Wilhelm Raabe

Frau Salome

e-artnow, 2018
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-8265-7

Inhaltsverzeichnis


Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Johannes Falk in seinem Buche über Goethe schildert sehr hübsch einen Besuch, den er an einem Sommernachmittage im Jahre 1809 dem Dichter abstattete. Er fand ihn bei milder Witterung vor einem kleinen Tische in seinem Garten sitzend und eine kleine Schlange in einem langgehalsten Zuckerglase mit einem Federkiele fütternd.

»Die herrlich verständigen Augen!« sagte Goethe. »Mit diesen Augen ist freilich manches unterwegs, aber, weil es das unbeholfene Ringeln des Körpers nun einmal nicht zuläßt, wenig genug angekommen. Hände und Füße ist die Natur diesem länglich ineinandergeschobenen Organismus schuldig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen beides wohl verdient hätten; wie sie denn überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallenläßt, aber späterhin doch wieder unter günstigeren Umständen aufnimmt.«

Nun erscheint auch Frau von Goethe im Garten, ruft schon von weitem, wie herrlich der Feigenbaum in Blüten und Laub stehe, erkundigt sich nach dem Namen der ausländischen Pflanze, »die uns neulich ein Mann aus Jena herüberbrachte« — nämlich nach der großen Nieswurz, und fragt, ob die schönen Schmetterlinge aus den Kokons von eingesponnenen Raupen, die in einer Schachtel neben dem Zuckerglase liegen, noch immer nicht erscheinen wollen. Dann sagt sie mit einem Seitenblicke auf die Schlange:

»Aber wie können Sie nur ein so garstiges Ding wie dieses um sich leiden oder es gar mit eigenen Händen großfüttern? Es ist ein so unangenehmes Tier. Mir graut jedesmal, wenn ich es nur ansehe.«

»Schweig du!« meint der Geheimerat und fügt, gegen den Besucher gewendet, hinzu: »Ja, wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden, da würde von dem greulichen Wesen gleich nicht weiter die Rede sein. Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte Feigenbäume sein. Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Sie sollten sich deiner besser annehmen! Wie sie mich ansieht! Wie sie den Kopf emporstreckt! Ist es nicht, als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr mit euch spreche! Armes Ding! Wie das drinnen steckt und nicht heraus kann, so gern es auch wollte! Ich meine zwiefach, einmal im Zuckerglas und sodann in dem Hautfutteral, das ihr die Natur gab.«

Das ist ein sonderbarer Anfang für eine Geschichte, die mit dem seligen Legationsrat Falk in seinem Buche: »Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt«, sonst nichts zu schaffen hat! Doch hören wir weiter.

An einem der Wege, die zum Brocken hinaufführen, liegt ein Wirtshaus mit seinen Nebengebäuden und einem kleinen Garten, in dem aber, der Höhe wegen, wenig wächst und welchem man seinen Namen und Titel nur aus Höflichkeit oder Bequemlichkeit gibt wie so manchem andern Dinge in dieser Welt.

Das Haus wie die Stallungen sind niedrige, langgestreckte Bauwerke, das Mauerwerk ist von einer in der Ebene unbekannten Dicke, die Schiebefenster sind klein und tief in die Mauer eingelassen; kurz, alles ist auf Sturmwind, Regenstöße, Schneewehen, lange Winter und kurze Sommer so fürsorglich als möglich eingerichtet: der Wirt, die Wirtin und das Dienstvolk desgleichen. Eine moderne Hotelbesitzerfamilie, die auf einer Tour in das Gebirge hier vorspricht, mag wohl ihre Betrachtungen über den Gegensatz zwischen ihr und den Leuten und Zuständen dieses Berghauses anstellen. Nun, es kann nicht jeder seine »bougies« unter den Linden, den Rhein entlang oder am Jungfernstiege in Rechnung stellen.

Das Berghaus liegt schon in einer Gegend, wo die Tannen und Birken anfangen zu verkrüppeln. Das Wasser sickert moorig zwischen dem Gestein, den Heidelbeeren und der Heide, und der Wind hört selten auf zu singen; aber gewöhnlich heult er. Nur noch ein wenig höher hinauf erscheint das Isländische Moos auf den Felsblöcken, und wer den Wind singen hört und das Plaid fester um Hals und Ohren zieht, begreift die Fürsorge der Vorsehung; recht sorgliche Charaktere denken auch wohl an ihren Hausarzt und senden ihm einen stillen Gruß.

Dessenungeachtet ist der Weg viel betreten, beritten und befahren, vorzüglich im Sommer. Vielgestaltig und vielgeschäftig geht’s und kommt’s, geht vorbei oder kehrt ein, und Langeweile hat weder der Wirt noch seine robuste Ehehälfte und sein Dienstpersonal — im Winter nur soviel davon als der Hamster, das Murmeltier, und wie sonst die behaglichen Geschöpfe heißen, welche die unangenehme Zeit des Jahres ruhig verschlafen.

Nun war es im Sommer, in den Tagen, wo die Erdbeeren rot und die Heidelbeeren schwarz werden, wo der Fingerhut seine roten Kerzen anzündet und das Harz duftiger und reichlicher den Tannen und Fichten entquillt. Die Sonne lag auf dem Gebirge, die Quellen rauschten zur Tiefe hinab; und aus der Tiefe her, aus der Ebene der Kultur hatte die gewöhnliche Völkerwanderung ihre Züge in die schöne Wildnis aufgenommen. Alle Reitesel und Maultiere in den Ortschaften der Ausgangstäler hatten ihre trüben Erinnerungen vom vorigen Jahre aufgefrischt und bekräftigten sich von neuem in der Meinung, daß der besser gekleidete Teil der Menschheit abermals verrückt geworden sei; und abermals hatten sie ihre Last auf sich zu nehmen und wie die verlorengegangene Königstochter von Antiochien im »Perikles, Prinz von Tyrus« alle möglichen Temperamente kennenzulernen.

Es war am Nachmittage gegen drei Uhr, und augenblicklich hatte ein einziger Gast alles, was das Bergwirtshaus an Genüssen und Bequemlichkeiten zu bieten hatte, zu seiner Verfügung. Er sah aber aus, als ob er sich zu bescheiden wisse und wahrscheinlich seinen Grund dafür habe.

Neben der niederen Eingangstür der Wirtschaft ist ein Steinwall zum Schutz gegen den Wind aufgeschichtet, im Halbrund um eine roh auf Pfählen befestigte Tischplatte und eine gleichfalls im Boden befestigte Bank.

»Da setzen wir uns nicht hin«, pflegten gewöhnlich die einkehrenden Touristen zu sagen; aber es war dessenungeachtet oder gerade darum kein übler Platz. Man vernahm von hier aus das leise Geläut der Kuhglocken in den Tälern und hatte einen vollen Blick auf das bergan sich dehnende Felsenmeer. Auch die Straße, wie sie von der Höhe kam, übersah man bis zur nächsten Wendung, und das war zu keiner Zeit des Jahres, und um diese am wenigsten, ohne Interesse.

Der einsame Gast hatte sich dahingesetzt, und er sah auch wahrlich nicht aus, als ob er sich sehr vor Zugluft in acht zu nehmen habe. Er war ein verwitterter und, wie der größere Teil der Touristenscharen sagen würde, ein verwahrloster alter Gesell, der denn auch sein Gläschen Nordhäuser vor sich hatte und eben im Begriff war, eine abgenutzte, abgesogene, abgekaute kurze Pfeife aus einer Schweinsblase von neuem zu füllen. Er saß in einem graubraunschwarzen abgetragenen Rocke, Gamaschen über den derben, bestaubten Nägelschuhen und eine alte schwarze Mütze mit breitem Schirm auf dem grauen Schädel. Er trug eine Brille, doch durch die Gläser derselben leuchteten Augen von einem so sonderbar klaren bläulichten Glanz, daß es schwer hielt, an eine irgend bedeutende Kurzsichtigkeit des Alten zu glauben. Ein tüchtiger Knittel lehnte neben ihm an der Bank. Auf seinen Visitenkarten (er führte dergleichen und legte sie unter Umständen auf den Tisch oder gab sie an der Tür ab) stand:

Justizrat Scholten.

»Sie wundern sich?« pflegte er zu sagen, wenn sich jemand darüber wunderte.

Es kann auch nicht jedermann aus Quakenbrück im Fürstentum Osnabrück sein; doch des Justizrats Wiege hatte wirklich daselbst gestanden, und seine Eltern waren aus Haselünne an der Hase gewesen, einer Ortschaft, die schon ganz bedenklich der niederländischen Grenze nahe liegt, und zwar im Herzogtum Arenberg-Meppen.

Das sind eigentümliche Erdstriche, die eigentümliche Kreaturen hervorbringen. Der Justizrat Scholten stammte, und sein bester Freund ebenfalls, dorther; aber sein allerbester Freund saß zu Pilsum, einem Dorfe an der Emsmündung, und las Jakob Böhmen mit der Aussicht aufs Pilsumer Watt. Der Justizrat las Voltaire in einem Harzdorfe unter dem Blocksberge.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Alte war mit dem Stopfen seiner Pfeife zustande gekommen und nahm Stahl, Stein und Zunder aus der Tasche. Er behauptete, Schwefelgeruch falle ihm auf die Lungen, und führte deshalb kein modernes Feuerzeug; aber da er gestern abend durch einen argen Gewittersturm gewandert war, so wollte diesmal der Schwamm nicht fangen, und nach längerem vergeblichem Bemühen schob der Justizrat Scholten sein Gerät wieder ein und rief:

»Feuer, Herr Wirt!«

Der Wirt steckte den Kopf aus dem offenen Fenster seiner Gaststube, um sich genauer zu vergewissern, wer da so kurz etwas von ihm wünsche, und als er sich überzeugt hatte, daß es nur der Alte und kein neuer Gast sei, tat er natürlich, als habe er nicht gehört, blickte nach dem schnellen weißen Sommergewölk am Himmel und brummte innerlich:

›Dir werd ich auch einen Oberkellner halten, alter Stänker! Marschier in die Küche und hol dir selber, was du brauchst.‹ Der Justizrat sagte auch weiter nichts; aber er schob die Brille auf die Stirn empor und sah den Herrn Wirt an.

»Hm — na — nu!« murmelte der Wirt, zog vollständig überwunden den Kopf ins Zimmer, um dem Gast auf der Bank vor dem Fenster ein Feuerzeug in Gestalt eines steinernen Turmes mit den dazugehörigen Zündhölzern zu reichen.

»Hier, Herr Rat! Sie waren es mit Erlaubnis, der rief?«

»Ich war es mit Erlaubnis«, sagte der Alte, erhob sich von seinem Sitze und ging in die Küche an den Herd, wo ein helles Feuer einen Wasserkessel im Sieden erhielt und zwei junge derbe Gebirgsmägde mit Kaffeerösten und Mahlen beschäftigt waren. Höflich nahm der Justizrat Scholten die Mütze ab:

»Guten Tag, Jungfern. Welche von euch will einmal in meine Pfeife gucken, um mir den Griff mit der Zange in die Kohlen zu ersparen? Ist das eine Hexenküche! Hört einmal, Mädchen, wenn ihr euch nicht in acht nehmt, holt man euch doch noch vom Berg herunter, und wenn nicht vors Kriminalgericht, so doch zuerst vor den Herrn Pastor und dann vor seinen Altar in der Kirche. Ich rate euch, hütet euch, ich bin mehr als einmal dabeigewesen — es werden da verdammt verfängliche Fragen vorgelegt, und ohne Tränen geht es nicht ab — alle Kameradinnen schnucken und heulen mit, und der Müller unten vor dem Dorfe hat auch im trockensten Sommer mit einem Male Wasser im Überfluß.«

»Uh Herrje!« riefen die zwei Dirnen aus einem Munde und kicherten hinter ihren Schürzen, obgleich sie den grauen Witzbold keineswegs ganz verstanden. Sie verstanden ihn aber gut genug, und als er sich gemütlich auf die Wasserbank setzte, kam die jüngste und hübscheste eilig und höflich mit einem brennenden Span und hielt ihm den auf die Pfeife.

»Guten Tag, Herr Justizrat; sind Sie auch einmal wieder da? Man hat Sie lange nicht zu Gesichte gekriegt.«

»Den ganzen Winter nicht. Und hat man mich wirklich hier vermißt in der Küche?«

»Ei freilich, Herr Rat. Solch einen — «

»Nun, was solch einen — ?«

»Ja, Riekchen, sag du’s lieber!« kicherte die Rednerin hinter ihrer Schürze; aber Riekchen versteckte sich auch nur verlegen lachend hinter einem Handtuche, und es blieb dem alten Scholten nichts weiter übrig, als den Satz zu Ende zu bringen.

»Solch einen schnurriosen — niederträchtigen — und in der Weltgeschichte drunten in den Dörfern wohlbesschlagenen Kalendermacher und Wetterkündiger sähe man wohl in allen Nöten des Tages und der Nacht gern den Schnabel in die Tür schieben — he?! Jaja, ich will’s wohl glauben, es gibt allmählich mehr als einen Kochherd, mehr als einen Kuh-, Pferde- und Eselstall, mehr als eine Spinnstube, wo man nach mir fragt, wenn ich lange nicht nachgefragt habe.«

»Und was bringen Sie uns denn diesmal Neues mit, Herr Justizrat?«

»Auf die Frage war ich auch schon gefaßt, mein Kind; Neues? — Nun, es ist mir dunkel so, als sei mancherlei Kurioses vorgefallen; ich habe aber leider Gottes alles wieder vergessen.«

»Ach, Herr Rat!« riefen beide Mägde.

»Aber wartet einmal! Ja, in Elbingerode hat’s einen argen Lärm in Mayers Hause gegeben — «

»Liebstes Leben — wieder einmal!« rief das eine Kind, ließ den Griff der Kaffeemühle fahren und sah kläglich auf den wunderlichen Botschafter.

»Sie hatten ihn nach Goslar auf den Schützenhof eingeladen, und beide Alten setzten natürlich ihren Kopf auf, und der Alte schlug auf den Tisch und verlangte, daß nun endlich die Sache mit der Karoline von den Farbensümpfen in Richtigkeit gebracht werde; das Jahr solle nicht hingehen, ohne daß Hochzeit gehalten werde — «

»O du lieber Gott!« schluchzte die Kaffeemüllerin.

»Na, nur stille«, sagte Scholten. »Sie hätten eher den Rammelsberg als ihn zum Wackeln gebracht. Ihm eile es nicht so wie der Goslarschen Base, meinte er. Der Teufel solle ihn holen, wenn er sich da so mir nichts dir nichts in den Sumpf reiten lasse. Er sei ein Bergmann und wolle mit der Oker-Schlemme nichts zu tun haben; gelb sei nicht seine Leibfarbe, und wenn er gegen das Heiraten an und für sich wenig einzuwenden habe, so komme es doch immer darauf an, mit wem man sich vom Pastor von der Kanzel werfen lasse. Prügel mit der zärtlichen Verwandtschaft in Goslar wie im vergangenen Jahre könne es wohl setzen — «

»O der gute Junge!«

»Jawohl, so weit ging seine Güte. In der Hinsicht ist die Menschheit ein Herz und eine Seele, ich kann das hundertfach aus meinen Akten nachweisen, ihr dummen Dinger; aber cherchez la femme — wenn ihr Französisch verständet, so wüßtet ihr, was ich sagen will.«

»Ach, sagen Sie es uns nur auf deutsch«, meinte Riekchen, die bis jetzt stumm, aber mit aufgespanntesten Herzens- und Verstandeskräften zugehört hatte.

»So?« brummte Scholten. »Gönnst du ihn ihr denn? Dir wär’s wohl ein gefunden Fressen gewesen, wenn ich ihr gleich den Absagebrief in der Tasche mitgebracht hätte? Nun, sei nur ruhig; in Rübeland bin ich auch gewesen, und deinen habe ich gleichfalls gesprochen. Das ist ein höflicher Mensch, sonst hätte man ihn auch nicht zum Fremdenführer in der Baumannshöhle gemacht. Der weiß ein Wort mit den Damen zu sprechen! Und in Goslar ist er auch gewesen und hat sich recht ›amüsiert‹ — «

»Und ich schlage ihm alle Knochen entzwei, wenn er sich hier wieder am Brocken blicken läßt!« rief Riekchen, die duftenden Bohnen in ihrer Pfanne schüttelnd und zu gleicher Zeit zwischen die flackernden, krachenden, knackenden Tannenscheite fahrend, als habe sie eine Million Sünder am weiblichen Herzen im ewigen Höllenfeuer zu rösten. »Sonst weiß ich aber auch gar nicht, weshalb Sie mir das erzählen, Herr Rat. Was geht es denn mich an, ob er nach Goslar oder ob er nach Amerika gegangen ist?«

»Puh,« sagte Scholten, »meinetwegen wollen wir uns nächsten Sommer wiedersprechen. Jetzo aber brennt meine Pfeife, und — Lieschen, ich habe eine Ahnung, daß er’s nächste Woche möglich macht und sich heraufschleicht, und wenn es auch nur wäre, um dem Linchen aus den Goslarschen Farbensümpfen zu zeigen, daß hinter den Bergen auch noch Leute wohnen. Ich empfehle mich Ihnen, meine Damen.«

Er war aufgestanden von seiner Wasserbank, und zwar ganz zur richtigen Minute; denn im Vorderhause, in der Gaststube, hatte sich ein Tumult erhoben, ein recht lebhaftes Aufeinanderdrängen menschlicher Leidenschaften; in Mayers Hause zu Elbingerode konnte es kaum munterer hergegangen sein.

»Dazu steigt man denn aus dem Qualm der Städte herauf«, murmelte der Justizrat, doch eine weitere Bemerkung zu machen, fand er augenblicklich nicht die gehörige Zeit. Aus der offenen Tür der Gaststube stürzte ihm die Wirtin auf den Hals, faßte ihn am Oberarm und schleppte ihn in die Haustür, auf die Landstraße deutend:

»Da steht er, der Kujon! Und jetzt laß ihn nur vor Gericht gehen und einen falschen Eid schwören wegen Mißhandlung! Sie sind unser Zeuge, daß wir ihn so heil und ganz gelassen haben, als es nur möglich war; aber wo ihn mein Mann angriff, da riß es, und das war nicht unsere Schuld. Brauche ich mir in meinem eigenen Hause von solch einer Vogelscheuche Impertinenzien sagen zu lassen? Aber wir haben es ihm auch gesagt, und kein Mensch soll es meinem Mann verdenken, daß er ihn erst über den Tisch zog und dann vor die Tür warf.«

»Da wundert’s mich denn doch, daß der Kujon nicht noch da liegt«, sagte Scholten, seinen Arm von dem Griff der robusten Frau befreiend. Er rückte auch die Brille wieder zurecht, nahm seinen Wanderknittel unter den Arm und ging über die Straße dicht an das so energisch in die freie Natur beförderte Individuum heran, besah es von oben bis unten und sagte:

»Mensch, wenn du wirklich ein Mensch und keine Vogelscheuche bist, wie siehst du aus, Mensch?!«

»Herrje, Herrje, Herr, heren Se, wenn ich es Sie nur selber wüßte!«

»Also wirklich, wenigstens der Sprache nach, ein deutscher Bruder!«

»Ei ja,« sagte der Zerzauste, immer noch verstört und wie in einem schlimmen Traume um sich stierend, »aus Leipzig bin ich Sie und meines Zeichens ein Schneider, und die Poesie und die Lektüre, wissen Sie, von Schiller und von Goethes ›Faust‹ hat mich da auf den Blocksberg geführt. Als ein anständiger Mensch bin ich nach oben gegangen und — so komme ich wieder herunter. O je, Herrje, komme ich Sie da in die Wirtschaft — «

»In dem Hause da einzig und allein hat man Sie so zugerichtet? «