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H. D. Klein

Phainomenon

Das Titelbild fehlt!

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Februar 2018

Dieser Roman erschien erstmals 2004 im Wilhelm Heyne Verlag, München

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-571-6
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-572-3

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich

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www.atlantis-verlag.de
Für die Wally,
die mir immer wieder neue Wege eröffnet hat.

Phainomenon (altgriechisch):
das Erscheinende, das was sich zeigt;
das unmittelbar Gegebene

Kapitel 1

Martha sah sich ungeduldig nach ihrem Mann um, der in einem Liegestuhl saß und in einer Illustrierten blätterte. »Robert!«

Er reagierte nicht auf ihren Anruf. Stattdessen schien er gerade in diesem Moment einen besonders interessanten Artikel in seiner Lektüre gefunden zu haben. Er lehnte sich entspannt zurück und hielt dabei umständlich die Zeitung in einer Hand. Mit der anderen tastete er vorsichtig nach seinem Glas Bier, das er in einem Halter an der Stuhllehne abgestellt hatte.

Robert wusste genau, was Martha von ihm wollte. Eigentlich erstaunte es ihn, dass es so lange gedauert hatte, bis sie ihn deswegen ansprach, denn seit fast einer Stunde unterhielt sie sich mit ihrer gemeinsamen Tochter, die Tausende von Kilometern entfernt an irgendeinem luxuriösen Pool in irgendeinem exotischen Land lag. Da die beiden fast jeden Tag miteinander Kontakt aufnahmen, würde ihnen bald der Gesprächsstoff ausgehen und dann musste er als Grund dazu herhalten, die Verbindung und damit den täglichen Tratsch zu verlängern.

»Robert, hörst du? Juliane ist auf den Philippinen!«

Und wenn schon, dachte er und bemühte sich, seine gespielte Konzentration auf die Zeitung möglichst echt aussehen zu lassen. Heute war sie auf den Philippinen, morgen auf den Bahamas und übermorgen sonst wo. Heute fuhr sie ein blaues Auto, morgen ein rotes. Sie konnte es sich leisten, schließlich war sie nach ihrer Scheidung von einem bekannten amerikanischen Arzt mit einem kleinen Vermögen in einen neuen Lebensabschnitt gestartet. Kleines Vermögen! Robert blieb mit seinen Gedanken an dieser untertriebenen Bezeichnung hängen. Zehn Millionen Dollar und ein Penthouse in New York. Und das Häuschen in Key Biscane. Und wahrscheinlich dazu noch ein monatlicher Scheck in beträchtlicher Höhe. Und was machte die Göre damit? Ihr fiel nichts Besseres ein, als sich jeden Tag an einen anderen Strand zu legen. In diesem Alter! Ihm wäre an ihrer Stelle alles andere in den Sinn gekommen, als sich untätig in der Sonne rösten zu lassen.

Er verzog das Gesicht und versuchte, seine Gedanken wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Er war ungerecht, ermahnte er sich. Was sollte sie denn sonst machen? Etwa arbeiten? Blödsinn! Mit zehn Millionen Dollar auf dem Konto würde er ebenfalls keinen Finger rühren. Auch wenn es seiner Meinung nach nicht unbedingt schicklich war, sich mit 37 Lebensjahren so ausschließlich dem Nichtstun hinzugeben. Irgendwie blieb ein schlechter Nachgeschmack.

Robert rekelte sich vorsichtig, um Martha nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Außerdem konnte er sich nicht beschweren, schließlich hatte seine Tochter mit ihrer extravaganten Heirat und der lukrativen Scheidung einen großen Teil zu seinem jetzigen bequemen Leben beigetragen. Er konnte vorzeitig in den Ruhestand gehen und wohnte zudem mit Martha in ihrem geräumigen Haus in der Nähe von Frankfurt. Zusätzlich besaßen sie den kleinen Bungalow in Hanglage im Taunus, wo sie sich gerade aufhielten.

Alles war in Ordnung. Es könnte eigentlich nicht besser sein, wenn nicht …

Er schielte zu Martha hinüber, die immer noch eifrig mit ihrer Tochter sprach.

Es war das Ding auf ihrem Kopf. Man nannte es Cyberfon. Ein Telefon mit integriertem Bildschirm. Man setzte es wie einen Helm auf und konnte damit die audiovisuellen Eindrücke des Senders nahezu real miterleben. Und natürlich umgekehrt.

Martha hatte das neuzeitliche Telefonieren zu ihrem Hobby erkoren. Sie lief nur noch mit dieser grässlichen Haube herum und erlebte die Realität sozusagen im realen Cyberspace. Selbst wenn sie nicht telefonierte, behielt sie den Helm auf und schaltete lediglich die kleine externe Kamera ein, um sich zur Orientierung ihre Umgebung auf den Bildschirm zu holen. Robert hatte es aufgegeben, sie auf diese Unhöflichkeit ihm gegenüber hinzuweisen. Er kannte die Antwort darauf inzwischen auswendig: »Wenn du mit mir nie in Urlaub fährst, muss ich jede Gelegenheit nutzen, mir diese herrlichen Welten ansehen zu können!« Es gab mittlerweile Cybertheken, die über alle möglichen Themen und Informationen aller Länder der Erde verfügten, die man sich bequem auf den Rundumschirm eines Cyberfons legen lassen konnte. Alles war Cyber heutzutage. Cyber-TV, Cybermovies, Cyberspiele, Cybermuseen, Cybersports, Cybernews. Dabei war Robert neuen Entwicklungen gegenüber nicht unaufgeschlossen – warum auch? Er hatte als ehemaliger Ingenieur selbst am Fortschritt mitgearbeitet, für ihn war es verständlich, dass sich die Menschen an neuer Technik begeisterten.

Aber doch nicht seine Martha! Und vor allem nicht in diesem ungezügelten Ausmaß, das schon fast einem Religionsersatz gleichkam. Ständig hatte sie ihre »Cibes« auf dem Kopf, wie das Cyberfon in der modernen Umgangssprache bezeichnet wurde. Inzwischen hatte sie sich sogar daran gewöhnt, manche Haus- oder Handarbeiten »blind« auszuführen. Selbst beim Staubsaugen hatte sie die Cibes angelegt und orientierte sich nur ab und zu über die kleine Außenkamera. Dass ihre Frisur durch das ständige Tragen litt, störte sie nicht. Noch vor wenigen Monaten wäre alleine schon das Aufsetzen von einfachen Kopfhörern eine Zumutung gewesen.

»Robert, jetzt komm doch mal her! Du musst dir den Strand und die Palmen ansehen!«

»Ja, ja, ich komm ja schon!« Er stemmte sich widerstrebend aus dem Liegestuhl hoch und warf die Zeitung missmutig auf den kleinen Tisch vor sich. Nicht, dass ihn Strand und Palmen sonderlich interessiert hätten, aber er tat es seiner Tochter zuliebe, die letztendlich für alle Kosten und Gebühren des Cyberfons aufkam.

Er holte tief Luft, nachdem er sich neben seiner Frau niedergelassen hatte, und setzte das Zweitgerät auf. Im Stehen hätte er mit ernsten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, denn jede unbedachte Kopfbewegung desjenigen, der die Bilder sendete, konnte beim Empfänger ernstliche Gleichgewichtsstörungen auslösen und damit konnte die Übertragung einen ungewollten Balanceakt bewirken.

Kaum hatte er die Cibes übergestülpt, hatte er das Gefühl, eine Zeitreise ausgeführt zu haben. Die grüne Wiese und die Bäume des Taunus waren wie weggewischt. Das Geräusch von donnernder Brandung und im Wind wiegende Palmen umgaben ihn. Die Übertragung war so perfekt, dass er meinte, das salzige Meer zu schmecken und die warme Brise zu spüren. Für einen Augenblick glaubte er sogar, den Duft von Hibiskusblüten und eine Mischung von Sonnenöl und Kokosnuss zu riechen.

Direkt vor sich erblickte er die rot lackierten Fußnägel seiner Tochter, die sich frech auf und ab bewegten.

»Hallo, Kleines, wie geht es dir?«

»Hi, Dad! Natürlich fantastisch, das siehst du doch, oder?«

Dad! Jetzt war er schon zu einem amerikanischen Serienvater mutiert. Aber das brachte wohl die fremde Kultur mit sich, in der sie lebte.

»Es ist einfach herrlich hier! Habt ihr nicht Lust, mich zu besuchen? Ich denke, ich bleibe noch eine ganze Woche hier!«

»Das ist sehr lieb von dir gemeint«, sagte Robert schnell, um Martha zuvorzukommen, weil er nicht sicher war, ob sie nicht spontan zusagen würde. »Aber ich fürchte, daraus wird nichts. Du weißt doch, dass mir das Fliegen nicht gut bekommt!« Das war natürlich eine Lüge, mit der er sich in den letzten Jahren immer wieder vor jeder größeren Reise drückte. Er wollte nicht, dass seine Tochter alles bezahlte, obwohl die Kosten für einen Flug für sie nicht der Rede wert waren, aber er verspürte nicht die geringste Lust, seine eigene kleine Welt zu verlassen.

»Außerdem kann ich ja mit diesen Dingern alles genauso gut von hier erleben, auch wenn ich nichts von dir sehe.«

Sie verstand seine versteckte Anspielung sofort und ein helles Lachen klang laut in seinen Ohren. »Moment, auch das kann ich dir frei Haus liefern!«

Die Palmen wackelten, und Robert hielt sich verkrampft an seinem Stuhl fest, als seine Tochter ihre Cibes abnahm und sie mit den beiden Objektiven der Kamera vor sich auf den Tisch legte. »Na, wie sehe ich aus?«

Sie hätte sich wenigstens etwas anziehen können, dachte Robert, als er auf ihren braun gebrannten und entblößten Oberkörper blickte. Er hörte Martha neben sich entrüstet sagen: »Aber Kindchen!«

»Prima, schön braun bist du geworden«, lenkte er ab. Von ihrem Gesicht konnte er nicht viel sehen, da es von einem großen Sonnenhut und einer noch größeren Sonnenbrille weitgehend verdeckt war.

Um die Peinlichkeit zu überspielen, forderte er sie scherzhaft auf, ihnen etwas vom Hotel oder der Umgebung zu zeigen. Zu seinem Leidwesen ging sie sofort auf seinen Vorschlag ein und nahm ihre Cibes vom Tisch. Robert schloss entsetzt die Augen, als auf seinem Bildschirm die heftigen Bewegungen in einem wirren Streifenteppich aufflackerten. Vorsichtshalber machte er sie auch während der ausführlichen Besichtigungstour nicht wieder auf, die im Anschluss folgte. Entspannt lauschte er der erklärenden Stimme seiner Tochter, die von fremd klingenden und exotischen Hintergrundgeräuschen untermalt wurde. Es dauerte nicht lange und er war eingeschlafen.

Vier Stunden später befanden sie sich auf dem Weg zurück nach Frankfurt. Nach der herbstlichen Abenddämmerung war es rasch dunkel geworden, und Robert hatte das computergesteuerte Lenksystem des Chryslers aktiviert. Ohne menschliche Beeinflussung glitt der luxuriöse Wagen elegant über die enge Landstraße. Natürlich war auch der Wagen ein Geschenk ihrer Tochter. Irgendwie musste sie uns gegenüber ein schlechtes Gewissen haben, dachte Robert, als sein Blick über die matt leuchtenden Armaturen wanderte. Dabei hatte sie gar keinen Grund dazu. Sie war schon von klein auf sehr selbstständig gewesen, hatte ihre Ausbildung als medizinische Genassistentin mit Auszeichnung hinter sich gebracht und viel Freizeit für ihre Weiterbildung aufgewendet. Sie selbst hatte eine sichere Anstellung bei Bayer abgelehnt und war stattdessen der Einladung eines amerikanischen Konzerns in die USA gefolgt, wo sie bald ihren zukünftigen Mann kennengelernt hatte. Danach hatte sich nicht nur ihr Leben merklich verändert. Dieses Auto, dessen automatischer Steuerung er fasziniert zusah, war nur eine der vielen Veränderungen in Roberts Leben. Er fragte sich, ob es eine Verbesserung war, denn wie so oft in der letzten Zeit überkam ihn das Gefühl, absolut überflüssig zu sein.

Er brauchte ein Hobby, redete er sich ein. Oder er legte sich ein Haustier zu. Mit irgendwas musste er sich beschäftigen, sonst würde er noch zum Säufer.

Mit einem Seufzer steckte er die halb volle Bierdose in die Halterung und warf einen Blick auf seine schlafende Frau, die in einer ungemütlichen Haltung halb auf dem Beifahrersitz lag und mit offenem Mund leise schnarchte. Ihre Cibes hielt sie wie ein kleines Kind fest an sich gepresst.

Vielleicht sollten sie doch eine Reise unternehmen, dachte er. Aber nicht mit dem Flugzeug. Und auch nicht mit dem Auto. Martha würde sonst nur wieder mit dem Helm neben ihm sitzen und ihm erzählen, wie schön es anderswo auf der Welt sei.

Eine Fahrt mit einem Schiff auf der Mosel vielleicht, mit anderen Menschen …

Robert hob den Kopf zum Rückspiegel, als ihm der Bordcomputer ein Fahrzeug meldete, das sich noch in einiger Entfernung hinter ihnen befinden musste. Merkwürdigerweise war nichts zu sehen. Im nächsten Moment erlosch das dezente türkise Blinken am Armaturenbrett. Wahrscheinlich war das Fahrzeug abgebogen.

Mit einem Schiff auf der Mosel! Er schüttelte den Kopf. Martha würde die Idee nicht gefallen. Für sie musste es mindestens die Karibik sein. Oder wenigstens die Kanarischen Inseln. Oder das Mittelmeer. Die griechischen Inseln vielleicht. Damit könnte er sich ebenfalls anfreunden. Zuerst mit dem Zug nach Italien und von dort eine Kreuzfahrt über das Ägäische Meer.

Wieder fing das längliche türkise Licht mit der Aufschrift »Fahrzeug nähert sich von hinten« leicht an zu glimmen. Gleichzeitig setzte für einen Moment der Motor aus. Ein leichtes Rücken ließ Marthas Kopf nach vorne nicken. Robert überflog die Anzeigen für den Motor, aber alle Lichter zeigten ein beruhigend grünes Leuchten. Auch das Motorgeräusch, sofern man bei diesem Wagen überhaupt noch von einem Geräusch sprechen konnte, hörte sich absolut normal an. Keinerlei Anzeichen von einer Störung.

Robert setzte sich auf und wartete ab. Als ehemaliger Ingenieur war er gegenüber unerklärlichen Unregelmäßigkeiten zu misstrauisch, um den Aussetzer als einmaliges Vorkommnis abzutun. Das Warnlicht für die Fahrzeugannäherung war wieder erloschen. Vielleicht ein Computerfehler? Wenn ja, dann wäre das der denkbar ungünstigste Zeitpunkt dafür. Das nächste Dorf war mindestens noch zwölf oder dreizehn Kilometer entfernt. Nicht, dass das hier ein großes Problem gewesen wäre, denn mithilfe seines Handys oder Marthas Cibes würde es keine Viertelstunde dauern, bis ein Pannenwagen bei ihnen eintreffen würde, aber er hatte keine Lust, sich die abfälligen Kommentare eines Mechanikers über die Technik importierter Luxuslimousinen anhören zu müssen. Ganz abgesehen davon käme bei einem Computerausfall nur ein Abschleppen des Wagens infrage und das wäre ihm sehr unangenehm.

Wieder ein kleines Rucken. Oder bildete er sich das nur ein? Die Scheinwerfer strahlten gleichmäßig den von einem leichten Regen nassen Asphalt an, der wie ein schwarzes Band unter dem Wagen verschwand.

Unsicher lehnte er sich zurück. Gerade als er beschlossen hatte, die Automatik abzuschalten und manuell weiterzufahren, blinkte das türkise Licht auf, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Dann gingen alle Lichter aus, auch die Scheinwerfer. Und der Motor. Schlagartig war alles dunkel um ihn herum. Mit einem lauten Fluch packte er fest das Lenkrad und trat mit ganzer Kraft auf das Bremspedal. Ohne die Servolenkung und die hydraulischen Bremshilfen hatte er das Gefühl, als müsste er einen Eisenbahnwaggon mit der Hand aufhalten. Dazu kam noch, dass er im ersten Moment absolut nichts von seiner Umgebung sehen konnte. Erst nach einigen Sekunden war eine Orientierung an den blass schimmernden Leitpfosten an der Straße möglich. Mit einem befreienden Aufatmen und weichen Knien brachte er den schweren Wagen mit einem ungefährlichen letzten Rutscher auf der nassen Straße zum Stehen.

Neben ihm im Dunkeln schreckte seine Frau aus dem Schlaf hoch.

»Was … Robert, wo bist du? Was ist denn? Wo sind wir?«

»Beruhige dich, ich bin hier. Neben dir im Auto. Irgendetwas muss mit der Stromzufuhr sein. Der Motor läuft nicht mehr.« Er ärgerte sich mehr über die Folgen des Totalausfalles als über die Ursache selbst. Es musste doch möglich sein, eine Notbatterie in diesem rollenden Ungetüm unterzubringen, die ein bisschen Licht erzeugte, um in einem Fall wie diesem wenigstens noch etwas von der Straße zu erkennen. Diese Situation mitten in der Nacht war auf jeden Fall lebensgefährlich gewesen.

»Gib mir bitte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach! Ich geh mal nachsehen. Wahrscheinlich hat sich ein Kabel an der Batterie gelöst.«

Marthas Cibes fielen auf den Fahrzeugboden, als sie sich nach vorne beugte, um an das Fach zu gelangen.

Robert tippte missmutig den Schalter für die Pannenblinkleuchte an. Natürlich tat sich auch hier nichts. Er glaubte nicht an ein gelockertes Kabel. Der Wagen war fast neu und wahrscheinlich würde alles fest an seinem Platz sitzen. Eher lag der Fehler am Bordcomputer und das würde bedeuten, dass sie ums Abschleppen nicht herumkamen.

»Steig besser aus! Nicht dass noch jemand auf den unbeleuchteten Wagen auffährt und du noch drinnen sitzt!«

»Wenn du meinst«‚ sagte sie und reichte ihm die Taschenlampe. »Aber wenn jemand vorbeikommt, dann hat der doch sein Licht an und müsste uns sehen …«

»Ja, ja, müsste er. Trotzdem …« Er beugte sich nach vorn und entriegelte die Motorhaube. Gott sei Dank ging das mechanisch, dachte er, als er das charakteristische Knacken hörte. Endlich etwas, das ohne den verdammten Computer funktionierte.

Vorsichtig öffnete er die Seitentür und stieg aus. Frische, feuchte Luft umgab ihn. Es roch etwas modrig. An den Bäumen raschelten kraftlose Blätter und von den nassen Ästen fielen unentwegt einzelne Tropfen auf die dicke Laubschicht. Der Strahl der Taschenlampe verlor sich zwischen den nahen Stämmen. Auch auf dem nassen Asphalt wurde das Licht kaum reflektiert. Dafür blendete der helle Lack des Wagens umso mehr, als Robert nach vorne ging und die Motorhaube öffnete.

»Zieh dir deine Jacke an!«, rief er Martha zu, als er das Öffnen der Beifahrertür hörte. »Es ist frisch hier draußen!«

Er stützte sich auf den Rand der Kühlerhaube und leuchtete den Batteriekasten an, der sich direkt unter ihm befand. Er sah genauso aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte: neu, sauber, trocken, ohne Anzeichen eines Defektes oder eines lockeren Kabels. Also musste er wohl die weiße Schutzkappe entfernen, um letzte Gewissheit zu erlangen. Mit einem Seufzer legte er die Taschenlampe auf die breite Hutze des Luftfilters und suchte nach den Klammern, die die Kappe festhielten. Er wusste schon jetzt: Eine davon würde er leicht finden und sie würde problemlos zu lösen sein, die zweite war hundertprozentig irgendwo am Rand versteckt und nur zu öffnen, wenn man dazu bereit war, seine Fingerkuppe zu opfern oder sich wenigstens eine Schramme einzuhandeln.

»Robert!« Marthas Stimme klang ängstlich. »Da kommt was!«

Er griff schnell nach der Taschenlampe. Wahrscheinlich war das der Wagen, den ihm der Bordcomputer vorhin mehrmals angezeigt hatte. Vielleicht war es besser so. Bevor er sich hier in der Einöde den Kopf über einen unwahrscheinlichen Defekt an der Batterie zerbrach, konnten sie hoffentlich mit dem Fremden mitfahren und den Chrysler zurücklassen. Große Ambitionen, seine Ingenieursfähigkeiten unter Beweis zu stellen, hatte er sowieso nicht. Warum auch? So würde es viel bequemer sein.

Er trat neben den Wagen auf die Straße und schwenkte mit der Lampe hin und her. Nach der Art der Lichter, die rasch auf sie zukamen, musste es ein großer Lastwagen sein, denn sie befanden sich hoch über der Straßenoberfläche. Außerdem waren sie sehr unregelmäßig an der Front des Fahrzeugs angebracht. Er erkannte drei sehr helle Lichtflecke in der Mitte und unzählige kleine weit außerhalb des vermeintlichen Zentrums. Eigentlich schon so weit außerhalb, dass sie über die Seitenbegrenzung der Straße hinausragten. Das konnte nicht sein. Oder doch?

Ein Schwertransport!, schoss es ihm durch den Kopf. Jetzt, um diese Zeit? Aber warum nicht? Logischerweise wurden die meisten sperrigen Güter nachts transportiert, wenn weniger Verkehr herrschte. Aber wieso hier auf dieser gottverdammten engen Landstraße?

Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Entfernung abzuschätzen. Die Ladung musste sehr hoch sein. Wenn ihn seine Sinne nicht täuschten, eigentlich in Baumwipfelhöhe. Das konnte nicht sein. Zu hören war auch nichts. Jetzt war der Transport stehen geblieben. Robert vermisste das vertraute Abblasen der Luftdruckbremsen. Alles war ganz ruhig. Dafür spürte er einen kaum wahrnehmbaren Luftzug, der aus der Richtung des merkwürdigen Gefährts kam.

»Robert, was ist das?« Martha ging mit vorsichtigen Schritten um den Chrysler herum und stellte sich hinter ihn.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ein großer Lastwagen mit einem Kran hintendrauf oder so etwas«‚ antwortete er mit sachlicher Stimme, um sie zu beruhigen. Er spürte, irgendetwas war hier nicht in Ordnung.

Martha spähte über seine Schulter. »Warum fährt er nicht weiter und bleibt dort stehen?«

»Weil … ich weiß es nicht.« Ihm fielen alle möglichen Erklärungen ein. Vielleicht überlegte der Fahrer, wie er am besten an ihrem Wagen vorbeikam. Oder ob er besser zurücksetzen sollte. Nein, das war unwahrscheinlich. Jeder normale Mensch würde zunächst heranfahren, um sich zu informieren. Vielleicht haben die etwas zu verbergen? Robert sah sich in seiner wildesten Fantasie schon einem illegalen Transport von atomaren Brennstäben gegenüber und ihr blöder Chrysler stand wie ein Wachturm unbeleuchtet am Straßenrand. Und er schwenkte auch noch wie ein Verrückter eine Taschenlampe und machte sie auf sich aufmerksam!

Er senkte den Arm und fasste einen Entschluss.

»Also, ich gehe jetzt dorthin und frage, ob sie uns mitnehmen! Du bleibst hier und wartest auf mich!«

»Robert, ich weiß nicht. Bleib lieber hier, das Ding ist mir unheimlich!«

Gerade als er sie mit einer scherzhaften Bemerkung beruhigen wollte, kam Bewegung in das »Ding«. Zuerst schwenkte einer der drei Scheinwerfer nach unten. Dann schoben sich alle Lichter mit einem Ruck nach oben. Auf der Straße bildete sich ein blauer Lichtkreis ab, der nun langsam auf sie zukam.

»Das gibt es doch nicht …«, keuchte Robert, als er im nächtlichen Dunkelgrau eine riesige schwarze Silhouette wahrnahm, die mindestens dreißig Meter über dem Boden schwebte. Undeutlich erkannte er darin die Form einer lang gestreckten Ellipse, mit einer Andeutung einer schmalen Wulst im oberen Drittel. Die Enden an beiden Seiten standen weit über den darunterliegenden Straßenrand hinaus. Er schätzte die Breite des unheimlichen Objekts auf etwa vierzig Meter, wenn nicht sogar mehr. Trotz der jetzt beschleunigten Annäherung war keinerlei Motorengeräusch zu hören. Lediglich ein leichter Luftzug stellte eine Verbindung zur Realität und zu einer dreidimensionalen Bewegung her.

Unwillkürlich rutschten sie beide um die Kante des Chryslers und gingen hinter der aufgestellten Motorhaube in Deckung.

»Das ist ein UFO, nicht wahr«‚ stellte Martha hinter ihm nüchtern fest. »So etwas, das aus dem Weltraum kommt!«

»Blödsinn! Es gibt keine UFOs«, antwortete Robert unwirsch. Er beobachtete besorgt den kreisrunden Lichtpegel, der genau auf sie zukam. Es musste eine andere Erklärung für diesen lautlosen Flugapparat geben, nur welche? Im Moment beschäftigte ihn jedoch mehr die Frage, ob ihnen eine Gefahr drohte, denn ohne Zweifel hatten die Insassen sie entdeckt und steuerten genau auf sie zu. Robert sah sich unruhig nach allen Seiten um. Vielleicht wäre es besser, wenn sie in den Wald flüchteten. Dort konnten sie sich auf jeden Fall besser verstecken. Hier auf der freien Straße standen sie wie auf einem Präsentierteller.

»Wir verschwinden besser von hier.« Er bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Los, in den Wald! Aber vorsichtig, gleich neben der Straße geht es steil runter.«

Martha tastete sich an der Motorhaube entlang zum Straßenrand. Robert warf noch einen letzten Blick auf das herannahende Flugobjekt und wollte gerade seiner Frau folgen, als der Lichtkegel mit einem Satz auf sie zuraste. Martha, die sich schon einige Schritte in den Wald hineingewagt hatte, flüchtete mit einem ängstlichen Kiekser wieder zurück hinter die Motorhaube, wo sie heftig mit ihrem Mann zusammenstieß, der sich erschrocken auf den Asphalt geworfen hatte.

Für einen endlos lang erscheinenden Moment spürten sie förmlich den harten Lichtfleck, der sie umgab. Gleich darauf war er jedoch schlagartig verschwunden. Robert drehte sich im Liegen herum und sah ihn die Straße hinunterrasen. Darüber hing die schwarze Silhouette wie ein riesiger Raubvogel, der in der Nacht nach einer Beute suchte. Nach einigen Hundert Metern schwenkte er nach links über den Wald und erhellte die Baumkronen in einem gespenstisch blauen Lichtschweif.

Robert war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte nichts gespürt außer diesem kaum wahrnehmbaren Luftzug, der eher von einer elektrischen Statik herzurühren schien.

Es gab keine UFOs, redete er sich ein. Das musste irgendein Geheimprojekt sein. Ein neuartiger Antrieb, der nachts getestet wurde oder eine Art lautloser Hubschrauber mit schallgedämpften Rotorblättern. Aber wieso hatte er dann keinerlei Luftverdrängung gespürt? Bei dieser Geschwindigkeit, die das Fluggerät in den letzten Sekunden erreicht hatte, müsste sogar die aufgestellte Motorhaube starke Verwindungen gezeigt haben, aber sie hatte ruhig und aufrecht gestanden. Es schossen ihm alle möglichen technischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts durch den Kopf, aber er fand keine Erklärung für dieses Phänomen.

Das Objekt war nun über den Baumwipfeln verschwunden, als hätte es nie existiert.

»Also, für mich war das ein UFO!«, erklärte Martha mit fester Stimme. Unbeeindruckt von dem Vorfall erhob sie sich und zupfte nasse Blätter von ihrem Rock. »Auch wenn du sagst, so etwas gebe es nicht. Und jetzt nehme ich meine Cibes und rufe Hilfe herbei! Ich habe keine Lust, noch länger hier in der Einöde festzusitzen und mich vor fliegenden Schatten in den Dreck zu werfen!«

Robert stand ebenfalls auf, öffnete die Tür des Chryslers und griff nach der Bierdose. Er bemerkte, dass seine Hände zitterten.

Unmöglich! UFOs gab es nicht. Wenn doch, musste es von dieser Welt sein. Und sie waren unfreiwillig Zeuge davon geworden. Wahrscheinlich liefen in geheimen Stellen schon die Drähte heiß.

»Sag nichts von einem UFO! Das glaubt uns sowieso keiner!«, rief er ins Wageninnere hinein.

»Wieso nicht? Ich hab’s doch gesehen!« Martha tastete im Dunkeln nach ihren Cibes.

»Mein Gott, weil … wenn du der Pannenhilfe so etwas erzählst, halten die dich doch für verrückt und kommen erst gar nicht!« Er lehnte sich an den Wagen und trank das Bier aus. Verrückt! Einfach verrückt! Jetzt, einige Minuten nach dem Vorfall, kam es ihm wie ein schlechter Traum vor. Vielleicht war es ein modifiziertes Luftschiff gewesen. Eine Art moderner Zeppelin.

Erneut überfiel ihn der Gedanke, dass es sich um ein geheimes Projekt handeln könnte und sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Vielleicht wäre es besser, von hier so schnell wie möglich zu verschwinden und den Wagen zurückzulassen. Er sah sich rasch um. Unmöglich. Der einzige Weg, den sie in der Nacht einigermaßen vernünftig begehen konnten, war die Straße. Sonst gab es nur dunklen Wald und feuchte Wiesen.

In diesem Moment fingen die Pannenblinkleuchten des Chryslers mit einem leisen Klicken wieder an zu arbeiten.

Robert stürzte ins Wageninnere.

Martha blickte ihn überrascht an. »Ich habe noch niemanden erreicht!«, sagte sie entschuldigend.

»Brauchst du auch nicht«‚ antwortete er atemlos, zog die Codekarte am Armaturenbrett heraus und steckte sie gleich wieder in den Schlitz für die Zündung. Mit einem sanften Singen startete der Motor. »Er geht wieder. Jetzt nix wie weg von hier!«

Robert schaltete die Leitsteuerung aus und beschleunigte den Wagen heftig mit auf dem Laub durchdrehenden Reifen.

»Sachte, sachte …«, beruhigte er sich selbst. Er aktivierte das Navigationssystem und zog den kleinen Monitor auf dem beweglichen Arm zu sich heran, um ihre Position zu bestimmen. Bad Homburg war nicht weit weg, aber sie befanden sich noch auf einer kleinen Landstraße am Fuße des Herzberges. Selbst wenn sie schnell vorankamen, würde es bestimmt noch eine Viertelstunde dauern, bis sie die ersten Häuser des nächsten Dorfes erreichten. Robert spähte durch die Seitenscheibe ins Dunkel, das teilnahmslos an ihnen vorbeihuschte. Da war nichts, redete er sich ein. Und keiner wollte was von ihnen. Einfach nur weiterfahren und ruhig bleiben. Er warf einen Blick auf seine Frau, die ihren futuristischen Helm auf dem Kopf hatte. Überall Aliens, dachte er belustigt.

»Die Cibes lass ich auf«, sagte Martha, die sein Grinsen bemerkt hatte. »Wenn das UFO wieder auftaucht, nehme ich alles auf und sende es an unsere Mailbox nach Frankfurt. Dann können wir beweisen, was wir gesehen haben!«

»Gute Idee«‚ meinte er und ging nicht weiter darauf ein. Ihn beschäftigte der unerklärliche Ausfall der Stromversorgung des Autos. Es musste mit dem Erscheinen des Objektes zu tun gehabt haben. Aber was könnte so einfach aus der Entfernung den Motor oder die Batterie beeinflusst haben? Unwillkürlich suchte er wieder die dunkle Umgebung und den Himmel ab, aber es war nichts zu entdecken. Oder doch? Einen halben Kilometer vor ihnen blitzte etwas auf. Oder war es Einbildung gewesen? Robert drosselte die Geschwindigkeit.

»Da vorne war was, nicht wahr?«, sagte Martha mit der stoischen Ruhe eines Jägers, der auf das Erscheinen des Wildes am Rande einer Lichtung wartete. Ihm war unverständlich, wie gelassen sie das alles aufnahm. Gleichzeitig bestätigte sie ihm mit ihrer Bemerkung, dass auch sie etwas gesehen hatte. Seine Gedanken begannen zu rasen. Sollte er nicht besser umkehren? Ihn erfasste die unangenehme Vorstellung, dass dieses Objekt hinter ihnen her war. Gleichzeitig erschien es ihm lächerlich. Jetzt war nichts mehr zu sehen, aber soweit er sich an die Strecke erinnern konnte, mussten sie gleich in eine lang gestreckte Kurve einbiegen …

Im nächsten Augenblick trat er entsetzt auf die Bremse. Dort hing es in der Luft! Unmittelbar vor ihnen! Keine zehn Meter über der Straße. Blaues Licht erhellte den dunklen Asphalt und die angrenzenden Bäume. Und das Ding war riesig groß!