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Peter Strasser

Spenglers
Visionen

Hundert Jahre
Untergang des
Abendlandes

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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: Bundesarchiv, Bild 183-R06610 / CC-BY-SA 3.0

ISBN 978-3-99100-238-3

eISBN 978-3-99100-239-0

„Das Ideal fühlt, dass es zu heilig für diese Welt sei.“
Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen

Inhalt

Prolog: Ein bissel was geht immer

Teil I: Albtraum Abendland

Der Wille zur Macht

Unrat dieser Jahre

Raubtierethik

Der Wille zum Glück

Letzte Menschen

Die Viel-zu-Vielen

Teil II: Utopie Abendland

Das Prinzip Menschheit

Die Utopie, die wir leben

Zivilisation ist Kultur

Das Prinzip Westen

Hier ist der Westen!

Parteiendemokratie – was sonst?

Epilog: Das unerreichbar Nahe

Anmerkungen

Prolog

Ein bissel was geht immer

Man gestatte mir zu Beginn der schwergewichtigen Frage, wie es denn mit dem Untergang des Abendlandes beschaffen sei, eine launige Vorbemerkung zum Thema.

Blankenburg ist jene deutsche Stadt im Landkreis Harz, Bundesland Sachsen-Anhalt, die seit November 2016 offiziell den Titel „Staatlich anerkannter Erholungsort“ trägt. Diesen Titel hätte Oswald Spengler – das lässt sich ohne großes Risiko vermuten – mit Grauen zurückgewiesen. In Blankenburg erblickte Spengler am 29. Mai 1880 das trübe Licht der Welt. Was außer ein Graus hätte ein Erholungsort, notabene ein „staatlich anerkannter“, demjenigen sein können, der überall nichts als kulturlose, inhaltsleere, durch und durch sieche Zivilisationswelt müde triumphieren sah – eine Welt, die gerade noch zum Untergang taugt?

Alles Große und Edle am Menschen, auch alles Heilsgeschichtliche, wonach sich die Seele zuinnerst verzehrt, war ja – legen wir Spenglers Maßstab zugrunde – einem ekelhaft vermassten Betrieb selbstgerechter Mittelmäßigkeit gewichen. Würde Spengler die Eingemeindung seiner Geburtsstadt in den Betrieb staatlich anerkannter Erholungsorte erlebt haben, mit ihren sogenannten Kulturangeboten in höheren Lagen, vom Kräuterwandern, Drachenfliegen bis zum Burgsingen, er hätte seiner intimen Notizensammlung Ich beneide jeden, der lebt umso mehr anvertraut, was jetzt unter der Eintragsnummer 81 über den Ort seiner persönlichen Befindlichkeit zu lesen steht: HÖLLE.

Zu seiner Zeit zog es Spengler mit selbstquälerischer Lust nach München, um seinen Ekel vor dem Zivilisationstheater voll auskosten zu können. In Spenglers intimen Notizen – sie tragen im Original den Titel Eis heauton, was so viel bedeutet wie „An sich selbst“, entstanden zwischen 1913 und 1919 – kann man Folgendes lesen:

In München wird heute jedes Lokal vulgär oder spießbürgerlich, wo Literaten und Künstler verkehren.

Ich habe so viel Talent zur Geselligkeit. Ich könnte einen Kreis vom feinsten geistigen Genuss um mich versammeln. Aber ich kann nicht mit Dutzendmenschen verkehren. So leide ich unter dieser furchtbaren Vereinsamung; niemals über meine Sache sprechen zu können, nur blöde Zuhörer zu finden, keinen, der versteht, der urteilen kann. Ich spreche lieber mit einem Mädel, die ich mir von der Straße mitnehme, als mit diesem Künstlerpack.1

Die Schlusssentenz verdient, ein wenig eingehender gewürdigt zu werden. Denn sie zeigt, dass selbst unter der Bedingung größter Zivilisationsverachtung, wie sie Oswald Spengler im Untergang des Abendlandes zelebriert, der Leibspruch des Monaco Franze aus der einst beliebten Fernsehserie gleichen Namens seine Gültigkeit beweist: Ein bissel was geht immer.

Dieser Serienklassiker der Jahre 1981 bis 1983 spielt in Bayern, sozialer Schauplatz ist maßgeblich die Welt der geliebten Gattin des Monaco Franze, des „Spatzl“ – das heißt: die Münchener Schickeria, welche der Hallodri-Gatte nicht ausstehen kann, wofür Spengler sicherlich Verständnis gezeigt hätte. Deshalb auch kann Monaco Franze, der sowieso ein Weiberheld ist, nicht anders, als manchmal ungefähr das zu tun, was bereits Spengler der ganzen Zivilisation trotzig entgegenhielt: „Ich spreche lieber mit einem Mädel, die ich mir von der Straße mitnehme …“

Zum Glück zeigt das „Spatzl“ bis zu einem gewissen Grad Verständnis für das Libido-Problem ihres liebenswerten Gatten. Auf solch ungewöhnlich tolerante Weise wird bestätigt, wovon die folgenden Ausführungen letzten Endes handeln werden: nämlich davon, dass im Gegensatz zu Spenglers Auffassung, unsere Welt werde in einen neuen Cäsarismus einmünden – wofür seinerzeit der Duce Mussolini und der Schreihals Hitler standen –, die Stärke unserer Kultur gerade darin liegt, sich dem kleinen Glück der gewöhnlichen Leute verpflichtet zu fühlen. Ihr zivilisatorisches Motto: „Ein bissel was geht immer!“

Man sollte die ethische Spannkraft dieses Mottos nicht unterschätzen, ist es doch nicht bloß Ausdruck einer kleinmenschlichen Moral. Dass „ein bissel was immer geht“, ist die Alltagshumanität eines geistigen Gefüges und jener Hintergrund, der unser Spätabendland zu einem – ich verwende den Ausdruck bewusst gegen seinen heute üblichen Gebrauch – Hotspot der Humanität, einem Brennpunkt der Menschlichkeit, macht. Das hat mit der einzigartigen Verzahnung von Aufklärung, Humanismus und Christentum zu tun, die allein in der Lage war, den friedensuniversalistischen Gedanken zu fassen: als einen Horizont des vorerst unerreichbar Nahen.

Es ist wahr, dass die großen Geschichtsutopien nicht nur zu Tode gedacht, sondern politisch Lügen gestraft wurden. Aber in ihnen keimte doch eine Hoffnung, die, bedenken wir es ernsthaft, uns weiterhin als zivilisierte Menschheitshoffnung eingesenkt ist. „Ein bissel was geht immer“ ist in unserem Kontext keineswegs bloß ein Motto für Schlauberger, Trickbetrüger oder Heiratsschwindler, für all die kleinen Existenzganoven. Dieses Motto ist vielmehr der bescheidenste Ausdruck eines einzigartigen „Projekts“: der gezähmt abendländischen Bewegung des Menschen auf den Menschen zu.

Davon sollen die folgenden Seiten, indem sie sich der inhumanen Humanitätsverachtung Spenglers annehmen, Rechenschaft ablegen. Zugleich wollen sie der laufenden Aktualität Spenglers Tribut zollen, die gerade daraus erwächst, dass wieder mehr und mehr Verächter der Menschheit auf den Plan treten, um für die Rechte des „Blutes“, des „Volkes“, der „Heimat“ zu werben. Freilich hat sich Spengler geirrt, als er den neuen Cäsaren – und Cäsarinnen – eine große Zukunft weissagte:

(…) und der letzte Kampf beginnt, in welchem die Zivilisation ihre abschließende Form erhält: der zwischen Geld und Blut. Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie.2

Wenn der unvoreingenommene Beobachter der Weltgeschichte eines mit Sicherheit sagen kann, dann dies: Spengler, der kopfwehgeplagte Idealist und ästhetisierende Spätromantiker wider Willen, schien wenig Ahnung zu haben von der abgrundtiefen Niedrigkeit, Schäbigkeit, Banalität des „edlen“ Raubtiermenschen, den er so enthusiastisch beschrieb. Das Blut, das die Millionen lassen müssen, um das „Blut“ ihrer Rasse zu schützen, diente den Siegreichen aller Zeiten immer, fast immer – und immer wieder – dazu, sich dem Götzen Mammon willig hinzugeben und ihn, aus gutem Grund im Geheimen, anzubeten: auf dass ihr Wohlleben und das ihrer jeweiligen Sippe, ihrer Getreuen und ihrer Nomenklatura durch schwindelerregende Berge gerafften Reichtums göttergleich werde.

Geld oder Blut? – Das ist keine Frage, um die sich das Cäsarentum, ob antik oder modern, jemals schert. Die Antwort lautet stets: beides!

Teil I

Albtraum Abendland

Der Wille zur Macht

Unrat dieser Jahre

Wien 1918, im renommierten Verlag Wilhelm Braumüller erscheint der erste Band von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (im Folgenden kurz: Untergang). Die erste Auflage des monumentalen Werks wird, nach einer Anzahl von Vorausexemplaren, im September regulär ausgeliefert und führt seinen Autor rasch zu ungeahnter Prominenz. Es fehlt weder an begeisterter Zustimmung noch an höhnender Kritik. Anfang des Jahres 1919 erscheint die dritte Auflage, nun bereits im C. H. Beck Verlag, München, wo dann 1922 auch der zweite Band folgt.

Was die rasche Aufmerksamkeit und Rezeption betrifft, die Spengler erfährt, so ist dafür mit einiger Sicherheit der Titel des Werks verantwortlich. Gerade war der Erste Weltkrieg verloren. Deutschland befand sich gegenüber den Siegermächten in einer Position äußerster Schwächung. Die im Jänner 1919 ausgehandelten Pariser Friedensbestimmungen, bekannt als Versailler Vertrag, wurden von den Verlierern, besonders den nationalen und nationalistischen Kreisen, sofort als Katastrophe des deutschen Volkes, als tiefe kollektive Demütigung erfahren und immer wieder als solche gebrandmarkt.

„Schandvertrag von Versailles“ – diese Bezeichnung der friedensschließenden Dokumente, durch welche Deutschland dazu verhalten wurde, neben Gebietsverlusten und drückenden Reparationszahlungen sogar ein Verbot der allgemeinen Wehrpflicht hinzunehmen, machte übelste Stimmung. Man war von einer Großmacht zu einem geknebelten Mitspieler im – höhnisch gesprochen – Konzert der europäischen Großmächte geworden. Ob es, im nachträglichen Wissen um Weltkrieg Nummer zwei, mehr als revanchistische Dummheit und Siegerraffgier war, die ehemals stolze Nation zwangsweise derart zu schrumpfen, mag bezweifelt werden. Sicher ist, dass sich mit der Niederlage und den daraus resultierenden Folgen politisch Stimmung machen ließ. Und es waren nicht zuletzt die Intellektuellen jener Zeit, die ihren Teil dazu beitrugen, um die Kriegshetze wieder anzuheizen.

1924, Jahre bevor Hitler an die Macht kommt, verpasst Oswald Spengler, auf die Entwicklung seit 1918 zurückblickend, seinem Volk eine Heiß-kalt-Dusche, kalkuliert, mit dem Stolz des Beleidigten; seine programmatische Schrift Neubau des Deutschen Reiches beginnt mit den Worten:

Glühende Scham müsste uns ergreifen, wenn wir Fremden vor Augen treten mit dem Gedanken an das, was wir waren und was wir sind.

Aber dass die wenigsten von uns das wirklich fühlen, dass Unzählige sich in dem Unrat dieser Jahre mit Behagen betten, dass sie bereits vergessen haben, dass es anders sein könnte und anders war, das gehört zu dem, was einen in schlaflosen Nächten mit Verzweiflung überfällt.

Haben wir das verdient? Sind wir endlich dort, wohin unser Volkscharakter verweist? Prahlerisch im Glück, würdelos im Unglück, roh gegen Schwächere, kriechend gegen Starke, schmutzig auf der Jagd nach Vorteilen, unzuverlässig, kleinlich, ohne sittliche Kraft, ohne echten Glauben an irgendetwas, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft – sind wir das wirklich?

Nur weil es nicht so ist, weil wir endlich den trennenden Strich zwischen dem deutschen Volk und den Anstiftern und Nutznießern des Zusammenbruchs ziehen können und wollen, wagen wir es, Anspruch auf eine größere Zukunft zu erheben. Aber es handelt sich hier und heute darum, rücksichtslos das Geschwür am deutschen Körper aufzusuchen, um eine lange, schleichende Krankheit zu heilen.3

Die Rhetorik des Untergangs lag den angestammten Geisteseliten auf der Zunge. Konservativ bis ins Mark mussten sie fürchten, aus ihren einst privilegierten Positionen in die Unerheblichkeit abzusinken. Demokraten, Liberale und Kommunisten hatten andere Präferenzen. Der „Geist“, der doch zutiefst das deutsche Wesen spiegeln und verkörpern sollte, war in Misskredit geraten. Im Gefühlskreis der Reaktion herrschte Götterdämmerungsstimmung.

Spenglers Genie bestand nun aber darin, nicht einfach vom Untergang der deutschen Rasse oder Kultur zu sprechen, sondern vom Untergang des Abendlandes. Dadurch erhielt der „Untergang“ eine epochale Bedeutung. Das Schicksal Deutschlands war nicht einfach Konsequenz eines unverzeihlichen politischen Dilettantismus, einer Kriegslüsternheit auf der Basis nationalen Größenwahns, kurz: einer verheerenden Gemengelage, deren Strategen sich in der Möglichkeit ihrer Mittel verschätzt hatten, als sie den Weltkrieg Nummer eins anzettelten. Nein, dieses Schicksal war, laut Spengler, Teil einer der deutschen Seele innewohnenden weltgeschichtlichen Prägung, ihr Hang – wie er formulieren wird – zum „Faustischen“; daher lag der vielleicht tiefste Sinn des gegenwärtigen Elends darin, daraus wieder aufzusteigen wie Phönix aus der Asche.

Der Ton in Spenglers Zeilen aus dem Neubau des Deutschen Reiches ist grell aktivistisch. Es ist bereits die Fieberwahnrhetorik der künftigen nationalsozialistischen Säuberungspolitik. Vom „Geschwür“ ist die Rede, das rücksichtslos am „deutschen Körper“ aufzusuchen sei. Auch wenn Spengler damit zu einem gewichtigen Teil anderes meinte als die Nationalsozialisten: Der „tragische“ Ton, der noch 1918, in einer Titelwahl wie jener vom Untergang des Abendlandes, dominierte, ist nun durch die Hervorhebung, ja durch den triumphal-revanchistischen Gestus kommenden Cäsarentums gebrochen.

Damit macht Spengler, der privat ein Angsthase durch und durch war, sich und sein Volk für den neuen Krieg, Weltkrieg Nummer zwei, rhetorisch bereit. Diesen hatte er 1921 mit fast prophetischem Gespür vorausgeahnt, als er in einem Aufsatz, der den Titel Pessimismus? trug – mit Fragezeichen, um den angeblichen Missverständnissen seiner Abendlanduntergangslehre entgegenzutreten –, festhielt:

Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, wohl aber zu einem Cäsar.4

Mit diesem Satz fasste er, noch vor Erscheinen des zweiten Abendlandbandes, zusammen, was im ersten stets schon mitgemeint war. Waren denn nicht alle wahrhaft tiefen Ideen zu Ende gedacht worden? War die Kultur in ihrem Innersten nicht ausgehöhlt? War an die Stelle der großen Einzelnen, ob im Geistigen, ob im Politischen, nicht das Mittelmaß getreten, das sich nun als Demokratisches, Liberales, Menschenrechtliches, Karitatives spreizte – bestätigt und umgetrieben von einer Medienkultur, die nicht auf Wahrheit, sondern auf Massenkonsum abzielte?

Die geradezu überwältigende Resonanz, die Spengler erfuhr – auch seine intelligentesten Kritiker wie Robert Musil zollten seinem Grundanliegen Achtung –, lag also zunächst darin begründet, dass er auszusprechen und mit einer grandiosen Geschichtsphilosophie zu untermauern schien, was ein Großteil der gebildeten Zeitzeugen nach dem Ersten Weltkrieg intuitiv zu wissen meinte: Eine menschheitsgeschichtliche Vision war unwiderruflich an ihr Ende gelangt …

Hätte man allerdings angeben müssen, worin diese Vision bestanden hatte, sei es gespiegelt im Bild einer idealisierten Antike, eines humanistisch gebrochenen Christentums oder einer ernüchterten Aufklärung – man wäre ziemlich hilflos dagestanden. Man hätte es, unter den Bedingungen der anlaufenden Moderne, nicht mehr ohne pathetisch-vages Raunen anzugeben vermocht, während kein Mangel an Zielen bestand, soweit sie den Ausbau der modernen zivilisatorischen Substanz, des „Fortschritts“, betrafen: Wohlstand, Friede, soziale Gerechtigkeit – um nur einige der zentralen Werte zu nennen.

Aus heutiger Sicht drängt sich die Frage auf: Was war es denn eigentlich, dessen Verschwinden Spengler, nach eigenem Anspruch, „wertfrei“ (doch von Wertfreiheit konnte keine Rede sein) diagnostizierte? Und was war es, das, Spengler lesend, die Kultureliten seiner Zeit ohne Weiteres nachzuvollziehen vermochten – worin bestand dieser unsagbare Verlust?

Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass derlei Fragen auf einer Ausblendung der zeitgenössischen Vielfalt an politischen, philosophischen, ökonomischen Ideen beruhen. Es gab die liberale, demokratische, sozialistische, marxistische, es gab die neofeudale und faschistische Utopie. Es gab das Ideal des Weltfriedens und der Gleichheit aller Menschen. Alles das war da, real und wirksam, wenn auch, wie die Entwicklung der Zwischenkriegszeit zeigt, im Gewimmel deutscher Standpunkte, Parteiungen und Entzweiungen nicht siegreich – mit Ausnahme des Faschismus in seiner Ausprägung als Hitlers Nationalsozialismus, dem Spengler höchst zwiespältig gegenüberstand.

So gesehen, muss die Frage lauten: Welchen Sinn hatte Spenglers Ausblendung der vitalen ideologischen und utopischen Vielfalt, ihre Herabstufung zu Zeitenkram, ihre Herabwürdigung zu Symptomen des Zerfalls? Und welches Bedürfnis der Leser wurde dadurch angesprochen, sodass bereits 1922 der Untergang im Vorwort vermelden durfte: „33. bis 47. Auflage“? Man muss hier wohl in Rechnung stellen, dass die Stimmung gerade unter den gebildeteren Schichten und in weiten Kreisen des sozialen Führungspersonals zu gewichtigem Teil aus einem Vergangenheitsweh bestand, das nach seiner aktivistischen Auflösung drängte.

Das „Fundament“ des deutschen Nationalgefühls nach dem verlorenen Krieg, nach 1918, war der Triumph der Anderen. Negativ formuliert: Es war die eigene Schmach, die ewig währen würde, falls die Zustände bleiern so blieben, wie sie, gemäß dem Repressalienregime von Versailles, nun einmal waren. In diesem Bedrückungskontext hörte es sich als eine Entlastungsbotschaft ersten Ranges an, wenn gesagt wurde, der „Tod“ der alten Werte und vor allem der nationalen Größe war – noch im Negativen! – Ausdruck einer epochalen Bewegung von weltgeschichtlichem Rang.

An einer Stelle des Untergangs packt Spengler den kollektiven Entzugszustand in eine dichte Prosa, die von der inneren Leere geläufiger Zukunftsvisionen und der ihnen korrespondierenden „Lebenslüge“ handelt, die dem ideologisch erhitzten Aktivismus anhaftet. Zunächst der niederschmetternde Befund:

Und darin liegt eine tiefe Notwendigkeit, denn von Rousseau an gibt es für den faustischen Menschen, was den großen Stil des Lebens betrifft, nichts mehr zu hoffen. Hier ist etwas zu Ende. Die nordische Seele hat ihre inneren Möglichkeiten erschöpft (…).5

denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit