Mit der Neugier eines Entdeckers führt Raoul Schrott in vier Essays hinein in die Welt unseres Zusammenlebens. Um die Antagonismen von Ideen geht es dabei in den ersten beiden Aufsätzen: hierhin gehören die Vorstellungen einer nationalen Identität und die Psychologie des Heiligen, mit denen verschiedenste Politiken legitimiert werden. Beispielhaft für die Entstehungsgeschichte eines kulturellen Mems und seiner politischen Auswirkungen steht die Genese des Standarddeutschen durch Luther, wie sie im dritten Essay beschrieben wird. Den Evolutionsprozess eines Denkmusters, der sich über Jahrtausende hinweg beinahe lückenlos verfolgen lässt, zeichnet das letzte Essay am Fallbeispiel der Geschichte der Prinzen von Serendip detailliert nach; sie führte am Ende zum Detektivroman und prägte zugleich den Begriff des Serendipischen für eine uns eigene Art von Einfallsreichtum und Kreativität.

 

»Politik beruht auf Konzepten, die sich geschichtlich herausgebildet haben«, schreibt Raoul Schrott. »Ihre komplexen Wechselspiele sind unter der Oberfläche des Zeitgeistes am Wirken und bringen dabei, meist auf kaum vorhersehbare Weise, die Zukunft hervor. Das gilt auch für ästhetische Ideen: indem sie ethische Vorstellungen wiedergeben, sind sie umso politischer.«

 

Hanser E-Book

Raoul Schrott

 

POLITIKEN & IDEEN

 

Vier Essays

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

INHALT

 

Einleitung

 

Politiken des Nationalen

 

Die Politik des Heiligen

 

Eine Politik der Sprache

 

Politik des Kulturellen

 

Anmerkungen

 

 

 

 

Wir sind ein zoon politikon, ein verstädtertes Tier, das längst mehr im Zivilen als in der Natur zuhause ist. Dabei betreiben wir nicht nur das Geschäft des Parteilichen; in Entsprechung zur Musik als das ›den Musen Hörige‹ ist Politik alles, was in einer Gesellschaft kursiert und unser Verhalten beeinflusst. Polis – Stadtstaat – bezeichnete ursprünglich den Ringwall einer Burg, die den Pol einer oligarchischen Bürgerschaft darstellte; was unter ihrem polos – der Kuppel ihrer kleinen Welt – für notwendig erachtet wurde, bestimmte die Grundwerte, um welche rundum polemos herrschte, Polemik und Krieg. Ideen sind es, gute wie schlechte, die eine Gemeinschaft zusammenhalten: ob die Vorstellungen, auf wen und wie weit sie sich erstreckt, wer in ihr sprechen darf, welchen Religionen man anhängt oder wessen Ethos und Gesetze zu gelten haben. Sie liessen quer durch die Zeiten und Räume unterschiedliche Kulturen entstehen, die jedoch wieder untergingen, sobald sie erstarrten.

Bereits Aristoteles merkt in seiner Politik an, dass ein Stadtstaat nicht entsteht, indem Menschen sich an einem Ort niederlassen, und noch viel weniger, weil er von einem Wall umschlossen ist, denn eine solche Mauer könnte man auch rings um die Peloponnes ziehen. Eine Polis ist vielmehr eine moralische Gemeinschaft, in der alle dieselbe Idee von Gerechtigkeit teilen. Sie ist somit beweglich: auch räumlich. Solange sie ihre Form beibehält – ihre Verfassung, ihre Ämter und ihre juristischen Prinzipien – bleibt sie dieselbe, überall. Wie schon ein französischer Kommentator von Aristoteles’ Lehrschrift im 16. Jahrhundert anfügte: Frankreich bliebe immer Frankreich, selbst wenn es plötzlich nach Indien verpflanzt würde.

Nichts vom Aussen Abgeschlossenes vermag jedoch auf Dauer zu bestehen, weil wir uns als intelligente Spezies dank unzähliger technischer Erfindungen wie sozialer Errungenschaften die Natur angepasst haben, um schliesslich in der heutigen Informationsgesellschaft leben zu können. Ob die Kultur eines Ackers oder einer Schrift, das Konzept des Faustkeils oder eines Gottes: alles beruht auf Denkformen, die evolvieren und dabei die Welt um sich verändern.

Dennoch ist kaum etwas davon je für sich allein entstanden – und wenn, wurde es meist über kurz oder lang weitergegeben, um anderswo akkulturiert oder assimiliert zu werden, ohne sich jemals endgültig domestizieren zu lassen, weil Ideen sich mit jeder neuen Übernahme in dieser oder jener Richtung weiterentwickeln. Doch wie, unter welchen Umständen und durch wen gelangen sie in unsere Politiken und den Ring unserer Polis, der die Neugier am Fremden ebenso eigen ist wie das Fremdenfeindliche? Setzen sie sich von selbst durch oder hängt dies vom Zeitgeist, von unserem Nachahmungstrieb, ihrem Prestige, günstigen Umständen, der Initiative Einzelner ab?

Ideen sind das Erbgut einer Zivilisation. Einerseits vermehren sie sich gleichsam sexuell, indem sie sich ständig mit anderen vermischen und dabei rekombinieren. In Analogie zu unseren Genen lassen sie sich als Meme bezeichnen; einzelne Informationsstrukturen, die der Selektion unterworfen sind und mutieren können; in Analogie zu Viren gesehen, adaptieren sie sich an den kulturellen Stoffwechsel ihrer jeweiligen Wirte, um sich zu reduplizieren und so jeweils andere Variationen ihrer selbst herauszubilden.

Andererseits – ein kulturelles Gedächtnis samt Überlieferungsmedium einmal gegeben – gehen Ideen nie ganz verloren; selbst die falschen lassen sich nur bekämpfen, nie aber völlig ausrotten. Sie sind beständig, anders könnten sie unsere kulturellen Gebäude nicht tragen, dadurch aber, selbst wenn sie einmal durchschaut wurden, auch träge: sie behaupten sich als Anachronismen trotz der antagonistischen Dynamiken, denen sie ausgesetzt sind. Sie können dabei in Konflikt miteinander geraten, wenn sie etwa Debatten über eine Leitkultur mit sich bringen, die immer wieder auf das Paradoxon hinauslaufen, wie eine liberale Gesellschaft mit illiberalen Elementen in ihr umgehen soll und ob ihr aufgeklärter Pluralismus auch singularistische Doktrinen umfassen kann: stellt ihre Ideologiefreiheit nun eine andere Art der Ideologie dar? Wenn ja, vermag eine solche, einen gemeinschaftlichen Konsens herzustellen? Oder hängen wir dabei nur neuen Dogmen an, die wir noch nicht überschauen, weil wir uns allzuoft mit der rund geglätteten Politur des politisch Korrekten und blosser Politesse zufriedengeben?

Vielleicht ist eine der möglichen Antworten darauf, dass wir stets in Dynamiken des Multikulturellen befangen sind, denen wir uns nicht entziehen können, weil sie den zivilisatorischen Evolutionsprozess definieren. Einige der darin zum Vorschein kommenden Ideen möchten diese Essays hinterfragen und den Blick ungeachtet aller Kurzsichtigkeit auf Langfristigeres lenken; sie wollen aufzeigen, wie sehr die moralischen Policen, mit denen wir uns gesellschaftlich versichert glauben, auf Konzepten beruhen, die sich geschichtlich herausgebildet haben. Ihre komplexen Wechselspiele wirken unter der Oberfläche des Zeitgeistes und bringen dabei, meist auf kaum vorhersehbare Weise, die Zukunft hervor. Das gilt auch für ästhetische Ideen: indem sie ethische Vorstellungen wiedergeben, sind sie umso politischer.

 

Beispielhaft für die Entstehungsgeschichte eines kulturellen Mems und seiner politischen Auswirkung steht hier die Genese des Standarddeutschen durch Luther, die das dritte Essay dieses Bandes zusammenfasst. Den Evolutionsprozess eines Denkmusters, der sich über Jahrtausende hinweg beinahe lückenlos verfolgen lässt, zeichnet das letzte Essay am Fallbeispiel der Geschichte der Prinzen von Serendip dementsprechend detailliert nach; sie führte am Ende zum Detektivroman und prägte zugleich den Begriff des Serendipischen für eine uns eigene Art von Einfallsreichtum und Kreativität. Die Antagonismen von Ideen wiederum reissen die ersten beiden Essays an: dazu gehören die Vorstellungen einer nationalen Identität und die Psychologie des Heiligen, mit denen verschiedenste Politiken legitimiert werden.

 

 

POLITIKEN DES NATIONALEN

 

 

 

 

Die ›Grosse Mauer‹ des Gilf Kebir ist ein zerklüftetes Massiv, das sich im Irgendwo der Sahara erhebt, die Felsformationen seiner Tafelberge und tiefen Täler ausgefräst von Wind und Sand. Die immense Weite der Wüste ringsum ägyptisch, libysch oder sudanesisch zu nennen, erscheint ebenso artifiziell wie die Grenzen es sind, die sich unweit dieses Hochplateaus schneiden. Sie wurden 1885 auf der Berliner Konferenz mit dem Lineal gezogen, um Nordafrika unter den damaligen Grossmächten aufzuteilen – auf dieselbe Weise, wie 1916 dann in einem Geheimabkommen zwischen England und Frankreich die heutigen Grenzen des Nahen Ostens auf der Karte liniert wurden.

Ich war 2010 in der Leere dieses Dreiländerecks, wohl das letzte Mal in meinem Leben, da Reisen durch die Sahara inzwischen gefährlicher geworden sind als zur Zeit der Berliner Kongo-Konferenz. Das Kamerateam, mit dem ich unterwegs war, benötigte militärischen Begleitschutz, weil bewaffnete Schmuggler öfters passierende Fahrzeuge kapern und die Insassen, so sie Glück haben, in der Wüste aussetzen. Wir fuhren die Route nach, über die einer der Erforscher dieser Gegend, der Altösterreicher László Almásy, im Zweiten Weltkrieg heimlich deutsche Spione von Libyen aus zu ihrem Kontaktmann an den Nil geschafft hatte, zu jenem Nasser, der später als Staatspräsident kurz Ägypten mit Syrien zu einer Arabischen Republik vereinigte. Am Gilf Kebir hatten wir Halt gemacht, weil Almásy dort in einem Überhang steinzeitliche Felsmalereien entdeckt hatte, die er für Schwimmer in der Wüste hielt, die eigentlich jedoch Menschen darstellen, die von Molochen verschlungen oder ausgespuckt werden.

Am Ausgang dieses ›Tals der Bilder‹ kreuzten sich Spuren von Lastwagen, die Frachten von Flüchtlingen aus dem Darfur, Eritrea und Somalia an die Mittelmeerküste schafften, um von dort deutschen Zucker und Diesel zurückzuschmuggeln. Unter einer Felsnadel lag ein namenloses Grab, zwei Steinplatten am Kopf- und Fussende als Zeichen für einen Mann, der Sand dazwischen von Wühlmäusen durchlöchert. In der geplünderten Tasche daneben befand sich nur mehr die Fotokopie eines zwei Wochen zuvor im Sudan ausgestellten Flüchtlingsausweises, auf deren Rückseite eine deutsche Telefonnummer säuberlich notiert war. Die Soldaten sprachen ein kurzes Gebet, der Offizier rauchte eine Zigarette. Ich aber war dem Grab zu nahe gekommen: das Gesicht des Toten liess mich nicht mehr los, die Augen noch im Schwarz-Weissen leuchtend vor Lebenshunger.

Da lag ein toter Junge. Da waren die Karte der jüngsten Zeitgeschichte und all die darauf gezogenen Grenzen, die im Sand keine Spur hinterlassen. Und ein paar Schritte weiter waren Felsbilder dunkelhäutiger Menschen zu bestaunen, die mit ausgestreckten Armen ihre Ohnmacht vor kopflosen Bestien bekundeten. Gemalt worden waren sie von Menschen, die hier in einer tierreichen Savanne gelebt hatten, bis diese vor 6000 Jahren austrocknete und sie ins Niltal weiterziehen mussten, um dort eine Zivilisation zu begründen, die sich über die Griechen und Römer bis zu uns auswirkte. In all dem war die Frage, was uns ausmacht, bereits halb beantwortet. Denn ob von Nahem oder aus der Ferne betrachtet: unsere Identität ergibt sich aus anderem als Grenzen, einer Sprache, der Religion, einer Abstammung oder einem blossen Passierschein.

 

*

 

ZWINGENDE GRENZEN gibt es für Europa keine. Sie lassen sich nach geographischen, kulturellen oder geschichtlichen Gesichtspunkten an Oder und Neisse, entlang des Urals, in Afghanistan oder beim Kaukasus ziehen und bleiben genauso arbiträr wie die Grenzen Afrikas und des Nahen Ostens. Wie die europäische Geschichte zur Genüge vorführt, verschieben sie sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufs Neue, ohne dass sie eine Gesellschaft im Kern bestimmen würden: sonst dürfte es etwa das nach dem Ersten Weltkrieg kleingeschrumpfte Österreich nicht geben. Nicht einmal dort, wo sie wie bei der englischen oder der irischen Insel natürlich erscheinen, sind sie es, wie die relative Autonomie der Schotten und Nordiren innerhalb Grossbritanniens zeigt.

Das Niemandsland, wie es sich de facto rund um den Gilf Kebir erstreckt, stellt vielmehr die Regel dar, nach der Grenzen geschichtlich begriffen wurden. Sie waren blosse Übergangszonen, durchlässig für den kleineren und grösseren Grenzverkehr, fliessend wie die Flüsse und Täler, nach denen man sich richtete, breit und weit wie die Berge, Wälder, Wüsten und Meere, die den Austausch zwischen wirtschaftlichen und politischen Einflusszentren erschwerten. Solche Pufferzonen wurden manchmal bewusst angelegt: unter Augustus wurde der Landstrich zwischen Limes und Rhein entvölkert, die Sueben legten eine freie Zone um ihr Gebiet an, die Dänen sahen als Grenze zu den Deutschen das Isarholt an, zwischen Slawen und Deutschen lag der Sachsenwald und auch indianische Stämme hielten darauf, dass zwischen je zweien ein weiter, niemandem gehöriger Landstrich läge. Die so gewonnene Defensive wird mit dem ganz entsprechenden Verzicht auf Offensive bezahlt, dass die Idee des Ganzen sich in der Redensart ausdrückt: tu mir nichts, ich tu dir auch nichts!1

Heimat war die Gegend, wo man sich unter den Menschen, mit denen man aufwuchs, zuhause fühlte, und jedwedes Vaterland ursprünglich nur etwas Lokales: nämlich der Ort, wo die eigenen Eltern begraben lagen. Zu welchem Herrschaftsbereich ein Dorf gehörte, war immer wieder unklar und wechselte: ihn zu definieren hatten nur die jeweiligen Fürsten Interesse, weniger ihre kaum je willentlich loyalen tributpflichtigen Bewohner. Was wohin gehörte, das wurde nicht durch geometrische Linien auf einer Karte bestimmt, sondern durch die kulturelle Zugehörigkeit der Menschen.

 

Das änderte sich mit der Französischen Revolution, die jenes Dokument hervorbrachte, das heute als Ausweis staatlicher Zugehörigkeit dient: den Pass. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Nationalität eines Individuums kaum politische Bedeutung; als Instrument staatlicher Regulierung kam der Passierschein erst 1789 in Frankreich auf, um die interne Mobilität – besonders nach Paris – zu überwachen. Erst nach dem Fluchtversuch des Königs und den Attacken fremder Aristokraten auf die Revolution begannen die Autoritäten, auch Papiere für Ein- und Ausreisen zu verlangen. Damit schuf die Französische Revolution einen der ersten Nationalstaaten, der nicht mehr durch die Herrschaftsansprüche eines Monarchen, sondern durch die nationale Identität seiner Subjekte definiert wurde. Mit dem Aufkommen von Nationalstaaten im übrigen Europa wurden auch dort überall Pässe erforderlich. Durch das exponentielle Wachstum der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wuchs jedoch zugleich der Druck, ihre Produktionsfaktoren – Geld, Handel und Arbeiter – frei verkehren zu lassen, sodass Passkontrollen in Europa auf ein Minimum beschränkt wurden. Demgemäss formulierte der britische Aussenminister Earl Granville 1872, dass alle Fremden ein uneingeschränktes Recht auf die Einreise und den Aufenthalt im Land besitzen; Ähnliches galt für Nordamerika. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine Diskussion unter Völkerrechtlern, ob Staaten überhaupt das Recht hätten, die internationale Mobilität zu kontrollieren. Allein die nationalistischen Dynamiken, die Europa in den Ersten Weltkrieg trieben, gaben dann den gegenteiligen Ausschlag: Passkontrollen wurden wieder eingeführt und seitdem nur für das Schengenabkommen wieder gelockert.

Eine Folge der Französischen Revolution war auch das Aufkommen von Bourgeoisie und Privatbesitz, welche strikte legale Grenzziehungen mit sich brachten. Über diese Legalität bildete sich dann im 19. Jahrhundert jene Staatlichkeit heraus, die ihren Nationalbesitz schliesslich durch bis auf den Zentimeter genau berechnete Territorialgrenzen demarkierte, die heute sogar den Luftraum erfassen. Legitimiert wurden die durch reinen Besitzanspruch gesetzten Separationslinien zwischen den nunmehrigen Nationen mittels selektierter Vorwände: völkischer Mythen und scheinbar historischer Gründungstexte wie Tacitus’ Germania, historischer Schlachten und Ereignisse, religiöser, sprachlicher und soziopolitischer Zugehörigkeiten – je nachdem, wie sie gerade passten.

Damit wurde ein Identitätsgefühl in einem davon umfassten Kollektiv erzeugt – um es dann zu normieren mittels eines verpflichtenden Wehrdienstes, durch den sich etwa im Ersten Weltkrieg Norddeutsche und Sizilianer an der Tiroler Gebirgsfront gegenüberstanden, und mittels einer Schulpflicht, durch die man erstmals Kunde von der Geographie seines nunmehrigen Landes erhielt: unterschiedlich eingefärbte Staaten auf der Karte im Klassenzimmer, darüber ein Kruzifix und auf den Bänken einheitliche Lehrbücher zur Nationalgeschichte. Derart wurde aus dem Bezug der Griechen zu einer patrida als dem Zuhause einer Familie und dem Leben in einer polis schliesslich jener Patriotismus, den die Politik instrumentalisieren konnte, um mit ihren wirtschaftlichen Interessen Territorien zu kolonialisieren – zunächst auf dem eigenen Kontinent und darauf weltweit.

 

Zu glauben, dass sich parallel zur Globalisierung als moderner Kolonialisationsform auch unser Demokratieverständnis allerorts einfach implantieren liesse, ist jedoch erschreckend naiv. Es stellt zwar eine bittere Ironie dar, dass die Idee der Demokratie in einer jener Krisenregionen entstand, in denen wir sie nun erfolglos als Allheilmittel propagieren. Denn das Konzept einer damals elitär auf Bürger beschränkten ›Herrschaft des Volkes‹ (die oft genug in Tyrannei umschlug) wurde nicht in der polis Athens erfunden, sondern von den Griechen wie so vieles andere aus dem Nahen Osten übernommen. Dort konnten levantinische Handelsstädte wie Ugarit oder Byblos aufgrund ihrer peripheren Lage zu den Grossreichen ihre Autonomie behaupten, indem sie auf einer eigenen Gerichtsbarkeit bestanden und über Versammlungen die Politik in ihren Stadtstaaten bestimmten – ebenso wie später die Schweizer Eidgenossenschaften oder die Hanse. Doch der Weg, der danach zu unserer Art von Demokratie führte, war weder geradlinig noch zwangsläufig und zu einem guten Teil von unserer temperierten Klimazone bedingt, die eine stabilere Landwirtschaft als in den heissen Zonen östlich und südlich des Mittelmeers mit ihren Wanderwirtschaften erlaubte. Wo dort allein die Familie und der Stamm ein soziales Netz boten und immer noch bieten, konnten wir im Laufe von Jahrhunderten langsam jene überzeitlichen Institutionen herausbilden, dank derer unsere Staaten mittlerweile florieren.

Das beginnt mit der 1472 gegründeten ältesten Bank der Welt, Monte dei Paschi di Siena, und den in den toskanischen Städten praktizierten Demokratieformen, führt aber erst Ende des 18. Jahrhunderts zu Steuergesetzen, bei denen wir uns mittlerweile (aber auch nicht immer) darauf verlassen können, dass das, was wir abgeben, nicht mehr einem Machthaber, sondern der Gemeinschaft, ihrer Infrastruktur und uns als Rente später zugutekommt. Dieses Vertrauen musste sich jedoch erst entwickeln – und es setzte sich erst fest nach dem Aufkommen von Ämtern und ihren Beamten im 19. Jahrhundert, die nicht mehr mit jedem Machtwechsel gekündigt werden konnten. Sie etablierten als Institutionen jene Gesellschaftsstrukturen, über die zusammen mit dem Parlamentarismus unsere Demokratie hervorgehen konnte, schrittweise und oft genug chaotisch. Denn die Zustände in der Weimarer Republik oder im Österreich der Zwischenkriegszeit, wo die Demokratie erstmals umfängliche Rechte beanspruchte, waren ähnlich aggressiv und instabil wie im Arabischen Frühling – und hatten ebenfalls Totalitarismen und Kriege zur Folge. Zu denken also, diese von vielen Irrläufen geprägte Evolution der Demokratie liesse sich anderswo – wo weder die tragenden Säulen dafür errichtet wurden noch ein Bewusstsein ihrer Verhaltensnormen entstehen konnte – binnen weniger Jahre mir nichts dir nichts nachholen, heisst, den Lektionen der eigenen Geschichte gegenüber blind zu sein.

 

AUCH EINE MUTTERSPRACHE wurde neben einem territorial gesehenen Vaterland immer wieder als konstitutiv für eine nationale Identität propagiert. Doch eine Sprache definiert noch lange keine Nation: anders existierte weder die viersprachige Schweiz noch das zweisprachige Belgien. Natürlich ist das Vokabular, das man besitzt, identitätsstiftend – aber die eigentliche Muttersprache wird erneut von Lokalem bestimmt: dem Dialekt und dem jeweiligen Soziolekt. Das überregionale Schriftdeutsch spielt eine geringere Rolle: es stellt ein Konstrukt dar, das Luther für seine Bibelübersetzung geschaffen hat, eine aus unterschiedlichen Dialekten – hoch- wie mittel- und niederdeutschen (nicht aber schwyzerdütschen) – sich bedienende Kunstsprache, welche mit dem Entstehen der Nationalstaaten institutionalisiert wurde. Eine politische Einheit wurde dadurch weder zwangsläufig noch notwendigerweise geschaffen: sonst gäbe es weder Lichtenstein und Österreich, noch könnten das auch französischsprachige Saarland oder Elsass-Lothringen sich nun Deutschland zugehörig fühlen.

 

FÜR DIE RELIGION gilt dasselbe. Auch sie wurde zwar für eine nationale Identitätsbildung vorgeschoben, doch schon die im Zuge der Reformation aufgekommene brutale Formel cuius regio, eius religio – wessen Region, dessen Religion – zeitigte nicht die erwünschte Stärkung der Bindung zwischen Landesherren und ihren Untergebenen, sondern führte vielmehr zu breiten Abwanderungen. Wäre es anders, dürfte es in Deutschland nur Lutheraner geben, hätten die seit 1781 bestehenden österreichischen Toleranzpatente, mit denen die unterschiedlichen Religionen des damaligen Vielvölkerstaates einschliesslich des Islam 1912 anerkannt wurden, keine Berechtigung – während umgekehrt das Kalifat des IS, der Iran oder Israel nicht aufhören, auf jeweils eigene Weise vorzuführen, dass Glaube kein Fundament für ein funktionierendes Staatsgebilde ist. Bei uns haben Nordirland oder der Balkan demonstriert, dass hinter der Religion stets andere, machtpolitisch motivierte Konflikte ausgetragen werden. Einen zivilisatorischen Fortschritt diesbezüglich stellte erst die Trennung von Staat und Religion dar, mit der jeder Glaube zur Privatsache wurde, die möglichst wenig öffentlichen Raum beanspruchen soll.

Da jede Religion jedoch ein bestimmtes Wertesystem propagiert, stellt sich hier erstmals die Frage, worauf denn das Ethos unseres europäischen Raumes beruht – noch dazu, wenn sich etwa heute in Deutschland ein Drittel der Bevölkerung als konfessionslos bezeichnet und wohl die Hälfte de facto als atheistisch anzusehen ist. Die zehn Gebote im Buch Mose können jedenfalls – abgesehen vom Verbot des Mordes und Diebstahls – schon lange nicht mehr als grundlegend gelten. Keinen anderen Gott neben sich zu haben und sich nicht vor anderen Göttern niederzuwerfen, widerspricht den vielfachen Toleranzedikten weltweit und wird nur noch von Terroristen vertreten. Gemälde und Mosaike des christlichen Gottes prägen die gesamte europäische Kunstgeschichte. Den Sonntag heiligen, wie die Einkaufszeiten und die halbleeren Kirchen zeigen, immer weniger Menschen. Vater und Mutter unbeschränkt zu ehren hiesse, alle Psychotherapien verdammen und die Altersheime weitgehend zusperren zu müssen. Dürften Ehen nicht gebrochen werden, gäbe es weder ein Familien- und Sorgerecht noch eine Scheidungsrate von über 40%. Nichts Falsches gegen seinen Nächsten auszusagen wäre sicherlich wünschenswert, nur hält sich keiner daran. Und ohne das Begehren nach dem, was der Nachbar besitzt, gäbe es nicht den Konsumneid, der unsere Wirtschaft am Laufen hält und jenen noch nie in der Geschichte jemals so gross gewordenen Wohlstand hervorgerufen hat, dank dessen wir uns die Sozialstrukturen unserer Gesellschaften ebenso wie unseren vermeintlichen Liberalismus leisten können.

 

Worauf aber basiert unser Wertesystem dann? Das Bürgerliche Gesetzbuch als Kodifikation der Privatrechte eines Staatsbürgers und das öffentliche Recht, das dessen Verhältnis zum Staat regelt, sind grosse Errungenschaften, die für uns mittlerweile so selbstverständlich sind, dass sie viel zu wenig geschätzt scheinen. Dennoch spiegeln sie den steten Wandel ethischer Vorstellungen eher wider, als dass sie ihn vorgeben. Gesetze hinken der Moral immer hinterher – wie die Diskussionen um gemeinsame Sorgerechte, gleichgeschlechtliche Ehen oder die Rechte von Asylsuchenden gezeigt haben.

Doch woher beziehen wir die dabei ins Spiel gebrachten Moralbegriffe? Aus vielen, stets nur schemenhaft verhandelten Positionen. Dazu gehören mittlerweile weniger religiöse Dogmen als die Ideen des Humanismus und der Aufklärung, die durch die Französische Revolution vertretene Auffassung von Naturrechten, welche sich in der Deklaration der Menschenrechte und Völkerrechte manifestierte, oder ein allgemeines Arbeitsethos. Das Bewusstsein ihrer historisch unterschiedlichen Bedingtheiten ist jedoch – mit Ausnahme der Erinnerungskultur an die Schrecken des Dritten Reiches – im Alltag kaum auszumachen. Der wird von parteipolitischen Diskussionen bestimmt, Talkshows, Leitartikeln, Büchern und anderen Formen der Kunst, Stammtischgesprächen und der Meinung von Freunden beim Abendessen. War früher einmal das Theater der Ort, an dem unterschiedliche ethische Perspektiven gleichsam experimentell verhandelt werden konnten, so ist dies dank seiner nunmehrigen Spektakelkultur in den Hintergrund geraten. Stattdessen hat das Fernsehen diese Funktion übernommen, in Formen, die meist an die barocken Jesuitendramen gemahnen. Dazu gehören all die deutschen Filmchen im Hauptabendprogramm, die eine biedere, aus der Adenauerzeit stammende Moral weitertragen, während amerikanische Vorabendserien und Blockbuster unter dem Deckmantel der Unterhaltung einen längst scheinheilig gewordenen Puritanismus und den Geist des Geldes propagieren – um zugleich die davon korrumpierte soziale Realität und dysfunktional gewordene Gesellschaft abzubilden. Doch nicht einmal da ergibt sich ein gemeinsamer Nenner: der wird längst durch das Internet, seine Blogs, Fake News, diverse Meinungskampagnen und die individualisierte Mediennutzung weiter fragmentiert.

 

Will man all das zusammenfassen, was an Vorstellungen in unserem Raum herumschwirrt, kann man bestenfalls von einem diffusen Liberalismus reden, der im Moment zu ungesunden Teilen von den globalen neokapitalistischen Strukturen des Wirtschafts- und Finanzwesens dominiert und von den provinziellen Denkweisen und existentiellen Nöten der davon zurückgelassenen Bevölkerungsschichten in die Enge getrieben wird. Deshalb sind die steten Debatten um eine – nicht nur national geprägte – Leitkultur gegenüber der Dialektik des Multikulturalismus und der Geschichte umso unerlässlicher, um einen Wertekonsens zu erzielen.

Von der Dialektik des Multikulturellen aus gesehen wäre beispielsweise ein Kopftuchverbot als Zeichen der Integration akzeptabel, weil wir hierzulande eine Kultur der öffentlichen Person vertreten und uns umgekehrt in einem islamischen Land auch den dortigen Sitten anzupassen haben. Von den Prinzipien unserer liberalen Leitkultur aus beurteilt, müssten wir jedoch ein Kopftuch als Zeichen eines privaten Glaubens ebenso akzeptieren wie die Hauben unserer Nonnen. Kulturgeschichtlich wiederum betrachtet, sind Burka und Nikab nicht vom Koran ableitbar, der nur einen Schal als Bedeckung des Dekolletés fordert. Die Burka entstammt einer pakistanischen Tradition und der Nikab der arabischen Halbinsel, wo er als Schutz vor Sand und Sonne diente – beide konnten auch als Symbol einer freien Frau verstanden werden, die nicht aufgrund ihres Aussehens beurteilt werden mochte. Und wie sein West-östlicher Divan verrät, empfand Goethe solche Verschleierungen einmal sogar als berückend.

Welche Argumentationslinie sich durchsetzt, sollte allein davon abhängen, wie präsent solche Kopfbedeckungen wirklich sind und inwieweit sie für religiöse Propaganda instrumentalisiert werden. Das erscheint beim augenblicklichen Stand der Dinge schon rein zahlenmässig so marginal (es gibt bei uns weniger Hidjab-Trägerinnen als Nonnen), dass man darüber hinwegsehen kann, löst aber nicht die grundsätzliche Frage nach einem übergreifenden Wertekonsens zwischen liberaler Leitkultur, multikultureller Dialektik und der Einsicht in die evolutionären Bedingtheiten von Kultur.

Die Antwort darauf müsste eine Form des positiv gesehenen Anarchismus sein, dem zufolge es kein ›erstes Gesetz‹ gibt, dem sich alles hierarchisch unterordnet, vielmehr eine auf Selbstbestimmung ausgerichtete Gesellschaft, welche die stets changierenden Spannungen zwischen dem Anspruch auf individuelle Freiheit und sozialer Verantwortung ins Gleichgewicht zu bringen sucht. Genau das, was an den Diskussionen über viele derartige Themen verunsichert, indem wir vergeblich nach einem fixen Pol suchen, an dem sich alles endgültig moralisch ausrichten lässt, müsste zum Prinzip erklärt werden: nämlich das Bewusstsein der Relativität aller argumentativer Schnittpunkte, die stets weiterwandern, um sich ständig wechselnden zivilisatorischen Bedingungen anzupassen. Unserer allgemein konservativen, letztlich oft spiessigen Haltung eingedenk ist dies natürlich eine Utopie: und dennoch eine, die es gerade aufgrund ihrer Offenheit und fehlenden Dogmatik wert ist, fokussiert zu werden. Denn wenn wir es sind, die die Politik bestimmen, dann zählt der pragmatische Umgang mit Problemen – das Leben und Lebenlassen.

 

 

SULEIKA SPRICHT

 

woher ich komme? ist wieder und wieder die frage

mir ist der weg kaum mehr recht bewusst

sie trifft auch meinen vater mit derselben anklage

deretwegen er gehen musste um den verlust

von familie und land hier gutzumachen als taxifahrer

und mit zwei gläsern billigen weins sobald die schicht endet

er sieht sich nunmehr als bewahrer

unseres glaubens und hebt shiraz in den himmel als wäre es das paradies

vergessen die missgunst von seines gottes stellvertretern samt ihrer alibis

erst mit 15 habe ich meine augen vor ihm nicht mehr zu boden gewendet

und bin doch seitdem in geiselhaft

der dunkleren haut der schwarzen haare und der nase wegen

die kein hidjab aus der welt schafft

das tuch trotzdem nicht abzulegen

heisst jetzt frau zu werden bar aller abschätzigen blicke von aussen

um darunter das zu sein was man ist

ein leben ist nur zu führen wenn man sich nicht selbst vermisst

aber das ist leicht gesagt in diesem frankenhausen

und schwer getan · ich durfte dolmetsch studieren

und stosse dabei allerorts auf worte die eine kehrseite besitzen

sodass sie am ende ihre bedeutung verlieren:

weg und weg · pass und pass · schloss und schloss · bank und bank

welche seite vereinnahmt mich? diese seite?

beiden gemein ist das unbefreite

arm und der arm mit den ungeübten notizen

in einer sprache die mir nicht mehr fremd ist und dennoch so blank

dass mit ihr alles aufs neue beginnen könnte

so man mir den raum dafür gönnte

mit der deutschen freundschaft hat es keine not -

der ärgerlichsten feindschaft steht höflichkeit zu gebot

keiner beschwere sich über das niederträchtige

 

was immer man dir auch sagt: es bleibt das mächtige

wie euer goethe meint · wie also weitermachen – auf sich gestellt

gleich einer bettlerin die sich im niemandsland aufhält?

sie und sie · star und star · kiefer und kiefer

feiner regen auf dem entblössten unterarm

die dämmerung gelb · das licht bald tiefer:

weshalb vermag zeit soviel hoffnungen zu verheissen wie harm?

 

26 V1 17