebiet der Berührung mit der Außenwelt vollzieht sich im Großen und Ganzen eine Ansammlung und Aufspeicherung der Leistungen, so in der empirischen Wissenschaft, so in der Technik usw.; war freilich auch hier ein Verlorengehen von Errungenem keineswegs ausgeschlossen, solange die Kulturarbeit sich auf einzelne Völker beschränkte, so ist solches kaum zu befürchten, nachdem die Völker in engste Wechselwirkung getreten sind, wo daher der Gewinn der einen Stelle sich rasch nach allen Seiten verbreitet. Anders steht es schon mit dem Schaffen strengeren Sinnes, mit dem Erzeugen von Bildungen von innen heraus. Denn hier pflegen einzelne Höhepunkte eine überragende Stellung zu erlangen, von ihren Schöpfungen zehren lange Zeiten, sie geraten dabei aber rasch in ein Sinken, und eine Ebbe ist unverkennbar, bis wieder ein Aufstieg zu einer neuen Höhe erfolgt. So ein Auf- und Niedergehen in buntem Wechsel. Ob in solcher Wellenbewegung die Höhe des Schaffens wächst, ist keineswegs ausgemacht, meist scheint der Gewinn nach der einen Richtung durch einen Verlust nach der anderen erkauft zu werden. Noch anderes steht die Sache bei der Religion. Hier erhält eine Persönlichkeit und ein besonderer Augenblick eine so einzigartige Stellung, daß alles Spätere daran gebunden bleibt, ja daß leicht der weitere Verlauf sich als ein bloßes Sinken ausnimmt. Das vornehmlich aus folgendem Grunde. Die Religion kann ein neues Lebensreich nur eröffnen in vollem Gegensatz zur Weltumgebung, meist erhebt sich erst in schroffstem Bruch mit dieser die neue Wirklichkeit, sie erscheint damit als ein Wunder, als ein Werk Gottes, nicht des bloßen Menschen. Die weitere Bewegung fordert aber irgendwelche Auseinandersetzung mit der Welt und irgendwelche Verständigung mit dem Menschen, damit wird aber jenes neue Reich in fremde Umgebungen gezogen und unvermeidlich dadurch getrübt, es sinkt von der anfänglichen Höhe; dem scheint sich nur begegnen zu lassen durch eine mutige Rückkehr zu jener, durch eine Wiederaufnahme der ursprünglichen Frische und Reinheit. So das starke Verlangen nach einer Nachfolge Christi. Demnach versagt hier der Fortschrittsgedanke völlig, der Blick wird mehr rückwärts als vorwärts gekehrt. So führt die Gesamtschätzung der geistigen Leistung des Menschen über Ungewißheit nicht hinaus. Nicht anders verhält es sich mit seinem seelischen Stande. Wachsen wir im Lauf der Zeiten innerlich? Gewiß werden wir klüger und geschickter, und unverkennbar erweitert sich immer mehr unser Gesichtskreis, aber werden wir geistig größer, werden wir edler in der Gesinnung? Wie steht es ferner mit unserem Glück? Bringt die Kultur ihm ein Wachstum, ein unbestrittenes Wachstum, steigern die Ansprüche sich nicht rascher als die Möglichkeit ihrer Befriedigung, fühlt sich daher der Mensch in einfachen Verhältnissen nickt leichter glücklich als auf der Höhe der Kultur? Gewiß hat gemeinsame Arbeit viel Not und Schmerz ausgetrieben, viel humanes Wirken hervorgebracht, aber hat sie damit dem Leben einen zureichenden Inhalt gegeben und den Menschen innerlich gehoben? Pflegt die Kultur, indem sie den Menschen entwickelt, ihn nicht zugleich zu verzehren, erschöpft sie nicht seine Kraft, indem sie dieselbe erweckt? Die Mißstände pflegen freilich im Verlauf der Zeiten vom Groben ins Feine zu wandern, aber werden sie damit geringer, ist Raffiniertheit der Überbildung der Roheit der Natur vorzuziehen? Wenn endlich die Jahrtausende Möglichkeiten des Lebens auf Möglichkeiten häufen und damit spätere Zeiten als reicher erscheinen lassen, schwächt solche Anhäufung nicht die Selbständigkeit des eignen Lebens, erdrückt sie nicht alle Ursprünglichkeit des Schaffens? Und erfahren wir nicht eben heute solche entnervende Wirkung des Historismus mit peinlicher Stärke? So läßt sich jeder zuversichtlichen Bejahung eine Gegenrechnung machen; durchgängig verbleibt der Mensch in starker Unfertigkeit und bringt jeder neue Gewinn neue Verwicklung mit sich. Demnach bleibt die Geschichte allerdings mitten im Probleme stecken und scheint mit ihrem Steigen und Sinken alles deutlichen Sinns zu entbehren. Das aber tut sie nur so lange, als sie allein auf den Menschen bezogen und nach dem Ertrage für ihn gemessen wird; einem überschauenden Denken verbleibt dann nur die Resignation. Anders aber stellt sich die Sache, wenn bei ihr größere Ziele erkannt und anerkannt werden; das geschieht aber, wenn sie als eine Stätte der Offenbarung eines selbständigen Lebens, als ein Durchbrechen einer neuen Lebensstufe verstanden und gewürdigt wird. Das aber ist die Überzeugung, welche unsere ganze Arbeit vertritt, und zugleich wurde ihr zur Gewißheit, daß an diesem echten Leben der Mensch unmittelbaren Anteil gewinnen, ja sein wahres Selbst in ihm finden kann. Dann lebt er allerdings nicht vergeblich, auch bleibt er dann nicht ein bloßes Mittel und Werkzeug eines sinnlosen Weltprozesses, dann gewinnt er einen Kern seines Wesens aus dem Teilnehmen an einer Welt des Beisichselbstseins, einer Welt ursprünglichen Schaffens und reiner Innerlichkeit. Dann vermag auch sein Tun und Streben dem Ganzen, in dem er lebt und webt, wertvoll zu werden und aus neuen Zielen und Gütern eine innere Freudigkeit zu schöpfen. So hat das menschliche Leben seinen Wert nicht in dem, was unmittelbar bei ihm vorliegt, sondern in dem, was sich bei ihm eröffnet, und was es selbst mit zu bereiten gewürdigt wird. So weist dies Leben auf einen tieferen Grund zurück, und was dort geschieht, das muß in weiteren Zusammenhängen stehen. Umfangen, tragen und leiten uns nicht solche Zusammenhänge, so sind wir mit allem, was wir beginnen, nichtig und verloren, nur als ein Glied jener, nur als ein Ring einer weiteren Kette oder als ein Akt eines größeren Dramas kann das Menschheitsleben irgendwelchen Sinn gewinnen. Aber wenn sich mit solchem Gedanken unser Blick in tiefes Dunkel verliert, und wenn wir nach Goethes Wort unter Geheimnissen wandeln: sind wir jenes tieferen Grundes und jener Zusammenhänge gewiß, so brauchen wir nicht zu verzagen und nicht uns samt unserem Tun für gleichgültig zu erachten. Denn nunmehr besteht kein Zweifel darüber, daß der Mensch am tiefsten Quellpunkt seines Wesens alle Schranke und Kümmerlichkeit des bloßmenschlichen Daseins überwinden und an der Welt schaffenden Lebens unmittelbaren Anteil gewinnen kann, nicht als an einer fernen und fremden, sondern als an der allernächsten und allergewissesten Welt, der Welt, ohne die alles zusammenbrechen müßte, was sich sonst als Wirklichkeit gibt und dem Leben Wert verleihen möchte.

4. Folgerungen für die Erkenntnisarbeit

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a) Die Hauptzüge des Erkennens

Unsere Untersuchung des Verhältnisses von Mensch und Welt ging von dem Erkenntnisproblem aus, mit ihm muß sie auch ihren Abschluß finden, denn nirgends mehr als bei ihm hat die dargelegte Gedankenwelt ihre Eigentümlichkeit und ihre Fruchtbarkeit zu erweisen. Darüber ließ unsere Arbeit keinen Zweifel, daß vom gewöhnlichen Weltanblick aus ein Erkennen, ein vom bloßen Kennen und Wissen deutlich geschiedenes Erkennen, schlechterdings unmöglich ist, daß es in sich selbst einen unüberwindlichen Widerspruch trägt. Denn jenem Anblick gemäß treten wir an eine außer uns befindliche Welt heran, um uns anzueignen, was in ihr vorliegt und vorgeht. In dieser Aneignung soll aber jener Bestand keinerlei Veränderung erfahren, er soll, indem er unser Besitz wird, zugleich bleiben, was er ohne uns ist. Nun könnte er aber schwerlich in uns eingehen, ohne Wirkungen von uns und unserer seelischen Art zu empfangen, er müßte sich damit verändern, ohne daß sich je ausmachen ließe, wie weit diese Veränderung geht, und wie sie sich zum eignen Bestande der Dinge verhält. Unbegreiflich bliebe auch, wie jenes Fremde überhaupt mit uns in Verbindung treten, und wie seine Aneignung unserem Streben einen starken Antrieb liefern könnte. Daß es aber zu einem solchen geworden ist, das zeigt das eifrige Mühen der Menschheit um ein Erkennen in unbestreitbarer Weise.

Dasjenige was dieser Anblick als draußengelegen zeigt, muß sich einer eindringenderen Betrachtung als unserem eignen Bereich zugehörig erweisen und ihm zu seiner Vollendung unentbehrlich sein; dann darf aber dieser Bereich keine fertige und geschlossene Größe bilden, die keinerlei Aufgabe stellt, er muß sich vielmehr noch im Werden befinden und eine Erweiterung nicht nur gestatten, sondern von sich aus fordern. Dann stünde beim Erkennen nicht eine Berührung einander fremder Dinge in Frage, sondern ein Zusammenkommen von Größen, die aufeinander angewiesen sind, es wäre nicht ein Aufnehmen fremder Dinge, sondern ein Sichselberfinden, Sichselbstvollenden eines umfassenden Geschehens, mit anderen Worten: Erkennen ist nur als ein Selbsterkennen möglich; alles was völlig draußen liegt, bleibt uns ewig verschlossen. So wird ein Erkennen nur so weit möglich, als sich das bloße Nebeneinander des ersten Anblicks in ein gemeinsames Leben verwandeln läßt. Ob und wie weit das der Mensch vermag, das ist eine Frage für sich; darüber aber kann kein Zweifel sein, daß ihre unbedingte Verneinung einen Verzicht auf alles Erkennen bedeutet.

Zugleich aber ist gewiß, daß ein solches Leben sich deutlich von der üblichen Fassung des Lebens abheben müßte. Vor allem darf es kein leeres Gefäß sein, das von draußen beliebig zu füllen wäre, auch kein schwankendes Rohr, das jedem Eindrucke nachgibt, vielmehr müßte es eine selbständige Art und eine eigne Bewegung besitzen, Ziele und Kräfte enthalten, Forderungen in sich tragen und auf ihrer Erfüllung bestehen. Das wäre aber nicht zu leisten, wenn es einer anderen Größe nur anhinge, eine bloße Eigenschaft wäre, es müßte vielmehr auf sich selber stehen und seinen Gehalt aus sich selbst entwickeln, es müßte einen Zusammenhang bilden, der alle Mannigfaltigkeit umfaßt und in ein Ganzes des Geschehens verbindet. Zu solcher Selbständigkeit gehört auch eine Überlegenheit gegen den Menschen, wie er unmittelbar sich gibt. Denn wäre das Leben gar nichts weiter als ein bloßes Vorgehen am Menschen, so müßte es alle Zufälligkeit, alle Vereinzelung und Zerstreuung des menschlichen Kreises teilen, es könnte unmöglich das, was zunächst als eine fremde Welt vor ihm steht, bewältigen und in eignen Besitz verwandeln. Dieses vermöchte nur ein Leben, das allem Einzelleben gegenüber einen einheitlichen Zusammenhang, ein Ganzes bildete; wohl müßte es den einzelnen Punkten gegenwärtig werden, nicht aber könnte es ihr Erzeugnis sein, nicht an ihrer Beschaffenheit hängen. Bei Innewohnen eines solchen überlegenen Lebens wäre der Mensch nicht mehr ein bloßer Punkt neben anderen Punkten, sondern er gewänne ein unmittelbares Verhältnis zum Ganzen, ja dieses Ganze könnte hier zu eignem Leben werden, was völlig neue Ausblicke eröffnet. Dabei müßte auch die Frage offen bleiben, ob ein solches einheitliches Leben ihm seinem ganzen Umfange nach unmittelbar zugänglich ist, ob es sich ihm nicht erst allmählich, vielleicht von verschiedenen Seiten her, vielleicht durch harte Kämpfe und Zweifel hindurch weiter und weiter erschließt. So entstehen Fragen über Fragen, aber zugleich auch offene Möglichkeiten, die eine rasche Verneinung verbieten.

Aber spielen wir hier nicht mit bloßen Einfällen, ist ein Leben, wie es als Voraussetzung alles und jedes Erkennens gefordert wird, nicht ein bloßer Traum, ein irreleitender Wahn, und entfällt mit solcher Einsicht nicht alle Möglichkeit eines Erkennens? Der Gesamtverlauf unserer Untersuchung hat gezeigt, daß es sich hier um mehr als um eine bloße Einbildung handelt, daß vielmehr ein solches Leben tatsächlich bei uns wirkt und gewaltige Bewegungen im Bereich des Menschen erweckt. Wir gewannen aber die Gewißheit eines solchen Lebens aus der Möglichkeit einer Wendung des Lebens zu einem Beisichselbstsein, einer Selbständigkeit und Selbsttätigkeit; dabei entfaltete es eine die Kraft wie den Gegenwurf umspannende Volltätigkeit, damit wurde es ein eignes Ganzes und zeigte es sich fähig, aus eigner Bewegung einen selbständigen Bereich, ja schließlich eine Wirklichkeit zu erzeugen. Bei solcher Wendung erhielt der Begriff des Geisteslebens einen präziseren Sinn als der gewöhnliche Sprachgebrauch ihm gibt, es hob sich in ihm eine höhere Stufe des Lebens von einer niederen ab, bei der das Leben nur einen gemeinsamen Boden liefert, auf dem Mannigfaches sich begegnet und einander berührt, ohne aber in ein Ganzes zusammenzugehen und aus ihm eine Umwandlung zu erfahren. Wie dieses auf der höheren Stufe geschieht, so kann diese unmöglich eine bloße Fortsetzung der niederen bilden, sowie nun und nimmer durch eine bloße Steigerung oder Anhäufung aus dieser hervorgegangen sein; vielmehr liegt dabei ein Abbruch und eine völlige Umkehrung vor; eine solche aber läßt eine wesentliche Umwandlung alles Lebensbestandes erwarten.

Es genügte aber, so zeigte sich, zur Erzeugung eines solchen Lebens nicht eine bloße Anspannung der Kraft, eine Versetzung unseres Daseins in möglichste Bewegung. Denn bei aller Erregung des Subjekts könnte dies das Leben nicht innerlich weiterbilden, alles dabei aufgebotene Pathos würde eine innere Leere nicht verdecken. Vielmehr ist das neue Leben nur dann von Bedeutung und Wert, wenn die Erhebung zur Selbsttätigkeit neue Inhalte mit sich bringt, wenn sie offenbarender, schaffender Art ist, wenn in der Bewegung eine ursprüngliche Tiefe emporsteigt. Auch kann sich nur dann die Selbsttätigkeit von der bloßen Tätigkeit genügend scheiden, die bloße Form des Selbst schwebt in der Luft ohne eine begründende Tiefe, und ebenso tun es alle Größen, die mit ihm zusammenhängen, tut es im besondern die Freiheit, deren hoher Wert unverständlich wäre, bedeutete sie eine bloße Form und nicht das Gefäß eines neuen Lebens. Die Durchwanderung der weltgeschichtlichen Bewegung überzeugte uns, daß die Menschheit in Wahrheit über die bloße Form der Tätigkeit hinaus zu einer schaffenden. Tiefe entwickelnden Selbsttätigkeit vorgedrungen ist und reiches aus solcher geschöpft hat, so daß diese Bewegung den Kern der weltgeschichtlichen Arbeit bildet; sie überzeugte uns aber auch, daß jene Wendung und Eroberung nicht mit einem Schlage erfolgte, sondern daß die schaffende Tiefe mühsam errungen ward und sich erst allmählich, erst durch vielfache Erfahrungen, Enttäuschungen, Kämpfe hindurch erschloß; hängt also an solcher Erschließung alle Möglichkeit und aller Erfolg des Erkennens, so kann auch dieses nicht wohl in raschem Vordringen den letzten Abschluß erreichen, so wird es auch seinerseits die Bewegung der Geschichte zu teilen haben.

Was aber an dieser Stelle, das gilt überhaupt vom Erkennen: die Begründung auf das schaffende Leben wird es auf eigentümliche Bahnen treiben; ein Erkennen, das aus einem solchen Leben hervorgeht, wird sich mit deutlichen Zügen von anderen Versuchen unterscheiden. Wird das Erkennen damit ein Sichselbsterfassen eines wirklichkeitbildenden Lebens, so hat es alles, was es ergreift, in ein solches Leben umzusetzen, so muß es alles, was ihm als ruhendes Sein entgegentritt, auflösen und in ein Geschehen, in ein Stück des Lebens zu verwandeln suchen. Ein vom Leben unabhängiges Sein erkennen zu wollen, erscheint von hier aus als eine nicht nur unlösbare, sondern von vornherein unrichtig gestellte Aufgabe. Es hat aber das Streben zum Sein auf dem Boden der Geschichte eine große Macht gewonnen, es hat weithin die Arbeit beherrscht. Die Richtung dahin, das Sein in dem, was es als Sein ist, erfassen zu wollen, entstammt der Antike, vornehmlich dem Platonismus, der die Welt in ein Gebiet unsteter Erscheinungen und in ein Reich beharrenden Seins zerlegte und alle Mühe daran setzte, zu diesem Sein, dem wahrhaftigen Sein vorzudringen. Der damit betretene Weg führte aber weiter zu dem Gedanken, daß ein Sein, um ganz und gar Sein, um allumfassendes Sein zu bilden, gar keine besondere Beschaffenheit haben, gar keine Eigenschaft besitzen dürfe; die Tatsache, daß das logische Denken die Stufenleiter seiner Begriffe mit dem eines bloßen Sein abschließt, verführte dazu, dieses als den Urgrund aller Wirklichkeit zu setzen. Um aber ein solches Sein erreichen zu können, hatte auch das Denken alle Unterschiede abzulegen; es konnte das nicht ohne alle Gestaltung in Begriffen zu überschreiten und ein unmittelbares Schauen zu werden, möglichst ganz mit dem Sein zusammenzufließen, sich damit aber in ein dunkles, schlechthin unfaßbares Gefühl zu verwandeln. So steht am Ende dieses Weges die Mystik und damit eine Vernichtung alles Erkennens wissenschaftlicher Art.

Wird aber ein solches Zerhauen des Knotens abgelehnt, zugleich aber der Gedanke eines dem Leben gegenüberliegenden Seins festgehalten, so entsteht zwischen ihm und uns eine unüberbrückbare Kluft. Denn nun bildet sich der Begriff eines hinter den Erscheinungen liegenden Dinges an sich; das geschah schon bei der antiken Skepsis, es kam von da zur modernen, zunächst zur französischen, es ist durch die Autorität eines Kant unverdienterweise in den Vordergrund der Arbeit gerückt. Aber bei Kant ist der Begriff des Dinges an sich ein Glied eines weiteren Zusammenhanges, er wird dadurch sowohl eingeschränkt als ergänzt; als letzter Abschluß verstanden zerstört er alles Erkennen in unserem Sinne. Seine Annahme begeht aber den Fehler, unser Verhältnis zur Natur um uns unser Gesamtverhältnis zur Welt bestimmen zu lassen, als bestünde gar kein Reich der Innerlichkeit. Der Natur nämlich können wir nicht in der Weise nahekommen, daß wir, was bei ihr vorgeht, in eignes Leben verwandeln, es aus eigner Tätigkeit erzeugen oder doch nachbilden; gerade je deutlicher sie uns in das Gewebe ihrer Äußerungen blicken läßt, desto mehr erhellt, daß der Sinn des Ganzen uns verschlossen bleibt; trotz des Widerspruchs Goethes mit seiner antikisierenden Naturauffassung verbleibt es dabei, daß wir hier nicht ins Innere zu blicken, nicht von innen heraus zu sehen vermögen, daß hier daher eine dunkle Tiefe jenseits aller Erweisung an uns beharrt. Aber zugleich verbleibt es dabei, daß wir zum Menschenleben mit seinen neuen Größen und Gütern, mit seiner Bildung von Persönlichkeit, Geschichte und Gesellschaft anders stehen, und daß hier nicht ein verschlossenes Ding an sich den Kern des Geschehens bedeutet.

Aber der Gedanke des Sein würde schwerlich mit solcher Macht durch die Geschichte gehen und so viele hervorragende Denker bewegen, enthielte er nicht ein unabweisbares Problem, dem sich auch eine Philosophie des Lebens nicht entziehen kann. Sie verlangt ein der Zerstreuung der einzelnen Vorgänge überlegenes und zusammenhaltendes Beisichselbstsein des Lebens; wie sollte aber ein solches möglich sein ohne eine innere Abstufung des Gesamtbereiches, ohne Bildung eines umfassenden, beharrenden, sich in der ganzen Ausbreitung erlebenden Ganzen. Damit kommen auch wir auf den Begriff eines Wesens, nur liegt dieses dann nicht jenseits, sondern innerhalb des Geschehens, und es liegt uns nicht fertig vor, sondern es muß bei uns erst entstehen und durch fortlaufende Tat getragen werden, es ist Aufgabe, keineswegs Ausgangspunkt. Aber nur im Vordringen zu ihm, nur in einer Wesenbildung hellt das Leben sich auf, und wird es sich selbst ein voller Besitz, eine wesenbildende Stufe hebt sich hier deutlich von einer wesenlosen ab; Wesenbildung bedeutet dann aber etwas anderes als bloße Wesensbildung. Denn diese setzt ein Wesen voraus und will es nur weiter gestalten, bei der Wesenbildung aber steht in Frage, daß das Leben sich selbst einen Kern gibt und damit erst wahrhaftiges Beisichselbstsein wird, während es sonst zerflattert und verfliegt. Die Aufgabe des Erkennens nimmt sich dann folgendermaßen aus. Ein Erkennen wird nur möglich in bezug auf einen Lebensbereich; dieser Bereich aber gibt sich zunächst im Stande eines Auseinandertretens, einer Zerstreuung und Selbstentfremdung. Bei solcher wird das Leben sich selbst etwas Äußerliches; was in ihm vorgeht, das wird an etwas Äußeres gebunden, zugleich in seiner Freiheit beschränkt, es vermag bei solchem Stande keinen vollen Sinn zu erschließen. Über diesen Stand der Veräußerlichung und Bindung treibt nun das erwachende Beisichselbstsein des Lebens hinaus und besteht auf dem Erringen eines wesenbildenden Mittelpunktes; wird von da aus die Spaltung überwunden, so dringt das Leben bei sich selber vor, das Äußere wird in ein Inneres verwandelt, eine volle Ursprünglichkeit erreicht, zugleich aber dem Ganzen ein Sinn gewonnen. Die Bedeutung solcher Wendung zeigt unwidersprechlich die Geistesgeschichte; denn da sind ihre Hauptwendepunkte, wo das bloße Nebeneinander mit seinem trüben Dunkel in Entfaltung einer inneren Einheit verwandelt, und wo zugleich unter durchgreifender Erhöhung des Bestandes eine volle Durchleuchtung gewonnen wird. Hier liegen die großen Eroberungen der Menschheit, als Erweiterungen ihres Lebensbereiches unvergleichlich wichtiger als alle kriegerischen Eroberungen. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt uns das die deutsche Geistesgeschichte an ihren Haupthelden Luther, Kant, Goethe. Darin vornehmlich lag das Große und Bleibende der Leistung Luthers, daß die Religion ihm aus einem Verhältnis zu einer draußengelegenen, jenseitigen Macht das zu einem innerlich gegenwärtigen, der eignen Seele zugehörigen Leben wurde; indem damit die Entfremdung von Gott sich als eine unerträgliche Spaltung des eignen Wesens erwies, mußte die Überwindung dieser Spaltung zu einer Sache zwingender Selbsterhaltung und zugleich zu einem völligen Selbstzweck werden, alle Frage aber nach Lohn oder Strafe zu einer völligen Nebensache sinken. Damit vollzog sich eine große Verinnerlichung und Befreiung, zugleich aber ein Näherrücken und eine Durchleuchtung der Religion, alle Fremdheit ward abgetan, die Seele stand allein auf sich selbst, blinde Devotion wich einer seelischen Haltung aufrecht-männlicher Art. In augenscheinlicher Verwandtschaft damit, wenn auch nach anderer Richtung, ging das Streben Kants. Ihm wurde das Erkennen aus einem Welterkennen ein Erkennen der eignen Struktur und der eignen Leistung des Geistes, zugleich aber zur vollsten Gewißheit und Nähe. Ähnlich wirkte er auf dem Gebiete der Moral. Denn auch hier ward, was sonst als Gebot einer überlegenen Macht, sei es Gottes oder einer menschlichen Ordnung, an den Menschen kam, in ihn selbst, d. h. in ein ihn in Selbsttätigkeit versetzendes Schaffen hineinverlegt; damit aber wurde es voll sein eigen, und wie es den Menschen sich selbst mehr eröffnete, so ließ es weit mehr in ihm sehen, verwandelte es seinen Besitz in volles Eigentum. Dem, was Luther in der Religion, Kant in der Erkenntnislehre und Moral geleistet haben, schloß sich an, was wir für das Verhältnis von Kunst und Seele Goethe verdanken. Denn indem ihm die Kunst nicht ein Verhältnis des Menschen zu einer außer ihm befindlichen Welt bedeutet, sondern alles Äußere auf den Boden der Seele versetzt und in eine Entfaltung eignen Wesens verwandelt wird, indem so im künstlerischen Schaffen der Mensch sich selber sucht, es aufhört, ein Wirken nach außen zu sein, wird es zur Erschließung eignen Lebens, zugleich aber ein völliger Besitz und von innen her aufgehellt. Alle solche Entwicklungen aber sind nur verschiedene Seiten desselben Grundgeschehens: einer uns zugänglichen Wesenbildung. Damit steigt in der Seele eine neue Welt und Wirklichkeit auf, wofür der Begriff des Dinges an sich nicht gilt; das Erkennen aber teilt hier unmittelbar die Bewegung des Lebens, der Erkenntnisakt ist hier unmittelbar ein Lebensakt.

Hängt so das Erkennen an der tatsächlichen Erschließung und Selbstkonzentration des Lebens, so nimmt damit die Erkenntnisarbeit ein geschichtliches Element in sich auf; sie bedarf zu ihrem Gelingen der Vergegenwärtigung dessen, was sich auf dem Boden der Menschheit an schaffendem Leben, namentlich an Wesenbildung, erschlossen hat. Das macht das Erkennen keineswegs abhängig von den wechselnden Phasen des Verlaufs der Geschichte, nicht zu einem bloßen Ausdruck einer vorübergehenden Lage. Denn eben das ist dem Erkennen mit seinem Denken wesentlich, den Gehalt des Lebens gegenüber dem bloßen Menschen festzulegen und so der bloßen Zeitgeschichte eine Geistesgeschichte entgegenzuhalten, die aus dem Wechsel und Wandel das Zeitüberlegene heraushebt und damit eine immer reichere Gegenwart aufbaut. Vermag doch das Denken über den Zustand des bloßen Subjekts hinauszuführen und in ein von ihm unabhängiges volltätiges Geschehen zu versetzen, zugleich aber eine Betrachtung sub specie aeternitatis zu liefern; daß es erst allmählich zu solcher Höhe gelangt, macht es nicht zu einem bloßen Diener der Zeit.