10. Aufbruch

„Scheckkarte?“

„Habe ich.“

„Kreditkarte?“

„Ist drin.“

„Krankenkarte?“

„Das heißt jetzt Gesundheitskarte.“ Alex steckte das Plastikkärtchen sorgfältig in das passende Fach ihrer Geldbörse.

Leonie sah das anders. „Pah, die verdienen doch nicht an meiner Gesundheit, sondern an meiner Krankheit. Also heißt das Krankenkarte, basta. Hast du dich erkundigt, worauf du im Krankheitsfall achten musst, um nicht draufzuzahlen?“

Alex nickte mit leicht ärgerlicher Miene. „Ja, zumindest habe ich es versucht. Erinnere mich nicht daran. Wann immer sie befürchten, etwas zahlen zu müssen, werden sie sehr schweigsam. Das ist gar nicht so leicht, bis Krankenkassen mit genauen Daten rausrücken, was erstattet wird und was nicht. Unglaublich, dass man in Zeiten eines vereinten Europas noch immer aufpassen muss wie ein Schießhund, um nicht auf die Nase zu fallen, wenn wirklich etwas passiert. Sollte ich dort einen Arzt brauchen, weiß ich jetzt wenigstens, wonach ich mich vorab genauestens erkundigen muss. Das ist immerhin schon eine gute Ausgangsposition, sonst bin nachher ich die mit der offenen Rechnung.“

Leonie schüttelte entschlossen den Kopf. „Du wirst nicht krank, ganz im Gegenteil. Es wird dir sehr gut gehen. Hast du schon weitere Neuigkeiten wegen deiner Bleibe?“

Das nun wieder war ein wunder Punkt. „Schon, Marcos hat mir die Adresse und den Namen der beiden Damen gemailt, bei denen ich wohnen werde. Brigitte und Barbara, zwei Deutsche, die seit einigen Jahren in Puerto de Mogán eine kleine Pension betreiben. Ich bekomme für zwanzig Euro pro Tag ein Zimmer mit einem kleinen Bad und kann die Küche mitbenutzen. Ich finde, das klingt gut. Allerdings hat er mir keine Bilder geschickt und die Pension hat keine Homepage. Ich habe also keine Ahnung, wie es dort aussieht.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich in irgendeine Absteige schickt. Gewiss ist es dort richtig nett.“ Leonie war eindeutig optimistischer als sie.

„Sicher.“

„Gütiger Himmel, Alex, was ist denn jetzt schon wieder los?“ Leonies Blick hatte etwas Mütterliches, und Alex war sich nicht sicher, ob sie das gut finden sollte.

„Ich habe seither auch nichts mehr von Marcos gehört. Ich glaube, er ist doch verärgert, weil ich nicht bei ihm wohnen will.“ Grübelnd kaute Alex auf ihrer Unterlippe herum.

„Blödsinn. Vergiss bitte nicht, dass der Mann ein Café, seine Tanzerei und überhaupt ein Leben hat. Wahrscheinlich ist er beschäftigt.“

„Ich habe trotzdem ein komisches Gefühl. Er hat nicht mal gefragt, mit welcher Maschine ich ankomme.“

„Auch gut. Schreib es ihm eben einfach.“ Leonie warf ihr ein Shirt zu, das aus dem Stapel, den sie einpacken wollte, auf den Boden gefallen war.

„Nein, ich warte, bis er sich meldet.“ Alex legte das Shirt in den Koffer und erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Verdammt, falsch geatmet. Andauernd zerre ich mir irgendwelche Muskeln. Ich brauche dringend einen richtig coolen privaten Trainer. Ich geh rasch in den Keller und hole meine letzten Sachen. Die sind inzwischen sicher trocken.“

„Ja, mach mal.“ Leonie sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war, dann eilte sie zu Alex’ Handy.

„Manchmal muss man ihrem Glück einfach auf die Sprünge helfen, auch wenn das jetzt nicht die feine englische Art ist.“

Eilig scrollte sie durch die Telefonliste der Freundin. Sicher, sie verstand deren Sorgen und Ängste. Jetzt aber war es einfach an der Zeit, genau die abzulegen. Der Neuanfang lag direkt vor ihr, ja, hatte bereits begonnen, und noch immer war da diese tief sitzende Unsicherheit bei Alex. Ah, da war er ja. „Marcos da Silva!“ Was für ein genialer Name. Sie lächelte versonnen vor sich hin. Vielleicht gab es ja in der Familie noch einen da Silva im heiratsfähigen Alter. Nachdem Alex, aufgeregt und nervös, wie sie derzeit war, kein Bild von ihm gespeichert hatte, musste Leonie sich auf die Beschreibung verlassen – und die war ja nun geradezu exquisit. Mit fliegenden Fingern, den Blick immer wieder auf den Abgang zur Kellertreppe gerichtet, tippte sie eine Nachricht an Marcos ein.

„Komme am Sonntag aus München, lande um 17.20 Uhr in Las Palmas. Ich freue mich. Alex.“ So! Nun wusste er Bescheid. So wie Alex ihn beschrieb, war er kein Mann vieler Worte. Wahrscheinlich würde er sie, ohne sich noch einmal zu melden, am Flughafen abholen. Gut, das war erledigt. Zügig löschte sie die gesendete Nachricht und legte das Handy zurück auf seinen Platz. Gerade rechtzeitig, denn sie hörte Alex prustend die Treppe nach oben keuchen.

„Aha, sehe ich richtig, dass dein Zeug trocken ist? Warte, ich helfe dir tragen.“ Sehr zufrieden mit sich selbst lief sie ihr entgegen.

Wo war heute denn bitte schön ihre Liebe zu Flughäfen abgeblieben? Alex sah sich ein wenig panisch um. „Waren hier schon immer so viele Menschen?“

Leonie legte beruhigend ihre Hand auf Alex’ Arm. „Das waren schon einmal mehr. Bleib jetzt ganz ruhig. Heute ist einfach alles anders für dich. Schließlich startest du ja nicht zu einer Woche Wellnessurlaub. Hast du den Beleg für das bezahlte Übergepäck dabei?“

„Ja, hab ich. Und den Ausdruck der Bestätigung und meinen Ausweis.“ Alex kramte hektisch in ihrem Rucksack, der heute die Handtasche ersetzen musste. „Gott sei Dank, den Geldbeutel habe ich auch.“

„Alex, komm wieder runter, du packst das locker.“ Wie schaffte es Leonie nur, so ruhig zu bleiben?

„Leichter gesagt als getan. Ich mache es wirklich, Leonie, hörst du? Ich setze mich in einen Flieger, um mir auf Gran Canaria ein Leben aufzubauen.“

Leonie legte den Kopf schief und musterte sie mit eindringlichem Blick. „Das nennt sich Mut, meine Liebe. Und seine Träume zu leben. Ungelebte Träume sind doof, wirklich.“ Sie sah sich suchend um. „Da hinten ist der Check-in, los, ab mit dir.“

Eine halbe Stunde später war sie ihr Gepäck los und schulterte erleichtert ihren Rucksack. „Das war dann wohl der erste Schritt.“

„Die zwei fetten Koffer loszuwerden? Ein guter Schritt. Und jetzt trinken wir noch einen letzten Kaffee zusammen, dann musst du eh schon bald zum Gate.“ Leonie schob Alex sehr entschlossen zum nächsten Café in der Abflughalle.

„Mach’s gut, meine Süße. Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Du wirst mir so sehr fehlen, ach was sage ich denn, du fehlst mir jetzt schon.“

Am liebsten hätte sie Leonie nicht mehr losgelassen. Als sie endlich durch die Sicherheitskontrolle ging, warf Alex einen allerletzten Blick zurück und sah ihre Freundin, die plötzlich schrecklich klein und verlassen wirkte, ein letztes Mal winken. Dann drehte Leonie sich um und verließ das Flughafengebäude. Alex passierte die Kontrolle, kaufte noch ein Buch für den Flug, suchte ihr Gate und setzte sich aufatmend auf einen der Stühle im Wartebereich. Mit den Gedanken schon weit weg, beobachtete sie, wie draußen auf dem Rollfeld die riesigen Maschinen ankamen und abflogen, sah ihnen nach, bis sie am Horizont verschwanden. Unruhig zog sie sich die Ärmel ihres weißen Shirts über die Hände und umarmte ihren gut gefüllten Rucksack.

Als ihr Flug aufgerufen wurde, wartete sie, bis die Schlange am Counter kurz geworden war, stand dann auf, strich sich eine Strähne ihrer Haare zurück, die sich aus dem lockeren Pferdeschwanz im Nacken gemogelt hatte, und ging mit festen Schritten auf die Bodenstewardess zu, die ihr freundlich entgegenlächelte. Alex reichte ihr die Boarding Card und blickte nicht mehr zurück.

„Vielen Dank und einen guten Flug.“

Den würde sie ganz gewiss haben.

Sie saß auf einem Fensterplatz, hörte Musik auf ihrem MP3-Player, las in ihrem neuen Buch und genoss es, alles hinter sich zu lassen. Gleich morgen würde Leonie ein Einschreiben zur Post bringen, in dem sie Holger mitteilte, dass sie auf unbestimmte Zeit im Ausland sein würde. Da sie die Summe, die ihr zustand, bereits auf ihrem Konto wusste, stand in dem Brief auch, dass er sich keine weiteren Sorgen um sein Vermögen machen musste. Ein guter Freund Leonies war Familienanwalt und hatte sich bereit erklärt, im Notfall zwischen ihr und Holger zu vermitteln. Daher nannte sie im Brief auch die Anwaltsadresse als zukünftige Kontaktadresse. Sie verspürte nicht das geringste Verlangen, ihren zukünftigen Ex-Mann wissen zu lassen, wo sie sich aufhielt. Auch das Wort Scheidung hatte sie nicht erwähnt. Das wollte sie ihm überlassen. Alex war sich sicher, dass sie nicht allzu lange auf sich warten lassen würde, wobei noch abzuwarten war, wie sich eine Scheidung finanziell auswirken würde. Das aber lag für Alex derzeit in weiter Ferne.

Je näher sie den Kanarischen Inseln kam, umso aufgeregter wurde sie. Sie freute sich. Neugierig spähte sie aus dem Fenster, im Augenblick aber war da nur der endlose Atlantik mit seinen weißen Schaumkronen.

Es war kurz nach fünf Uhr, als der Pilot den Sinkflug ankündigte und sich am Horizont die Inseln, eine nach der anderen, aus dem Dunst, der wie so oft das Gebirge verhüllte, schälten. Erst als die Crew aufgefordert wurde, ihre Sitzplätze einzunehmen, erblickte Alex Gran Canaria. Da waren sie wieder, die sonnenbeschienenen grünen Bergtäler, die kargen und doch so faszinierenden braunen Felsformationen im Norden und die zahlreichen Buchten, in denen die Wellen des Atlantiks wahlweise mit aller Kraft an die Ufer donnerten oder, gezähmt durch Wellenbrecher, gemäßigte Wogen an die Strände rollten. Sie erkannte die Windräder bei Las Palmas und Arinaga, die Tomatenplantagen an den sonnenbeschienenen Hängen und die vielen Boote, die unter ihnen die Wellen durchpflügten. Der Pilot setzte zur Landung an, was ob eines heftigen Seitenwindes gar nicht so einfach war. Als ein Rucken durch die Maschine ging und man spürte, dass der Bremsvorgang begann, lehnte sich Alex in ihrem Sitz zurück.

Sie war zu Hause.

Alex fand es dumm und sinnfrei, sofort nach Halt des Flugzeuges aufzuspringen, um dann eine gefühlte halbe Stunde in gebeugter Haltung darauf zu warten, aussteigen zu dürfen. Sie hatte es nicht eilig. Während rund um sie Hektik ausbrach, beobachtete sie entspannt die Männer, die draußen das Gepäck ausluden und begannen, Koffer und Taschen auf die Wagen zu stapeln, die sie nachher zum Band fahren würden. Die Türen des Flugzeuges wurden geöffnet und nun kletterte auch sie aus ihrem Sitz, hievte ihren Rucksack aus dem Gepäckfach über ihr, packte Buch und Player ein und machte sich gemütlich auf den Weg in das Flughafengebäude.

Es war noch immer Ferienzeit und dementsprechend standen zahlreiche Menschen am Band und harrten auf ihr Gepäck. Ein regelrechtes Déjà-vu überkam sie. Vor gerade einmal knapp zwei Wochen hatte sie an genau derselben Stelle gestanden. Damals war sie noch voller Hoffnung gewesen, dass sich zwischen ihr und Holger alles zum Guten wenden könnte. Welch ein Irrtum! Schnell war es gegangen und Holger hatte es ihr mit seinem Betrug sehr leicht gemacht. Wenn sie heute in sich hineinhorchte, dann empfand sie nichts als reine Vorfreude auf das, was sie erwartete. Seit sie aus dem Flugzeug gestiegen war, fühlte sie sich frei und glücklich. Selbst wenn Marcos heute nicht hier war, um sie abzuholen, wenn es sein sollte, dann würde sich alles zum Guten wenden. Wobei … Alex beobachtete nachdenklich die an ihr vorüberzuckelnden Gepäckstücke. Eigentlich wäre es schön gewesen, wenn er sie abgeholt hätte. Ja, sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen, und war doch – in Bezug auf ihn – gleichzeitig ein wenig ängstlich. Das Desaster mit Holger steckte ihr tief in den Knochen, auf derartige Erfahrungen konnte sie zukünftig dankend verzichten.

Ihre Koffer ruckelten kurz hintereinander heran und sie hatte Mühe, die gigantischen Stücke vom Band zu wuchten. Immerhin ließen sie sich leicht ziehen und sie war Leonie sehr dankbar, dass sie darauf bestanden hatte, die beiden funkelnagelneuen Teile zu besorgen. Alex schnallte ihren Rucksack gut fest, umfasste die beiden Koffergriffe, atmete tief ein und ging auf den Ausgang zu. Sie würde sich ein Taxi gönnen, denn mit den beiden Monstern verbot sich eine Busfahrt ganz von alleine. Suchend sah sie sich um. Wo waren gleich wieder die Taxen? Na, sie würde sie schon finden. Zielstrebig marschierte sie los.

„Sag mal, wohin willst du denn? Wirst du wohl auf mich warten?“

Die warme, tiefe Stimme kannte sie und sie ging ihr durch und durch.

Marcos. Er war also doch gekommen. Aber woher konnte er wissen, dass sie heute landete? Sie musste nicht lange nachdenken, hatte sie doch ihren eigenen, bezaubernden Amor zu Hause. Leonie. Eigentlich sollte sie ihr böse sein.

„Na, bekomme ich eine Antwort?“

Alex drehte sich langsam zu ihm um. Da stand er, in seinen ausgewaschenen Jeans, weißen Leinenschuhen, einem hellen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. Seine Sonnenbrille steckte in den langen Haaren. Das Wichtigste aber schien ihr das Strahlen in seinem Gesicht.

„Frag mich doch bitte noch einmal, wohin ich will. Du kannst aber gerne auch raten. Soll ich dir ein paar Tipps geben?“

Er stand nur einen Schritt von ihr entfernt und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Zu Sebastian?“

„Wusste ich doch, dass du ein sehr kluger Mann bist.“

„Na warte, du freches Ding. Das bekommst du bei Gelegenheit zurück. Aber jetzt lass doch bitte endlich einmal diese Koffer los.“

„Warum?“

Eine Antwort bekam sie nicht mehr. Seine Umarmung genügte ihr. Sie schmiegte sich an ihn, vergrub ihr Gesicht in seinem hellen Jeanshemd und schlang die Arme um seine Mitte.

„Es ist so schön, wieder hier zu sein. Ich habe ehrlich gesagt nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde.“

Marcos drückte sie so fest an sich, dass an seiner Freude, sie wiederzusehen, kein Zweifel bestand. Ganz vorsichtig fuhr seine Rechte in ihre langen Haare, zupfte liebevoll an ihrem Pferdeschwanz und legte sich dann an ihre Wange.

„Es spricht für dich, mi angel, dass du so schnell reinen Tisch gemacht hast. Hatte ich schon erwähnt, dass ich dich für eine starke und wundervolle Frau halte?“

Alex runzelte nachdenklich die Stirn. „Lass mich mal überlegen. Ich glaube mich zu erinnern, dass du es einmal erwähnt hast. Beiläufig.“

Sie legte ihre Arme um seinen Hals und spielte mit seinen dichten Haaren, die heute im Nacken von einer großen ledernen Spange zusammengehalten wurden, was sein schmales, aristokratisches Gesicht betonte. Die dunklen Mandelaugen funkelten belustigt.

„Ah ja, beiläufig. Ach, mujer, was mache ich nur mit dir? Ich glaube, zuallererst verschwinden wir endlich aus diesem Flughafen und ich zeige dir, wo du wohnen wirst. Brigitte und Barbara freuen sich schon sehr auf dich. Ich denke, dass du dich dort wohlfühlen wirst. Komm, lass mich endlich deine Koffer nehmen.“

„Nimm mir einen ab und dann nichts wie weg hier. Ich kann es kaum erwarten, Puerto de Mogán wiederzusehen.“ Alex schob ihm einen der gigantischen Rollkoffer zu, schulterte erneut ihren Rucksack und gemeinsam gingen sie in Richtung Parkhaus. Er ließ ihre Hand nicht mehr los.

Wie anders als vor über zwei Wochen war doch heute die Fahrt nach Puerto de Mogán: in Marcos’ Range Rover, seine Hand auf ihrem Oberschenkel, sein Blick zwar meist ordnungsgemäß auf die Fahrbahn gerichtet, dann aber doch wieder fragend, neugierig und vor allem aber liebevoll auf ihr ruhend. Sie war aufgeregt wie ein Teenager, ihr Herz klopfte wie verrückt und die Vorfreude wuchs mit jedem Kilometer. Auch heute blies der Wind wieder kräftig über die Ebene bei Arinaga, sodass alle Windräder in Bewegung waren. Wenn Alex sich vorbeugte, konnte sie das Meer sehen. Riesige Wellen, gekrönt von weißen Schaumkronen, rollten an den lang gezogenen, wilden Strand. Surfer und Windsurfer ließen sich von den hohen Wellen herantragen.

Als sie das Ortsschild von San Agustin passierten, wusste Alex, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie hörte auf, die Tunnel zu zählen, die sie auf ihrem Weg über die „Autopista“, die neu gebaute Autobahn, durchquerten. Den letzten aber kannte sie: Puerto Rico. Sie waren so gut wie da.

Marcos lenkte den Geländewagen geschickt durch den dichten Nachmittagsverkehr. Die ersten Badegäste, die an Sonntagen mit der ganzen Familie und zahllosen Kühlboxen an den Strand von Puerto de Mogán strömten, machten sich bereits wieder auf den Heimweg.

„Ich habe noch eine Überraschung für dich, danach bringe ich dich ins Casa Vista, einverstanden?“ Marcos schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr direkt zum Parkplatz neben dem Strand und hielt an. Alex blieb eine Weile sitzen und musste lachen, als sie sah, wie die Männer ihre Frauen am großen Supermarkt aus den Autos steigen ließen, um dann mit Engelsgeduld eine Runde nach der anderen um den Block zu fahren, bis die Damen schwer beladen zurückkehrten.

Marcos’ sanfte Stimme unterbrach ihre Beobachtungen. „Komm, Alex, es ist nicht weit.“

Arm in Arm liefen sie durch das „kleine Venedig“, den liebevoll geplanten und ausgesprochen schön angelegten neuen Teil von Puerto de Mogán. Ihr Weg führte sie durch schmale Gässchen, überwuchert von riesigen, farbenprächtigen Bougainvillea-Büschen, in einigen Hinterhöfen plätscherten Springbrunnen und die untergehende Sonne spiegelte sich rotgolden in den Sprossenfenstern der weißen Häuser.

Alex begriff, dass sie zum Hafen liefen. Marcos half ihr, an Bord seines Bootes zu gehen, machte das Tau los, warf es an Bord und folgte mit einem todesmutigen Sprung.

„Was tust du denn da? Wenn du nicht weit genug gesprungen wärst, dann hätten wir jetzt ein Problem.“

Marcos warf ihr einen dezent amüsierten Blick zu, während er das Tau aufrollte.

„Chica, ich weiß, was ich tue.“

Der Motor sprang an, ein tiefes Wummern ertönte aus dem Rumpf, und langsam glitt die Reina del Mar hinaus in die Fahrrinne, die sie zur Hafenausfahrt brachte. Sie passierten den Leuchtturm und Marcos steuerte das Boot auf die großen Felsen zu, die das Ende des Barranco von Mogán bildeten. Wenige Minuten später warf er im Schein der langsam tiefer sinkenden Sonne den Anker aus.

Lächelnd küsste er sie auf ihr vom Wind zerzaustes Haar.

„Einen kleinen Moment, ich komme sofort wieder.“

Sie hörte ihn in der Kajüte rumoren, etwas klirrte, gefolgt von einem leisen Fluch. Alex ging zum Bug, stieg auf den Holzbalken, der an der Bootswand festgeschraubt war, und legte ihre Hände auf die glänzende Reling. Staunend nahm sie die Schönheit der Natur in sich auf. Tiefblau lag der endlose Atlantik vor ihr, nur sanfte Wellen umspülten das Boot. Sie beugte sich ein wenig vor: Das Wasser war kristallklar, sie konnte problemlos bis fast auf den Grund sehen. Schwärme von bunten Fischen jagten hindurch, die glänzenden Leiber schossen pfeilschnell an ihrem Boot vorüber, verschwanden, tauchten wieder auf – eine riesige, schillernde Wolke.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Marcos gar nicht hörte, der nun hinter sie trat und seine Arme um sie legte. „Glücklich?“

„Ja, sehr glücklich.“ Alex musste keine Sekunde über ihre Antwort nachdenken. Sie kam vollkommen selbstverständlich über ihre Lippen.

„Komm doch bitte einen Schritt zurück.“ Marcos griff nach ihrer Hand und drehte sie sanft herum.

Jetzt bemerkte sie das Tablett auf dem Tisch. In wunderschönen bauchigen Weingläsern funkelte dunkler Rotwein, auf einem Teller waren frische Madalenas – köstliches, nach Vanille duftendes Gebäck – aufgeschichtet. Marcos griff nach einem der Gläser und reichte es ihr.

„Willkommen in Puerto de Mogán, Alex. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du dich hier wohlfühlen wirst und dass sich deine Träume verwirklichen lassen. Ich kann dir versprechen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dich zu unterstützen.“

Alex konnte nur staunend den Kopf schütteln. „Dafür, dass du mich kaum kennst und dass ich einen ganzen Sack an Problemen mit mir herumschleppe, hast du enorm viel Vertrauen in mich. Du bist mir schon wieder etwas unheimlich.“

Die Gläser klirrten leicht, als er seines gegen ihres stieß. „Einer muss ja Vertrauen in dich haben, wenn du selbst es schon nicht hast, nicht wahr?“ Er griff nach einem Törtchen und hielt es ihr an die Lippen. „Na komm, du magst Süßes, Sebastian hat mir alles verraten, sie wurden gerade erst gebacken. Beiß einfach ab.“

Alex biss nur zu gerne ein Stück der köstlichen Süßigkeit ab und kaute andächtig, während Marcos sich den Rest in den Mund schob und sie dann erneut umarmte. Vertrauensvoll schmiegte sie sich an seine breite, harte Brust.

„Gib jetzt gut acht, gleich muss es so weit sein.“ Sein vorgestrecktes Kinn wies zum Horizont.

„Was muss gleich so weit sein?“ Fragend sah sie zu ihm auf und er küsste sie liebevoll auf die Nasenspitze.

„Geduld, schau einfach genau hin.“ Wieder zeigte er hinaus aufs Meer.

Und dann sah sie, wovon er sprach. Es waren so viele. Dutzende Delfine, sie kamen aus dem Sonnenuntergang und schwammen direkt auf das Boot zu. Mit spielerischer Leichtigkeit schnellten die glänzenden Leiber aus den Fluten, warfen sich zur Seite, tauchten untereinander hinweg. Pure Lebensfreude, Glück und Spaß am Spiel. Sie umrundeten das Boot, als wollten sie zeigen, wie schön das Leben sein konnte, sprangen aus den Wellen und ließen sich der Länge nach zurückfallen. Alex hielt unwillkürlich den Atem an. Diese wunderschönen, edlen Geschöpfe so nah zu sehen, sie zu beobachten, Teil ihres unbeschwerten Spiels zu sein, hatte etwas Magisches.

Erst nach einer Weile zogen die Delfine weiter, entlang der Küste nach Norden.

Es dauerte, ehe es Alex gelang, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

„Woher wusstest du, dass sie kommen würden?“