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„Mihi ipsi scripsi“

Friedrich Nietzsche

„Für mich selbst habe ich es geschrieben“

— aber ich lege es auch anderen ans Herz.

In diesem Sinne widme ich das Buch meinen Lieben,
meiner Frau Ingeborg,
unseren beiden Töchtern, Veronika und Marita,
und unseren Enkeln,
Thassilo, Maximilian, Florian und Katharina.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut,
das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“

Antoine de Saint-Exupéry,
Schriftsteller

„Ubi caritas et amor, deus ibi est“
(„Wo Barmherzigkeit und Liebe ist, da ist Gott“)

Augustinus, Bischof von Hippo,
Kirchenlehrer

„Halt an, wo läufst du hin,
der Himmel ist in dir;
suchst du Gott anderswo,
du fehlst ihn für und für“

Angelus Silesius (Johannes Scheffler),
Arzt, Theologe, Mystiker

„Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst“

Bernhard von Clairvaux,
Ordensgründer

Hans Georg Sergl

Antwort auf die
Gretchenfrage

So kann ich glauben

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© 2017 Hans Georg Sergl

Verlag: tredition GmbH, Hamburg, www.tredition.de

Taschenbuch ISBN 978-3-7439-8368-7 (Paperback)
Gebundene Ausgabe ISBN 978-3-7439-8369-4 (Hardcover)
e-Book ISBN 978-3-7439-8370-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Layout/Grafische Gestaltung: www.vero-signo.de

Bildnachweis:

Titelbild „Hesperus Nebula“ © Ali Ries, Casperium Graphics

Portrait Hans G. Sergl © Fotostudio portrait atelier, Romina Hager

Vorschau „Im Kraftfeld der Liebe Gottes“ © Ali Ries, Casperium Graphics

Inhalt

Vorwort und Einführung

1    Religion – ein Phänomen

Gott im Bewusstsein der Menschen

Ursprung und Anfänge von Religion

Etymologie – im Spiegel der Sprache

Wurzeln der Religiosität

Verbreitung des Gottglaubens

Das Wesen von Religion

2    Der menschliche Erfahrungshintergrund

Subjektives Weltbild

Das Objektive Weltbild

Das Menschenbild

3    Das Gottesbild

Wer oder was ist Gott?

Wo ist Gott?

Wie ist Gott?

Unsterbliche Seele

Gott und das Böse

Gott und das Leid

Gott ist die Liebe

Reich Gottes

4    Wege zum Glauben

Was heißt Glaube?

Gebrauch der Vernunft

Gotteserfahrung

Selbstoffenbarung Gottes

Unglaube und Zweifel

Heilige Schriften

Exegese

Wunder

Aneignung

Glaubenstreue

Zusammenfassung und Schlusswort

Vorwort und
Einführung

Wer kennt sie nicht, die vielzitierte Frage Gretchens in Goethes Faust(I)? An Faust gewandt spricht sie: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon“. Faust weicht der Frage aus, aber Gretchen lässt nicht locker: „Du ehrst auch nicht die heil’gen Sakramente. Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen. Glaubst du an Gott?“ Sie bringt die Unterredung damit rasch auf den Punkt, an dem sich die Geister scheiden.

Wenn man im Alltag von der Gretchenfrage spricht, meint man eine Frage, die ohne große Umschweife auf das Wesentliche und Entscheidende zielt. Im Faust ist der Prüfstein die Frage nach dem Glauben an Gott. Natürlich verfolgt Gretchen damit eine Absicht. Sie will Fausts Charakter prüfen, in der Annahme, dass ein religiöser Mann sich ehrlich und anständig erweist und ein geschwängertes Mädchen nicht sitzen lässt – aber das ist hier sekundär.

Die Gretchenfrage ist eine sehr persönliche Frage, die man als taktvoller Gesprächspartner einem Fremden nicht stellt. Sie setzt eine Vertrautheit voraus, wie sie zwischen Gretchen und Faust zweifellos gegeben war; schließlich hatte er ihr seine Liebe gestanden und sie die Liebeserklärung erwidert. Man kann die Frage auch losgelöst von einer konkreten Unterhaltung aufwerfen. Insbesondere kann man sich selbst Rechenschaft ablegen, wie man in dieser Sache denkt. Da es wenige Menschen geben dürfte, die sich diese existenzielle Frage nicht irgendwann im Laufe ihres Lebens stellen, vielleicht sogar mehrmals oder immer wieder stellen, lohnt es sich, darüber eingehend zu reflektieren.

Das vorliegende Buch habe ich zu allererst für mich selbst geschrieben, um meine eigenen Gedanken zu ordnen und schriftlich festzuhalten. Manches kann sich bei längerem Nachdenken klären. Dabei werden Meinungen in Frage gestellt, fremde und eigene. Sie werden gefestigt oder verworfen und durch neue Einsichten ersetzt. Im Zuge des Niederschreibens erwacht nicht selten ein Mitteilungsbedürfnis, vor allem, wenn man an Menschen denkt, die einem nahestehen, Kinder und Enkel z. B. An sie möchte man gewonnene Überzeugungen weitergeben, mündlich, am besten aber schriftlich. Von hier bis zur Idee einer Veröffentlichung in Buchform ist dann nicht mehr weit.

Der Leserkreis, der mir vorschwebt, könnte sich aus der großen Gruppe derer rekrutieren, die ihren überkommenen Kinderglauben, wenn sie je einen solchen hatten, abgelegt haben und nun verunsichert sind und sich nicht im Stande fühlen, den Glaubensanforderungen einer Kirche, der sie vielleicht noch angehören, gerecht zu werden. Ich denke an Menschen, die in sich eine Neigung und Bereitschaft zu religiösen Gefühlen spüren aber nicht wissen, worauf sie ihre Sehnsucht richten sollen, Menschen, die den metaphysischen Grundfragen „woher kommen wir, wohin gehen wir und was ist der Sinn unseres Lebens“ nicht ausweichen möchten, aber die Grenzen des Erkennens leidvoll erfahren.

Das Buch möchte also primär die interessierten Zweifler ansprechen. Wenn meine Überlegungen etwas zu ihrer Orientierung, zu mehr Sicherheit, innerer Ruhe und Gelassenheit beitragen könnten, hätte das Buch seinen Zweck erfüllt. Wenn ich darüber hinaus alle jene, die Gott und seinen Willen ganz genau zu kennen glauben, etwas verunsichern würde, wäre das zwar nicht mein primäres Ziel, aber ich würde es nicht bedauern.

Von jemandem, der über Religion schreibt, möchte man vermutlich wissen, welch Geistes Kind er ist. Daher bekenne ich mich vorab als gottgläubig, erzogen in einer religiös geprägten Familie, aufgewachsen in einem traditionell katholischen Umfeld meiner Heimat Bayern. Allerdings wird der Leser feststellen, dass mein Gottesbild etwas von dem bekannter kirchlicher Glaubenslehren abweicht. Auch nehme ich an, dass manche meiner Äußerungen Traditionalisten zum Widerspruch herausfordern. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die – katholische – kirchliche Obrigkeit dieses Buch, wenn sie davon Notiz nähme und wir im vorvorigen Jahrhundert lebten, auf den „Index der verbotenen Bücher“ setzen würde. Manch einer würde das heute als Auszeichnung für sich reklamieren, mich stimmt es eher traurig. Denn es ist nicht meine Absicht, mich als Kirchenkritiker zu profilieren, auch wenn dieser Eindruck entstehen könnte. Der Ausdruck „Mutter Kirche“ ist für mich, trotz vieler Vorbehalte und trotz mancher Abweichung in den Auffassungen, ein emotional positiv besetzter Begriff. Bisher habe ich es in meiner Umgebung so gehalten, dass ich die Katholische Kirche nach innen kritisiert habe, wo ich meinte, es tun zu müssen, aber nach außen gegen Unverständnis, böswillige Angriffe und Verleumdungen verteidigt habe, wie man es eben gegenüber seiner leiblichen Mutter tun würde.

Aus dieser Einstellung heraus, als jemand, der seiner Kirche nicht schaden möchte, habe ich mich wiederholt gefragt, ob ich meine Überzeugung nicht für mich behalten sollte. Dann habe ich an Menschen gedacht, die mir persönlich nahestehen, solche, die der Kirche längst den Rücken gekehrt haben, und solche, die bereit sind, dies zu tun, sobald sie aus ihrer Lethargie erwacht sind. Diesen Menschen könnten, wie ich meine, eine Korrektur ihres Gottesbildes und eine begründete Fortentwicklung ihres Glaubens helfen, religiöse Menschen zu bleiben und vielleicht den letzten Faden zu ihrer Kirche nicht zu durchtrennen, vorausgesetzt, diese duldet, dass es in ihr Gläubige gibt, die nicht „alles glauben“.

Bei einem Sachbuch – um ein solches handelt es sich hier – darf man auch danach fragen, was den Autor dazu befähigt. Als Experten in Sachen Religion und Gott wird man spontan am ehesten die Theologen, eventuell auch noch die Philosophen, nennen. In keinem dieser beiden Wissensgebiete bin ich ein ausgewiesener Fachmann. Allerdings zweifele ich an der besonderen Eignung dieser „Experten“, wenn es darum geht, überzeugend darzulegen, warum jemand an Gott glauben sollte. Das ist zumindest meine eigene Erfahrung mit Büchern von Theologen. Dabei muss ich erklärend vorausschicken, dass meine Lektüre sich nur auf eine kleine, eher zufällige Auswahl des sicher umfangreichen einschlägigen Schrifttums bezieht, was man von einem Laien wohl nicht anders erwarten kann. So konnte ich die Schriften eines zu höchsten kirchlichen Ehren gekommenen Theologen wegen der Gelehrsamkeit des Autors bewundern, aber sie lösten nichts in mir aus, was mich Gott näher gebracht hätte. Ähnlich ging es mir mit dem für mich schwer verständlichem Buch eines der wohl am häufigsten zitierten deutschsprachigen Theologen. Bei einem mit der kirchlichen Obrigkeit in Konflikt geratenen, aber von den Medien hoch gelobten Theologieprofessor gewann ich den Eindruck, dass er seine Fragen in einer auch dem Laien gut verständlichen Sprache spannend entwickelt, aber seine Antworten waren für mich enttäuschend. Man konnte sie in einem Satz zusammenfassen: Über Gott kann man nichts Sicheres aussagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man als Ungläubiger durch eine solche Lektüre zum Glauben gelangt. Viel eher könnte dies der Fall sein, wenn er die Bücher von Jörg Zink (1922–2016) liest, einem evangelischen Pfarrer, der seine Leser am Ort ihrer Alltagsnöte abholt und sie behutsam mit wundervollen poetischen Sprachbildern an Orte der Gottesnähe führt.

Theologen mögen viel über Religionsgeschichte wissen, über Kirchengeschichte, über Exegese (Auslegung heiliger Schriften), über Dogmatik (Glaubenslehre) und über Liturgie (Formen des religiösen Kults), aber sie sind keine Experten, wenn es um die menschliche Psyche geht. Dabei hat Religion sehr viel mit Denken, Fühlen und Bewusstsein zu tun, auch mit dem Unbewussten. Auch die Philosophie kann wenig zur Fundierung eines persönlichen Glaubens beitragen, wie schon Goethe (1749–1832) feststellte, als er in einem Brief an Eckermann (1.9.1829) schrieb: „Zudem sind die Natur Gottes, die Unsterblichkeit, das Wesen unserer Seele und ihr Zusammenhang mit dem Körper ewige Probleme, worin uns die Philosophen nicht weiterbringen“.

Religion ist eine sehr persönliche Angelegenheit, bei der es um die eigene Antwort auf eine existenzielle Frage geht. Was immer auch Theologen und Philosophen über Gott sagen, es erspart dem kritischen Laien nicht die Mühe des eigenen Nachdenkens und Nachspürens. Aus dieser Position heraus ist das Buch geschrieben, aus der Position des theologischen Laien, der sich damit an andere Laien wendet. Ihnen fühle ich mich schicksalhaft verbunden. Ein Dialog mit Theologen liegt mir fern.

Beim Abfassen dieses Buches bin ich lange von der Illusion ausgegangen, mir den Laienstatus und mit ihm die Naivität im Herangehen an bestimmte Fragen vollkommen erhalten zu können. Ich wollte mich möglichst frei und unbelastet auf einem mir abgesteckten Terrain bewegen, wie gesagt, eine Illusion. Ich gebe freimütig zu, dass mich immer wieder die Neugier gepackt hat. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr griff ich zu Büchern und mir zufällig in die Finger gekommenen Zeitungsartikeln, die mir neue Anregungen gaben, die mir Bestätigung verschafften oder mich zum Widerspruch herausforderten. Vom „theologischen Experten“ blieb ich bei dieser literarischen Zufallsauswahl weit entfernt, absichtlich und mit Bedacht. Denn ich sehe mich ganz in der Rolle des Laien, an den sich die „kirchliche Verkündigung“ richtet. Sollte ich aus der Lektüre theologischer Diskurse wirklich einmal etwas missverstanden haben, so geht das in diese Rolle mit ein. Der Leser möge entscheiden, ob er seine Situation in meinen Darstellungen wiederfindet.

Einen Expertenstatus nehme ich allerdings für mich in Anspruch. Denken, Fühlen, Bewusstsein sind psychische Leistungen, zu denen ein Psychologe Fachkundiges beitragen kann. Ein vor Jahren abgeschlossenes Zweitstudium der Psychologie sollte mich befähigen, Vorgänge und Inhalte, deren man im Zuge der Innenschau beim Denken und Fühlen über Gott gewahr wird, zutreffend zu beschreiben und richtig zu deuten. Das ist nichts Außergewöhnliches, was einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, sondern liegt nahe an einer Alltagspsychologie, deren sich jeder intuitiv bedient, und die auch der gebildete Laie gut nachvollziehen kann.

Eine Schwierigkeit, mit der sich jeder Sachbuchautor konfrontiert sieht, ist der unterschiedliche Kenntnisstand der potentiellen Leserschaft. Ich bin überzeugt, dass es Leser geben wird, die sich an der einen oder anderen Stelle dieses Buches zu der Bemerkung veranlasst sehen: „Das weiß ich schon lange“, oder: „davon weiß ich mehr“. Dieses Risiko meine ich eingehen zu müssen, weil ich bei dem Leser, der im Fokus meiner Aufmerksamkeit steht, eher geringe Vorkenntnisse in Religion und Religionsgeschichte unterstelle. Bei den übrigen bitte ich um Verständnis und Nachsicht.

Da ich das Gottesbild, die Vorstellung, von Gott, als den Schlüssel für die Lösung aller weiteren Fragen zum Thema Religion ansehe, versuche ich in diesem Buch zunächst mein persönliches Gottesbild aus der Betrachtung von all dem zu gewinnen, was man über die Welt, die Natur und den Menschen weiß. Es ist mein Bild, das mir stimmig erscheint, und von dem ich glaube, dass es auch für andere stimmig sein könnte. Dabei folge ich den Fragen: „wer oder was ist Gott“, „wo können wir Gott finden“ und „welche Eigenschaften schreibt man Gott zu“. Als Berührungspunkt mit Gott wird der menschlichen „Seele“ eine eingehende Betrachtung gewidmet. Wichtige Züge des Göttlichen werden auch unter den Aspekten „Gott und das Böse“ und „Gott und das Leid“ angesprochen. Der Kernsatz in dem gesamten Beschreibungsversuch aber lautet: „Gott ist die Liebe“.

Ein weiterer Abschnitt der Überlegungen, die in diesem Buch angestellt werden, ist den Wegen zum Gottglauben und ihrer Beurteilung gewidmet. Der Vernunft, die lange als das einzig taugliche Instrument galt, um die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen, wird in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Dagegen könnten innere Erfahrungen, bewusst werdende Gefühle und Reaktionen aus dem Unbewussten, auf eine übernatürliche Realität hindeuten und das Tor zu einer anderen Welt öffnen. Kritischer werden die von Religionsstiftern berichteten „Selbstoffenbarungen Gottes“ und die daraus abgeleiteten religiösen Lehren betrachtet. Vor allem die Verbindlichkeit religiöser Glaubenssätze und der Anspruch einer Kirche, alleine im Besitz ewiger Wahrheiten zu sein, werden hinterfragt.

1 Religion – ein Phänomen

Gott im Bewusstsein der Menschen

Jeder erwachsene Mensch lebt auch in einer Welt von Gedanken, die eng mit dem Denken anderer in einer langen Denktradition verwoben sind. Darum sind wir an manches so sehr gewöhnt, dass es uns ganz selbstverständlich erscheint, obwohl es uns in Erstaunen versetzen müsste. Das gilt auch für die Annahmen, die Menschen über die Ursachen ihrer eigenen Existenz machen. Diese und alles, was wir daraus ableiten, müssten uns höchst seltsam erscheinen.

Um ihre Ungeheuerlichkeit voll ermessen zu können, müsste man den Blickpunkt wechseln und das Phänomen Religion aus der Perspektive eines Außerirdischen betrachten, der eben auf der Erde gelandet ist und beobachtet, was hier vor sich geht. Er würde erfahren, dass viele Menschen sich und die ganze Welt als von einem mächtigen Wesen geschaffen verstehen, dem sie eine Reihe von Eigenschaften zuschreiben, das sie verehren, mit dem sie in eine geistige Beziehung zu treten versuchen, dem sie sich verantwortlich fühlen und von dem sie nach ihrem Tod ein Weiterleben in einer neuen Seinsweise und in ewiger Glückseligkeit erhoffen. Das alles ohne hinreichende Evidenz und in einer ganz anders anmutenden zivilisatorischen Umgebung.

Er würde auch feststellen, dass die Erdenbewohner viel Aufwand treiben in der Erfüllung dessen, was sie meinen ihrem Gott, wie sie das Wesen nennen, schuldig zu sein, z. B. indem sie riesige Bauwerke errichten, in denen sie ihm huldigen. Er könnte auch beobachten, dass sich nicht alle Menschen diesbezüglich gleich verhalten. Viele scheinen sich an der öffentlichen Huldigung nicht zu beteiligen. Noch erstaunter müsste der Außerirdische sein, wenn er Gelegenheit fände, an verschiedenen Orten der Erde mit Menschen in Kontakt zu treten und deren weit voneinander abweichende Vorstellungen von besagtem Wesen und deren verschiedenartige religiöse Bräuche kennen zu lernen.

Religion ist also ein eigenartiges, ein rätselhaftes Phänomen. Dass es die ihr zugrundeliegende Idee von der Existenz eines übernatürlichen Wesens in der Welt gibt, ist ein unbestrittenes, bemerkenswertes Faktum, unabhängig von der Frage, ob dieser Idee eine Realität entspricht. Der Glaube an Gott ist weit verbreitet, aber nicht überall gleich intensiv und auch bei weitem nicht von allen Menschen akzeptiert.

Auch ohne Vorliegen empirischer Daten darüber darf man annehmen, dass sich die Gottesidee auf die einzelnen Individuen verschieden auswirkt. Zunächst ist festzuhalten, dass die Kunde davon nicht alle Menschen erreicht, denn manche sterben bereits kurz nach ihrer Geburt. Andere haben einen schweren geistigen Defekt, der sie vermutlich nie einen klaren, sinnvollen Gedanken denken lässt. Natürlich könnte und sollte man meinen, dass Gott, wenn es ihn gibt, verborgen auch in ihnen wohnt. Aber dass die Gottesidee in ihrem Bewusstsein heimisch wäre, ist unwahrscheinlich. Manche Menschen hören schon in ihrer frühen Kindheit von Gott, eventuell in gereimter Sprache, weil eine liebe Person an ihrem Bettchen sitzt und mit ihnen ein Nachtgebet spricht. Solche Erfahrungen können sich in abgewandelter Form vielfach wiederholen, bis sich die Betreffenden selbst die Gretchenfrage stellen. Wieder andere kommen mehr oder weniger zufällig mit Religion in Berührung, aber aufgrund einer areligiösen Umgebung gewinnt die Nachricht für sie keine Bedeutung. Die Lebensumstände, das Milieu, die Persönlichkeitsentwicklung und der Lebensstil dürften Einfluss darauf haben, ob sich die Gottesidee etabliert und Gestalt annimmt.

In unserer Gesellschaft gibt es einen breiten Konsens darüber, dass Religion eine Privatangelegenheit ist. Trotzdem gibt es in der Öffentlichkeit ein erstaunlich großes aktuelles Interesse an diesem privaten Bereich. So vergeht kaum eine Woche, in der sich nicht auf einem der Fernsehkanäle eine Diskussionsrunde in einer Talkshow mit diesem Thema beschäftigte. Die Teilnehmer sind jeweils so ausgewählt, dass sie gegensätzliche Standpunkte vertreten. Solche Diskussionen werden ungewöhnlich emotional geführt. Selbst die Moderatorinnen oder Moderatoren können ihre Erregung kaum verbergen. Daraus kann man schließen, dass Religion ein Thema ist, das die Menschen umtreibt, auch diejenigen, die sich zum Atheismus bekennen. Offensichtlich werden dabei für sie existenziell wichtige Fragen berührt.

Eine Erklärung für diese Emotionalität kann die Sozialpsychologie liefern. Der Mensch sehnt sich nach Bestätigung seiner eigenen Art zu denken. Wo er auf abweichende Überzeugungen stößt, drängt es ihn, sich zu äußern und für seinen Standpunkt zu werben oder zu kämpfen. Die sicherste Art, die ersehnte Bestätigung zu finden, ist es, sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben, von denen man bereits weiß, dass sie ähnlich denken. Darum suchen Gottgläubige die Glaubensgemeinschaft und Atheisten eine Gruppe, in der ihre Weltanschauung gilt. Jeder Hinweis auf die Überlegenheit der eigenen Anschauung, jede öffentliche Würdigung, jedes sichtbare Zeichen von Geltung erleichtert die Identifikation, während jede öffentliche Schmähung, jeder Skandal, jeder Mitgliederschwund wie ein Angriff auf die persönliche Integrität empfunden wird.

Den engagierten, kämpferischen Atheisten und antiklerikalen Kreisen geht es nicht anders, als den Gottgläubigen. Sie leiden darunter, dass Religion offensichtlich immer noch nicht ausgestorben ist. Jedes Lebenszeichen ist für sie wie eine Provokation. Immerhin gibt es noch Kirchen, Synagogen, Tempel und neuerdings hierzulande auch Moscheen. Es gibt noch Kruzifixe und andere religiöse Symbole in Schulen, wenn auch nicht in allen, in konfessionellen Kindergärten, Krankenhäusern und Altenheimen. Man kann Kreuze oder Bildstöcke auf Berggipfeln, in Feld, Wald und Flur sehen. Schmuckkreuze an Halsketten zieren die Träger, die freilich nicht immer an Christus glauben. An manchen Autos findet man als Aufkleber den Fisch als Symbol für Jesus Christus (griechisch: Ichthys = Fisch, Akronym aus den Anfangsbuchstaben von Jesus, Christus, Gottes Sohn, Erlöser). Es gibt einen Amtseid mit der Anrufung Gottes, wenn auch nicht obligatorisch. Auf der amerikanischen Dollarnote steht, dass die amerikanische Notenbank „im Vertrauen auf Gott“ den Gegenwert garantiert und auf einem brasilianischen Geldschein soll „Deus seja louvado“ (Gott sei gelobt) zu lesen sein. Alle großen Rundfunk- und Fernsehanstalten und alle großen Zeitungen unterhalten Redaktionen, die sich mit Religion und kirchlichen Angelegenheiten beschäftigen. Unter www.theopop.de gehen Studenten und Dozenten der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen der Frage nach, wie Religion in der Popkultur dargestellt wird und kommen zu dem Ergebnis, dass die Popkultur voll von religiösen Anspielungen ist. Auf den großen Buchmessen ist meist eine ganze Halle für die konfessionellen Publikationen reserviert. Und immer wieder hört man öffentliche Bekenntnisse prominenter Politiker, Wissenschaftler, Künstler, Manager, Sportler und Journalisten zu ihrem Gottglauben.

Religion ist auch sehr stark in unserer Alltagssprache verankert, etwa in den Redewendungen „Gott sei Dank“ (Ausdruck der Erleichterung), „in Gottes Namen“ (Ausdruck des Nachgebens), „um Gottes Willen“ (Ausdruck der Verwunderung), „Gnade dir Gott“ (Drohung), ferner: „vergelt’s Gott“, „gütiger Gott“, „so Gott will“, „dein Wort in Gottes Ohr“, „grüß Gott“, „behüt dich Gott“, „Gott befohlen“. Das Wort Gott ist also in aller Munde, auch wenn die Redewendungen aus einer Zeit stammen, in der religiöses Denken und davon geprägtes öffentliches Handeln noch weit verbreitet waren. Zum Ärgernis kämpferischer Atheisten haben sie den gesellschaftlichen Wandel bis jetzt überlebt.

Religion ist also noch nicht verschwunden trotz Aufklärung, trotz der sensationellen Fortschritte der modernen Naturwissenschaften und der Technik, trotz der damit verbundenen Fortschrittsgläubigkeit, trotz einer „Philosophie ohne Gott“, trotz religionsfeindlicher Ideologien, trotz Psychologie, Neurowissenschaften und Psychoanalyse, trotz atheistischer Diktaturen, trotz Liberalismus, Antiklerikalismus und praktischem Materialismus. Aus der Sicht der Religionsgegner muss es sich bei diesem Phänomen geradezu um eine Hydra handeln. Mehr noch, während sich im Westen die Kirchen leeren, erblüht in Russland nach Jahrzehnten der Unterdrückung und des staatlich verordneten Atheismus eine neue Religiosität. Ich zitiere aus einer aktuellen Reportage des Journalisten Ulrich Pleitgen: „Religion füllt in Russland das ideologische Vakuum auf, das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstanden ist“. Vielleicht ist die Verwunderung über die Präsenz von Religion dort, wo man sie nicht mehr erwartet, auch ein Grund für das besagte öffentliche Interesse und die Aufmerksamkeit, die das Thema hier in neuester Zeit erfährt.

Dies ist die eine Seite des Bildes, das Religion in der Öffentlichkeit abgibt. In zunehmendem Maße kann man auch andere Tendenzen beobachten. So wird z.B. von Schulen und Kindergärten verlangt, religiöse Symbolik zu vermeiden. Aus dem Christbaum wird so der Weihnachtsbaum oder der Lichterbaum. Um keine Irritationen bei Kindern aus einem ungläubigen Elternhaus aufkommen zu lassen, soll nicht mehr vom Christkind gesprochen werden, sondern von der Weihnachtsfee. Das erinnert an den Versuch der sowjetischen Kommunisten, Weihnachten durch das „Fest zu Ehren von Väterchen Frost“ zu ersetzen. Dazu passt die Forderung, den bei Kindern beliebten Martinszug in „Sonne-, Mond- und Sterne-Zug“ umzubenennen, weil der Heilige Martin als Symbolfigur der christlichen Nächstenliebe gilt. Gläubige lassen sich durch derartige Meldungen meist nicht irritieren. Die größere Gefahr für den christlichen Glauben erwächst aus der weit verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber allem Religiösen.

Ursprung und Anfänge von Religion

Religion ist ein einzigartiges, echtes Kulturgut der Menschheit. Meines Wissens gibt es im Tierreich, selbst bei den biologisch nächsten Verwandten des Menschen, nichts, was auch nur im Entferntesten auf Religion hin gedeutet werden könnte oder auf religiöse Gefühle schließen ließe. Dabei gibt es für andere menschliche Regungen, wie Liebe, Hass, Trauer, Freude, soziale Gesinnung, Imponiersucht oder Durchsetzungsdrang, analoge Ausdruckserscheinungen bei Tieren, die es erlauben, zumindest rudimentäre Gefühle dieser Art zu unterstellen.

Ich kann mich allerdings an das Foto eines Zwergschimpansen (Bonobo) erinnern, der mit dem Gesichtsausdruck der Verwunderung, des Staunens, eine tote Taube auf seiner Hand hielt und betrachtete. Hier könnte man zumindest fragen, was diesem Affen durch den Kopf gehen mochte. Vielleicht ist das Staunen tatsächlich der Uraffekt, der in Richtung Religion gedeutet werden könnte.

Das führt zu der Frage, seit wann es so etwas wie Religion gibt. Datierungen sind außerordentlich problematisch, weil es schwierig ist von archäologischen Funden auf einen kultischen Akt zu schließen. Wenn z. B. berichtet wird, dass Skelette des Homo Heidelbergensis in einer Bestattungsgrube zusammen mit einem Faustkeil aus Rosenquarz – ein als Werkzeug und Waffe verwendbarer, wertvoller Gebrauchsgegenstand – gefunden wurde, so könnte dieser als Grabbeigabe gedeutet werden, der auf einen Opferritus hindeutet. Aber diese Deutung ist nicht zwingend. Die bei Ausgrabungen in Atapuerca gewonnenen Fundstücke sind ca. 500 000 Jahre alt. Ein Alter von gerade einmal 27 000 Jahren schreibt man der „Venus von Willendorf“ zu, einer kleinen Statuette, die vor ca. 100 Jahren in der Wachau bei den Arbeiten für eine Bahnlinie gefunden wurde. Die Art der Darstellung weist auf eine Muttergottheit oder Fruchtbarkeitsgöttin hin. Ähnliche Skulpturen wurden an verschiedenen Orten Europas – ab einer Zeit von 40 000 v. Chr. – entdeckt. Von welchem Zeitpunkt man auch immer ausgeht, eine als solche eindeutig identifizierbare „Gottesidee“ ist in dieser Welt neueren Datums. Die meiste Zeit, die seit dem Urknall vergangen ist, hätte man dergleichen vergeblich gesucht.

Wenn man sich die Lebensbedingungen der frühesten Menschen, die in den Höhlen Mittel- und Südwesteuropas hausten, vorstellt, erkennt man: Ihr Überleben hing von den Tieren ab, die sie jagten, und von den Pflanzen, deren Früchte und Wurzeln sie sammelten. Deren Gedeihen sicherte ihr Überleben. Und dieses hing vom Klima ab, von der Temperatur, vom Licht und vom Niederschlag. Das Schicksal magisch zu bannen und zu beeinflussen, könnte eine der ersten gemeinsamen metaphysischen Anstrengungen gewesen sein. Es spricht vieles dafür, dass dieses Bemühen an Erscheinungen in der Natur gekoppelt war, an das Werden und Vergehen, an den Tod der nächsten Verwandten und Stammesmitglieder (Totenkult), an den Lauf der Sonne, des Mondes und der Sterne, an die Jahreszeiten, an Sturm, Gewitter und Regenbogen und alle außergewöhnlichen Erscheinungen in ihrer natürlichen Umgebung.

Wenn ich in der Vergangenheit von ähnlichen Gedanken gehörtoder gelesenhabe, waren diese oft mit der Vorstellung verbunden, damit sei Religion als eine Erfindung des Menschen, als ein Produkt der menschlichen Phantasie, entlarvt und so ihres übernatürlichen Charakters beraubt. Ich kann an einer solchen Entstehungsgeschichte von Religion nichts finden, was mich stören könnte, und kann diese vermeintlich primitive Vorgeschichte ohne Schwierigkeit mit liebevollem Verständnis in mein Gottesbild integrieren. Alles andere würde mich irritieren. Man muss versuchen, die Phänomene dieser Welt, wie sie sich durch wissenschaftliche Erkenntnisse immer klarer darstellen, zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.

Religion als ein System gemeinsamer Überzeugungen und kultischer Handlungen eines Volkes ist noch jüngeren Datums. Ausgrabungen am Göbekli Tepa in Ostanatolien haben eine Kultstätte ans Tageslicht gebracht, die aus der Zeit von ca. 9000 Jahren v. Chr. stammt. Dort dürften Menschen, die sich am Übergang von der Kultur der Jäger und Sammler zur Kultur des Ackerbaus befanden, in großer Zahl zusammengekommen sein. Die vermutlich für einen Totenkult errichtete Anlage mit kunstfertig gestalteten Steinfiguren – nach der Deutung des Grabungsleiters „Wesen aus einer anderen Welt“ – war eine gewaltige Gemeinschaftsleistung, die für eine ausgeprägte Organisation und eine Gemeinsamkeit in den Jenseitsvorstellungen spricht. Für die Zeit von vor ca. 6000 Jahren (4000 v. Chr.) sind Religionen in Ägypten und in Mesopotamien überliefert, mit einer Vielzahl von Göttern, die zum Teil durch Tiergestalten symbolisiert waren. Auch diese Religionen waren stark von den damals geltenden Jenseitsvorstellungen geprägt. Ihre Verehrungsriten und kultischen Feiern dienten hauptsächlich dem Totenkult.

Etymologieim Spiegel der Sprache

Uden Sinn eines Begriffes besser zu verstehen, ist es empfehlenswert, seine sprachlichen Wurzeln zu kennen. Das Wort „Religion“ kann man von zwei verschiedenen lateinischen Wörtern ableiten. „Religare“ heißt: „zurückbinden“. Die Vorstellung, sich an etwas Großes und Ewiges zu binden oder sich darauf zu beziehen, erscheint sinnvoll. Religion kann man aber auch von „relegere“ mit der Wortbedeutung „erwägen, bedenken“ herleiten. Damit in Übereinstimmung findet man im lateinischen Wörterbuch unter „religio“ die deutschen Begriffe „Bedenken, Zweifel, Gewissen, religiöse Verehrung“.

Das Wort „Gott“ erscheint im Alt- und Mittelhochdeutschen als „got“, im Angelsächsischen als „god“, im Altnordischen und Schwedischen als „gud“ und bedeutet übereinstimmend ein übernatürliches Wesen. Alle diese Formen werden auf das Germanische „guda“ zurückgeführt, das dem „ghuto“ (= angerufen) entspricht. Damit war bei unseren Urvorfahren Gott das Wesen, das angerufen wurde. In den romanischen Sprachen gibt es für Gott Bezeichnungen, die auf das lateinische „deus“ zurückgehen, das seinerseits auf den Himmelsgott „deiwos“ im Urindogermanischen verweisen könnte. Auch das griechische „theos“ könnte damit in Zusammenhang stehen. Dieses wird oft auch von „thyein“ (= opfern) hergeleitet und meint dann das Wesen, dem Opfer dargebracht werden.

In der islamischen Welt steht bekanntlich „Allah“ für Gott. Das Wort könnte aus „al-Ilâh“ entstanden sein, der Bezeichnung für den Stadtgott von Mekka, die dort bereits vor Mohammed geläufig war. Ähnlich klingende Bezeichnungen gab es im gesamten semitischen Sprachraum, sie bedeuteten übereinstimmend der „uneingeschränkt Mächtige“. Manche Moslems wehren sich dagegen, dass Allah von anderen Glaubensgemeinschaften für Gott benutzt wird. Nach dem Urteil eines Gerichts im überwiegend moslemischen Staat Malaysia ist es dort Christen verboten, das Wort „Allah“ für ihren Gott zu gebrauchen. Das schafft insofern ein Problem, weil es in der Landessprache keinen anderen Gottesbegriff gibt.

Sprache ist eine der großen Kulturerfindungen der Menschheit. Da das Denken in sprachlichen Begriffen geschieht und diese voraussetzt, brachte die Sprache einen gewaltigen Schub in der weiteren kulturellen Entwicklung, nicht zuletzt auch deswegen, weil durch dieses Kommunikationsmittel eine Vernetzung und eine Kombination vieler menschlicher Denkleistungen möglich wurden. Die Qualität intellektueller Gemeinschaftsleistungen hängt von der Differenzierungsfähigkeit der betreffenden Sprache, der Sprachbeherrschung der beteiligten Individuen, d. h. der Präzision ihres sprachlichen Ausdrucks, und ihrer Sprechdisziplin ab. Dies gilt besonders auch für das Sprechen über innerseelische Vorgänge und Zustände, wie Empfindungen, Gefühle, Anmutungen und Emotionen, auch für das Reden über Gott und Religion.

Wenn z.B. in Talkshows die Diskutierenden bei den Gesprächen über Religion immer wieder aneinander vorbeireden und letztlich nichts Vernünftiges dabei herauskommt, dürfte das mit diesem Kommunikationsproblem zusammenhängen. Gerechterweise muss man jedoch zugeben, dass man beim Thema Religion rasch an die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit stößt.

Das Problem wird dadurch kompliziert, dass die Semantik, der Bedeutungsgehalt von Ausdrücken, in einem lebendigen Organismus, wie der Sprache, keine feststehende Größe ist. Sie ist zeitlich variabel und zeigt generell eine gewisse Unschärfe. Dazu kommt auch die interindividuell variierende Bedeutungsaura von Begriffen. Diese wird in der Sozialpsychologie mit Methoden, wie dem „Semantischen Differenzial“, untersucht. Dabei wird gemessen, welche anderen Inhalte bei Verwendung eines Begriffes durch ein Individuum oder eine Gruppe mitschwingen.

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) hatte sicher Recht, wenn er sagte: „Das Wort „Gott“ ist das beladenste aller Menschenworte. Alles Mögliche an menschlichem Schutt wird auf diesem Wort abgeladen“. Auch der große Theologe Karl Rahner (1904–1984) klagte, dass „mit dem Wort „Gott“ Grässliches und Törichtes getrieben“ wurde. Es sei das „dunkelste aller Worte“ und könne nicht in die übrigen Wörter der menschlichen Sprache als eines unter anderen eingeordnet werden. „Vernutzt wirkt das Wort Gott“, meint Gotthard Fuchs in seiner Betrachtung „Überall ist er und nirgends“ (Christ in der Gegenwart, 66. Jg., Nr. 10, Herder Verlag, Freiburg 2014). Das Reden über Gott birgt generell eine Gefahr, vor allem wenn es, wie im kirchlichen Bereich oft üblich, gewohnheitsmäßig und unreflektiert geschieht. Sehr leicht wird dann das Große, Geheimnisvolle zurechtgestutzt und verfügbar gemacht. Aber der Begriff ist unverzichtbar, wenn man über Gott reden möchte.

Wie müsste die Sprache, in der wir zu anderen und zu uns selbst über Gott sprechen, beschaffen sein, ganz unabhängig von der Schwierigkeit, sich dabei adäquat auszudrücken? Ich meine, sie müsste tiefe menschliche Gefühle ansprechen und so in einen Zustand der Ergriffenheit versetzen. Dies könnte am ehesten durch die Verwendung von Bildern, Symbolen und Ausdrücken erreicht werden, die dem Geheimnis Rechnung tragen. Allerdings geht eine inhaltsarme, verschleiernde Diktion zu Lasten der Ansprüche des Verstandes. Die Glaubenssprache sollte daher bei aller Gefühlsbetonung möglichst einfach, transparent und für den Hörer nachvollziehbar sein. In der Gleichnissprache Jesu sehe ich diese Forderung weitgehend verwirklicht, im Gegensatz zur „Verkündigungssprache“ der Kirchen, die im Laufe der Zeit einen schwer verständlichen „ideologischen Überbau“ aufgetürmt haben.

Wurzeln der Religiosität

So interessant die Überlegungen sein mögen, warum Menschen in der Jungsteinzeit religiöse Anmutungen hatten und warum sich daraus Religionen entwickelten, sie sagen nichts über die Motive von Menschen der Gegenwart. Kein Mensch muss heute an Gott glauben und ihn verehren. Wenn er es dennoch tut, darf man nach dem Warum fragen.

Die einfachste Antwort ist die mancher Gottgläubiger: Weil es Gott gibt und der Mensch einen „Sinn für das Göttliche“ besitzt. Da sich das aber nicht belegen lässt, werden viele mit einer solchen Antwort nicht zufrieden sein. Die Annahme, Religion könnte etwas mit der Selbstreflexion, unserem Bewusstsein und unserem Kausalitätsbedürfnis zu tun haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber auch das führt nicht wesentlich weiter. Eine Vermutung von Psychologen dürfte den Atheisten entgegenkommen. Sie besagt, dass der Gedanke, es müsse ein hilfreiches überirdisches Wesen geben, aus der Angst geboren wurde, der Angst vor Unheil, vor allem vor dem Tod, vor der Vergänglichkeit. Der Mensch ahnt, dass er nicht sein könnte, und das ist für ihn nur erträglich im Glauben an einen Gott, der ihn ins Leben gerufen hat und ihm ein Weiterleben nach dem Tod zusagt.

Gottgläubige legen großen Wert darauf, Aberglauben als etwas von ihrem Gottglauben Unterscheidbares zu betrachten. Atheisten dagegen sehen beides als Ausfluss derselben abergläubischen Natur des Menschen, nämlich der Neigung Zusammenhänge anzunehmen, wo es keine gibt, und deuten Religion als das Ergebnis einer Scheu vorder Erklärungslosigkeit(Horrorvacui).Entspringen vielleicht nicht doch beide derselben Wurzel, dumpfen Ängsten vor dem Ungewissen, und dem Bemühen, das Schicksal zu seinen Gunsten zu beeinflussen, im einen Fall durch die Anrufung Gottes, im anderen durch magische Praktiken? Das lässt sich nicht leicht entscheiden, zumal es abergläubische Formen der Frömmigkeit auch im Umfeld traditioneller Religionen gibt, etwa das Tragen geweihter Amulette, das Berühren von Reliquien, das Aufsuchen bestimmter Orte und das Einhalten absurder Regeln. Solche Praktiken wurden überwiegend aus der naiven Volksfrömmigkeit geboren, von den Kirchen aber zumindest geduldet. Es gibt vereinzelt auch Beispiele einer Amalgamierung von Religion und Aberglaube, wie z. B. in Brasilien, auf Kuba und Haiti, wo die aus Westafrika stammenden und von Sklaven dorthin verbrachten spiritistisch-animistischen Bräuche eigenartig anmutende Verbindungen mit römisch-katholischen Elementen eingegangen sind. Dieser „Voodoo-Zauber“ war sicher nicht im Sinne der Kirche, konnte von ihr aber nicht verhindert werden. Auch wenn man Ängste als Triebfeder von beiden, Religion und Aberglaube, nicht ausschließen kann, in einem Punkt unterscheiden sie sich. Wahres Gottvertrauen kann dem Menschen Halt geben, Aberglaube eher nicht. Aberglauben findet man vornehmlich dort, wo Gottvertrauen fehlt, weswegen manche im Aberglauben einen Religionsersatz sehen.

Verbreitung des Gottglaubens

Auf der Internet-Seite der Zeitung „Die Welt“ waren die Ergebnisse aus dem ISSP (International Social Survey Programme) 2008 nachzulesen. Der Feststellung „Ich glaube an einen persönlichen Gott“ wurde von den in verschiedenen Ländern befragten Personen unterschiedlich oft zugestimmt. Die höchste Zustimmungsrate gab es mit 91,9 % auf den Philippinen (mit einem hohen Anteil von Katholiken in der Bevölkerung), gefolgt von Chile (71,8 %), USA (67,5 %), Israel (66,5 %), Irland (64,1 %) und Polen (59,6 %). Deutschland wurde wegen vermuteter Unterschiede in West- und Ostdeutschland aufgegliedert. Westdeutschland nahm mit 32,0 % einen mittleren Platz ein, noch hinter Russland mit 40,8 %. Unser Nachbarland Frankreich kam nur auf 18,7 %. Noch weniger Gottgläubige gab es in Tschechien (16,1 %). Die geringste Zustimmung verzeichnete man mit 8,2 % in Ostdeutschland. Die Hoffnung der Kirchen, dass sich der Atheismus in den neuen deutschen Bundesländern mit zeitlichem Abstand zum Ende des DDR-Regimes verringern würde, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Der Vergleich der bei den jährlich durchgeführten ISSP Untersuchungen gewonnenen Untersuchungsergebnisse ergab eine Abnahme der Gottgläubigkeit in fast allen Ländern.

Aus einer Allensbach-Umfrage von 1989 geht hervor, welche Akzeptanz die einzelnen Aussagen des Glaubensbekenntnisses bei Katholiken und Protestanten damals in Deutschland fanden. Die Prozentzahlen reichten von 83 % der Katholiken für die Aussage „ich glaube an Gott“ bis 24 % der Protestanten für den Satz „empfangen durch den Heiligen Geist“. Das besagt, dass selbst Kirchenmitglieder bei weitem nicht alles glauben, was sie nach Auffassung der Kirchen glauben sollten.

Mit dem Gottglauben in Zusammenhang steht die religiöse Praxis der Gläubigen. Auch hierzu gibt es statistische Daten, die aus Zählungen und Befragungen gewonnen wurden. So ist der „regelmäßige, wöchentliche Kirchenbesuch“ in der Katholischen Kirche Deutschlands zwischen 1950 und 2009 von 50,4 % auf 13 % zurückgegangen (Quelle: DBK). In der Evangelischen Kirche lag er 2008 bei 4,2 % der Kirchenmitglieder. Das sind Zahlen, die den Verantwortlichen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland Sorge bereiten.

Wie bei jeder Persönlichkeitseigenschaft gibt es auch für die Religiosität große interindividuelle Unterschiede, d.h. die Ausprägung schwankt zwischen „Fehlanzeige“ und einer spirituellen Haltung, wie sie nur in der Abgeschiedenheit eines Klosters nach langen Zeiten des Übens möglich erscheint. Dass manche Persönlichkeitseigenschaften miteinander korrelieren, ist bekannt. Das müsste auch für die Religiosität gelten. So sollten Eigenschaften wie Friedlichkeit, Ehrlichkeit, Offenheit, Toleranz, Hilfsbereitschaft durchschnittlich eher bei den Menschen anzutreffen sein, die an Gott glauben, ungeachtet einzelner Beispiele, die das Gegenteil zu belegen scheinen. Das muss nicht heißen, dass jemand nur deswegen hilfsbereit ist, weil er gottgläubig ist. Man muss eher danach fragen, ob diese Merkmale nicht eine gemeinsame Ursache haben, etwa in dem Einfluss der Familie und des Milieus, in dem die Betreffenden aufgewachsen sind. „Religion ist keineswegs speziell für Dumme und Arme“, hieß es in der Überschrift eines Artikels in der Frankfurter Rundschau (20. Mai 2015), der sich auf Untersuchungen des Religionssoziologen Detlef Pollack (geb. 1955) bezog. Dass Gottglaube und Religiosität häufiger bei älteren Menschen anzutreffen sind, könnte auf eine vermehrte Nachdenklichkeit der Alten zurückzuführen sein. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Alten in einer anderen Zeit und damit unter anderen Bedingungen gelebt haben.