Jan van Loh

Digitale Störungen bei Kindern und Jugendlichen

Reihe Komplexe Krisen und Störungen

Komplexe Krisen und Störungen

Herausgegeben von Prof. Dr. Günter H. Seidler, Heidelberg, PD Dr. Jonas Tesarz, Heidelberg und Prof. Dr. Annette Streeck-Fischer, Göttingen/Berlin

Die Reihe setzt sich zur Aufgabe, wichtige psychische Leidenszustände und Störungen in kurzer, überblickshafter und dennoch tiefgehender und wissenschaftlich-umfassender Weise darzustellen. Dazu gehören auch solche, die in den modernen Diagnoseschemata keine Berücksichtigung (mehr) finden, deren Konzepte für ein tieferes Verständnis dennoch wichtig sind.

Die Bände dieser innovativen Reihe bieten hier klinische Orientierung. Große Bedeutung wird der Phänomenologie und der Theorie zum Verständnis des jeweiligen Störungsbildes beigemessen. Die jeweilige Behandlungslehre gibt eine Übersicht über die jeweils in Frage kommenden therapeutischen Möglichkeiten.

Die Autoren sind meist jüngere, in ihren Fachbereichen aber durchaus ausgewiesene Experten. Adressaten sind die große Zielgruppe der angehenden FachärztInnen unterschiedlicher medizinischer Fachgebiete, insbesondere PsychiaterInnen und PsychosomatikerInnen und Psychologische und Ärztliche PsychotherapeutInnen.

Die Herausgeber:

Günter H. Seidler, Prof. Dr. med., war Leiter der Sektion Psychotraumatologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppen-Lehranalytiker und EMDR-Supervisor.

Jonas Tesarz, PD Dr. med., Arzt und Wissenschaftler am Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik.

Annette Streeck-Fischer, Prof. Dr. med., war Chefärztin der Abteilung »Klinische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen« in Tiefenbrunn, ist Psychoanalytikerin, Ärztin für Kinderpsychiaterie und Psychotherapeutische Medizin und Hochschullehrerin an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU).

Die Einzelbände behandeln folgende Themen:

Digitale Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Jan van Loh) (bereits erschienen)

Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen (Vjera Holthoff-Detto) (bereits erschienen)

Psychosomatik in der Schmerztherapie (Jonas Tesarz)

Ängste bei Kindern und Jugendlichen (Lydia Kruska)

Weitere Bände in Vorbereitung

Impressum

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Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96033-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11037-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20372-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeber

Geleitwort von Annette Streeck-Fischer

Vorbemerkung des Autors

Einführung

Ablehnung des Digitalen – eine sinnvolle psychoanalytische Grundhaltung?

Teil Eins
Kultur-, populär- & sozialwissenschaftliche Ansätze

Neil Postmans »Verschwinden der Kindheit«

Digitale Demenz: Manfred Spitzer

Spaß: Hans Mogels spieltheoretische Position

Neurowissenschaftliches Erzählen: Gerald Hüther

Soziologie des Digitalen: Von Sherry Turkle zu Martin Dornes

Teil Zwei
Evidenzbasierte Ansätze

Computer- bzw. Mediensucht: Psychiatrische Kriterien

Neurobiologische Grundlagen – schematisch zusammengefasst

Verhaltens- und Glücksspielsucht: Kritische Diskussion

Internet- und Computerspielsucht in Zahlen

Komorbidität 1: Digitale Medien und Angst

Komorbidität 2: Digitale Medien und Depression

Komorbidität 3: Digitale Sucht und ADHS

Komorbidität 4: Suchtstörungen und Persönlichkeitsstörungen

Manual gegen die Sucht am Digitalen: Die verhaltenstherapeutische Position

Verhaltenstherapeutische Ätiologie der Computerspiel- und Internetsucht

Digitale Suchtkonzepte: Kritische Diskussion

Empirische psychodynamische Ätiologie: Onlinesucht und Bindung

Teil Drei
Psychodynamische Ansätze

Psychodynamische Grundlagen

Unheimliche Spielzeuge: Sigmund Freud

Pinball-Spiele und Beziehung: Friedrich Kittler

Resonanz in der digitalen Moderne: Martin Altmeyer

Ich-Orientierung und Entgrenzung: Rainer Funk

Medien als Mutterbrust: Michael Ermann

Teil Vier
Vertiefte Psychodynamik und Entwicklungs-Psychopathologie digitaler Störungen

Mentalisierung und Symbolisierung des Digitalen

Einschub: Michael Balints Medientheorie

Mediale Entwicklungspsychopathologie der Latenz und Pubertät

Digitale Spiele mit Heinz Kohuts psychoanalytischer Musiktheorie betrachtet

Computerspiele, Es und Regression

Digitale Verschmelzungspunkte in der zweiten Freud’schen Topologie

Digitales Ich zwischen innerem Monolog, Narzissmus und Abwehr

Digitale Regulation von Schuld

Digitale Spiele und Über-Ich

Der heilige Ernst des digitalen Spiels: Johan Huizinga

Primär- und Sekundärvorgänge und die zwei interpersonellen Interaktionen des digitalen Ich

Digitale Geräte – Spielzeuge oder nicht?

Digitale Geräte als Übergangsobjekte

Reales und virtuelles Selbst

Sekundärer Übergangsraum und die beiden potentiellen Räume

Zur Psychodynamik sozialer Netzwerke

Digitale Gemeinschaften

Digitale Selbstdarstellung

Like-Funktion

Youtuber: Zwischen Multiplikation, Idealisierung und Identifikation

Digitale Abbilder expliziter Sexualität anderer: Online-Pornografie und andere virtuelle Spielarten des Sexuellen als zentrales Nebenthema

Die Entwicklung psychodynamischer diagnostischer Kategorien

Teil Fünf
Therapeuten und Medien

Mediale Selbsterfahrung

Digitale Paranoia – äußere und innere Realität

Zusammenfassung und Ausblick

Anhang: Literatur

Geleitwort der Reihenherausgeber

In unserer sich rasch verändernden Welt tauchen häufig Fragestellungen auf, die sich schwer beantworten lassen, und Probleme, mit denen schwer umzugehen ist. Welche Auswirkungen hat etwa die rasant wachsende Internetwelt, in der Virtualität und Realität nicht selten ineinander übergehen, auf die Trieborganisation von Menschen, auf ihre Werte, ihre Wünsche und Beziehungsgestaltungen und damit auch auf die »Krankheiten«, die einzelne Individuen entwickeln mögen? Oder: Was ist, wenn der Körper in seinen einzelnen Funktionen versagt und medizinisch durchaus hilfreiche Eingriffe möglich sind, die aber das Leben und Erleben des Betroffenen völlig auf den Kopf stellen? Welche Bedeutungen haben zunehmende Entgrenzungen in Bezug auf Alter, Geschlecht und gesellschaftliches Leben von Menschen, etwa durch Medizin und Gesetzgebung?

Diagnosen für Krankheitsbilder werden nach der jeweils aktuellen Ausgabe der ICD und des DSM vergeben. Für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen ist das selbstverständlich; sie sind darin von Beginn ihrer Aus- und Weiterbildung geschult worden. Ältere Kolleginnen und Kollegen wissen, dass es auch anders geht.

Die Orientierung an den großen Manualen bietet ohne Zweifel viele Vorteile. Eine standardisierte Diagnose etwa ist die Voraussetzung für internationale Studien, die dasselbe Krankheitsbild betreffen. Nur mit ihrer Hilfe sind Aussagen über Inzidenz- und Prävalenzzahlen definierter Krankheitsbilder, ihre Verläufe und über die Ergebnisse therapeutischer Interventionen möglich.

Nun gibt es zahlreiche Lebens- und Erlebensbereiche, die sich in ihrer krankhaften Form der Zuordnung zu lediglich einer ICD- oder DSM-Nummer entziehen. Im Einzelfall kann das sehr unterschiedlich bedingt sein: Ein Leidenszustand kann derart viele Lebensbereiche umfassen, dass es nicht möglich ist, ihn nur einer Person als individuelle Krankheit zuzuschreiben. Es kann aber auch sein, dass eine sich sehr schnell verändernde Welt bislang nicht beschriebene und vielleicht auch nicht mit den bisherigen Ansätzen beschreibbare »Störungsbilder« hervorbringt. Stößt möglicherweise der bisherige Krankheitsbegriff (auch) hier an seine Grenzen?

Mit unserer Buchreihe versuchen wir, uns dieser schwierigen Thematik anzunähern. Es geht uns darum, Leidenszustände oder »Störungsbilder« zu beschreiben, die mit ihren vielen Aspekten nur unzureichend mit lediglich einer – oder additiv mit mehreren – ICD- oder DSM-Nummern abgebildet werden können. Eine sicherlich immer gegebene Nähe zu den entsprechenden Darstellungen in den großen Manualen soll so weit wie möglich deutlich gemacht werden. Es wird aber auch immer einen Bereich geben, der die »offiziellen« Beschreibungen der jeweiligen Störungsbilder hinausgeht.

Die Reihe bewegt sich mit ihren Themen in Grenzbereichen zwischen Normalität und Pathologie. Es geht um Fragen an der Grenze zwischen Medizin, Psychiatrie. Psychotherapie und Gesellschaft, die unser alltägliches Leben bestimmen

Unser Anliegen besteht darin, mit jedem Band und zu jeder Thematik Anregungen und Informationen zu geben, die einen hilfreichen Umgang mit der jeweils relevanten Problematik geben.

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Jonas Tesarz (Heidelberg)

Annette Streeck-Fischer (Göttingen/Berlin)

Geleitwort von Annette Streeck-Fischer

Der Titel des Buches mag zunächst irritieren und macht zugleich neugierig: Digitale Störungen – was ist da gestört? Geht es um Fehler im Festnetz, um Internet-Störungen oder um defekte Hardware, die heute unauflösbarer Teil der alltäglichen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist?

Junge Menschen wachsen heute wie selbstverständlich mit den Medien der digitalen Welt auf. Erwachsene, insbesondere Eltern, reagieren mit Blick auf ihre Kinder, deren Aufmerksamkeit oft mehr ihrem Handy als ihnen gilt, besorgt, welche Folgen das wohl haben mag. Als die ersten Computer in die Kinderzimmer kamen, wurden schon kurz darauf Stimmen laut, die sogleich wussten, welche Schäden an Geist und Seele die Kinder nehmen würden. »Dein Freund der Computer«, Titelgeschichte einer Zeitung, wurde gleichsam Vorreiter der Verkündigung, dass Kinder von nun an infolge der libidinösen Besetzung dieses technischen Geräts mit Kontaktstörungen, sozialem Rückzug oder süchtigem Verhalten reagieren würden. Demgegenüber ist für andere diese neue digitale Welt faszinierend und bereichernd, gar die Eingangspforte zu neuen Freiräumen. Ängste und Besorgnisse sowie Faszination angesichts revolutionärer technischer Neuerungen sind nicht neu – auch nach 30 Jahren ist die digitale Welt für viele noch unvertraut und befremdlich. Dass Eltern sich die Frage stellen, ob die Entwicklung ihres Kindes durch den Gebrauch der neuen Medien beeinträchtigt wird oder nicht, liegt nahe und ist durchaus nachvollziehbar. Neuere Untersuchungen verweisen jedoch darauf, dass Kinder und Jugendliche in der heutigen Gesellschaft nicht kränker geworden sind. Wir haben uns heute digitalen Herausforderungen zu stellen, die in Zukunft sogar noch zunehmen werden; umfangreiche Veränderungen stehen – etwa in der Arbeitswelt – in Zusammenhang mit der Digitalisierung noch bevor.

Jan van Loh legt mit seinem Buch einen bemerkenswert umfassenden Überblick über vorliegende Arbeiten zu dieser Thematik vor. Er zitiert sowohl die kulturwissenschaftliche als auch die psychologische und psychoanalytische Literatur zu den Auswirkungen der digitalen Welt und diskutiert kritisch die verschiedenen Blickwinkel, unter denen die neuen Phänomene betrachtet werden, die mal informativ und bereichernd, mal aber auch einseitig bis engstirnig von irrationalen Ängsten geprägt sind. Ihm kommen dabei nicht nur seine Erfahrungen als Psychotherapeut in ambulanter Praxis zugute, wo er mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu tun hat, die mit dem Internet Erfahrungen gesammelt haben, sondern auch sein Blick auf Nachbarwissenschaften, der sich ihm als Kulturwissenschaftler bietet. An Beispielen aus seiner praktischen Arbeit macht er deutlich, wie die digitale Welt in die jeweilige psychische Störung des Kindes oder Jugendlichen gleichsam eingebaut und so zu einer digitalen Störung wird, die Entwicklungen hemmen kann. Wie Psychotherapie hier helfen kann, wird von ihm einfühlsam beschrieben.

So vermittelt das Buch sowohl Psychotherapeuten als auch Eltern, Lehrern, Erziehern und anderen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, Orientierung, die die jeweilige Problematik besser verstehen lässt und die Entscheidung erleichtert, ob gegebenenfalls therapeutische Schritte erforderlich sind.

Vorbemerkung des Autors

Das Unbelebte, das die Illusion des Lebendigen erweckt, übt eine merkwürdige Faszination aus; ebenso das Lebendige in der Pose des Unbelebten. Von dieser Faszination ist unser Denken stärker durchtränkt, als wir uns gewöhnlich bewusst machen.

René A. Spitz

Eines Sonntagmorgens fragt mich meine zweieinhalb Jahre alte Tochter am Frühstückstisch, ob sie die »Sonne mit der Maus« schauen könne. Da sie noch nicht richtig sprechen kann, dauert es etwas, bis ich verstanden habe, was ihr gerade durch den Kopf geht: Sie hat kürzlich die Sendung mit der Maus zusammen mit ihrer älteren Schwester gesehen. Ich muss kurz überlegen, was ich darauf antworte, da es meiner Meinung nach noch etwas zu früh am Morgen und sie eigentlich auch noch viel zu jung zum Fernsehen ist. Da wird mir klar, dass sie, wie beim letzten Mal, die Sendung mit der Maus im Internet anschauen will, da wir keinen Fernseher haben. Daher kann ich nicht argumentieren, die Sendung komme erst später, wie früher, als ich selbst noch klein war. Die Sendung mit der Maus läuft heutzutage einfach immer – immer dann, wenn man es will. Da unser familiärer Tagesablauf nicht so durchorganisiert ist, dass wir abends vor dem Zubettgehen im Schlafanzug und mit geputzten Zähnen stets noch zusammen eine halbe Stunde Fernsehen schauen würden, muss ich ihr einfach sagen, dass das nicht geht. Nach einer Weile hat sie das Thema vergessen und spielt mit Bausteinen, Kuscheltieren und am Wasserhahn, mich aber beschäftigt es weiter. Denn es scheint, als ob durch das Internet die Zeitgefüge der TV-Gesellschaft in einer Weise aufgelöst worden sind, die neue Begründungen erzwingen. Während sich in diesem Zusammenhang also sagen ließe, dass eine digital herbeigeführte Deregulierung vorliegt, die aufgrund der mit ihr einhergehenden Verunsicherung beklagt werden kann, lautet doch die Frage, ob das so ist. Denn umgekehrt gesagt, würde Deregulierung heißen, dass das TV-Programm reguliert und damit Sicherheit schafft. Die an die Deregulierung geknüpfte Befürchtung eines Kontrollverlusts folgt der impliziten Idee, dass es das TV-Programm schon immer gegeben hat. Die TV-Technologie hat sich, aus der heutigen Sicht der Internet-Technologie, in ihrer regulierenden Struktur gewisser Weise am Tagesablauf orientiert: Zunächst wurde nur spätnachmittags und abends gesendet, dann auch vormittags bis zum Testbild, inzwischen auch die ganze Nacht hindurch auf hunderten Kanälen. Der Wechsel von Tag und Nacht taucht dessen ungeachtet im Fernsehen aber immer noch auf, wie auch der Wochenrhythmus, den es ja natürlicher Weise gar nicht gibt, da es sich hierbei um eine kulturelle Bestimmung handelt. Die Erde dreht sich auch, ohne dass jemand zählt, wie viele Male sie sich um sich selbst dreht, während sie um die Sonne wandert. Das Fernsehen ist also in gewisser Weise »natürlicher« als das Internet, in dem die rhythmische Zeit auf ihre Art vollständig abgeschafft ist und den zivilisierten Menschen von der Berechnung des Osterdatums ebenso entbindet wie von der Tatort-Sendezeit oder dem Telefon-Tischchen im Flur unserer Eltern oder Großeltern.

Kurz nach diesen Gedanken zum nicht-frühen Schauen der Sendung mit der Maus höre ich an diesem Sonntag im Radio ein Interview mit einem Medizinhistoriker, der zur Abschaffung der Arztkittel befragt wird. Er führt aus, dass die Einführung der Arztkittel eine Bewegung innerhalb der Ärzteschaft markiert, bei der die alte, vom medizinischen Gehrock herstammende Tradition von den modernen Laborärzten in weißen, leicht zu reinigenden Kitteln verdrängt wurde. Entsprechend kommt er auf die sinnige Zusammenfassung, dass die gleichen Gründe, die zur Einführung des Arztkittels als Teil der Krankenhaustechnologie und zugleich zur Schöpfung von deren prägendstem Symbol geführt haben, ihre Abschaffung erzwingen: die Hygiene im Krankenhaus ist von dem Gedanken der Übertragung von Keimen durchdrungen – zeitlich linear und scheinbar vollständig rational.

Was aber haben diese beiden Entwicklungen – die stetige Verfügbarkeit der Sendung mit der Maus und die Abschaffung des Arztkittels – gemeinsam? Sie zwingen die Alten dazu, über ihre Traditionen neu nachzudenken: die Ärzte über ihre Kittel und die Eltern über das Fernsehverhalten. Solcherlei Traditionen aufzugeben bedeutet stets, sich Gedanken darüber machen zu müssen, was an ihre Stelle tritt; verzichtet man darauf, verliert man nicht nur die subjektive Deutungshoheit über den Alltag, sondern auch den Bezug zueinander. In beiden Fällen (Sendung mit der Maus und Arztkittel) werden die Traditionen von Entwicklungen ausgehöhlt, die als zwei Stufen der jeweils gleichen Technologie beschrieben werden können und ihrerseits jenseits jeder Moral stehen, aber stets aus dem Blickwinkel der Moral betrachtet werden, da der Mensch die Moral, und damit das Über-Ich, in den Traditionen herausbildet und sich selbst durch diese in der Menschheit verankert fühlt. Warum soll man eigentlich nicht morgens die Sendung mit der Maus schauen? Weil der Fernseher den Blick in den Kamin beerbt und dieser erst am Abend angefacht wird? Oder weil der Fernseher wie eine Lampe leuchtet und daher eigentlich erst bei Dunkelheit angeschaltet werden sollte? Oder gar, weil Glotzen am Morgen dazu führt, dass irgendwann den ganzen Tag geglotzt wird? Was für den einen eine plausible Halbwahrheit sein mag, klingt für den anderen, wie viele andere Erklärungen auch, nach grobem Unfug.

Einen dritten Gesichtspunkt der Entwicklung des Subjekts im Zusammenleben mit Technologie kann hautnah miterleben, wer manche Männer (und Frauen) dabei beobachtet, wie sie ihr Auto verkaufen. Vielfach ist dabei zu bemerken, dass es ihnen wichtig ist, wer das Fahrzeug nach ihnen bekommt, ob es in guten Händen ist oder noch gefahren wird, ganz so, als handele es sich bei dem technischen Gegenstand Auto um ein leibliches oder adoptiertes Kind oder Haustier, dem große Gefühle entgegen gebracht werden, und die sorgenvoll ziehen zu lassen von großer subjektiver Bedeutung ist. Ähnliches gilt auch für lange genutzte, nicht mehr gebräuchliche Mobiltelefone in den hinteren Abteilungen von Schreibtischschubladen oder Fernsehgeräte, die nun im Keller verstauben, weil weder Kinder noch Enkel sie wollen oder gebrauchen können. Die in diesen Beispielen aufscheinende, emotionale Besetzung lebloser Gegenstände kann ebenso sehr für Bücher gelten, auch wenn mancher argumentieren mag, dass sie aus Papier, mithin aus Holz, entsprechend aus einem lebendigen Werkstoff hergestellt und daher dem Leben näher seien als ein technisches Gerät aus Metall, Halbleitern, Glas und Kunststoff. Entscheidend ist in allen Fällen, dass ein Buch, ein Telefon oder ein Auto emotional dann stärker besetzt werden, wenn das Subjekt mit diesen etwas verbindet und sich eine gemeinsame Geschichte entwickeln konnte. Diese Verbindung kann eine Sicherheit oder Möglichkeit der Expansion sein, die das Auto bietet, oder eine geliebte fiktive Figur in einem Buch, die dazu in der Lage ist, Dinge zu erleben, die der Leser niemals glaubt selbst erleben zu können. Oder auch ein idealisierter Autor, dessen sprachliche Ausdrucksfähigkeit und Weitsicht das eigene Denken immer wieder bereichert. In allen Fällen von emotionaler Besetzung eines technischen Dings durch einen Menschen entsteht zugleich eine Selbstbeziehung und ein Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft, das auch im Arztkittel angetroffen wird: nicht wenige Ärzte tun sich schwer damit, den selbstverständlich gewordenen Kittel abzulegen, weil er sie auf den ersten Blick in ihrer beruflichen Eigenschaft von anderen Mitarbeitern im Krankenhaus unterscheidet, oder weil sie sich daran gewöhnt haben, den Kugelschreiber und das Stethoskop immer an der gleichen Stelle mit sich zu führen. Doch ihr eigenes Fach und dessen technischer Fortschritt erlegt ihnen auf, sich weiter zu entwickeln. Sie sind dazu gezwungen, sich zu lösen, sich zu verabschieden und auf etwas Neues einzustellen.

Entsprechend geht es in diesem Buch um die Frage nach der Auseinandersetzung mit mehreren Entwicklungen: der von Kindern, der von Erwachsenen, besonders der Eltern und Bezugspersonen, der von Familien, der von Psychotherapie und der von Technologie. Es ist mir aus verschiedenen Gründen nicht möglich, die psychische Entwicklung der Kinder oder Erwachsenen dabei auf die Entwicklung des Gehirns zu reduzieren, wie es von manchen Forschern betrieben wird – denn dem materiellen Korrelat des Bewusstseins steht im Kontext der im Folgenden vertretenen psychodynamischen Perspektive auch die Frage nach dem möglichen oder unmöglichen materiellen Korrelat des Unbewussten gegenüber. Zudem ist es nicht möglich, Kinder und Erwachsene in dieser Frage auf Individuen zu reduzieren, denn Medien egal welcher Art werden stets dazu eingesetzt, den Objektbezug, und damit das immaterielle Korrelat des Bewusstseins – die Beziehung – mehr oder weniger abstrakt zu regulieren. Ich werde über das konkrete Anliegen dieses Buches hinaus, psychodynamische diagnostische Kriterien für digitale Störungen zu erarbeiten, zeigen, dass anhand der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen der Nachweis erbracht werden kann, dass die libidinöse Besetzung der technischen Geräte die genaue Bestimmung des hypothetischen Korrelats des Bewusstseins – und auch dessen unbewusste Entsprechung – in die Maschine selbst verschiebt, da es ohne deren technischen Bezugsrahmen ganz anders ausfallen würde (was von den Vertretern der Geist = Gehirn-Hypothese ja immer wieder gezeigt wird). Mit anderen Worten ist es nicht nur unmöglich, den Menschen ausschließlich als Individuum zu denken, sondern auch nicht mehr vorstellbar, sich die Menschheit ohne technische Medien vorzustellen, geschweige denn, sie ohne technischen Einsatz zu beforschen. Noch anders gesagt: Bei einem rein statistischen Forschungszugang laufen wir Gefahr, dass die Schere wissenschaftlicher Erkenntnis immer weiter aufgeht, obwohl sie doch eigentlich das Ziel hat, sie zu schließen, weil Wissenschaft dazu dienen soll, Zusammenhänge zu verstehen.

Letztlich aber ist das Buch, das Sie in den Händen halten, als ein pragmatisches, ein auf die therapeutische Sache bezogenes Schriftstück gedacht, das unter anderem dabei helfen soll, Ängste im Umgang mit der digitalen Technologie mit Blick auf deren alltägliche Unausweichlichkeit abzubauen und zum Aufbruch in die digitale Psychodynamik beizutragen. Dabei hoffe ich, die teilweise sehr komplexen Sachverhalte so darstellen zu können, dass sie vom Geiste jener Sendung mit der Maus erfüllt sein mögen, die inzwischen rund um die Uhr Zusammenhänge so anschaulich wie möglich darzustellen versucht, dass jedes Kind die aufgegriffenen Sachverhalte verstehen und lesen kann, ohne dabei diejenigen zu langweilen, die über ausführliches Vorwissen verfügen.

Mein Dank gilt Annette Streeck-Fischer, Jenny Kaiser, Michael Over, Carmen Eger, Rosa Gröszer, Heike Bernhardt, Christiane Eichenberg, Klaus Wölfling, Olaf Knellesen, Lydia Kruska, Sabine Sterry, Norbert Rosansky, Heinz Beyer, Eva Blomert, Thomas Lindemann, Lars Straehler-Pohl, Thomas Hölzl, Lena Korn, Lieselotte Hesberg und Horst Kächele.

Einführung

Digitale Störungen sind ein Sammelbegriff für den unangemessenen Umgang mit Spielen auf dem PC, Handy, der Konsole oder im Internet, mit Sozialen Netzwerken und mit Internet-Pornografie, auch über die Sucht hinaus.

Computermedien polarisieren. Immer wenn es ums »daddeln« und »posten«, »liken« und »tweeten« oder irgendeinen anderen aktiven oder passiven Umgang mit sozialen Netzwerken, dem Computer, dem Internet oder dem Handy geht, dauert es nicht lange, bis die Meinungen weit auseinander gehen – zwischen Spielern und Nicht-Spielern ebenso wie zwischen Nutzern und Nicht-Nutzern, Lehrern, Eltern und Kindern, zwischen Mädchen und Jungs, Alten und Jungen, Experten und Laien, Anfängern und Profis. Dann ist von kritischer Seite schnell vom Verschwinden der Kindheit und digitaler Demenz die Rede, während sich die computeraffine Seite darauf beruft, dass der kulturelle Einfluss von Konsolen- und Computerspielen, sozialen Netzwerken und dem digitalen Universum als Ganzem unter anderem daran abgelesen werden kann, dass die Computerspiel-Industrie längst mehr Umsatz macht als Hollywood, bzw. an der Tatsache, dass ein deutscher Stahlgigant schon vor Jahren von einem britischen Mobiltelefonie-Konzern übernommen wurde. Ist die Diskussion dann erst einmal in Gang gekommen, rückt ein Konsens, worin er auch immer bestehen mag, häufig in weite Ferne, während die technische Entwicklung unausgesetzt weiterläuft. Im Anschluss an diese Einführung werde ich jene polemisch geführte Debatte, in deren Zentrum das psychoanalytische Menschenbild steht, aufgreifen.

ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen oder TherapeutInnen – die digitalen Medien betreffen auch all jene Berufe, die mit Heranwachsenden zu tun haben, und das in besonderer Weise; ganz abgesehen davon, dass nicht nur Kinder und Jugendliche mit digitalen Medien selbstverständlich umgehen. Vielen, die beruflich oder privat mit dem Phänomen der digitalen Spiele, sozialen Netzwerke, Youtubern und anderen Online-Anwendungen zu tun haben, sind jene Stimmen nicht genug, die den Medien im Handumdrehen ein Suchtpotential zuschreiben und vor dem Umgang mit ihnen warnen. Recherchiert man im Internet, so ist die Suchthypothese als praktisch einzige psychologische Theorie im Zusammenhang mit digitalen Medien anzutreffen. Es wird als neurokognitiv nachgewiesen dargestellt, dass die auf ständige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Bahnung im Belohnungszentrum des Hirns von Computernutzern jener Struktur gleicht, die bei Alkoholikern oder anderen Drogenkonsumenten gefunden worden ist. (vgl. z. B. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=2668)

Ohne diese Beobachtung in Zweifel zu ziehen, erscheint die Reduktion der psychologisch und therapeutisch relevanten Aspekte des digitalen Alltags auf die Sucht weder sinnvoll noch angemessen. So stellt sich etwa die Frage: Wenn digitale Medien süchtig machen, ist dann die gesamte Gesellschaft süchtig, wo sie doch jeder benutzt? Anders gesagt muss es, wenn behauptet wird, dass fünf, zehn oder gar 15 Prozent der Computerspieler, Programmierer oder sonstigen »Nerds« süchtig sind, immer noch mindestens 85 % Anwender geben, die es nicht sind, auch wenn sie täglich bis zu acht Stunden am Computer beispielsweise ihrer Arbeit nachgehen oder im Zug auf ihre Handys fixiert sind. Was aber unterscheidet diese Gruppen und Individuen, aus denen sie sich zusammen setzen, voneinander? Wie sieht ein »gesunder«, unabhängiger Umgang aus? Ist er genetisch angelegt oder sozial bedingt? Kann diese Art der Sucht überwunden werden? Gibt es möglicherweise noch ganz andere Zustands- und Krankheitsbilder, die mit digitalen Medien im Zusammenhang stehen, die anhand der Medien-Sucht-Diagnose nicht annähernd beschrieben werden (können)?

Unter dem Sammelbegriff Digitale Störungen fasse ich jene ernstzunehmenden klinischen Phänomene zusammen, von denen die Internet- oder Computer(spiel)sucht nur eine Variante ist. Dieser Begriff ist weniger spezifisch als jene an die Apple-Geräte angelehnte Formulierung der i-Disorders des Amerikaners Larry Rosen. Unter keinen Umständen handelt es sich um virtuelle Störungen, da diese eine Scheinbarkeit suggerieren würden, die die Phänomene in den Bereich der Simulation verschieben würden – was nach meinem Empfinden der Sache äußerst unangemessen wäre.

In der Folge werde ich versuchen, mich – und damit hoffentlich auch den geneigten Leser – nicht dazu hinreißen zu lassen, vorschnell Partei für die Pro- oder Contra-Computerspiel- und/oder soziale Netzwerke-Position zu ergreifen – wenn überhaupt.

Die fortgesetzte Polemik ist meiner Ansicht nach einer der Gründe dafür, dass keiner mehr durchblickt. Als Psychotherapeut von Kindern und Jugendlichen (aber auch von Erwachsenen) habe ich die tägliche Aufgabe, zunächst einmal neutral zu bleiben und nicht zu urteilen, um die Möglichkeit zu erhalten (i. e. zu bekommen und/oder zu bewahren), für das Kind oder den Erwachsenen und deren Notlage Partei zu ergreifen. Sie haben die Computer nicht erfunden, sie haben die Spiele auf der Konsole nicht programmiert, sie haben sie nicht gesellschaftsfähig gemacht und sie sich im Fall der Kinder und Jugendlichen meistens auch nicht selbst gekauft.

Neutral zu bleiben, um sich unvoreingenommen ein eigenes Bild zu machen, ist nicht gleichbedeutend mit einer Leugnung schwieriger Entwicklungen oder der Verharmlosung oder Verniedlichung gravierender Phänomene, sondern stellt den Versuch dar, sich nicht von der Polemik in die Horizontale führen zu lassen, die letztlich in der Sucht-Diagnose und ansonsten nur in Unverständnis endet. Im Gegenteil dazu möchte ich an neuralgischen Punkten in die Vertikale gehen, um letztlich zu einem psychodynamischen Verständnis der digitalen Medien zu gelangen. Anders ausgedrückt versuche ich herauszuarbeiten, wie sich die digitalen Medien, einerseits in Abgrenzung zu Fernsehen, Radio, »Konservenmusik«, (Mobil-)Telefon, gedruckten Medien, und vor allem auch der fotografischen Kamera, andererseits im Zusammenwirken mit diesen, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, Bewusstsein und Unbewusstes auswirken.

Dabei versteht es sich für mich von selbst, dass Medien versuchen, ihre Konsumenten in ihren Bann zu ziehen und zu manipulieren. Sich darüber zu empören, dass Anordnungen von technischen Geräten das tun, wozu sie entwickelt wurden, nämlich Informationen zu verbreiten, ist meiner Ansicht nach nicht sinnvoll, da die Informationen, die verbreitet werden, bis dato von Menschen erstellt werden, die damit das Ziel verfolgen, anderen Menschen etwas zu suggerieren. In den Chor derjenigen einzustimmen, die aus diesem Grund Massenmedien ggf. als Kulturindustrie (um den Begriff von Adorno-Horkheimer zu bemühen) pauschal ablehnen, würde bedeuten, sich in die Polemik hineinziehen zu lassen und dabei die Dynamik zwischen Menschen und industriell verbreiteter Information unverstanden zur Seite zu schieben. Nur durch jene von Freud inspirierte Enthaltsamkeit gegenüber Wertungen, die jedem gleich auf der Zungenspitze liegt, wenn es etwa um die Konfrontation von Kindern und Jugendlichen mit Pornografie über das Internet geht, kann es gelingen, handlungsfähig zu bleiben und zu verstehen, worin das Problem besteht, damit gemeinsam Lösungen gefunden werden können, die im Sinne der Betroffenen sind. Denn

»Computerspielsucht kann also in einem Teil der Fälle möglicherweise ein auch ohne Behandlung sich von selbst zurückbildendes transitorisches Phänomen sein. Computerspielsucht kann andererseits aber auch über Jahre fortbestehen, in denen sich die psychosozialen und gesundheitlichen Konsequenzen zunehmend gravierender gestalten.« (Thomasius et al. 2012, S. 92)

Dass es einen Unterschied zwischen analogen Medien und digitalen Medien gibt, ist nicht nur für Medienwissenschaftler unstrittig. Dieser Unterschied kann aber im Bereich der elektronischen Spiele auch an den zwei verschiedenen Ursprüngen von Konsolen- und Computerspielen herausgearbeitet werden, zumal dieser bis heute für die Heranwachsenden wichtig sind.

Abb. 1: Pong (1958) (Video, analog) Abb. 2: OXO (1952) (Computer, digital)

Während Pong als analoges Spiel aus der Technologie einer Fernsehbildröhre hervorging, fußt OXO, eine Variante des bekannten, herkömmlichen Regelspiels Tic-Tac-Toe, auf der binären Logik des Computerprinzips. Fragt ein Therapeut heute einen 10 Jahre alten Jungen, ob er am Wochenende Computerspiele gespielt habe, wird dieser möglicherweise mit Nein antworten, auch wenn er jeden Tag 8 Stunden an der PS4, Xbox oder Wii gesessen hat. Diese Spielkonsolen sind für Kinder eben etwas anderes als ein Computer, denn die Konsolen werden an den Fernseher angeschlossen und »darauf« gespielt – tendenziell im Wohnzimmer und nicht im Arbeitszimmer der Eltern oder dem eigenen Laptop.

Neben den analogen und digitalen Ursprüngen animierter Maschinenspiele wird anhand dieses Beispiels nun aber vor allem anschaulich, dass es bei Kindern und Jugendlichen und deren Umgang mit digitalen Medien darum geht, sprachlich sehr genau hinzuhören. Feinheiten zu erkennen gelingt nur, wenn sich der Therapeut mit den Themen beschäftigt, die das persönliche Umfeld der Kinder und Jugendlichen betreffen. Dass sich daran unter Umständen, wie im obigen Beispiel, historische Entwicklungen ablesen lassen, macht eine differenzierte Herangehensweise zusätzlich interessant.

Wo rührt die unübersehbare Faszination her, die die digitalen Maschinen auf die spielenden und digital networkenden Subjekte ausübt? Schon kleine Kinder stehen wie gebannt an Baustellen. Sie beobachten, wie Bagger schaufeln, riesige Kräne Materialien heben, wie Mähdrescher über das Land fahren oder Container auf gigantische Schiffe verladen werden. Jeder, der schon einmal eine vollautomatische industrielle Produktionsanlage in Betrieb gesehen hat, wird bestätigen können, dass Maschinisierung und Automatisierung eine Faszination auf den Betrachter ausüben. Der psychodynamisch denkende Beobachter mag sich fragen: Was ruft die Faszination hervor? Ist es der Versuch, die Zusammenhänge herzustellen, das »Wie geht das?« zu ergründen? Oder aber wirkt der Wunsch, das Ganze im Werden zu beobachten, bis es fertig ist? Oder ist es doch die Fantasie von der Entstehung von etwas unsagbar Großem? Sicher ist, dass die Faszination noch viel stärker wird, wenn der Betrachter zum Akteur wird, der mitmachen kann. Und genau dies ist der Punkt, in dem Machterleben und Zugehörigkeitsgefühl zusammenfallen – auch bei Spielen an virtuellen Maschinen (und das sind auch Flugzeuge, Panzer oder Handfeuerwaffen), die vom Computer erzeugt werden – zumal der Computer selbst auch eine Maschine ist, in dem der menschliche Trieb durch das Programm ersetzt zu sein scheint.

Um in diesen Gegenstand einzuführen, werden im ersten Teil Schlüsseltexte der medienkritischen Perspektive schlaglichtartig dargestellt und diskutiert. Dabei geht es mir nicht darum, diese in polemischer Absicht abzutun, denn es ist mir nicht möglich, z. B. die Untersuchungen Spitzers systematisch zu widerlegen. Dessen neuropsychologische Sichtweise stellt einen wertvollen Beitrag für das Verständnis der Wirkung von Medien dar. Es ist aber möglich, sie zu den 30 Jahre älteren, kulturwissenschaftlich geprägten Ausführungen Postmans in Beziehung zu setzen, die auch aktuell in der Diskussion immer wieder Erwähnung finden. Postmans Hypothese vom Verschwinden der Kindheit entstammt einem kulturwissenschaftlichen Text, der mit Spitzers populärwissenschaftlichen Publikationen und dem psychoanalytischen Diskurs nur über Umwege miteinander verknüpft werden kann. Dennoch sind beide maßgeblich für die öffentliche und speziell auch die psychoanalytische Wahrnehmung der Thematik. Parallel stelle ich eine psychotherapeutische Behandlung mit einem Jungen vor, der aufgrund einer Angsterkrankung vorgestellt und behandelt wurde. Im Verlauf dieser Therapie ergab sich eine psychische Dynamik, in der digitale Medien und Psychotherapie gleichzeitig ihre Wirkung entfalteten. Durch die Einflechtung in die Kulturtheorie entsteht ein kontrastreicher Zugang zum Gegenstand, wobei für meine Begriffe auch deutlich wird, dass uns Postmann und Spitzer nicht in die Lage versetzen, den klinischen Fall angemessen zu verstehen. Daher ziehe ich zunächst Gerald Hüther hinzu, der ohne Zuhilfenahme von Nachweisen oder Zitaten einen anschaulichen und leicht nachvollziehbaren, neuropsychiatrischen Ansatz formuliert hat, um Begriffe beizusteuern, die im weiteren Verlauf bei der Herausarbeitung psychodynamischer Kategorien behilflich sein werden. Nach der Berücksichtigung soziologischer Positionen leitet das relativ isolierte, aber wichtige Zwischenstück der spieltheoretischen Position des Psychologen Mogel, der digitale Spiele in der Kontinuität des Spielens auf den Spaß ausgerichtet versteht, zum zweiten Teil über.

In diesem wird unter der Überschrift »Evidenzbasierte Zugänge« die Internetsuchthypothese vorgestellt, wobei auch auf die in die Forschungsdiagnosen der DSM-5 aufgenommene »Internet Gaming Disorder« eingegangen wird. Daran schließt sich die Darstellung der verhaltenstherapeutischen Position an, von deren Seite ein manualisiertes Behandlungskonzept der Internetsüchte vorliegt. Ein Hinweis auf Voigtels Unterscheidung von struktureller, symptomatischer und reaktiver Sucht dient dazu, die psychodynamische Funktion von Mediensucht in den Blick zu bekommen. Die bereits von der Verhaltenstherapie thematisierte, ätiologische Fragestellung findet in Eichenbergs Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Bindungskonzept und Computersucht einen Niederschlag, der in der Lage ist, empirische Ergebnisse beizusteuern, die psychoanalytisch argumentieren.

Im dritten Teil werden psychodynamische Ansätze vorgestellt, die sich mit den digitalen Medien beschäftigen. Neben Freud (unheimliche Spielzeuge und Wunscherfüllung) und dem Kulturwissenschaftler Kittler (Flipper, Training und technischer Beziehungsersatz) kommen Altmeyer (relationale Psychoanalyse und digitale Resonanz), Funk (Ich-Orientierung und Entgrenzung) und Ermann (digitale Mutterbrust) zu Wort. Erneut wird an diesen Hypothesenbildungen anhand von Fallbeispielen herausgearbeitet, dass sie sich zwar zum soziologischen Verständnis und der Diskussion in diesem Feld eignen, für eine klinische Befundung und Diagnosestellung aber nur teilweise hilfreich sind.

Entsprechend wird im vierten Teil ein vertiefter psychodynamischer Zugang entwickelt, der sich stärker an der klinischen psychotherapeutischen Erfahrung orientiert, um schrittweise ein dreigliedriges psychodynamisches Verständnis (inkl. ätiologischen Fragestellungen) der Interaktion von digitalem Subjekt und digitalem Medium zu entwickeln. Bezugsgrößen sind die Mentalisierungstheorie, die zweite Topologie Freuds und Winnicotts Theoreme von Übergangsraum und Übergangsobjekt. Aus der Betrachtung von digitalen Spielen, sozialen Netzwerken und digitaler Sexualität werden diagnostische Fragen entwickelt, um digitale Störungen im Zusammenhang der Beziehungen zu inneren und äußeren Objekten verstehen zu können. Sucht nach digitalen Medien, auch verstanden als zwanghafter Medienkonsum, ist dabei nur ein zu beobachtendes (symptomatisches) Zustandsbild. Insgesamt erfolgt der Zugang weder nur aus der Praxis heraus, noch nur anhand einer orthodoxen theoretischen Position, sondern integrativ aus der Zusammenführung von Praxis und Theorie, um die Dynamik hinter dem Sichtbaren der digitalen Erscheinungen psychotherapeutisch zu entschlüsseln und zu ordnen.

Die Fallvignetten stellen paradigmatische Konstellationen vor, in denen digitale Medien eine wichtige Rolle spielen. Dabei wird deutlich werden, dass es sehr unterschiedliche Arten des Umganges mit den digitalen Medien gibt, die therapeutisch mehr oder weniger gut und vor allem therapeutisch unterschiedlich behandelt werden können und müssen. So wird greifbar, dass es nicht die Medien sind, die süchtig machen, sondern dass die Subjekte eine Konstellation (psychische Struktur, intrapsychische Konflikte, Beziehungsdynamiken) mitbringen, die es ihnen ermöglicht, einen mehr oder weniger maßvollen Umgang mit den Medien zu betreiben und anhand von Medien psychische Kompromissbildungen hervorzubringen. So gesehen ist der Umgang mit Medien ein Symptom für eine zugrunde liegende Persönlichkeits- oder Familiendynamik, deren Teil die Medien sind.

Beispielsweise ist es inzwischen keine Fantasie aus einem Science-Fiction Film mehr, dass Kinder in Familien heranwachsen, in denen sich die Eltern beim Spielen von Computerspielen oder über sonstige digitale Kanäle kennen gelernt haben – die aber dennoch sozial integriert sind und ein relativ »normales« Funktionsniveau aufweisen. Auf die Frage, wie vollständig analog aufgestellte Therapeuten mit solchen Situationen umgehen könnten, sollen theoretische Ableitungen helfen. Eine Familie, in der beide Eltern selbst regelmäßig digitale Spiele spielen, ist diagnostisch und prognostisch unter Umständen anders einzuschätzen als eine Familie, in der noch Zeitung gelesen und musiziert wird. Entsprechend ist es aber nötig, über angemessene diagnostische Kriterien zu verfügen, anhand derer eine Prognose möglich wird, auch um differentielle Indikationen stellen zu können.

Die klinischen Beispiele werden auch dazu herangezogen, therapeutische Verläufe zu skizzieren. Die Interventionen erfolgen unter Berücksichtigung einer therapeutischen Neutralität, soweit das möglich und im Sinne der Gesundung ist. Es wird diskutiert, ob der Einsatz von digitalen Medien innerhalb der Therapie sinnvoll oder unausweichlich sein kann und welche Interventionen angemessen sein können, um den Beteiligten zu ermöglichen, zu einem angemessenen Umgang mit den Spielen oder sozialen Netzwerken zu gelangen. Waren sie dazu da, eine entwicklungspsychologische Hemmschwelle zu bewältigen, ein Trauma zu verarbeiten oder sollen sie dauerhaft eine Beziehung ersetzen? Was kann an ihre Stelle treten? Ist die Rückkehr zu einer Spielpraxis ein Rückfall oder der Versuch einer Klärung? Fragen auf Patientenseite können lauten: Wie sind die Menschen, mit denen ich spiele, eigentlich wirklich drauf? Sind das meine Freunde oder habe ich gar keine Freunde? Was entgeht mir, wenn ich immer nur spiele oder chatte? Wer bin ich, wenn ich nicht spiele oder offline bin? An den Patienten gerichtet, können diese Fragen Vertrauen zerstören und ihn den objektlosen Wüsteneien der digitalen Umgebungen in die Arme treiben. Was aber würde der Patient sagen, wenn ich ihm/ihr diese Frage in einem Chat stellen würde? Erklärt sich der mögliche Unterschied aus einer Anonymität oder anhand medial hergestellter Distanz (oder noch etwas anderem, gar der Faszination für die maschinelle Übermittlung)? Dieser vierte Teil versteht sich entsprechend auch als Fundus für Hinweise, welche Art von Interventionen hilfreich sein können, und welche mit Sicherheit wenig hilfreich sind, je nachdem, mit wem man es zu welchen Zeitpunkt in der Therapie zu tun hat.