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Für Isabelle

Impressum:

Umschlaggestaltung: Hans Schenker

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-7439-8604-6 (Paperback)

978-3-7439-8149-2 (Hardcover)

978-3-7439-8605-3 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

HANS SCHENKER

GOTT SPUCKT DIE LAUEN AUS

ROMAN

I

Er wusste nicht, wie er in diesen Saal gekommen war. Er hatte keine Ahnung, was er da zu suchen hatte. Wer waren all diese Leute? Warum saß er alleine auf dieser Bank? Und warum erhoben sich alle, als die drei Männer in schwarzen Talaren den Raum betraten und sich auf dem Podest feierlich in die Sessel setzten, die unter einer riesigen Schweizerfahne aufgereiht waren?

„Angeklagter, erheben sie sich.“

Angeklagter? War er damit gemeint? Warum starrten ihn alle an?

„Angeklagter, Ihnen wird zur Last gelegt, sich unentwegt abfällig über ihre Gemeinde zu äußern. Sie werden beschuldigt, die Einwohner der Lächerlichkeit preiszugeben, die Traditionen der Gegend mit Füßen zu treten, altes Brauchtum zu verhöhnen und mit Fremden zu paktieren.“

„Wie bitte? Mit Fremden paktieren?“

„Ferner werden Sie bezichtigt, eine Kampagne gegen die Werte der Schweiz zu führen und unser Land zu denunzieren. Was sagen sie dazu?“

„Das muss ein Missverständnis sein. Es ist gerade umgekehrt. Die Ankläger verraten und verhunzen die Werte meiner Heimat. Mein Zuhause ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ich fühle mich fremd und ausgestoßen. Ich bin Ausländer im eigenen Land. Es ist meine heimatliche Pflicht, mich zu wehren gegen die ansässigen einfältigen Hinterwäldler. Ich klage sie an.“

„Wir bitten um Anstand und untersagen Ihnen, rechtschaffene Bürger zu beleidigen.“

„Diese rechtschaffenen Bürger, die hiesigen Bauern sind charakterlose Verräter. Sie haben unseren Boden an Schwerreiche verscherbelt, sie kassieren schamlos Subventionen und pfeifen auf die sogenannten Werte. Die Willensnation Confoederatio Helvetica, auf die ihr alle so stolz seid, haben diese reni-tenten Ignoranten längst abgeschafft. Den Rösti-Graben haben sie vertieft und unpassierbar gemacht.“

„Wir verwarnen Sie. Stellen Sie augenblicklich die Beschimpfungen gegenüber Ihren Landsleuten ein. Angeklagter, man beschuldigt Sie der fortwährenden Beleidigung und Verunglimpfung unserer Nation.“

„Herr Vorsitzender, jeder Psychologe wird ihnen …“

„Bleiben Sie beim Thema, bitte!“

„Das ist das Thema. Jeder Psychologe wird ihnen bestätigen, dass ein Kind, welches bis zum zweiten Lebensjahr nicht imstande ist, die liebende und die strafende Mutter als eine Person zu verstehen, irreversible Schäden davontragen wird.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Wenn die Schweiz nicht imstande ist, in mir den Lobenden und den Tadelnden in ein und derselben Person zu begreifen, dann hat sie ein ernsthaftes Problem. Ich will damit sagen, dass sie einen Patienten zum Ankläger gemacht haben.“

„Letzte Verwarnung! Soeben sind wir Zeugen, einer weiteren Beleidigung in der Causa Heimat geworden.“

„Ich wehre mich gegen sämtliche Anklagepunkte, weil Denunzianten kein Recht haben, den Denunzierten zu denunzieren.“

„Angeklagter! Es ist uns offenkundig, dass Sie seit Jahren als Störenfried und Enfant terrible in der Schweiz bekannt sind. Sie sind ein Nestbeschmutzer, ein Lästermaul, der keine Gelegenheit auslässt, seine Brotgeber zu verraten. Außerdem gehören Sie zur Berufsgattung der Schauspieler, bei der man nie so recht weiß, ob ihre Argumente ihrer Überzeugung entsprechen oder bloß gespielt sind.“

„Fakt ist, dass ich mir, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die Freiheit nehme zu kritisieren, was mir an der Schweiz und den Schweizern nicht gefällt. Ich sehe mich nicht als Nestbeschmutzer, sondern als Nestaufräumer, weil ich allzu oft eine bereits verschmutzte Situation vorfinde. Ich bin auch kein Terminator, sondern ein Illuminator, der so manche düsteren Ecken, in dieser ganz und gar nicht sauberen Heimat ausgeleuchtet hat. Und zu guter Letzt bin ich als Schauspieler nicht ein Verkleidungskünstler, wie die anonymen Ankläger, sondern ein Enthüller. Es liegt auf der Hand, dass Enthüllungen immer Dinge an den Tag bringen, die lange unter dem Teppich gehalten wurden und deshalb Gerüche verwester Verbrechen offenbaren können.

Ich klage die Gemeinde Lahnalp, das Almenland und die Schweiz an, solche Schweinereien seit Jahren zu betreiben, ich klage sie an, mein Heimweh, in eine schmerzhafte Heimsuchung umfunktioniert zu haben, die einer Kur und einer langwierigen Heilung bedarf. Ich verlange Schadenersatz für mich, vor allem aber für die Verletzungen, die meiner Frau zugefügt wurden. Ich verklage die Einwohner der Gemeinde Lahnalp wegen Diebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Rufmord. Außerdem beschuldige ich sie, des willentlichen Missbrauchs eines Schwerstbehinderten, der bewusst als Drohne eingesetzt wird, ausgestattet mit faschistischen Parolen und Naziemblemen. Ich bezichtige die Gemeinde des Meineids und der permanenten Lüge. Ich verlange dieser Zerstörungswut Einhalt zu gebieten und das ganze Dorf zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem fordere ich für meine Frau und mich Polizeischutz rund um die Uhr, weil wir unseres Lebens nicht mehr sicher sind in diesem hasserfüllten Ort.“

„Ruhe im Saal, sonst lass ich ihn räumen!“

„Angeklagter, wir bitten Sie, Ihre Schauspielerei einzustellen, mit der Sie das Publikum demagogisch auf Ihre Seite bringen wollen. Sie stehen nicht auf einer Bühne, sondern im Zeugenstand, und dieser Prozess ist kein Theater.“

„Herr Vorsitzender, auch Ihre Anklage entbehrt nicht theatralischer Mittel, um Recht sprechen zu können. Ohne Verkleidung scheint die Wahrheitsfindung nicht möglich zu sein. Außerdem kommt erschwerend hinzu, dass die Ankläger anonym sind und als Phantome herumspuken.“

„Rufmord, Meineid und Lüge sind als Anklagepunkte nicht haltbar, da es für nichts Zeugen gibt. Und die Unterstellung, dass ein Schwerstbehinderter als Drohne missbraucht wird, scheint uns etwas weit hergeholt zu sein; wir sind im Almenland und nicht in Rammstein.“

Gelächter und Applaus im Publikum.

„Ruhe im Saal! Das Gericht sieht sich veranlasst, den Angeklagten wieder in seine Gefangenschaft nach Lahnalp zurückzuschicken. Dort hat er bis auf weiteres im Waldhaus Hotelarrest und steht auch weiterhin unter eidgenössischer Bewachung. Es steht dem Pächter frei, seine Funktion als Gastgeber im Waldhaus weiter auszuüben. Ferner sieht das Gericht keinen Handlungsbedarf bezüglich des Polizeischutzes für die beiden Wirte, da eine Eskalation im Streit der Konfliktparteien als höchst unwahrscheinlich einzustufen ist. Wir erkennen in der Forderung vielmehr eine typische Dramatisierung in Schauspielermanier, die jeder Grundlage entbehrt. Es fehlte nur noch, dass der Angeklagte bei der Schweizerischen Bergflugwacht einen Hubschrauber anfordert, der ihn jeweils von der Terrasse des Hotels abholt und absetzt, weil ihm der Weg vom Restaurant bis zum Parkplatz aufgrund der akuten Gefahr nicht mehr zuzumuten ist.“

Gelächter und Gejohle im Saal. Applaus und Pfiffe.

„Zu gegebener Zeit werden wir auf die Zeugenschaft der Familie des Schwerstbehinderten zurückkommen. Vorerst werden wir die Anklageschrift nochmals Punkt für Punkt durchgehen und überprüfen. Das Hohe Gericht beendet den heutigen Prozesstag und zieht sich zurück.“

Der Saal leerte sich, bis er alleine zurückblieb. Er saß auf seiner Bank und schaute hinauf zum großen, weißen Kreuz auf rotem Grund, das über den leeren Sesseln hing. Oder war es ein rotes Kreuz auf weißem Grund?

Auf einmal löste sich das Kreuz aus der Fahne und schwebte auf ihn zu. Er wollte entfliehen, aber das Kreuz war schneller. Es legte sich über ihn und drohte ihn zu ersticken. Er drehte sich auf den Rücken und rang nach Luft. Er wollte sich erheben, konnte aber nicht, da er gekreuzigt dalag, festgeklebt, verwachsen und verschmolzen mit seinem Kruzifix.

Schweißnass schreckte Peter aus seinem Traum auf und brauchte lange, bis er sich wieder zurechtfand.

II

Der Stammtisch im Waldhaus beherrschte den Gastraum. Egal, woher man kam oder wohin man ging, am Stammtisch mussten alle vorbei. Wer dort saß, konnte sowohl das Restaurant, die Bar, die Garderobe, die Toilettentür, als auch die Terrasse und den Ausgang beobachten. Er hatte den lückenlosen Überblick, die beste Aussicht, die komplette Kontrolle über das Geschehen im Lokal.

Seit 120 Jahren stand er unverrückbar an diesem Ort, als hätte man das ganze Haus um diesen Stammtisch herum gebaut, als wäre der Fuß des Tisches der Stamm einer tausendjährigen Tanne, die tief unter dem Lokal im Boden verankert ist und deren Wurzeln bis ins Unterland reichen. Er war die Kultstätte der Stammväter, die von diesem Stamm abstammten und ihn als Stammtisch für ihre Stämme bestimmt hatten. Wie die Urkantone der Eidgenossenschaft sich um den Vierwaldstättersee herum gruppierten, versammelten sich die Altvorderen, Vorfahren und Urahnen um diese Tafelrunde, die seit Menschengedenken rund war, damit jeder Stammeshäuptling behaupten konnte: „Da wo ich bin, da ist oben.“

Man konnte sich gut vorstellen, dass jede Erweiterung des Lokals, jeder zusätzliche Tisch, der im Laufe der Jahrzehnte zum Stammtisch hinzugekommen war, mit der Zeit allmählich eine Tischvereinigung gebildet hatte, die der Helvetischen Konföderation entsprach, welche den Neulingen Autonomie gewährte, aber auch ihr Einverständnis mit den eidgenössischen Glaubensartikeln des Stammtisches abverlangte: „Wir wollen sein ein einig Bund von Tischen, in keiner Not uns trennen und Gefahr …“

Selbstverständlich hing auch eine Glasvitrine mit Pokalen, Fahnen und Medaillen der Schützen, Schwinger, Turner und Jodler an der Wand. Links und rechts der Uhr waren zwei gehörnte Rehköpfe angebracht, die wachsam in die Runde starrten.

In diesem Ambiente saßen die stämmigen Stammtischleute an der massiven Ahnentafel von Lahnalp und über ihren Häuptern hingen, wie Heiligenscheine, ihre Familienwappen, die, nach den Regeln der Heraldik, in die Holzdecke gemalt waren. In der Mitte des Tisches stand ein schmiedeeiserner Aschenbecher, auf dem ‚Stammtisch‘ eingraviert war, damit die Bewohner anderer Stämme nicht auf die Idee kommen konnten, daran Platz zu nehmen.

Nicht, dass Andersstämmige nicht willkommen gewesen wären, im Gegenteil, man freute sich meistens, wenn sich ein Mutiger eines fremden Volkes daran niederließ und erzählte, wie es an seinem Stammtisch im Nachbartal oder Nachbarland so zuging; aber das war eher die Ausnahme. Meistens waren die Stammtischgenossen unter sich. Sie sprachen die gleiche Sprache, redeten über Dinge, die alle kannten oder schwiegen sich über Sachen aus, die jedermann wusste. Sie tranken Wein, Bier oder Schnaps und hätten gerne ihre Friedenspfeife geraucht, wenn es nicht untersagt gewesen wäre. Das Rauchverbot wurde eingehalten, wie alle anderen Verbote auch. Dazu waren sie ja schließlich gemacht; um sie und den Stamm zu schützen, vor sich selbst und vor anderen.

Peter freute sich über jeden Arbeiter und Bauern, der zu ihm kam und sich an seinem Stammtisch niederließ. Er war gerne ihr Gastgeber, kannte sehr schnell jeden Stammesgenossen bei seinem Vornamen, war mit allen per Du und setzte sich oft an die Tafel, um mit ihnen ein Glas oder mehrere zu trinken. Er mochte diese stiernackigen, ungeschliffenen Sturköpfe, die aussahen, als wären sie zwischen Tannen und Felsen dem Boden entsprungen, diese holzgeschnitzten Dickschädel, mit ihren unrasierten Gesichtern, windgegerbt und sturmgeprüft, wasserdicht, schlagfest und stoßsicher, als wären es keine Gesichter, sondern Landschaften: Alpen, Almen und Abgründe mit glühenden Augen und mit Zähnen, die Bäume fällen können, wenn die Kettensäge versagt. Sie saßen niet- und nagelfest da und schluckten die Flaschen weg, wie ihre Landwirtschaftsgeräte das Schmieröl.

Laura war erleichtert, dass sich die Eingeborenen und ihr Mann gut verstanden. Sie liebte es, wenn er den Stammtisch betreute und diese sympathischen Rohlinge von ihr fernhielt. Sie kümmerte sich lieber um die Hotel- und Restaurantgäste, während Peter sich allzu gerne die Vorurteile, Ressentiments und die erzkonservativen politischen Verlautbarungen der Ureinwohner anhörte. Er konsumierte ihre Ansichten und Reden wie eine Comedy-Show. Sie waren dreist und laut, polternd und unnachgiebig. Jeder Widerspruch war Verrat. Er empfand eine klammheimliche Freude, wenn die Bauern mit einem Keulenschlag alles, was nicht mit ihrer Volkspartei übereinstimmte, in den Orkus verbannten. Es gefiel ihm, wenn sie unsachlich, unkorrekt und rassistisch waren. Sie verteidigten ihre Berge, Felsen, Gletscher, ihre Tiere und die Tradition ihrer Urahnen. Sie verehrten die Vergangenheit, misstrauten der Gegenwart und fürchteten sich vor der Zukunft. Ihre wütenden Hasstiraden hatten trotz – oder wegen – ihrer sprachlichen Behinderung etwas Schönes, ihr Gestus kam daher wie eine Naturgewalt, wie ein Erdbeben oder eine riesige Schneebrettlawine. Die erfrischende politische Unkorrektheit dieser ungehobelten Ansässigen brachten ihn oft zum Lachen.

Laura jedoch konnte solchen Äußerungen kein Verständnis entgegenbringen. Zu sehr wurde sie durch die polternden Standpunkte, die lauten Faustschläge und das männliche Gehabe beleidigt. Die Patriarchenattitüden und die frauenfeindliche Grundstimmung empörten und verletzten sie.

„Sogar die Muttersprache verdrehen sie zu einer Vatersprache“, entrüstete sie sich. „Keine Mutter würde es zulassen, dass man in ihrem Namen ungestraft Sätze hervorbringt wie: ‚De Wiber ghört hi u wider eis uf z’Füdle. E paarne gfallt’s.‘1 Wo sind eigentlich die Frauen von Lahnalp? Warum meiden sie den Ort, den Tisch, die Kneipe? Warum lassen sie es zu, dass daraus eine Männerdomäne wird? Sie rauchen nicht und trinken nicht und schlagen ihre Fäuste nicht auf den Tisch, bestellen kein Bier und lachen nicht schallend in die Runde, obwohl sie zum selben Stamm gehören. Sie sind Mitglieder ohne Stammtisch und trotzdem anwesend in ihrer Abwesenheit. Vor allem, wenn Kurt erschreckt die Uhrzeit kontrolliert, Hans Ueli die Mailbox seines iPhones abhört oder Werner plötzlich panisch zahlen muss. Dann sieht man auf einmal hinter, unter und neben dem Stammtisch, den unsichtbaren Stammtisch der Frauen. Ich werde nicht lockerlassen, ihn sichtbar zu machen, damit auch die Frauen sichtbar werden und ab und zu ihre Fäuste auf den Tisch hauen. Auch sie sollen bedeutende Sachen verkünden und sich austauschen können über ihren Stamm und ihre Stammesangelegenheiten.“

Da Peter sich weigerte, Polizeistunden oder Schließzeiten einzuhalten und widrige Worte wie Schluss, geschlossen, wir schließen, ausgeschlossen, vermied, kam es vor Feierabend zu wiederholten Auseinandersetzungen zwischen den Gastgebern, zu denen sie sich ins Fumoir im Keller zurückzogen. Laura wollte die trunkene Stammtischrunde nach Hause schicken und schließen, weil sie die Hotelgäste vor den grölenden Bauern beschützen müsse. Der Gastraum verteilte, wie ein Resonanzkasten, seinen Schall über das ganze Hotel und die Gäste beschwerten sich immer wieder, dass sie bei dem Lärm nicht schlafen könnten. Außerdem wolle sie aus Kostengründen das Servierpersonal nach Hause schicken und ihren Mann davor bewahren, mit diesen Barbaren Abend für Abend im Alkohol zu ertrinken.

Peter jedoch verteidigte die Bauern und die folkloristische Atmosphäre, die vom Stammtisch ausgehe, immer wieder. Das sei das Markenzeichen des Waldhauses. Eigentlich müssten sie eine Authentizitäts-Abgabe erheben, betonte er immer wieder.

„Unser Hotel heißt Waldhaus. Der Name kommt aus der Tiefe undurchdringlicher Märchenwälder, in denen Monster, Drachen und Riesen hausen und verlorene Kinder vor Hexenhäusern erstarren. Der Aufenthalt an solchen Orten ist unberechenbar und gefährlich. Dem Namen Waldhaus muss Rechnung getragen werden“, wehrte er sich, als müsste er ein Plädoyer für seine Bauern halten, die sich nicht wehren konnten, da sie keine Sprache hatten.

„Ich bin ihr Sprachrohr. Ich bin der Bauernversteher, der Alpenflüsterer.“

„Ich bin froh, dass du sie verstehst“, antwortete sie. „Wenn du also der Alpenflüsterer bist, dann benutze deine Methode, um sie nach Hause zu jagen, wo ihre Frauen und Kinder auf sie warten. Nutze dein Bauernverständnis, um sie rauszuwerfen, ohne dass sie es merken.“

Peter versuchte den Streit abzuwenden, aber Laura war in ihrem Eifer nicht zu bremsen.

„Wer steht morgen früh auf der Matte und empfängt die frustrierten Gäste? Wer muss über Zimmerpreissenkungen verhandeln oder das Frühstück kostenlos auftischen, um sie daran zu hindern, dass sie im Internet über uns herziehen und uns schlechte Noten erteilen, weil sie nicht schlafen konnten? Wer muss dafür geradestehen? Du oder ich? Und alles wegen diesen paar Alkoholikern, die nicht nach Hause gehen wollen.“

„Ich gebe zu, dass sie zu vorgerückter Stunde taub sind für Geflüster und blind für Fingerzeige“, beschwichtigte Peter, „aber Stammtische sind nun mal da für dröhnende Väter- und Großväter-Treffen, für Ahnen- und Urahnen-Beschwörungen. Diese Rituale kann man mit ‚Feierabend!‘ nicht beenden, schon gar nicht in trunkenem Zustand. Wenn ich dir nur die versteckte Schönheit solcher Momente näherbringen könnte!“

„Bitte verschone mich damit!“

„Die Verbindung aus Einheimischen, Stammtisch und Alkohol, kann manchmal eine Stimmung schaffen, aus der plötzlich dumpfe Mythen lebendig werden. Es ist unglaublich eindrucksvoll, wenn auf einmal Volksheld Winkelried in der Runde sitzt und alle mit feuchten Augen an die Schlacht von Sempach denken, wo ihre Urahnen mit Äxten, Lanzen und Morgensternen die Habsburger mit Stumpf und Stiel in den Sumpf gemetzelt haben. Sie sind halt so: grob, laut und unbeholfen in ihrer schlichten Sprachlosigkeit. Ihre Probleme behandeln sie wie ihre Viecher. Sie werden mit Kuhreihen herbeigesungen, in den Stall getrieben und weggesperrt. Ihre gordischen Knoten lösen sie mit Axt- oder Sensenhieben, und ihre Ängste vor dem Weiblichen treiben sie mit frauenfeindlichen Äußerungen aus. Jedes ihrer Lieder ist eine Liebesgeschichte, alles was sie machen, tun sie für ihre Weibsbilder. Ihre despektierlichen Entgleisungen muss man als folkloristische Verzierungen verstehen, die dem Heimatschutz unterstellt sind.“

„Es reicht! Schreib ein Buch darüber. Ich gehe schlafen. Es ist sinnlos mit dir darüber zu streiten. Schick die Mädels nach Hause, lös den unsäglichen Stammtisch so schnell wie möglich auf und schließ die Türen, bevor Winkelried kommt.“ Sie warf ihm ‚Alpenflüsterer‘ ins Gesicht und hinter sich die Türe zu.

Immer wieder war der Stammtisch der Stein des Anstoßes. Wann würde sie endlich ihre Abscheu vor der heimischen Anspruchslosigkeit überwinden und die derbe Schönheit dieser Einfachheit entdecken? Käme sie je in die entspannte Lage, die Betriebstemperatur solcher Männerabende ohne Angst genießen zu können, wie eine Raubtiernummer im Zirkus, ohne immer nach dem Tierschutzverein zu schreien?

Die Einheimischen spürten Peters Wohlgefallen für Ihresgleichen und luden ihn immer wieder gerne zu sich an den Stammtisch ein. Sie fanden Gefallen an seiner direkten Art, an seinem frechen, unkomplizierten Umgang mit ihnen. Sie mochten ihn, weil er keine Berührungsängste und eigentlich nichts mit ihnen gemein hatte. Er war ein Fremder, auch wenn er ihre Sprache verstand und so ähnlich reden konnte wie sie, aber eigentlich sahen sie in ihm ein urbanisiertes Wesen, einen bunten Vogel, der in Städten beheimatet war und nicht nach Lahnalp ins Almenland passte. Aber weil er ihnen so fremd war, hatte er etwas Anziehendes.

*

Lahnalp im Almenland – Was für eine Verheißung war von diesen drei Worten ausgegangen. Welches Versprechen verbarg sich hinter diesem Satz. Wie der Klang eines Mantras hallten die Begriffe und gelobten Frieden und beschauliche Ruhe. Die Vokale und Konsonanten standen respektvoll nebeneinander, vereint zu einer poetischen Kraft, als wären sie in einer lauen Sommernacht der Feder von Novalis entsprungen. Wie eine Hoffnung hing der Satz über dem Eingang zu einem geheimnisvollen Ort, wo alles Übel fernblieb und nur das Gute, Wahre und Schöne regierte.

Gesegnet war dieses Land. Grün und satt leuchteten die Wiesen, tiefblau wölbte sich der Himmel über Jodler und Kuhreihen und leise wiegten sich die Wälder im Wind, unter schneebedeckten Bergen, die erhaben im Sonnenlicht ruhten.

So zeigte sich Lahnalp im Almenland, als Laura und Peter an jenem sommerlichen Mai zum ersten Mal die Terrasse ihres Hotel-Restaurants Waldhaus betraten und als neue Pächter ihr Reich begrüßten. Die saftigen Matten lagen in der Sonne und faulenzten im Liegestuhl der Landschaft. Die Kuhglocken klangen so wohltuend, als wollten sie die ewige Versöhnung einläuten. Man hätte sich hineinlegen mögen, um sich mit der Natur zu vereinigen, die sich begehrlich im gleißenden Mittagslicht räkelte. Peter gab sich der Verführung hin, während Laura ihr längst verfallen war.

„Ich könnte schreien vor Glück. Am liebsten würde ich auf jede Alm hinaufrennen und überall den Großvater begrüßen oder mit dem Geißenpeter bis zum Fuße der Gletscher steigen!“

„Und zuschauen, wie der Alpenfirn sich rötet.“

„Mach dich nur lustig über mich. Es ist mir egal. Ich bin wieder zu Hause. Wie habe ich meine Berge vermisst! Nach so vielen Jahren endlich wieder in meiner Heimat. Das tut gut.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ist das nicht unglaublich! Die frische Luft und die rauschenden Wälder. Hörst du sie rauschen?“, fragte sie begeistert. „Hörst du die rauschenden Wälder?“

„Ja, ich höre sie und die ganze restliche Fülle der Idylle!“, lachte Peter.

„Entschuldige, ich bin total kitschig vor lauter Glück. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal …“

Er war belustigt und ergriffen von ihrem Sinnestaumel. Auch er war in den Schweizer Bergen aufgewachsen und nach langer Zeit wieder zurückgekehrt, auch er war bewegt von den Eindrücken. Mit geschlossenen Augen atmete er die Gerüche ein, nicht die beißende Jauche der Tiere, sondern den Duft seiner Kindheit, die unvergessliche Mischung aus warmer Milch, Käse, eingemachter Konfitüre, brennenden Bienenwachskerzen und Pferdemist.

Laura formte die Hände zu einem Sprachrohr und jauchzte ins Blaue.

„Holadioo! Holadioo! Hast du gehört – mein Echo!“

Sie gingen zusammen in den Garten, wo sie ihre Schuhe und Strümpfe auszog und über die Wiese zum Bach hinunterrannte. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Ihre Hochstimmung steckte ihn an. Wenn es einen Sinn hatte, diesen Pachtvertrag einzugehen, dann um Laura so lebensfroh zu erleben. Möge dieses Glücksgefühl lange anhalten. Er lief ihr hinterher. Sie legten sich beide in die Wiese und schauten in den Himmel.

„Hier können wir glücklich werden“, flüsterte sie. „Wir wollen unseren Landsleuten gute Gastgeber sein.“

Der Dorfbach glitzerte wie ein brillant besetztes Halsband und grüßte gurgelnd die zwei Glücklichen.

„Wir müssen still bleiben, damit die Postkarte nicht verwackelt“, sagte Peter leise.

Ein Bauer ging auf der Brücke vorbei und winkte ihnen zu. Laura winkte begeistert zurück.

„Hast du gesehen? Hier grüßt man einander und heißt sich willkommen. Ist das nicht rührend?“ Sie umarmte Peter, um etwas Handfestes zu spüren, weil sie Angst hatte, vor lauter Freude abhanden zu kommen.

„Sind wir nicht zu beneiden“, schwärmte sie weiter. „Was gibt es Schöneres, als hier Gastgeber zu sein. Wir wollen aus dem Waldhaus einen Ort der Begegnung machen, wie ich ihn von meiner Jugend in Stadel kenne, wo Bauern und Prominente, Arbeiter und Millionäre, Einheimische und Touristen Nacht für Nacht zusammensaßen und auf das Leben anstießen.“

„Morgen lasse ich neue Visitenkarten drucken mit der Berufsbezeichnung Gastgeber“, strahlte Peter. „Mit dem Titel verbindet sich Großzügigkeit und Überfluss.“

„Erst die Visiten, dann die Karten“, lachte Laura. „Apropos: Wie könnte unsere Werbung fürs Waldhaus lauten?“

Peter musste nicht lange nachdenken.

„Eine große Terrasse bietet Ihnen spektakuläre Aussichten ins Grüne und Blaue und jede Menge Einsichten in Land und Leute des Almenlandes.“

„Dazu serviert Ihnen unser Küchenteam köstliche Speisen und erlesene Weine“, fuhr Laura fort. „Wir hoffen, …“

„… dass Sie während Ihres Aufenthalts zu vielen Augenblicken ausrufen können: Verweile doch, du bist so schön“, ergänzte Peter.

Laura lachte.

„Ja, sehr gut. Goethe passt immer. Verweilen, ausruhen und entspannen oder auftanken und neu durchstarten! Unsere Zimmer strahlen eine kreative Atmosphäre aus …“

„… und ermuntern Sie, zu finden, wonach Sie immer schon gesucht haben“, vollendete Peter.

„Genießen Sie die Ruhe und die erholsame Einkehr bei uns und bei sich selbst“, fügte Laura hinzu.

„Erholsame Einkehr bei sich selbst …“, wiederholte Peter, „sehr gut. Das Waldhaus steht an einem der schönsten Orte der Welt. Wandern Sie am Fuß der blauen Berge und staunen Sie über die Weitsicht auf ihren Gipfeln.“

„Man müsste auch erwähnen, dass das Chalet weit über hundert Jahre alt ist und damit das älteste Hotel im Almenland“, betonte Laura, „um die knarrenden Fußböden und die hellhörigen Wände zu entschuldigen. Seien Sie nachsichtig mit diesen Alterserscheinungen, und betrachten Sie die Unvollkommenheit als romantische, gemütliche Beigabe, die in unserer High-Tech-Welt immer mehr abhandenkommt.“

„Sehr gut!“, strahlte Peter. „Alle Mängel werden als bewusste Absicht verkauft.“

„Genießen Sie ihren Aufenthalt und schlafen Sie aus. Frühstück gibt es immer ab 8 Uhr, solange Sie es wünschen.“

„Solange Sie es wünschen?“, fragte Peter.

„Ja“, sagte Laura. „Solange Sie es wünschen! Wir werden alles ermöglichen, was uns an Hotels immer schon gestört hat, unter anderem, dass man im Urlaub nie ausschlafen kann, weil man zum Frühstück rennen muss. Wir hoffen, Sie fühlen sich wohl bei uns und wünschen Ihnen eine erholsame Zeit im Waldhaus.“

„Und dazu ein paar großartige Fotos und eine entsprechende Website, dann kann nichts mehr schiefgehen“, schloss Peter.

Sie blieben noch lange sinnend und Pläne schmiedend in der Wiese liegen, bis sich der Schatten einer Erle über ihre Gesichter legte und sie in die Wirklichkeit zurückrief.

Die Zusage ihrer Hotel-Bewerbung lag noch nicht lange zurück.

Lilo, eine Almenländer Primarschulkollegin von Laura, hatte ihr mitgeteilt, dass fürs Waldhaus in Lahnalp neue Pächter gesucht würden.

„Komm doch zurück, ins Land unserer Kindheit und übernimm mit deinem Mann den Gasthof. Mein Lebenspartner Remo ist hier seit Jahren Chef de Service. Er hätte große Lust, mit euch das Wirtshaus, das du ja kennst, zu vergangenem Glanz zurückzuführen.“

„Ein Hotel-Restaurant? In Lahnalp im Almenland? In den Bergen meiner Heimat? Im Waldhaus? – Warum eigentlich nicht?“

Peter war hingerissen von der Idee.

„Das ist unsere Chance. Das Waldhaus! Wie geschaffen für uns! Wir sind viel herumgereist in der Welt, kennen verschiedene Kulturen, Bräuche und Sitten, sprechen mehrere Sprachen, haben einige Hotelbetriebe und Gaststätten in unserem Leben kennengelernt; wir sind die geborenen Gastgeber!“ „Aber können wir einen Betrieb dieser Größe leiten? Verstehen wir etwas von Buchhaltung und können wir Angestellte führen, Einkäufe kontrollieren, Margen berechnen und Speisekarten entwickeln?“, fragte Laura zweifelnd.

„Das kann man lernen“, entgegnete Peter euphorisch, „das Wirtepatent ist kein Kunststück. Für Einkäufe und Speisen ist der Koch zuständig und für Einnahmen und Ausgaben unser Buchhalter. Da uns die Erfahrung im Gastgewerbe fehlt, wäre es sinnvoll, das bestehende Personal zu übernehmen. Außerdem ist Angestellte motivieren eine Stärke von mir. Unsere Kontakte zur Presse können uns helfen, für das Waldhaus und Lahnalp zu werben und zu guter Letzt sind wir Schweizer und du sogar Einheimische, was in Lahnalp nur hilfreich sein kann.“

Lauras Bedenken verflogen. Sie ließ sich gerne von Peters Begeisterung anstecken. „Warum nicht! Ja, ich will Wirtin vom Waldhaus werden, zusammen schmeißen wir den Laden.“

Die kommenden Wochen standen im Zeichen der Vorbereitungen für die große Eröffnung. Das Waldhaus wurde herausgeputzt wie eine Braut vor der Hochzeit. Lauras Freundinnen aus München reisten an, um Vorhänge zu nähen, Kissenüberzüge zu schneidern, Stühle neu zu bespannen, Lampenschirme zu fabrizieren, Speisekarten zu entwerfen und den Garten mit Blumen und Sträuchern zu bepflanzen. Ein gemeinsames Treiben und Wirken belebte das Waldhaus. Alle waren beseelt von der Idee, eine idyllische Insel in den Schweizer Bergen zu schaffen, die wie ein Refugium für Eingeweihte die Stellung halten sollte, für Zeiten des Rückzugs. Ein Wohngemeinschaftsgefühl entstand, wie damals, als sie noch jung und offen für Alternativen waren. Alle waren in einem Haus vereint, jeder hatte sein Zimmer, man traf sich zum gemeinsamen Essen im Restaurant und abends saßen alle an der Bar und visionierten Künftiges im noch geschlossenen Waldhaus, das nur für diese Handvoll Menschen da war, als hätten Peter und Laura dieses riesige Chalet gemietet, um Freunde und Kollegen zu beherbergen. Gastgebertraining.

Peter war in Hochform. Er begrüßte Händler und Handlungsreisende, Vertreter und Geschäftsleute, die alle mit ihm Verträge unterschreiben wollten. Er hielt Hof und empfing am liebsten Weinhändler und Getränke-Lieferanten, mit denen er stundenlang Wein- und Champagner Degustationen zelebrieren konnte. Weil Kultur und Unterhaltung seiner Verantwortung unterlagen, lud er verschiedene Künstler ein, die ihre Bilder im Restaurant ausstellen oder Musikkapellen, die bei ihm auftreten wollten. Schließlich übernahm er vom Vorgänger das altbewährte Waldhaus-Trio und die beiden Oldies Werni und Berni. Mit ihnen jodelten, sangen und tranken die Mitglieder der Kommune jeweils bis in die Morgenstunden.

Auch Lilo, die Schulfreundin aus Lahnalp, die bekannte Scherenschnitt-Spezialistin und Lebenspartnerin vom Chef de Service, stand mit Rat und Tat zur Seite. Schließlich kam noch Stefan, ein Freund aus Berlin, um mit Peter Hirschgeweihe und Lampen zu montieren und die Bar funktionstüchtig einzurichten.

Es war eine einmalige Aufbruchsstimmung im Waldhaus. Eine gemeinsame Vision, ein kollektiver Glaube an einen Traum wurde verwirklicht.

Vor der Waldhaus-Premiere musste Peter nach Berlin reisen, um an der Volksbühne eine Vorstellung zu spielen. Die Abstecher kamen ihm zwar immer gelegen, aber dieses Mal ging er ungern. Ein Kapitän verlässt seine Crew nicht, kurz bevor sein Schiff in See sticht.

„Und was ist, wenn ich abstürze?“, fragte er Laura am Flughafen, bevor er in die Maschine einstieg.

„Du stürzt nicht ab“, antwortete Laura besänftigend.

„Warum nicht?“

„Weil ich dich sonst nicht fliegen lassen würde.“

„Alles klar“, sagte Peter beruhigt.

„Außerdem fliegst du mit der Swiss, unserer Airline.“

„Sie gehört Lufthansa“, widersprach Peter.

„Aber sie heißt Swiss“, antwortete Laura und lachte. „Das weiße Kreuz auf rotem Grund führt dich hin und heil wieder her. In drei Tagen hole ich dich hier ab, gerade rechtzeitig zur Eröffnung.“

Die Bevölkerung von Lahnalp, von Stadel, ja aus dem ganzen Almenland, freute sich auf die beiden prominenten Schauspieler Laura und Peter. Natürlich gab es einige Zweifler, die den Übermut der Quereinsteiger skeptisch betrachteten, aber die Mehrheit begrüßte die zwei Protagonisten aus der erfolgreichen Fernsehserie, die acht Jahre lang jeden Sonntagabend im Schweizer Fernsehen zu sehen war, überschwänglich. Keiner, der sie nicht kannte.

„Und jetzt sind sie bei uns! Leibhaftig! In unserem Dorf, in unserem Alltag, und wir spielen alle mit in unserer eigenen Soap!“

Die Begeisterung war erstaunlich, obwohl sie gegen Schauspieler Vorbehalte hatten und argwöhnisch waren gegen ihre Verstellungen, Vorstellungen, Veranstaltungen, gegen das Gespielte, gegen diese Berufsgattung, die immer so tat, als wäre das Gespielte wahr. Schauspieler eben. Moralisch verwerfliche Wesen, denen man niemals trauen darf, keine Vorbilder, eher eine abschreckende Spezies, die sich auch auf Kornfeldern, als Vogelscheuchen gegen Krähen, sehr wirksam bewähren würden. Keine aufrechten Eidgenossen, sondern eher zweifelhafte Zeitgenossen.

Aber Laura und Peter waren kanonisiert und der Vatikan hieß Schweizer Fernsehen, Radio, Printmedien und Internet. Sie gehörten zur Confoederatio Helvetica, wie das Fondue ins Stübli, die Geschwindigkeitskontrollen an jedem Ortsausgang und die Korruption zu Schweizer Banken. Wer wollte da skeptisch sein? Sie waren abgesegnet durch hohe Einschaltquoten, Preise und Auszeichnungen. Sie waren verbürgte Publikumslieblinge, ein Traumpaar und gehörten zu jener Showelite, die aufgrund ihrer Popularität überallhin eingeladen wurden. Ein Management koordinierte ihre Auftritte, handelte ihre Gagen aus und vereinbarte Fotoshootings und Home Stories. Sie wurden in Kreuzworträtseln waagrecht und senkrecht durchbuchstabiert und nach Laura hatte man mit goldenen Lettern auf blauem Grund eine Lokomotive im Almenland benannt. Und jetzt standen sie hier im traditionellen Waldhaus und spielten, pardon, waren die Gastgeber!

Am Eröffnungstag fehlte niemand, weder das Fernsehen, Presse und Radio noch die Freunde, Feinde und Neugierigen. Und weil Getränke und Essen gratis waren, kam das ganze Dorf Lahnalp. Die Jutzer und Jodler sangen, Glocken und Treicheln wurden von Trachtengruppen durchgeschüttelt, Alphornbläser pusteten sich auf der Terrasse das Blut in ihre Gesichter, und geföhnte Frauen lächelten aus ihren Miedern freundlich und nett in die Runde.

„Willkommen im Paradies!“

Laura und Peter waren glücklich.

*

Mit viel Ehrgeiz, großer Hingabe und einer berauschten Energie machten sich die Quereinsteiger an die Arbeit, um dem allgemeinen Erwartungsdruck gerecht zu werden. Gelehrig hörten sie auf die gastronomischen Erfahrungen ihrer Angestellten, auf die Ratschläge ihrer Gäste, auf die Empfehlungen und Warnungen ihrer Lieferanten und versuchten beflissen, die Anweisungen umzusetzen. Sie waren aufmerksame Schüler, besessen vom Ziel, so schnell wie möglich das Handwerk der Gastgeber zu meistern.

Es gab niemanden, dem sie nicht aufmerksam zugehört hätten, wenn es darum ging, die Tradition des Hotel-Restaurants Waldhaus zu erfüllen, zu befriedigen oder gar zu verbessern. Sie versuchten, jedem Anliegen, Ansinnen und Ansuchen gerecht zu werden und liehen jedem ihr Ohr, um ein möglichst eindrucksvolles Wunschkonzert zu erfüllen.

So zogen die ersten Tage und Wochen ins Land, das Waldhaus war beliebt und füllte sich mit Einheimischen, Touristen und Chalet-Besitzern, die alle die Atmosphäre, das heitere Personal, das Essen und die Wirtsleute mochten.

III

Eines Morgens, nach einem gutbesuchten, einträglichen Wochenende, betrat eine junge Bäuerin das Waldhaus. Das Lokal war leer, bis auf drei Bauern, die am Stammtisch vor ihren Bieren saßen und sofort verstummten, als die Einheimische sich zu ihnen setzte. Peter stand hinter dem Tresen und wunderte sich über die plötzliche Stille.

„Noch eine Runde für die Herren und für mich einen halben Rotwein“, befahl sie.

Kaum waren sie bedient, prostete sie den Bauern zu, nahm einen tiefen Schluck, drehte sich zu Peter um und sagte erregt und zielgerichtet: „Vergasen müsste man euch, dich und deine Frau, beide sofort vergasen oder erschießen, einfach über den Haufen schießen!“

Peter glaubte, sich verhört zu haben. Er suchte irritiert nach einem Dolmetscher vom Stammtisch, aber die drei Bauern schwiegen und starrten stumm in die Biere, die totenstill vor ihnen standen.

„Spiel mir das Lied vom Tod“, lachte sie und klopfte dem Bauern neben sich auf die Schulter. „Über den Haufen schießen, dieses Dreckspack …“ Zack, zeigte sie mit ihren Fingern. „Zack über den Haufen mit dem Pack.“

Auf eine solche Attacke war Peter nicht vorbereitet. Er schluckte und hoffte auf Unterstützung. Aber die drei Bauern stellten sich taub und stumm und starrten in vollkommener Geräuschlosigkeit in ihrem Bier herum.

„Was glaubt ihr Schauspieler eigentlich!“, fuhr sie hasserfüllt fort. „Das hier ist kein Spiel! Das ist Ernst. Hier gibt’s nichts zu lachen. Das ist kein Theater! Ihr werdet es kein halbes Jahr hier oben aushalten, das schwöre ich euch. Und wenn ihr es dennoch schafft, werde ich euch eigenhändig eine Mistgabel ins Herz rammen oder euch über den Haufen schießen. Aber am besten wäre, euch auf der Stelle zu vergasen.“

Keiner der Bauern machte Anstalten, die Furie, die sie alle sehr gut kannten, zu bremsen. Die stammverwandten, stimmfähigen Stammtischbauern erstarrten in stupider Stumpfheit und brüteten lautlos vor sich hin.

Stecken sie etwa unter einer Decke? Oder denken sie, die meint ja ihn und nicht uns, wir sind keine Schauspieler. Warum sollten wir uns für ihn wehren? Soll er sich doch selber wehren.

Peter versuchte Haltung zu wahren und diesen Angriff zu verdauen. Die Bauern starrten jetzt durch ihre Biere hindurch auf den Stammtisch, durch den Stammtisch auf den Boden und hinunter bis zur Scholle. Draußen bellte irgendwo ein Hund. Der Wind schlug einen Fensterladen gegen die Mauer.

Die Bäuerin brüllte endlich heraus, was ihr seit der Eröffnung des Waldhauses auf der Seele lag. Sie schrie in unbändigem Zorn heraus, was offensichtlich viele in Lahnalp dachten: „Was glauben diese Schauspieler eigentlich? Sie könnten einfach hierherkommen und als Quereinsteiger ein Hotel-Restaurant übernehmen? Und dann noch das alte, traditionsreiche Waldhaus, das seit Generationen einem eingesessenen Geschlecht gehört, einer Urfamilie aus Lahnalp. Wollen sich diese fremden Figuranten über uns lustig machen und uns für blöd verkaufen? Glauben diese Gaukler, man könne das Herz einer Gemeinde einfach wiederbeleben und übernehmen? Meinen sie, sie wären etwas Besonderes? Etwas Auserwähltes? – Vergasen! Rein in die Kammer und auf der Stelle vergasen!“

Die Bäuerin war zwar hasserfüllt, aber nicht hässlich. Sie war Mitte vierzig, schlank und auf eine wilde Art attraktiv. Mit einer Herde von zwölf Yaks lebte die Lahnalperin am Fuße des Engeligletschers, 2000 Meter über dem Meer. Alleine, in totaler Abgeschiedenheit verbrachte sie das ganze Jahr in dieser Einsamkeit, umringt von einem gewaltigen Bergmassiv in reinster Luft, in erbaulicher Höhe und göttlicher Stille.

„Vergasen! Alle beide vergasen!“, schrie sie und leerte ihr Rotweinglas auf einen Zug.

„Anstatt besoffen durch die Gegend zu brüllen, solltest du dich besser um deine Yaks kümmern!“, brachte Peter endlich hervor. „Ich habe im Tibet Yaks gesehen, die …“

„Du warst nie im Tibet! Du hast keine Ahnung vom Tibet“, keifte sie mit hochrotem Kopf. „Du verdammter Lügner! Geh in dein Theater, du Schauspieler!“ Wobei sie ihm das Wort Schauspieler entgegenschleuderte wie einen vergifteten Speer, als wäre der Begriff Schauspieler der Geheimcode für die Bannung allen Übels dieser Welt. „Vergasen! Erschießen oder die Mistgabel durchs Herz rammen. Aber am liebsten vergasen!“

Die Bauern verhielten sich wie das Inventar der Gaststätte, leblos und dekorativ wie der Bierzapfhahn, der Aschenbecher oder die Schützenvitrine, während die Furie immer neue Todesarten erfand.

Peter verließ den Stammtisch und verschwand durch den Personalausgang ins Freie. Er brauchte frische Luft, um sich zu orientieren. Was sollte er tun? Am besten wäre es, einen Exorzisten zu rufen, der dieser vom Satan Besessenen einen Keil durch die Brust hämmert.

Schließlich kehrte er wutentbrannt ins Restaurant zurück, riss ihr das Glas aus der Hand und schrie: „Raus, du verdammte Hexe! Du wirst dieses Lokal nie mehr betreten, solange ich hier der Wirt bin. Verschwinde auf der Stelle, sonst haue ich dir meine Faust in die Fresse!“

Er packte sie am Handgelenk, schleifte sie zur Türe und warf sie wie einen Sack Müll auf die Straße.

Als er an den Stammtisch zurückkehrte, erwachten die drei Bauern aus ihrer dekorativen Objektstarre: „Gut, dass du sie rausgeschmissen hast. Ich war kurz davor es selber zu tun.“

„Diese Hexe“, erwiderte der Zweite. „Gut, dass ihr jemand die Meinung gesagt hat. Ich hätte noch ein bisschen gewartet, aber dann hätte ich auch etwas gesagt.“

„Gottseidank ist die weg“, murmelte der Dritte. „Ich glaube nicht, dass die je wiederkommt. Oder was meinst du?“

Peter war fassungslos und geschockt. Er war aus der Bahn geworfen, erschüttert, zutiefst enttäuscht und versuchte verzweifelt das Gleichgewicht wiederzufinden, um den schwerverletzten Tag fortsetzen zu können.

Ausgerechnet seine Bauern hatten ihn verraten, ausgerechnet sie hatten im entscheidenden Moment nicht zu ihm gehalten, ihn nicht verteidigt. Sie hatten sich feige aus der Schusslinie gezogen und ihn seinem Schicksal überlassen. Seine Bauern, die wilden Titanen aus den Wäldern, die unbesiegbaren Söldner, hatten den Schwanz eingezogen und ihn alleine gelassen.

Eine Unschuld war ihm durch das Geschehnis abhandengekommen, die er unbedingt wiedererlangen wollte. Aber wie? Seine ganze Wahrnehmung war in Mitleidenschaft gezogen worden.

Als er nachmittags auf der Terrasse stand, gelang es ihm nicht mehr, die markanten Profile der Felswände zu sehen, die in der Mittagshitze flimmerten, wie entrückte Gestalten vergangener Kulturen, er wurde nicht mehr angezogen und geblendet vom kühlen Weiß des ewigen Eises, der Klang der Kuhglocken vermochte ihn nicht mehr in Tagträume zu versenken, und Lahnalp lag mit seinen Bauernhöfen und Holzhäusern nicht mehr kräftig und friedfertig vor ihm. Vielmehr schaute er in verwischte Berggesichter, die apathisch und abwesend in der fahlen Sonne zitterten und dastanden, wie ein schlecht gemaltes Bühnenbild, das im Lagerraum eines Opernhauses auf den nächsten Tannhäuser wartet, lieblos hingestellt und peinlich anzusehen. Er fürchtete, den Respekt vor seinen Bergen zu verlieren. Außerdem hing der Gletscher des Engelihorns auf einmal so sonderbar geschwätzig und eitel in der Höhe. „Ich bin ein Gletscher“, sagte er unentwegt vor sich hin, um sich ja nicht abhandenzukommen. „Sieht auch jeder, wie ich gletsche?“

Auch die Kühe bimmelten besonders aufdringlich auf den gemalten Wiesen und die Chalets standen mit ihren penibel eingehaltenen Bauvorschriften so dummdreist in der Landschaft herum wie Polizisten ohne Auftrag.