KEVIN HEARNE

Aufgespießt

DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 8

Dieser Band enthält auch die Erzählung

VORSPIEL ZUM KRIEG

Aus dem Amerikanischen
von Friedrich Mader

Impressum

Für Nigel in Toronto

 

 

 

Die für die Handlung wichtigsten Götternamen sind

in VERSALIEN gesetzt.

 

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»staked. The Iron Druid Chronicles 8«

im Verlag Ballantine Books, New York.

»Prelude to War« in »Three Slices«

© 2015/2016 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Illustration des Originalverlags © Gene Mollica

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98133-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11019-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.




Die Chronik des Eisernen Druiden
Was bisher geschah

Atticus O’Sullivan, im Jahr 83 vor Christus als Siodhachan Ó Suileabháin geboren, war einen Großteil seines Lebens als Druide auf der Flucht vor AENGHUS ÓG, einem Gott aus den Reihen der TUATHA DÉ DANANN. AENGHUS ÓG wollte Fragarach zurückhaben, ein magisches Schwert, das Atticus im zweiten Jahrhundert gestohlen hatte, und die Tatsache, dass Atticus gelernt hatte, dauerhaft jung zu bleiben, und einfach nicht sterben wollte, war ihm ein Dorn im Auge.

Als AENGHUS ÓG Atticus in seinem Versteck in Tempe, Arizona, aufspürt, entschließt sich Atticus zum Kampf, statt weiter zu fliehen. Mit dieser schicksalhaften Entscheidung löst er ohne sein Wissen eine Kettenreaktion von Ereignissen aus, die über ihn hereinbrechen wie eine Lawine.

In Gehetzt gewinnt er in Granuaile eine Schülerin, birgt eine Halskette, die der indischen Hexe Laksha Kulasekaran als Zufluchtsort für ihren Geist dient, und entdeckt, dass ihn seine Eisenaura vor dem Höllenfeuer schützt. Mit Unterstützung der MORRIGAN, BRIGHIDS und des örtlichen Werwolfrudels besiegt er AENGHUS ÓG. Dabei fügt er jedoch einem Hexenzirkel Schaden zu, der den Einzugsbereich von Phoenix bisher vor gefährlicheren Bedrohungen schützte.

Mit den Folgen sieht sich Atticus im zweiten Band Verhext konfrontiert, als ein rivalisierender und weitaus tödlicherer Zirkel den Schwestern der Drei Auroras ihr Territorium streitig macht und eine Gruppe von Bacchantinnen in Scottsdale Fuß zu fassen versucht. Atticus trifft Vereinbarungen mit Laksha Kulasekaran und dem Vampir Leif Helgarson, damit sie ihm helfen, die Stadt von diesen Bedrohungen zu befreien.

Im dritten Band Gehämmert muss Atticus seine Versprechen einlösen. Sowohl Laksha als auch Leif verlangen, dass Atticus nach Asgard zieht und den ASEN in ihren Methallen die Stirn bietet. Mit einem handverlesenen Team von Recken fällt Atticus zweimal in Asgard ein, obwohl ihn die MORRIGAN und JESUS warnen, dass das keine gute Idee ist und er stattdessen lieber sein Wort brechen sollte. Es kommt zu einem epischen Blutbad mit großen Verlusten aufseiten der ASEN: unter anderem sterben die NORNEN und THOR, und ODIN wird schwer verwundet. Der Tod der NORNEN, die einen Aspekt des Schicksals darstellen, führt dazu, dass die alten Prophezeiungen über den Endkampf Ragnarök nicht mehr zutreffen und dass die Unterweltgottheiten HEL und LOKI sich ohne große Gegenwehr der ASEN an ihr finsteres Werk machen können. Allerdings wird Atticus bei einem seltsamen Zusammentreffen mit dem finnischen Helden Väinämöinen auch an eine andere Prophezeiung erinnert – die der Sirenen an Odysseus. Von nun an treibt ihn die Sorge um, dass es vielleicht nur noch dreizehn Jahre dauern könnte, bis die Welt bei einem alternativen Ragnarök in Flammen aufgeht.

Weil ihm die Konsequenzen seines leichtfertigen Handelns immer stärker auf den Nägeln brennen und er zudem für die Ausbildung seiner Schülerin Zeit braucht, täuscht Atticus im vierten Band Getrickst mithilfe von COYOTE seinen Tod vor. Tatsächlich taucht HEL auf, die Atticus für die dunkle Seite zu gewinnen hofft, nachdem er so viele ASEN getötet hat. Atticus weist ihr Angebot schroff zurück. Später wird er von Leif Helgarson verraten und entrinnt nur knapp dem Mordanschlag eines alten Vampirs namens Zdenik. Dennoch endet das Buch mit der Hoffnung, dass Atticus seine Schülerin Granuaile ungestört ausbilden kann.

In der Erzählung »Zwei Raben und eine Krähe« erwacht ODIN aus seinem langen Genesungsschlaf und geht eine Art Waffenstillstand mit Atticus ein, unter der Bedingung, dass der Druide THORS Rolle im Endkampf Ragnarök übernimmt, falls es dazu kommt – und sich bis dahin vielleicht noch um ein paar weitere Details kümmert.

Im fünften Band Erwischt ist Granuaile nach zwölf Jahren Ausbildung bereit für ihre Bindung an die Erde, doch es hat den Anschein, als hätten die Feinde des Druiden nur auf sein Wiedererscheinen gewartet. Atticus muss sich mit Vampiren, Dunkelelfen, Feenwesen und dem römischen Gott BACCHUS herumschlagen. Vor allem Letzteres weckt die Aufmerksamkeit eines der ältesten und mächtigsten Pantheons der Welt.

Sobald Granuaile eine vollwertige Druidin ist, muss Atticus mit ihr durch ganz Europa fliehen, um den Pfeilen von DIANA und ARTEMIS zu entrinnen, die ihm übelnehmen, wie er BACCHUS und die Dryaden am Olymp im fünften Buch behandelt hat. Damit Atticus, der im sechsten Buch Gejagt wird, einen Vorsprung bekommt, opfert die MORRIGAN ihr Leben. Rennend und kämpfend entzieht er sich einem koordinierten Mordkomplott und gelangt nach England, wo er sich die Hilfe von Herne dem Jäger und von FLIDAIS, der irischen Jagdgöttin, sichert. Dort gelingt es Atticus, die OLYMPIER zu besiegen und mit ihnen ein fragiles Bündnis gegen HEL und LOKI auszuhandeln. Am Ende des Buchs entdeckt er, dass sein Erzdruide in Tír na nÓg auf einer Zeitinsel gefangen ist. Als er ihn befreit, ist die Laune seines alten Lehrers so schlecht wie eh und je.

Im siebten Buch Erschüttert findet der Erzdruide Owen Kennedy einen Platz im Tempe-Rudel und hilft Atticus und Granuaile bei der Vereitelung eines gegen BRIGHID gerichteten Putschversuchs in Tír na nÓg. Granuaile hat in Indien eine harte Auseinandersetzung mit LOKI, die sie für immer verändert, und ein Sendbote des alten Vampirs Theophilus ermordet einen von Atticus’ ältesten Freunden.

Außerdem kommen im Verlauf der Handlung gelegentlich auch Pudeldamen und Würste zur Sprache.

Vorspiel zum Krieg

1

Im Tieflandmoor wurde es auf einmal merkwürdig still. Das eben noch so laute Lärmen der Insekten und das kehlige Krächzen der Lurche in den Stunden vor der Morgendämmerung hatte sich zu einem nervösen Keckern abgeschwächt, und das lag nicht an der Anwesenheit von mir oder Oberon. Wir waren hier nicht die Jäger. Ich kauerte mich neben meinen Hund ins hohe Gras und legte ihm die Hand in den Nacken.

Weil ich niemanden durch lautes Sprechen anlocken wollte, wandte ich mich über unsere mentale Verbindung an ihn. Ganz leise jetzt. Da schleicht uns jemand nach.

›Wer?‹

Ich schätze, das finden wir raus, sobald er sich auf uns stürzt.

›Sobald … Das ist doch hoffentlich nicht dein Plan, oder? Warten, bis er sich auf uns stürzt?‹

Natürlich möchte ich nicht als Beute enden, aber Wesen mit Zähnen und großem Appetit entscheiden nun mal selber über ihren Speiseplan.

›Ach komm, Atticus! Mach doch einfach deinen Druidentrick. Sprich mit dem Elementargeist, damit er den hungrigen Wesen sagt, sie sollen sich was anderes zum Essen suchen.‹

Das wäre gemogelt.

Den Kopf hin- und herschwenkend, hielt Oberon Ausschau nach irgendwelchen Gefahren, die sich womöglich durch das hüfthohe Schilfgras näherten. Es wuchs hier überall rings um unzählige kleine Tümpel mit stehendem Wasser. ›Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht von meiner mangelnden Charakterstärke, aber wenn es darum geht, nicht gefressen zu werden, bin ich ganz fürs Mogeln.‹

Wir müssen unsere Sinne wieder in Form bringen, Oberon, und hier bietet uns die Natur die Gelegenheit zu einer Bewährungsprobe. Nichts ist so gut fürs Gehör wie ein Rollenwechsel vom Jäger zum Gejagten.

›Also, erstens sind meine Sinne völlig in Ordnung. Und warum muss das zweitens ausgerechnet hier sein? Können wir nicht so ein lustiges Rennen mit Fake-Zombies machen, die einfach bloß haufenweise Schminke im Gesicht haben und uns nicht das Gehirn rauslutschen wollen?‹

Den Grund hab ich dir schon genannt. Wir müssen hier jemanden besuchen.

Wir befanden uns im äußersten Westen von Äthiopien, in einer Wildnis, die inzwischen den Namen Gambela-Nationalpark trug. Das meiste davon waren Gras- und tief liegende Sumpflandschaften, aus denen nur gelegentlich – als eine Art Zugeständnis an die Notwendigkeit topografischer und ökologischer Vielfalt – baumbedeckte Erhöhungen ragten. In der Gegend grasten viele afrikanische Büffel- und Antilopenarten. Von ihnen nährten sich Löwen und andere Großkatzen, und die ansässigen Geier verwerteten die Reste.

›Ach ja, die Wahrsagerin. Da hätte ich übrigens noch eine Frage an dich. Was ist, wenn sie im Morgengrauen aufwacht und in ihren magischen Runen liest, dass sie uns heute wahrsagen soll, bloß dass wir gefressen werden, noch bevor wir hinkommen, und sich daraus ergibt, dass sie heute doch frei hat und ihren Runen auf einmal nur noch die Frage einfällt: Hey, wie läuft’s eigentlich für die Broncos?‹

Was? Oberon, das ist die bizarrste Hypothese aller Zeiten. Sie arbeitet nicht mal mit Runen.

›Na ja, du hast mich eben nervös gemacht. Außerdem hast du meine Frage nicht beantwortet.‹

Die Antwort ist, dass Weissagung nicht so funktioniert. Sie erzählt dir nicht, dass eine bestimmte Zukunft gestrichen wurde, und sie betreibt auch keinen Smalltalk. Wenn sie etwas zeigt, dann schlicht die wahrscheinlichste Zukunft, und da bleibt immer Spielraum für Deutungen. Und selbst wenn du es richtig deutest, können sich die Ereignisse durch neue Entwicklungen immer ändern. Weißt du noch, was Meister Yoda über die Zukunft sagt?

›Schwer zu sehen, in ständiger Bewegung die Zukunft ist.‹

Genau. Komm jetzt, wir müssen weiter. Aber halt die Augen offen und die Nase im Wind.

›Na gut, trotzdem bin ich der Meinung, du solltest mogeln. Ich möchte hier keinen Beitrag zum Kreislauf des Lebens leisten. Hey, wo wir gerade davon reden, ist das hier eigentlich der Teil von Afrika, wo Erdmännchen und Warzenschweine fröhliche Lieder über stressfreies Leben singen?‹

Vermutlich. Weißt du was? Wenn wir ihnen begegnen, darfst du mitsingen.

›Super!‹

So leise wie möglich schlichen wir durch das Moorgebiet; ab und zu produzierten meine Füße in dem zähen Schlamm matschige Geräusche, die ohne das übliche Summen der einheimischen Fauna auf einmal abnorm laut wirkten. Ich war dankbar, dass uns wenigstens der Schleier der Dunkelheit schützte.

Ich hatte für uns beide die Nachtsicht aktiviert, und wir lauschten wachsam auf alles, das unser eigenes Rascheln übertönen mochte. Irgendjemand da draußen war uns auf den Fersen.

Hey, Oberon. Ich wette um eine Wurst mit dir, dass es ein Gepard ist.

›Keine Chance! Als ich zum letzten Mal eine Wette um eine Wurst verloren habe, hast du sie vor meinen Augen verspeist und dabei verzückte Laute von dir gegeben. Von dieser entgangenen Wurst habe ich noch immer Albträume. Außerdem weißt du wahrscheinlich sowieso schon längst, wer da hinter uns her ist.‹

Nein. Ich schwöre, dass ich nicht schummle. Mit deiner feinen Nase wirst du es bestimmt vor mir erschnuppern.

›Bis jetzt wittere ich nur uns und muffiges Moor. Oder nein, warte! Atticus, ich rieche da was Totes …‹

Das war die einzige Vorwarnung, dann stürzte wie aus dem Nichts von links ein Vampir mit ausgestreckten Armen aus dem Gras und warf mich in den Morast. Im letzten Moment riss ich schützend den Unterarm hoch, damit er nicht an meinen Hals kam. Mehr an Gegenwehr war nicht möglich, weil meine Schwerthand unter mir eingeklemmt war. Schon bohrten sich Reißzähne in meinen Arm und lange, scharfe Nägel in meine Schultern.

›Atticus!‹

Bleib weg, Oberon! Der Vampir konnte ihn mühelos töten, und diese Möglichkeit wollte ich dem Blutsauger nicht geben, zumal es für mich ein Leichtes war, ihn zu erledigen. Da Vampire keine Lebewesen sind, lässt GAIA es zu, dass wir sie in ihre Bestandteile auflösen. Der Trick dabei war lediglich, dass man nicht den Löffel abgab, bevor man den Entbindungszauber gesprochen hatte. Ich selbst wäre auf diese Weise einmal fast umgekommen, nachdem mich ein alter, äußerst starker Vampir angefallen hatte. Seitdem hatte ich an einem neuen Anhänger für meine Halskette gearbeitet, der über einen mentalen Befehl eine Bindung ausführte. Dummerweise hatte ich ihn ohne Vampire zum Ausprobieren nicht vervollkommnen können.

Meine Mitstreiterin Granuaile hatte einmal gefragt, warum ich nicht einfach mit Toten übte, da Vampire im Grunde ja nichts anderes waren.

»Ein bisschen mehr sind sie schon«, erwiderte ich. »Ein normaler Toter läuft schließlich nicht rum und trinkt Blut. Vampire haben Magie, die ihrem Körper Vitalität und Stärke verleiht – zu erkennen an der grauen Aura mit den zwei roten Machtzentren in Kopf und Herz. Das muss man also vor allem entbinden, nicht nur das Rohmaterial des Körpers. Und genau das bewirken die altirischen Worte des Zaubers, erinnerst du dich? Sie zersetzen zuerst die Magie, damit sie sich nicht einfach wieder mit dem Körper verbinden kann, sobald dieser zerfallen ist. Deswegen brauche ich echte Vampire zum Üben, damit ich das hinbekomme.«

Bei meinem einzigen bisherigen Versuch hatte ich dem anvisierten Vampir gerade mal so etwas wie ein leichtes Verdauungsproblem zugefügt. Er hatte überrascht gewirkt, aber nicht sonderlich mitgenommen. Trotzdem fand ich es ermutigend. Der Anhänger fand offenbar sein Ziel und zeigte eine gewisse Wirkung. Danach hatte ich weiter an seiner Bindung und Gestaltung gefeilt. Daher hoffte ich, dass er jetzt funktionierte. Ich aktivierte ihn, als der Vampir die Reißzähne aus meinem Arm zog und sich erneut auf meinen Hals stürzte. Der Zauber traf ihn wie ein Schlag in den Solarplexus.

Zuckend spuckte er Blut und drückte die Augen zu, ehe er sie vor Staunen weit aufriss. Er presste die Hand an die Brust, als hätte er einen Herzinfarkt. Sofort stieß ich ihn von mir herunter und begann bereits beim Wegrollen mit den Worten der Auflösung. Zwar erholte sich der Vampir schnell und kam schon wieder auf die Beine, um sich auf mich zu werfen. Doch diesmal war ich auf der Hut und ließ mich nicht einfach zu Boden reißen. Mit einem kurzen Seitenschritt wich ich seinem Angriff aus und beendete im selben Moment die Entbindung. Er zerfiel mit einem lauten Platschen in seinen Kleidern, und sein Kopf zerbarst zu einem Nebel aus Blut und Knochenstaub.

›Hey, der volle Wahnsinn! Weißt du, wie viele Klicks wir auf YouTube kriegen würden, wenn wir das als Film hochladen würden?‹

Eine bessere Frage wäre wohl: Was treibt dieser Vampir hier draußen? Oder vielleicht auch: Wie sollte ich meine Klamotten wieder sauberkriegen? Ich war mit Schlamm verschmiert – wie kaum anders zu erwarten, wenn ich mich darin herumwälzte. Außerdem musste ich mich um meine Verletzungen kümmern. Ich aktivierte den Heilanhänger und ließ die belebende Kraft GAIAS auf mich wirken.

›Danach wollte ich gleich als Nächstes fragen. Zuerst natürlich noch, ob bei dir alles klar ist.‹

Ja, danke. Alles klar. Der Biss wird schnell verheilen. Trotzdem sollten wir uns für alle Fälle beeilen. Ich mach mir Sorgen um Mekera.

Der Anhänger war noch nicht ganz so weit. Er hatte offenkundig das Machtzentrum im Herzen des Vampirs angegriffen, ohne es zu zerstören, und bei seinem Kopf hatte sich gar nichts getan, bis die mündliche Auflösung zu Ende gesprochen war. Ich musste definitiv noch weiter daran herumbasteln. Die Umgestaltung eines strukturierten verbalen Befehls in einen mentalen in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem kalten Eisen meines Amuletts war so knifflig, dass ich für die Vollendung eines Anhängers in der Regel mehrere Jahre benötigte.

Halt Augen und Nase offen nach weiteren Vampiren, mahnte ich Oberon. Zügig jetzt.

Mein Hund passte sich mühelos meinem beschleunigten Schritt an, und bald darauf gelangten wir aus dem Moor in etwas trockeneres Grasland, das mit zunehmender Geländehöhe in eine Art Strauchsavanne überging. Mein letzter Besuch in diesem Winkel der Welt lag so lange zurück, dass es in der Nähe nur wenige verknüpfte Bäume gab, und auch die Waldläufer hatten ihre Pflichten hier augenscheinlich ein wenig vernachlässigt. Daher mussten wir ein gutes Stück rennen.

Mekera lebte aus freien Stücken weitab vom Schuss. Sie hatte es mit modernem Komfort probiert und festgestellt, dass Dinge wie Elektrizität zwar tatsächlich komfortabel waren, sie aber auch zu einem Leben in einer Stadt mit vielen anderen Menschen zwangen, und Menschen ertrug sie, wenn überhaupt, nur in ganz kleinen Dosen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg und der Besetzung Äthiopiens durch die Italiener hatte sie nicht mal mehr Lust auf eine kleine Dosis. Ich vermutete, dass ihr irgendwann in dieser Zeit etwas zugestoßen war. Was genau, hatte ich nicht mitgekriegt, weil ich in den französischen Pyrenäen damit beschäftigt war, Menschen vor dem Dritten Reich zu retten. Und als ich sie später besuchte, wollte sie nicht darüber reden. Aus ihrem verbitterten Blick schloss ich, dass ihr unbegreiflich war, wie die Welt dazu kam, noch das Geringste von ihr zu fordern. Aber weil ich einer der ganz Wenigen war, die ihr einen bestimmten Wunsch erfüllen konnten, schlug sie mir eine Abmachung vor: Ich sollte ihr zu einer abgelegenen Einsiedlerklause verhelfen, und sie wollte mir im Gegenzug mit ihrer Kunst alle Orte auf der Welt prophezeien, an denen ich mich am besten vor AENGHUS ÓG verstecken konnte.

Eine einsame Felszunge mitten in der Savanne, die wie eine Festung auf eine Herde von Wiederkäuern hinabblickte, schrie förmlich nach der Verwendung als geheimer Unterschlupf. Und so haute ich mithilfe des örtlichen Elementargeistes einen Eingang aus dem Fels und baute eine schattige Veranda. Alles andere lag unterirdisch und war versiegelt mit unporösem Stein, sodass in der Regenzeit nicht alles überschwemmt wurde. Mekera hatte einen Brunnen mit klarem, sauberem Wasser, und in der kühlen untersten Ebene ihres Verstecks konnte sie verderbliche Güter aufbewahren. Alles in allem kam sie gut zurecht.

In den Neunzehnhundertneunzigern, bevor ich nach Tempe zog und Oberon zu mir nahm, gab sie schließlich den Verlockungen der Modernität nach und bat mich in einem Brief, ihre Wohnung mit Elektrizität zu versorgen. Allein dass sie mir diesen Brief nach San Diego geschickt hatte, war eine Leistung, weil ich erst seit zwei Wochen dort war und niemandem davon erzählt hatte. Sie wünschte sich einen Herd und einige andere moderne Errungenschaften, und dafür brauchte sie Windmühlen. Die Einrichtung einer Küche und eines Labors für sie war ein herausforderndes und äußerst unterhaltsames Projekt. Vor allem weil als Lohn für meine Arbeit eine exakte Vorhersage zu dem Thema winkte, wo ich meinen besten Freund finden konnte. Ich hatte schon viel zu lange ohne einen tierischen Gefährten auskommen müssen und fand, dass die Zeit für einen guten Hund reif war. Ohne einen solchen vertrauten Freund lief man Gefahr, zu verbittern und sich von der Welt abzuwenden wie Mekera.

»In Massachusetts gibt es ein Heim für irische Wolfshunde«, verriet sie mir zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten gerade mit der Treulosigkeit ihres aktuellen Präsidenten beschäftigt waren. »Und wenn du dort genau an diesem Tag erscheinst, wirst du ihn unmittelbar nach seiner Ankunft erwischen.«

Das war wichtig, weil Heime die aufgenommenen Tiere immer sterilisieren und kastrieren. Ich fing Oberon also ab, bevor er unters Messer kam, und auch Orlaith war noch nicht sterilisiert, als Granuaile sie abholte. Ich freute mich schon auf die Welpen, die die beiden eines Tages haben würden.

Ich erzählte Oberon nie, wie ich ihn entdeckt hatte und welches Schicksal ihn erwartet hätte, wenn ich nur einen Tag später eingetroffen wäre. Ich wollte nicht, dass er von Albträumen heimgesucht würde.

Obwohl es noch ganz früh am Morgen und am grauen Himmel nur ein Hauch des nahenden Sonnenaufgangs zu erahnen war, saß Mekera in einem Faltstuhl auf der Veranda, als wir nach dem erfrischenden Lauf ohne Hilfe der Erde mit erhöhtem Puls ankamen.

»Hallo, Mekera.«

Ihr Gesicht verriet kein Wohlwollen für einen alten Bekannten, und ihre Stimme klang mürrisch. »Hm. Ich hatte schon so ein Gefühl, dass du früher oder später aufkreuzt. Vielleicht nicht unbedingt so dreckverschmiert, aber trotzdem: gutes Timing. Der Kaffee ist schon fast fertig. Falls du Hunger hast, es gibt Käse und Injera.« Damit meinte sie das in Äthiopien beliebte Fladenbrot aus Sauerteig. Sie erhob sich. Sie trug eine lange, weiße Leinenrobe, die an den Seiten bis über die Hüften hinauf geschlitzt war, mit einem fünf Zentimeter breiten Band aus grüner und goldener Stickerei um den Hals, das in der Mitte zusammentreffend in einem einzigen Streifen bis zu den Knien reichte und dann in einem abbessinischen Kreuz auslief. Es war die traditionelle Kleidung der Habescha-Volksgruppe, die schon vor langer Zeit zum Christentum bekehrt wurde. Früher war Mekera eine Dabtara der Eritreisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche gewesen, hatte dieses Amt aber wohl zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgegeben. Ihr Haar fiel natürlich herab, und sie hatte das Äußere einer Frau um die vierzig. Eine Art Kakihose steckte in abgetragenen dunkelbraunen Stiefeln, die ihr offenbar als minimaler Schutz vor Schlangenbissen dienten. Mit der Hand am Türgriff hielt sie inne und warf einen Blick auf Oberon. »Großer Hund. Ist das der, von dem ich dir bei deinem letzten Besuch erzählt habe?«

»Ja.«

»Er wird hoffentlich nicht mein Frühstück auffressen oder darauf pinkeln.«

»Nein, er ist gut erzogen.«

›Was? Dafür muss man doch nicht gut erzogen sein! Wer pinkelt denn aufs Frühstück, Atticus! Was für ein Hund würde je … Moment. Gibt es hier in der Gegend etwa solche Hunde? Solche Frühstücksschänder?‹

Bestimmt gibt es hier wilde Hunde. Aber ob sie so wild sind, weiß ich nicht.

»Na, dann kommt rein und setzt euch hin.« Mekera zog die Stahltür auf und entließ damit hörbar einen Schwall kaffeeduftende Luft aus dem Inneren.

›Hab ich das gerade richtig verstanden? Sie hat dir von mir erzählt?‹

Ja, ihr hab ich es zu verdanken, dass ich dich gefunden habe.

›Wenn das so ist, werde ich ganz bestimmt auf nichts pinkeln.‹

Wir folgten ihr über die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Es war eingerichtet mit einem Steintisch und vier Holzstühlen, die ich höchstpersönlich zusammengebunden hatte, und führte in die von mir mit modernen Haushaltsgeräten ausgerüstete Küche. Wie ich bemerkte, verfügte Mekera noch immer über einen Vorrat an Kerzen, obwohl sie für den Großteil ihrer Beleuchtung auf energiesparende Glühbirnen umgestellt hatte.

»Du hast mich erwartet?«, fragte ich, als ich mir in ihrer Spüle den Dreck von Händen und Armen wusch.

Sie schenkte Kaffee ein, den sie wie ich schwarz trank. »Ja.« Sie trug die Tassen zum Tisch und wartete, bis ich mich abgetrocknet hatte. Nach einem dankbaren ersten Schluck fuhr sie fort. »Allerdings habe ich dich nicht in einer Weissagung gesehen – aufgrund der jüngsten Ereignisse war dein Erscheinen einfach logisch zu erwarten. Bist du draußen über den Handlanger gestolpert?«

Stirnrunzelnd schaute ich sie an. »Äh, welchen Handlanger?«

»Den Vampir-Handlanger. Ich habe was gegen Stalking, trotzdem schleicht mir der Kerl die ganze Zeit nach. Beobachtet mich untertags. Meine Tür zumindest. Hat bestimmt auch mitgekriegt, wie du hier reingekommen bist.«

»Also, ich habe ihn nicht gesehen.« Ich fluchte auf mich, weil ich mich Mekeras Klause nicht vorsichtiger genähert hatte. »Aber ich glaube, den Vampir habe ich vor dem Morgengrauen erwischt – deswegen bin ich auch so schmutzig.«

»Den Vampir hast du erwischt?« Eine erhobene Augenbraue belegte Mekeras leises Staunen. »Na ja, spielt alles keine Rolle. Der Handlanger wird dich melden, und dann wird vor Ende der Nacht ein ganzer Haufen von Vampiren auftauchen. Wahrscheinlich habe ich gerade meinen letzten Sonnenaufgang hier erlebt. Kein Wunder, dass ich nicht sehen konnte, was los ist, wenn du dich in der Gegend rumtreibst. Dein Amulett bringt wirklich alles durcheinander.«

»Ich weiß. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Ich traue meinen eigenen Weissagungen nicht mehr. Außerdem war das sowieso nie eine große Stärke von mir.«

Mekera deutete mit dem Finger auf meine Kehle. »Das liegt alles an diesem kalten Eisen. Nimmst du das Ding denn nie ab?«

»Ich könnte schon, aber dann verliere ich seinen Schutz. Ziemlich riskant für mich zurzeit. Und da ich gern was über meine Zukunft erfahren möchte und das Amulett mit Sicherheit auch in Zukunft tragen werde …«

»… kannst du dich nicht darauf verlassen, was du siehst, wenn du es nicht anhast«, ergänzte Mekera.

»Genau.«

»Du hast einen langen Weg auf dich genommen, um etwas über dein Schicksal zu erfahren. Sind die Wahrsager auf der anderen Seite des Planeten alle beschäftigt?«

In letzter Zeit hatte ich vor allem auf die MORRIGAN gehört, die inzwischen von uns gegangen war. Und die Lage bei den TUATHA DÉ DANANN war momentan auch nicht unbedingt günstig. »Ich traue ihnen nicht.«

»Hm. Das heißt, mir traust du? Das solltest du nicht.«

»Warum denn nicht? Der Tipp, den du mir damals im sechzehnten Jahrhundert gegeben hast, dass Kaffee der nächste große Renner wird, war goldrichtig.« Ich zeigte auf meine Tasse. »Damit habe ich den größten Teil meines Vermögens verdient.«

Mekera knurrte unbestimmt. »Ist das so? Und was ist mit diesem Vermögen passiert?«

»Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls hat sich ein Kerl namens Werner Drasche Zugang zu meinen Konten verschafft und sie aufgelöst. Das ganze Geld ist weg.«

»Die Geschichte musst du mir nicht erzählen, die kenne ich schon. Ich habe ihm gesagt, er soll Kodiak Black aufspüren, wenn er an dich rankommen will.«

Ich zuckte zusammen, und mir wurde ganz kalt in der Magengrube. Kodiak Black und mich hatte eine lange Freundschaft verbunden. Ich hatte ihn schon kennengelernt, bevor der größte Teil der Alten Welt von der Neuen Welt gehört hatte. Die Sommer verbrachte er als riesiger Bär und den Rest des Jahres als Mensch – im Winterschlaf, wie er das nannte. Als sich der Kontinent allmählich mit Menschen füllte, die nicht besonders viel Rücksicht auf die Natur nahmen, tat ich mein Möglichstes, damit die Strecken der von ihm so geliebten Lachswanderungen in Alaska offen und unverseucht blieben, und er kümmerte sich im Gegenzug um einen Großteil meiner Finanzen, nachdem sie einen Umfang erreicht hatten, der einen Verwalter nötig machte. Diese Tätigkeit hatte ihn nun das Leben gekostet, und die Erinnerung daran ließ mich erschauern. Ich hatte ernste Zweifel, dass sein Geist noch existierte, denn der arkane Lebenszehrer hatte alles Leben aus ihm herausgesaugt.

»Ich hab dir ja gesagt, du sollst mir nicht vertrauen.« Mekera zuckte die Achseln.

»Du hast mich verraten

Diese Bemerkung trug mir ein höhnisches Grinsen ein. »Ich hab dir nie einen Treueeid geschworen. Ja, ich hab dich verraten.«

»Warum? Was hab ich dir getan?«

»Nicht das Geringste, Siodhachan. Es ist nicht so, dass ich was gegen dich habe. Dieser Irre mit dem Ascot-Halstuch wollte mich einfach abmurksen. Ist hier mit seinem eigenen Schwarm von Vampiren aufgekreuzt, die mich alle angeschaut haben wie einen köstlichen Imbiss. Sie haben mich so scharf belauert, dass sie jede Lüge sofort bemerkt hätten. Ich musste ihm alles erzählen, damit ich am Leben bleibe. Hat er Kodiak etwa umgebracht?«

»Ja.«

Sie ließ den Kopf sinken und sprach mit leiser Stimme weiter. »Das tut mir sehr leid. So weit hätte er nicht gehen müssen.«

Das war so selbstverständlich, dass ich nicht darauf einging. »Warum hat er dich überhaupt leben lassen, nachdem du ihm geholfen hattest? Das klingt gar nicht nach Drasches Stil.«

Mekera blickte auf. »Er hat sich überlegt, dass du vielleicht zu mir kommst und dass er dich dann kriegt. Und siehe da!« In gespieltem Staunen riss sie die Augen auf und breitete die Arme aus wie eine Gameshow-Moderatorin. »Hier bist du!«

Ich warf einen nervösen Blick zum Eingang. »Drasche ist da draußen?«

»Nein, aber du kannst darauf wetten, dass er bald anrauscht.«

»Da können wir schon längst wieder weg sein.«

»Du und der Hund? Klar. Mir hilft das allerdings nicht.«

»Ich habe auch dich gemeint. Du kannst mitkommen.«

»Mir gefällt es hier. Ich habe hier mein Labor, meinen Himmel und keine Werbepost. Ich hab keine Lust auf einen Umzug.«

»Von mir aus, bleib, wenn du willst. Aber was du mir angetan hast – was du Kodiak angetan hast –, musst du wiedergutmachen.«

In ihren Augen blitzte es, und sie ließ den Finger erbost in meine Richtung schnellen. »Ich habe weder dir noch Kodiak was angetan. Was passiert ist, geht auf das Konto von diesem Lebenszehrer. Ich habe nur meinen Arsch gerettet, und dafür schulde ich dir nichts. Möchtest du über Verrat reden? Dann denk mal drüber nach, woher Drasche wusste, wo er mich findet.«

»Von mir nicht.«

»Das wollte ich damit auch nicht andeuten. Was ich damit sagen will, ist: Jemand, den du kennst, hat ihn mir auf den Hals gehetzt.«

»Wer?« In mir stieg bereits eine schreckliche Ahnung auf.

»Leif Helgarson.«

»Verdammt.« Ich mahlte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. »Woher hat er überhaupt gewusst, dass du hier bist?«

»Er hat mich 1995 aufgespürt; wie genau, weiß ich nicht. Hat mir erzählt, dass er die besten Wahrsager abklappert, weil er unbedingt erfahren will, wo er den letzten Druiden der Welt finden kann.«

»Und dabei hat er dir gedroht, so wie es auch Drasche getan hat, und deswegen hast du ihm verraten, dass ich Ende der Neunziger sehr wahrscheinlich in Arizona auftauchen werde.«

»In Tempe, um genau zu sein. Ich wusste nicht, ob du wirklich dort erscheinst oder nicht. Und er musste mir auch gar nicht drohen. Er hat mich einfach bezirzt, und ich habe alles ausgeplaudert.«

Am liebsten hätte ich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ich erinnerte mich noch gut, wie Leif davon erzählt hatte, dass er im achtzehnten Jahrhundert FLIDAIS begegnet war und auf ihren Rat hin in einem Wüstengebiet der Neuen Welt auf mein Erscheinen gewartet hatte. Damals hatte ich das einfach geschluckt, weil ich unbedingt mein ihm gegebenes Wort halten und nicht in Erwägung ziehen wollte, dass er ein falsches Spiel mit mir trieb. Jetzt erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was das für ein Blödsinn war. FLIDAIS hätte ihm nie einen Rat erteilt, sondern ihn wahrscheinlich sofort aus Prinzip aufgelöst, wenn sie ihm je begegnet wäre. Nein, nur dank Mekeras Information konnte er nach Tempe reisen, sich dort beim Werwolfrudel einschmeicheln und sich nach meinem Auftauchen an mich heranmachen.

Das hieß im Umkehrschluss natürlich, dass Drasche und Leif noch immer miteinander redeten. Und sogar miteinander konspirierten. Eigentlich hatte ich geglaubt, Drasche in Frankreich gegen Leif aufgebracht zu haben, doch anscheinend hatte ich nicht genügend Zweifel gesät. Vermutlich war mir Leif einfach überlegen, was das Manipulieren von Leuten anging. Inzwischen fragte ich mich sogar, ob er nicht auch sein Unwissen über moderne Sprachgepflogenheiten bloß vorgetäuscht hatte, um sich mit dieser scheinbaren Schwäche einen menschlichen Anstrich zu geben. Zum Beispiel hätte er wohl Anstoß genommen an Mekeras Ausdruck abklappern, ich hätte ihm diesen Ausdruck mit einem Gefühl der Überlegenheit erklärt – und wäre ihm damit wieder einmal auf den Leim gegangen.

»Warum hat er dich eigentlich am Leben gelassen?« Dann fiel mir etwas anderes ein. »Du hättest mich doch warnen können, als ich deine Klause umgebaut habe und du mir erzählt hast, wo ich Oberon finde.«

»Ich habe ihm das Gleiche gesagt wie dir: Ich kümmere mich um mich selbst und bin dir nichts schuldig. Er fand das verständlich.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Außerdem hat er mir erklärt, dass er wiederkommt, falls du bis zur Jahrtausendwende nicht erscheinst.«

»Aha, also doch eine Drohung.«

Sie streckte die Hand vor wie ein Stoppschild. »Wie es der Zufall will, muss mein Arsch schon wieder gerettet werden, weil ich mich diesmal wahrscheinlich nicht herausreden kann. Also mache ich die Weissagung, die du brauchst, wenn du mich vor Werner Drasche und den Vampiren schützt, bis du sie alle vernichtet hast. Denn das ist doch dein Ziel, oder?«

Schockiert starrte ich sie an. »Ich kann nicht glauben, dass du mich um einen Gefallen bittest, nachdem du gerade zugegeben hast, dass du mich zweimal hintergangen hast.«

»Ich bitte dich nicht um einen Gefallen. Ich nenne bloß den Preis, den meine Dienste wert sind. Dank mir hast du diesen Hund gefunden, und ich habe dafür gesorgt, dass dich dieser Gott nicht aufspürt, vor dem du auf der Flucht warst.«

»AENGHUS ÓG hat mich in Tempe aufgespürt«, widersprach ich.

»Nur weil du zu lang geblieben bist.« Sie schloss ein Auge und zielte mit dem Finger auf mich. »Zehn Jahre, das habe ich dir eingeschärft, aber du hast dich nicht daran gehalten, richtig?« Zufrieden registrierte sie mein resigniertes Seufzen. »Also dann. Ich sage dir die Zukunft voraus, und du lässt dir was für meine Sicherheit einfallen.«

»Im Grunde bin ich damit einverstanden«, erklärte ich, »aber hier kann ich dich wirklich nicht schützen. Ich kann dir höchstens anbieten, dass ich dich an einen für die Vampire unerreichbaren Ort schaffe, bis alles vorbei ist, und dich danach wieder hierherbringe.«

Misstrauisch zog sie die Augen zusammen. »Ist das denn auch ein netter Ort, von dem du da redest? Nicht etwa so ein Loch in irgendeiner Stadt?«

»Keine Sorge. Ich finde bestimmt was Nettes. Wenn du willst, nehme ich dich mit in ein anderes Gefilde.«

»Was für eins?«

Ich überlegte, wo sie zugleich sicher und unbehelligt wäre. »Wie wär’s mit dem irischen Gefilde Emhain Ablach? Das heißt so viel wie Insel der Äpfel. Da gibt es keine Vampire. Und auch keine Lebenszehrer. Nicht einmal Werbepost.« Und praktisch keine Feenwesen, mit Ausnahme der seetüchtigen. Das Gefilde lag in MANANNAN MAC LIRS Zuständigkeitsbereich, und ohne seine Erlaubnis verirrten sich keine Feen dorthin. Ihm machte es sicher nichts aus, wenn dort eine Weile jemand zu Gast war.

»Und was ist mit Menschen? Oder deinen irischen Göttern?«

»Menschen gibt’s dort nicht. Der Gott schaut nur selten vorbei, und ich werde ihn auf jeden Fall vorher fragen, ob du dort wohnen darfst. Möglicherweise triffst du ein paar Selkies, aber die lassen dich in Ruhe.«

»Hört sich nicht schlecht an. Also gut, abgemacht. Vorausgesetzt, wir kriegen das mit der Tyromantie noch rechtzeitig hin. Du bist auf Blut aus, daher brauchst du einen Blutkäse.«

»Wie bitte?«

Bei der Erwähnung von Essen musste sich Oberon einschalten. ›Atticus, das klingt illegal. Oder unkoscher. Weiß nicht mehr, was von beiden.‹

Was weißt du denn über koschere Speisen?

›Das kam in einer Fernsehsendung vor. Irgendwie so was, dass man nie Fleisch mit Milchprodukten mischen darf. Blut im Käse wäre da in jedem Fall ein schwerer Verstoß.‹

»Damit meine ich, dass ich zum Gerinnen der Milch Lab von einem Tier brauche«, antwortete Mekera. »Normalerweise nehme ich aus Malven gewonnenes Lab her. Das heißt, wir müssen auf die Jagd gehen.«

›Jagen ist immer eine gute Idee! Aber waren wir nicht gerade noch beim Blutkäse? Entweder ist diese Dame extrem seltsam, oder ich hab was verpasst.‹

Das erkläre ich dir später. Ich wandte mich wieder an Mekera. »Hier hast du kein Lab?«

»Nicht die Art, die für diese Tyromantie nötig ist. Wir brauchen ein Hartebeestjunges. Die Milch habe ich bereits.«

›Hat sie gerade gesagt, dass sie Hartebeestmilch hat?‹

Ja. Man benötigt das richtige Lab für die jeweilige Milch; Schaflab verträgt sich nicht gut mit Kuhmilch und umgekehrt.

›Aber wie hat sie denn ein Hartebeest gemolken?‹

Das ist ein Geheimnis, das ich lieber nicht lüften möchte.

»Also schön«, sagte ich. »Wenn es sein muss, dann lass uns gleich aufbrechen.«

Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, stand sie auf und schnallte sich einen Gürtel mit einem großen Jagdmesser um, der an einem Haken neben der Leiter zum Eingang hing. »Meinen Bogen muss ich nicht mitnehmen, oder? Ihr bringt das Tier zur Strecke?«

»Ja, das übernehmen wir. Weißt du, wo wir diese Kuhantilopen finden?«

Sie schnaubte. »Ich lebe seit 1945 hier, hast du das vergessen?«

»Stimmt.« Als sie sich abwandte, wurde mir erst die Länge dieser Zeitspanne bewusst. Das war praktisch ein ganzes Menschenalter, das sie allein verbracht hatte. Und sie war es noch lange nicht leid und sehnte sich sogar nach noch mehr Einsamkeit.

Mekera stöberte in einem Schrank, bis sie eine Box mit Gefrierbeuteln fand. Sie faltete einen zusammen und steckte ihn in den Gürtel neben die Messerscheide. »Die Hartebeests sind ein paar Kilometer nördlich von hier. Wenn du magst, können wir laufen. Wenn du es eilig hast, kannst du mich auch tragen.« Zum ersten Mal seit meiner Ankunft lächelte sie mich an.

Ich schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass ich mich in einen Hirsch verwandelte und sie auf meinem Rücken reiten ließ, aber ich fand, dass sie mir dafür zu oft in den Rücken gefallen war. »Wir laufen, wie wir sind, und ich lass dir unterwegs Energie zukommen.«

Ihr Lächeln verschwand, und sie zuckte die Achseln. »Wie du meinst.«

Obwohl ich unsere Geschwindigkeit mit GAIAS Hilfe steigerte, brauchten wir für den Weg nach Norden eine Stunde. Endlich erklommen wir einen Hügel mit kniehohem Gras und blickten auf eine Ebene voll grasender Antilopen. Über hundert Tiere streiften dort herum, und ihre Wachen an den Rändern hielten Ausschau nach Räubern wie uns. Ich bemerkte mehrere Junge.

»So, da wären wir«, sagte Mekera. »Bald werden sich hier Hyänen und Geier rumtreiben. Vielleicht sogar ein Löwe. Wenn ihr ein Junges erlegt habt, müsst ihr es bewachen, bis ich hinkomme und den Magen herausnehme.«

Ich ließ den Blick zur Seite gleiten. »Wo du es erwähnst – wie willst du denn sicher hinkommen, wenn hier so viele hungrige Tiere Ausschau nach etwas Langsamem zum Essen halten?«

Mekera sah mir in die Augen. »Du musst natürlich mit dem Elementargeist reden, damit er sie ablenkt.«

›Ha! Jetzt musst du doch mogeln, Atticus.‹

Da hast du recht.

Ich war noch nie ein Freund von Weissagungsformen, die Blut verlangen – deswegen verwende ich Stäbe oder Omen. Aber manchmal ist das der Preis der Magie, und schwächere Formen der Weissagung hätten mir nichts genutzt. Wenigstens war in diesem Fall keine Verschwendung zu fürchten; was wir nicht brauchten, ging in die örtliche Nahrungskette ein.

»Bitte pass auf meine Kleider auf.« Ich zog mich aus und faltete die Sachen zusammen. »Ich sage dem Elementargeist, er soll dich beschützen. Du kannst uns folgen, sobald wir losrennen.«

Mekera nickte nur und nahm wortlos Jeans und Shirt entgegen, bevor ich mich an die Gestalt eines Wolfshunds band. Da sich in der Gegend ein Vampir-Handlanger herumtrieb, wollte ich Fragarach nicht zurücklassen. Also packte ich ihn mit dem Maul und teilte Oberon mit, dass er beim Schlagen der Beute den Vortritt hatte.

›Einverstanden, Atticus.‹

Ich erinnerte ihn daran, dass ihm da etwas ganz anderes bevorstand als bei unserer normalen Jagd auf einen einzelnen Hirsch oder eine kleine Herde. Durch den Wechsel zum Hund hatte sich meine mentale Stimme leicht verändert. ›Das sind mindestens hundert, und wir sind nur zu zweit. Und sie haben Hörner.‹

›Ich weiß. Ich achte auf plötzliche Drehungen.‹

›Wir müssen wirklich schnell sein. Für das, was wir hier vorhaben, bleibt uns bloß noch wenig Zeit.‹

›Roger.‹

›Und halt die Augen auf, damit sich nicht ein anderer Räuber anpirscht und dir die Beute stiehlt. In der Savanne geht es unbarmherzig zu.‹

›Augen, Ohren, Nase weit offen, Atticus‹, beteuerte mein Hund.

›Also gut, dann auf zur Jagd.‹

Im nächsten Moment schossen wir als graue Fellkämme durch das hohe Gras auf unsere Beute zu.

2

Nach dem Gefecht gegen FAND und die Feenwesen steht für mich eine Neubewertung meiner Waffen an. Irgendwann im Kampfgetümmel habe ich Atticus eine Axt aus dem Arm gezogen und sie auf einen Kobold geschleudert. Er war sofort hinüber – kein Zucken, kein letzter verzweifelter Hieb nach mir. Die Sache war erledigt. Das hat mich ins Grübeln gebracht. Hätte ich statt mit einem Messer mit einer Axt auf FAND gezielt, wäre die ganze Schlacht vielleicht beendet gewesen, noch bevor sie so richtig begonnen hatte. Allerdings habe ich mich bei meiner Ausbildung nicht ohne Grund auf Messer konzentriert. Ich kann davon viel mehr mit mir herumtragen und auf Gegner schleudern als schwerere Waffen, und es hat sich auch gezeigt, dass ich mit ihnen sehr treffsicher bin und am besten zurechtkomme. Atticus ließ mich auch ein wenig mit Äxten üben – ich musste fast alles irgendwann ausprobieren –, doch letztlich entschied ich mich dann für Messer, weil ich mit ihnen nach dem Ziehen und Werfen schneller wieder den zweihändigen Griff an meinem Stab einnehmen konnte. Scáthmhaides Stoß- und Schmetterpotenzial kam mir sehr entgegen, und ich fürchtete, auf diese Vorteile verzichten zu müssen, wenn ich eine größere Waffe in mein Arsenal aufnahm.

Inzwischen bin ich zu einem anderen Schluss gelangt: Warum kann ich die Messer nicht behalten und einfach eine Axt hinzufügen? Manchmal ist es einfach zwingend nötig, einen Scheißkerl ohne Schusswaffe aus größerer Entfernung niederzustrecken, und in so einer Situation würde mir eine Waffe in der Art eines Tomahawks – also eine einschneidige Wurfaxt – viel bessere Dienste leisten als ein Messer, vor allem gegen eine Rüstung oder Schutzkleidung. Mit einem Axtkopf könnte ich eine viel größere Wucht entfalten als mit einer Messerspitze.

Schusswaffen wären natürlich auch möglich, aber wenn ich in der Öffentlichkeit mit meinem Stab herumlaufe, halten mich die Leute für harmlos oder höchstens ein wenig verschroben und nicht für eine potenzielle Massenmörderin. Eine zusätzliche Axt am Gürtel würde kaum auffallen, gerade in der Nähe von Ouray, wo man so was gut gebrauchen kann. Alle würden denken, sie ist fürs Feuerholz, und niemand käme auf die Idee, dass sie auch zum Schädeleinschlagen dient.

Atticus ist auf der Suche nach Werner Drasche, und sobald er ihn aufgespürt hat, wird es einen XXXL