Das Alter spielte für Marion nie eine Rolle. Weder bei sich noch bei anderen. Wir zum Beispiel lagen sechzig Jahre auseinander. Trotzdem war sie, meine Großtante, für mich wie eine Schwester – mal die große, mal die kleine. Oder einfach eine besondere Freundin.

Wenige Monate vor ihrem Tod sagte ich zu ihr: »Irgendwann würde ich gern ein Buch über dich schreiben.« Sie antwortete: »Wenn du meinst, dass es jemanden interessiert.« – So war sie.

Dies ist ein sehr persönliches Buch geworden. Ich erzähle von unseren gemeinsamen Reisen und schildere Szenen aus dem Hamburger Alltag. Enthalten sind auch unsere letzten Gespräche, die wir im Hinblick auf eine Veröffentlichung aufgezeichnet haben.

Geschichte einer Freundschaft

Meine erste Erinnerung geht auf den Sommer des Jahres 1980 zurück: Marion hatte beruflich in Bonn zu tun und besuchte uns bei der Gelegenheit zu Hause. Ich war zwölf Jahre alt, saß auf unserem weißen Cordsofa und las im Spiegel, den ich gerade für mich entdeckte.

»Findest du das interessant?«, kam es plötzlich von der Seite. Marion war aus dem Kreis der Erwachsenen herübergekommen. Ihre Augen sehr blau, das Gesicht mit der hohen Stirn familiär vertraut, das silbergraue, gewellte Haar aus dem Gesicht frisiert. Ihre tiefe Stimme warm und klar.

Sie setzte sich neben mich. Zwischen uns entwickelt sich eine Unterhaltung über Politik. Ich war schwer beeindruckt: was meine Großtante alles wusste, wie spannend sie erzählte, wie genau sie zuhörte.

 

Von diesem Tag an blieben wir in Kontakt. Sie schickte mir hin und wieder etwas zu lesen, einen ihrer Leitartikel aus der Zeit oder andere Texte, von denen sie meinte, dass sie einen jungen Menschen interessieren könnten – oder interessieren sollten. Ich schrieb ihr ein paar Gedanken dazu, sie schrieb wieder zurück. Manchmal sprachen wir am Telefon, aber das geschah eher selten, weil Marion ungern telefonierte: zu teuer. Am Ende der kurzen Gespräche sagt sie nur »Addio«, manchmal legte sie sogar ohne Abschiedsgruß auf.

Einige Jahre später erzählte ich ihr von einem Praktikum in einem Studio für Grafik und Design in Hamburg, das ich für die Sommerferien plante.

»Wo wirst du denn wohnen?«, fragte sie.

»Das weiß ich noch nicht, aber es wird sich bestimmt was ergeben.« Meine Eltern haben lange in Hamburg gelebt, ich bin dort geboren.

»Wenn du nichts Vernünftiges findest, kannst du gerne bei mir einziehen«, sagte Marion. »Ich würde mich sogar darüber freuen.«

Marion wohnte im Stadtteil Blankenese. Kurz hinter dem Bahnhof zweigt von der Hauptstraße ein schmaler Weg aus Kopfsteinpflaster ab: der Pumpenkamp. Die Straße führt leicht bergauf, und dann taucht hinter hohen Ahornbäumen und Rhododendronbüschen das kleine Haus auf, in dem Marion seit den sechziger Jahren lebte.

Sechs Wochen lang wohnten wir so selbstverständlich zusammen, als wäre es nie anders gewesen. Jeden Morgen nach dem Frühstück fuhren wir gemeinsam über die Elbchaussee Richtung Innenstadt. Meine Großtante saß am Steuer ihres blauen Porsches. Sie fuhr schnell, die eine Hand auf dem Lenkrad, die andere auf der Gangschaltung. Währenddessen plauderte sie über Politik. Wenn ein Auto vor ihr zu langsam fuhr, fluchte sie: »Blöde Kuh« oder »dummer Kerl«, besonders, wenn der Fahrer bei Gelb bremst. Sie selbst trat bei Gelb noch extra aufs Gas: »Ich finde es sehr befriedigend, bei Orange durchzufahren«, meinte sie. Nach einer bestimmten Ampel verengte sich die Elbchaussee auf eine Spur. Wenn die Ampel auf Grün schaltete, legte Marion hier allergrößten Wert darauf, die Schnellste zu sein. »Ist wohl so ’n gewisser Ehrgeiz dabei«, sagte sie.

 

So schnell, wie Marion über die Elbchaussee brauste, blieb es natürlich nicht aus, dass sie hin und wieder geblitzt wurde. Sie erzählte von einem Strafmandat, das sie bekommen hatte: Statt der erlaubten fünfzig sei sie sechsundfünfzig gefahren. »Ich hab denen gesagt, ich fände es unverschämt zu behaupten, ich sei sechsundfünfzig gefahren. Ich fahre doch immer achtzig. Mindestens.«

Eines Nachts auf dem Heimweg nach der Spätvorstellung eines Kinofilms – Marion saß am Steuer – blitzte es wieder.

»Was war denn das?«

»Na ja, du bist wohl zu schnell gefahren.«

»Meinst du? Um diese Zeit kontrollieren die doch nicht mehr.«

Aber in der Dunkelheit leuchtete schon eine Kelle auf. Wir wurden in eine Seitenstraße gelotst, wo eine Gruppe junger Männer herumstanden, die die Polizei ebenfalls herausgefischt hatte. Wir mussten in einen Bus einsteigen, um die Personalien aufnehmen zu lassen. Marion und ich saßen vor einer Polizistin, die sich automatisch an mich wandte und nach dem Führerschein fragte.

»Wieso brauchen Sie denn von ihm den Führerschein?«, fragte Marion.

Die Polizistin prüfte also Marions Ausweis. Sie schaute mehrere Male ungläubig auf das Geburtsdatum, bevor sie endlich notierte: 1909.

Als der Porsche Jahre später schrottreif war, scheute sich der Verleger Gerd Bucerius, der inzwischen über Achtzigjährigen noch einmal einen neuen Porsche als Dienstwagen zur Verfügung zu stellen. Er fragte, ob nicht ein langsameres Auto ausreiche, ein Audi quattro zum Beispiel, der im Fuhrpark des Verlags zufällig frei war. Marion stimmte überraschend schnell zu – aber erst, nachdem sie recherchiert hatte, dass der Audi sogar einige PS mehr aufbrachte als ihr Porsche.

»Das hat der Buc übersehen«, kommentierte sie zufrieden.

 

Während meiner Praktikantenzeit im Sommer 1985 fuhr ich jeden Abend mit der S-Bahn nach Blankenese und kam meist gerade rechtzeitig, um mit Marion die Sieben-Uhr-Nachrichten im ZDF zu sehen. Beim Abendessen diskutierten wir die Themen des Tages, dabei lernte ich viel über Politik und Menschen; Dinge ernst zu nehmen und Dinge nicht ernst zu nehmen. Marion interessierte sich aber auch für den Alltag im Designbüro, Beobachtungen aus der S-Bahn oder für das Innenleben eines Teenagers. Für sie war in allem etwas zu entdecken.

Mich beeindruckte ihre Einstellung zum Leben sehr. Sie machte sich keine Sorgen um die Zukunft und trauerte nicht um die Vergangenheit, sie lebte konzentriert in der Gegenwart. Sie hat die Kaiserzeit noch erlebt und die Goldenen Zwanziger. Sie war das erste Mädchen in der langen, traditionsbewussten Familiengeschichte der Dönhoffs, die das Abitur ablegte und studierte. Die Weimarer Republik erlebte Marion zeitweise in Berlin, wo sie den noch wenig bekannten Adolf Hitler bei einer Veranstaltung beobachtete. »Ich saß nur zehn Meter von ihm entfernt, durchlitt seine geifernde Rede und fand seine Argumente absolut abwegig«, erzählte sie einmal. »Mit dem wollte ich nichts zu tun haben.« Jahre später, während des Krieges, übernahm sie in Ostpreußen die Leitung des Familienbesitzes Friedrichstein und Quittainen. Im Januar 1945 floh sie auf ihrem Pferd Alarich Richtung Westen, die Heimat war für immer verloren.

Anfang 1946 zog sie – inzwischen sechsunddreißig Jahre alt – nach Hamburg, wo sie sich am Aufbau einer neuen Zeitung beteiligte: Die Zeit. Ihr »zweites Leben«, wie sie es manchmal nannte, begann. Sie hatte immer schreiben wollen, und nun war sie Journalistin geworden. Marion prägte die Zeit über Jahre und Jahrzehnte als Leiterin des Politikressorts, als Chefredakteurin und schließlich als Herausgeberin. Sie wurde zu einer moralischen Instanz der Bundesrepublik Deutschland.

Ihr Zuhause waren die Arbeit, die Familie, die Geschwister. Während einer Familienfeier kamen wir auf das Thema Heiraten zu sprechen. Marion erzählte: »Einer hat über lange Zeit immer wieder gesagt, ich müsse ihn heiraten. Irgendwann hat es mir gereicht, da habe ich zu ihm gesagt: ›Gut, wir ziehen Streichhölzer.‹ Und ich habe das richtige gezogen.« Sie lachte. »Als verheiratete Frau hätte ich mein Leben so nicht führen können.«

 

Ende der achtziger Jahre zog ich nach Hamburg, um meinen Zivildienst zu leisten. Zunächst wohnte ich wieder in Marions Häuschen, und schnell hatten wir unseren Alltag als Hausgenossen wiederaufgenommen. Aber es war nur eine Übergangsstation. Ich war doch froh, als ich eine eigene Wohnung fand. Denn so interessant, vertraut und auch lustig die gemeinsam verbrachte Zeit war, so erlebte ich meine Großtante andererseits auch als einengend, manchmal auf eine kindliche Weise besitzergreifend, was sich in den folgenden Jahren noch verstärken sollte.

Nun trafen wir uns manchmal in ihrem Büro zu einer Tasse Kaffee, in der Stadt, um eine Ausstellung anzusehen, häufig gingen wir ins Kino. Regelmäßig sahen wir uns an den Sonntagen zum Mittagessen in ihrem Haus. Auf dem Weg dorthin hörte ich im Autoradio den Nachrichtenkanal, um mich auf den Nachmittag mit ihr einzustimmen. Das war umso wichtiger, wenn ich Samstagnacht im Club gewesen war, am Morgen lange geschlafen und noch nichts vom Weltgeschehen mitbekommen hatte. Marion fragte zielsicher: »Wohin geht man denn heutzutage zum Tanzen?«

Ich zählte ihr die verschiedenen Discos auf.

»Tanzt man da zu zweit?«, fragte sie, »wie früher?«

»Nein, das ist heute ganz anders.«

Dann ermunterte sie mich, wie so oft, zum Lesen: »Ich mache dir einen Vorschlag: Ich suche dir jede Woche ein Buch aus, und wir sprechen darüber, wenn du das nächste Mal hier bist. Okay?«

Es waren hauptsächlich politische Bücher, aber auch Hesse, Tolstoi, Dostojewski … Die eigentlich gutgemeinte Idee artete allerdings zu einer Prüfungssituation aus. Kurz vor unserem sonntäglichen Treffen überflog ich das Buch, suchte eine Stelle aus, die mir interessant erschien, und noch bevor Marion beim Mittagessen nachfragen konnte, begann ich einen kleinen Vortrag über die ausgesuchte Stelle. Marion hörte genau zu. »Ja, das ist wahr, das kann man so sehen«, meinte sie. Nach einem Moment fügt sie dann noch vorsichtig hinzu: »Ich finde an dem Buch auch interessant, dass …«

Im Laufe der Jahre entstand eine inniger werdende Freundschaft. Zu den regelmäßigen Treffen in Hamburg kamen nun auch Reisen in nahe und ferne Länder hinzu: Russland, Polen, die Schweiz, Italien, Südafrika, Namibia. Manchmal waren es Geschäftsreisen, manchmal Urlaubsreisen, wobei das kaum auseinanderzuhalten war, denn Marion betrachtete jedes Land und jede Kultur mit größter Neugierde und journalistischem Blick, es ergaben sich politische Gespräche, und oftmals stand am Ende ein Artikel für die Zeit.

Ihre Ferien – wenn man das überhaupt so nennen mag – waren ihre Besuche im Familienhaus in Forio, einem kleinen Fischerort auf der Insel Ischia, wo ihre ältere Schwester Yvonne lebte. Dort verbrachte Marion regelmäßig einige Wochen im Mai und im September.

Marions Tagesablauf in Hamburg, den sie im Tempo eines Topmanagers absolvierte, blieb auch im Alter kaum verändert. Bis Mitte achtzig wurde sie von Altersschwächen verschont. Danach begannen ihr die mit zahlreichen Pflichtterminen gefüllten Arbeitstage zunehmend Mühe zu bereiten. Trotzdem ging sie weiterhin täglich ins Büro, arbeitete zwölf Stunden am Tag und unternahm viele Reisen. Es verging keine Woche, in der sie nicht mindestens einmal irgendwohin flog.

Doch es passierten Dinge, die für sie neu waren: Nach einer Reise war sie erschöpft, sie wurde krank. Ihr gefürchtetes Elefantengedächtnis war nicht mehr ganz so zuverlässig, wie sie es gewohnt war. »Ich glaube, das hat mit dem Alter zu tun«, sagte sie zum ersten Mal, als sie achtundachtzig war.

Und noch etwas änderte sich: Nach dem Tod des Verlegers Gerd Bucerius wurde die Zeit an einen Konzern verkauft. Es war das Jahr 1996. Marion hatte bis zu diesem Zeitpunkt fünfzig Jahre lang – immer in kritisch-freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Bucerius – für das Blatt gearbeitet. Jetzt verringerte sich ihr Einfluss, und Marion musste für ihre Vorstellungen mehr kämpfen als früher. In dieser Zeit wurden ihr die engen Freunde und die Familie immer wichtiger.

Wenn wir uns in diesen Jahren allein trafen, machten wir nichts anderes als zuvor: Wir gingen ins Kino, unternahmen Spaziergänge im Wald oder an der Elbe, saßen bei ihr zu Hause vor dem Kamin und lasen Zeitung. Aber wenn ich nun nach einem langen gemeinsamen Abend am Pumpenkamp ihr Haus verließ, sah Marion für einen Moment traurig aus – anders als früher, als ich immer das Gefühl hatte, dass sie es kaum erwarten könne, wieder an ihren Schreibtisch zurückzukehren.

Bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 blieb Marion aktiv. Sie engagierte sich für die von ihr gegründete Stiftung für Völkerverständigung, sie schrieb für die Zeitung, und sie beantwortete ungefähr einhundert Briefe pro Woche: Leserbriefe, persönliche Anfragen jeder Art, oftmals Bitten um einen Rat, Post von jungen Menschen.

Über ihren wohl jüngsten Fan erzählte Marion die folgende Geschichte: »Man wundert sich ja oft – ich weiß noch, wie ich von Willy Brandt als eine Art Ehrengast eingeladen war zu einem Parteitag der SPD, das muss Anfang der Neunziger gewesen sein, in einer Sporthalle, ganz vollgestopft mit Menschen. Da sitze ich neben Brandt und sehe so ein Kerlchen von vielleicht dreizehn Jahren mit einem Buch auf uns zukommen. Ich denke natürlich, der will zum Brandt. Aber dann bleibt der vor mir stehen und fragt, ob ich das Buch signieren würde. Da erst hab ich erkannt, dass es tatsächlich eins von mir war. Ganz leutselig hab ich ihn gefragt: ›Hast du denn schon mal da hineingeguckt?‹ Da war der Junge ganz empört und sagte: ›Also, ich bin doch ein Fan von Ihnen!‹ Das fand ich sehr komisch.«

Alltag in Hamburg

»Morgen Nachmittag könnte ich mir ein wenig Zeit verschaffen«, sagt Marion am Telefon. »Wollen wir mal sehen, ob es einen guten Film gibt?«

Es sind die neunziger Jahre, ich habe an der Hamburger Universität ein Studium begonnen und lebe das Leben eines mehr oder weniger fleißigen Studenten.

Ich höre mich also bei meinen Kommilitonen um, welchen Film sie empfehlen würden, und Marion erkundigt sich bei den Kollegen aus dem Feuilleton der Zeit.

Heute ist unser Ziel das Passage-Kino schräg gegenüber vom Pressehaus, deshalb hole ich Marion in ihrem Büro ab. Als ich eintrete, sitzt sie hinter ihrem Schreibtisch, schaut auf und sagt: »Ich müsste noch schnell ein Telefonat erledigen. Setz dich doch einen Moment, da liegt etwas für dich.«

Sie meint die Fotokopie auf dem Tisch vor dem Sofa. Ich setze mich und lese die Kritik zu dem Film, den wir uns gleich ansehen werden.

Marion ist noch nicht so weit, sie signalisiert: ein paar Minuten noch. In ihrem Büro warten zu müssen, hat mich nie gestört. Die konzentrierte Ruhe tut gut. Vergangenheit und Gegenwart sind hier selbstverständlich und harmonisch vereint.

Zentrum des kleinen Raums ist der rotbraun gemaserte Schreibtisch aus Mahagoni, vollkommen schnörkellos mit einer dünnen Tischplatte. Darauf stapeln sich in der Mitte Briefe und Faxe vom Morgen und ein Manuskript für ein Buch. Am Rand liegt ein weiterer Stapel aus Briefen und anderen Dokumenten, obenauf ein in Würfelform geschliffener Halbedelstein, den Marion in den sechziger Jahren aus Südafrika mitgebracht hat. Am anderen Ende des Tisches befinden sich zwei kleine Dosen, eine aus Keramik, die aus Ischia stammt, und ein verziertes Gefäß aus dem Irak. Daneben steht die achtzehnarmige Figur der Göttin Shiva, die Marion vor langer Zeit von einem Inder geschenkt bekommen hat und die ebenfalls gelegentlich als Briefbeschwerer dient.

Neben dem Telefon liegt eine längliche Holzschale mit kurzen Bleistiften, von denen Marion immer einen in der Jackentasche trägt. Nicola, eine Großnichte Marions, schickt ihr regelmäßig ein Päckchen mit diesen mühsam zerbrochenen und neu angespitzten Bleistiften.

Hinter Marion im Regal steht neben vielen Büchern ein kleines Ölbild: der Park vor Schloss Friedrichstein. Neben dem Schreibtisch hängt ein großes Schwarzweißfoto von Lew Kopelew. Der russische Schriftsteller war ein enger Freund. Seit seinem Tod im Jahr 1997 hängt sein Bild hier. An den Schranktüren sind mit Tesafilm Landschaftsfotos von Ostpreußen angeklebt.

Marion beendet ihr Telefongespräch. Sie schreibt eine Notiz, wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein schmales, sehr altes Modell aus den Zwanzigern: »Wollen wir los?«

Unsere Kinobesuche verlaufen immer gleich: Wir setzen uns, das Licht geht aus, die Werbung läuft an, und nach etwa vier Minuten meint Marion: »Komisch, dass die hier so lange Werbung zeigen, ich glaube, wir sind im falschen Kino.«

Dann erkläre ich: »Du, das ist heutzutage ganz normal, die Werbung geht über zwanzig Minuten, das musst du durchstehen.«

»Kann ich auch, aber es dauert ja schon viel länger.«

Keine zwei Minuten später steht sie auf: »Ich gehe mal nach vorn und frage nach, wir sind sicher doch im falschen Kino.«

Nach ein paar Minuten kehrt sie mit zweifelndem Blick zurück: »Scheint richtig zu sein.«

Der Film läuft endlich an. Marion sitzt kerzengerade und äußerlich vollkommen regungslos da, die Augen aufmerksam auf die Leinwand gerichtet, als wäre sie zum ersten Mal in einem Lichtspielhaus. Spätestens nach einer halben Stunde sieht sie vermeintlich unauffällig auf die Uhr. Nach etwa einer Stunde flüstert sie: »Mir ist eben etwas eingefallen, ich muss dringend noch mal ins Büro, aber lass dich nicht stören. Wir telefonieren.«

Fort ist sie.

Es ist immer dasselbe: Marion schaut kaum einen Film bis zum Schluss. Trotzdem liebt sie den Kinobesuch.

Jahre später, Marion ist älter geworden, will ich sie nicht mehr allein zurückgehen lassen. Wenn sie zum dritten Mal auf die Uhr schaut, frage ich: »Hast du genug?«

Marion zeigt sich dann betont unentschieden. »Wie ist es mit dir?«

»Von mir aus können wir gehen.«

»Noch fünf Minuten?«

»Fünf Minuten sind genau richtig.«

Im Hinausgehen meint Marion dann: »Ich glaube, da passiert auch nichts mehr.«

Da Marion sich an die Werbung in den Kinos nicht gewöhnen kann oder möchte, versuchen wir, den Beginn des Films genau abzupassen. Wenn wir nun den Saal betreten, ist es längst dunkel. Marion hat damit keine Probleme, sie arbeitet sich durch die Reihe zu ihrem Platz vor, ist höflich gegenüber jedem, der sich bemühen muss. »Sehr freundlich von Ihnen«, »Entschuldigung«, »sehr nett«, »danke schön«.

Eines Tages geschieht etwas, das eine andere Lösung erforderlich macht. Bei jenem Kinobesuch gehe ich im Dunkel durch die Sitzreihe hindurch, Marion folgt mir und nutzt die vordere Sitzreihe als Orientierung. Als wir Platz nehmen, flüstert sie: »Am Anfang der Reihe habe ich den Kopf einer Dame als Stütze benutzt, ich dachte, es wäre die Lehne …«

Ich schaue rüber – die betroffene Frau wirft uns gerade einen missbilligenden Blick zu, und Marion sagt: »Man sieht’s auch …«

Noch am selben Tag kaufe ich für die Kinobesuche eine geeignete Taschenlampe, klein und kompakt. So lässt sich die Platzsuche vereinfachen. Marion will die Lampe immer selbst halten. Beim Betreten des dunklen Saals leuchtet sie kurz über den Zuschauerraum, erstaunte Gesichter erscheinen im Lichtkegel, und Marion sagt: »Scheint voll zu sein.«

Einmal läuft es etwas anders: bei Das Leben ist schön von Roberto Benigni. Wie üblich verlassen wir nach der ersten Hälfte des Films das Kino, wobei wir das in diesem Fall sogar schon vorher fest ausgemacht haben, da wir beide Termine wahrnehmen müssen. Wir treten aus dem Kinogebäude auf die Mönckebergstraße, und Marion bleibt stehen. »Schade«, meint sie, »diesen Film hätte ich gerne zu Ende gesehen. Was meinst du – gehen wir morgen nach der ersten Hälfte wieder rein?«

Am nächsten Tag treffen wir uns auf der Straße direkt vor dem Pressehaus. Wir sind knapp dran und hasten hinüber zum Passage-Kino. Anstatt sich darüber zu wundern, dass wir eine Stunde zu spät noch in den Film wollen, oder uns zumindest vorzuwarnen, händigt uns die Kassiererin kommentarlos zwei Karten für den Benigni-Film aus. Wir haben bewusst Plätze am Rand gewählt. Dieses Mal brauchen wir die Taschenlampe nicht. Auf der Leinwand flackert der Film, und wir setzen uns auf unsere Plätze am Gang, relativ weit vorne. Nach wenigen Sekunden schauen wir uns an, dann wieder auf die Leinwand. Dann spricht Marion aus, was ich auch gerade denke: »Das ist doch der Anfang vom Film …«

Es stimmt leider. Offensichtlich ist die Anfangszeit heute um eine Stunde verschoben. Diese Möglichkeit haben wir nicht bedacht. Es hilft nichts, wir schauen die erste Hälfte noch einmal. Als die Szene anläuft, bei der wir am Tag zuvor gegangen sind, ist es Zeit: Wir müssen raus, denn wir haben schon wieder Termine einzuhalten.

Obwohl wir es uns fest vornehmen, werden wir die zweite Hälfte leider nie sehen.

 

Marion ist bescheiden. Sie wundert sich, wenn sie auf der Straße erkannt und angesprochen wird. »Das muss am Fernsehen liegen«, sagt sie manchmal. Sie signiert Bücher am liebsten mit Bleistift. »Weil ich mich nicht verewigen möchte.« Wenn ihr Auto in Reparatur ist, fährt sie mit dem Bus, und sie ist vermutlich der letzte Mensch in Deutschland gewesen, der noch einen Schwarzweißfernseher in Betrieb hatte. Erst Anfang der neunziger Jahre, als der defekte Apparat beim besten Willen nicht mehr zu reparieren ist, kauft sie einen Farbfernseher.

Kleidungsstücke werden ewig getragen. In einer alten Filmaufnahme ist Marion mit einer Delegation bei der Besichtigung eines indischen Dorfes zu sehen. Die Reise hat in den sechziger Jahren stattgefunden, und Marion ist sofort zu erkennen: an dem hellblauen Jackett, das sie noch dreißig Jahre später trägt. Löcher werden gestopft, abgewetzte Stellen ignoriert.

Eines Tages sind auf dem Ärmel des blauen Jacketts einige Flecken zu sehen. Tinte. Das ist die Chance, Marion das abgenutzte Kleidungsstück auszureden. Ich spreche es an. Marions Antwort: »Ich finde, als Journalistin kann man sich Tintenflecke auf der Kleidung erlauben.«

Ihr sehr eigener Stil, den sie nie ändert, kommt über die Jahrzehnte in unregelmäßigem Turnus immer mal wieder in Mode. Ende der neunziger Jahre schafft Marion es mit ihren alten Klamotten auf der Liste der zehn bestangezogenen Frauen Deutschlands im Magazin Gala bis auf Platz fünf.

Als die Modedesignerin Jil Sander in einem Zeitungsinterview gebeten wird, den Namen einer Person zu nennen, die sie als vorbildlich in Fragen der Stilsicherheit sehe, da ist ihre Antwort: Marion Dönhoff. Einen Moment wundern wir uns. Aber es stimmt: Auf allen Fotos trägt Marion als junge wie alte Frau immer denselben zurückgenommenen, schlichten Kleidungsstil. »Ich würde nie irgendeine Mode mitmachen, das finde ich auch entwürdigend«, sagte sie einmal.

 

Buchhonorare und Preisgelder leitet Marion an die von ihr gegründete Stiftung für Völkerverständigung weiter. Was sie hier im Großen tut, macht sie auch im Kleinen. Wenn man zum Beispiel mit ihr durch die Innenstadt gehen muss, ist es ratsam, zusätzliche Zeit einzuplanen. Marion folgt eisern dem Prinzip, jedem Bettler, an dem sie vorbeikommt, etwas Geld zu geben. Wenn sie einen Termin beim Frisör am anderen Ende des Jungfernstiegs wahrnehmen will oder wir zusammen das Streit’s-Kino besuchen, steckt Marion sich zuvor ein paar silberne Münzen in die Jackentasche. Meistens bleibt sie bei den Bettlern noch stehen, unterhält sich ein wenig, bevor sie die Münze gibt.

Als sie wieder einmal länger bei einem Bettler verweilt, sagt im Vorbeigehen ein Passant zu ihr: »Denen sollten Sie besser nichts geben.«

Marion dreht sich zu dem Mann um: »Warum meinen Sie?«

Der Passant senkt die Stimme: »Abends werden die im Mercedes abgeholt, das ist eine ganze Bande – die sind steinreich.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Doch, doch.«

»Würden Sie sich zehn Stunden auf die kalten Steinplatten setzen und betteln, wenn Sie steinreich wären?«

Der Mann ärgert sich. »Sie können mir ruhig glauben, ich hab das mit eigenen Augen gesehen!«

Marion spricht mit ruhiger Stimme weiter: »Ich glaube, das reden Sie sich ein, um Ihr Gewissen zu beruhigen, weil Sie zu geizig sind, selber etwas zu geben.«

Dem Mann bleibt einen Moment lang der Mund offen stehen, dann wendet er sich wortlos ab und geht.