Matthias Zellmer

Das Land hinter den Bergen

Roman

TUBUK digital

Kurzbeschreibung

Die freudige Spannung einer bevorstehenden Geburt liegt über Hainrod. Das Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen zu dem jährlichen Treffen der umliegenden Gemeinschaften. Die Bewohner feiern zusammen und planen ihre neuen Vorhaben. In ihren Alltag tritt unvermittelt ein fremder Wanderer. Mit seinen Fragen und Vorstellungen weckt er das Interesse aber auch den Unmut mancher Dörfler. Seine Ankunft und sein weiteres Schicksal werden vor allem für den junge Vater Saibro zur persönlichen Herausforderung.


Matthias Zellmers Fantasy-Roman nimmt uns mit auf eine Reise zu Gesellschaften, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein überraschender Perspektivwechsel, der uns den Spiegel vorhält. »Das Land hinter den Bergen« liegt in einer anderen Welt und Zeit und ist uns dennoch sehr nah. Eine märchenhafte Utopie für Leserinnen und Leser jeden Alters.

Impressum

Matthias Zellmer: Das Land hinter den Bergen

Copyright © 2017 Matthias Zellmer

Erschienen bei TUBUK digital

TUBUK digital ist ein Imprint der Open Publishing Rights GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Matthias Zellmer

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH, www.openpublishing.com

ISBN: 978-3-95595-068-2

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Widmung

für Natali

Karte von Hainrod

Karte von Hainrod

Kapitel 1

An diesem schönen Frühsommertag herrschte in dem kleinen Dorf helle Aufregung. Man bekam Nachwuchs. Wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, zog es die Menschen von Hainrod immer wieder zur Hütte von Apaquia. Dort auf der Türschwelle saß die fünfzehnjährige Minxia und gab all den zufällig vorbeikommenden durch ein Kopfschütteln zu verstehen, dass es nach wie vor nicht so weit war.

Aus der Hütte kam hin und wieder Saibro – der werdende Vater. Jedes Mal stolperte er über Minxia, entschuldigte sich geistesabwesend und kramte unbeholfen ein neues Stück Tyggja-Rinde aus seiner Hosentasche. Er steckte sich die Rinde in den Mund, begann fahrig darauf herumzukauen und eilte dabei einige Male auf dem Weg vor Apaquias Hütte hin und her. Nach einer Weile spuckte er die zerkauten Reste der Rinde in den Graben und hastete zurück an das Bett seiner Liebsten. Natürlich nicht, ohne beim Betreten der Hütte erneut über die Beine von Minxia zu stolpern.


Die Geburt eines Babys war in Hainrod dank der Mittel der Geburtshelferin Muukja für die werdende Mutter üblicherweise keine besonders mühselige Angelegenheit. In den Tagen rund um den errechneten Geburtstermin verabreichte die erfahrene Heilerin der Schwangeren jeden Abend einen speziellen Trunk, der sie zum einen entspannte und zum anderen dafür sorgte, dass sich wenige Stunden bevor der Nachwuchs wirklich heraus wollte, ein extrem süßlicher Geschmack in ihrem Mund bildete. Dadurch wussten alle Beteiligten ziemlich sicher, ob es nun wirklich so weit war oder eben nicht.


Wie Saibro in der Zwischenzeit erfahren hatte, hatte sich an diesem Nachmittag bei Apaquia der verräterische Geschmack im Mund ausgebreitet. Sie war daraufhin zur Tür ihrer Hütte gegangen und hatte in der Nähe spielende Kinder herbeigerufen. Die Frau mit den ebenmäßigen Gesichtszügen beauftragte einen der Jungen damit, die alte Muukja zu rufen. Eines der Mädchen fragte, ob sie Saibro von der Baustelle am Backhaus holen solle? Aber Apaquia schüttelte nur ihren Kopf mit den langen kastanienbraunen Haaren. Ihr war wahrscheinlich klar, dass er es sowieso in Windeseile erfahren würde, wenn Muukja mit der großen Ledertasche und ihrer Urenkelin Minxia im Schlepptau durch das Dorf marschierte. Die Zeit bis die Geburtshelferin bei ihr auftauchte, nutzte Apaquia, um ihre Hütte aufzuräumen. Auch setzte sie Wasser für einen weiteren von Muukjas Tees auf. Dieser Tee aus Blüten ausgewählter Bachblumen war dazu gedacht, den Geburtsvorgang zu beschleunigen. Nebenbei diente er aber auch dazu, den furchtbar süßen Geschmack des vorherigen wieder loszuwerden.


Saibro kam soeben zum unzähligsten Mal in Apaquias Hütte hineingestolpert, als Muukja ihr eine frische Tasse von dem Blütentee reichte und beiläufig fragte: »Welchen Namen habt ihr euch für das Kleine ausgesucht?«

»Wenn es ein Junge wird, soll er Sydän heißen und ein Mädchen nennen wir Avolia«, antwortete die werdende Mutter sichtlich erschöpft.

»Das sind schöne Namen.« Muukja lächelte anerkennend. Sie schaute Apaquia in ihre dunkelbraunen Augen, tätschelte ihr die Hand und schickte sogleich die nächste Frage hinterher: »Und wer baut die Hütte von Sydän oder Avolia?«

Aus ihren gemeinsamen Vorgesprächen mit Muukja wusste Saibro genau, wozu diese ganze Fragerei diente: Erschöpft hatte sich Apaquia zwar mal wieder etwas hingelegt, durfte jetzt jedoch nicht einschlafen, denn dann würde sich das Kleine in ihrem Bauch auch wieder zur Ruhe begeben und sie müssten später mit der ganzen Prozedur wieder von vorne beginnen.

Apaquia atmete tief ein, weitete mühsam ihre Augen und straffte ihre Schultern, dann antwortete sie: »Saibro hat seine Schwester Koremna und …« Abrupt brach sie ab und krümmte sich zusammen. Mit einem langgezogenen Grunzen fasste sie sich an ihren Unterleib.

Eilig nahm Muukja Apaquia ihre Tasse ab, ging ans untere Ende des Betts und schlug die Decke zurück.


Als Saibro eine gute halbe Stunde später, mit einem an Minxia gerichtetem »’tschuldigung«, abermals von einer seiner nervösen Pausen zur Tür hineinkam, wurde er vom ersten Schrei seines Kindes begrüßt. Wie vom Donner gerührt, blieb der junge Vater an der Tür stehen; vor der Minxia zum ersten Mal an diesem Tag einem Passanten gelassen zunickte.

Muukja, die sich das Neugeborene soeben noch prüfend vor das Gesicht gehalten hatte, ging um das Bett herum und legte Apaquia ihr Kind mit den Worten auf die Brust: »Dann haben wir jetzt einen Sydän im Dorf.«

Daraufhin drehte sie sich zu Saibro und befahl diesem: »Mach endlich die Tür zu! Dann komm her und begrüß deinen Sohn.«


Stunden später – es war Abend geworden – machte Muukja sich wieder auf den Weg zurück zu ihrer Hütte am nördlichen Rand des Dorfes. Auf eindringlichen Wunsch von Apaquia, trug diesmal Saibro ihre schwere Ledertasche. Minixa trottete hinterher, denn sie hatten weitestgehend den gleichen Weg. Muukja sah so müde aus, wie sich Saibro fühlte, aber auch genauso zufrieden.

Auf dem Weg durch das Dorf mussten sie immer wieder dieselben neugierigen Fragen beantworten. Und so bestätigte Saibro mehrfach, dass er nun Vater eines gesunden Jungens sei und dass sie ihm den Namen Sydän gegeben hatten.

Muukja erklärte zwei Frauen, die auf dem Weg zum Dorfplatz waren: »Es ist an ihm dran, was an ihm dran sein sollte. Und es ist auch alles am rechten Fleck. Er ist ein ordentlicher Brocken. Der wird mal so groß und stark wie sein Vater.« Derart mit den wichtigsten Informationen versorgt, ließen sie die zur Ungeduld neigende Muukja schnell wieder ihres Weges ziehen.

Als sie an der Hütte von Knibbe dem Schmied vorbeikamen, erhoffte dieser sich anscheinend von Minxia weitere Auskünfte über das neuste Mitglied ihrer Gemeinschaft. Auf seine kräftigen Arme gelehnt, stand er am Fenster und rief sie zu sich. Minxia ließ ihn jedoch mit einem solch genervten Blick abblitzen, wie ihn nur Heranwachsende zu Wege bringen können und schlürfte mit ausdrucksloser Miene weiter hinter Saibro und ihrer Urgroßmutter her.


Wie Saibro später mit eigenen Augen sehen sollte, hatten einige im Dorf kurzerhand beschlossen, die neben dem Dorfplatz für die Sonnenwendfeier in einer Woche aufgeschichtete Holzpyramide zu Feier des Tages bereits heute zu entzünden. Andere hatten Fässer mit süßen Zoete- und herben Kruid-Saft herbeigeschafft und aus der Dorfküche wurden zahlreiche Leckereien herübergetragen. Die üblichen Verdächtigen hatten ihre Instrumente aus ihren Hütten geholt und wurden von ungeduldigen Tanzwilligen lauthals zum Spielen von fröhlichen Reigen aufgefordert. Dies taten sie auch bereitwillig, begleitet von überschwänglichem Jubel. Immer wieder riefen einige fröhlich »Sydän Sydän«. Mitten im dritten Stück kam ein Junge auf den Platz gestürmt und bedeutete den Musikanten und Musikantinnen wild gestikulierend, dass sie ihre Instrumente zum Schweigen bringen müssten. Nach einigen Dissonanzen und schrägen Tönen, hatten die Musizierenden ihre Instrumente verstummen lassen, sodass alle die dünne Stimme des Jungen hören konnten: »Da! Da kommen sie.« Er zeigte auf den Weg, der unter anderem auch in die Richtung von Apaquias Hütte führte.

Aus dem Dunkel des Weges traten zwei Gestalten ins Licht des Feuers. Nach wenigen Augenblicken sahen alle, dass es in Wahrheit sogar drei waren, die dort langsamen Schrittes zu ihnen auf den Dorfplatz kamen. Die noch schwach, aber glücklich wirkende Apaquia hatte sich bei dem eineinhalb Köpfe größeren Saibro untergehakt, welcher auf dem anderen Arm den kleinen Sydän trug. Statt jedoch kollektiv loszujubeln, wie es ihnen ihre Herzen gewiss befahlen, blieben die Menschen auf dem Dorfplatz gespenstig still. Als die drei Neuankömmlinge in ihrer Mitte angelangt waren, begannen die Umstehenden zu summen. Es war ein monotones Surren, welches abwechselnd lauter und leiser wurde. Dabei drehte sich das Elternpaar mit ihrem Kind einige Male langsam im Kreis, sodass alle einen Blick auf Sydän werfen konnten.

Nach einigen Drehungen hob Apaquia ihre schmalgliedrige Hand und sofort wurde es mucksmäuschenstill. Mit leiser Stimme sagte sie: »Liebe Freundinnen, liebe Freunde. Vielen Dank, dass ihr den kleinen Sydän mit einem derart leuchtkräftigen Feuer, solch schöner Musik und einer solch entzückenden Feier in dieser Welt willkommen heißt. Ihm und mir geht es gut. Bei Saibro bin ich mir allerdings nicht so sicher.«

In ihre kleine Kunstpause lachten einige leise hinein. Währenddessen ging der breitschultrige Saibro leicht in die Knie, verdrehte seine grünbraunen Augen und schauspielerte seiner Liebsten zur Freude den Geschwächten, womit er vergleichbar viele Lacher einheimste wie Apaquia zuvor.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah sie zu ihm auf, streckte sich und wuschelte Saibro durch sein volles dunkelblondes Haar. »Wir würden allzu gerne bleiben und unserem kleinen Racker die ersten Tanzschritte beibringen, aber das muss noch warten bis sein Vater wieder vollständig hergestellt ist. Darum ziehen wir uns jetzt auch gleich wieder zurück und wünschen euch allen ein rauschendes Fest. Vielleicht könnt ihr ein wenig von den leckeren Speisen und vom Kruid-Saft zurückhalten? Falls ich später noch Lust zum Feiern und zum Tanzen bekomme … nachdem ich meine zwei Jungs ins Bett gebracht habe.«

Alle lachten.

Dann machten sich die drei wieder auf den Weg zurück in Apaquias Hütte.

Kaum waren sie im Dunkel der Nacht um die nächste Ecke gebogen, setzte ein großer Jubel ein, zu dem sich nach wenigen Augenblicken auch wieder die Musik hinzugesellte. Sie verklang erst viele Stunden später – inmitten der halbdunklen Nacht.

Kapitel 2

»Nun gut. Dies ist also der Bauplatz, den Apaquia sich für die Hütte ihres Sohnes gewünscht hat. Er ist noch reich­lich verwildert, aber wie ihr aus meinen Ausführungen vermutlich herausgehört habt, finden auch Koremna und ich, dass dies ein guter und passender Ort ist«, sagte Saibro mit fachkundigem Blick und zufrieden vor seiner Brust verschränkten Armen.

Saibros Schwester Koremna stand neben ihm und nickte zustimmend. Dann fragte sie die interessierten Anwesenden: »Gibt es einen Einspruch?«

Es setzte ein vielstimmiges Gemurmel ein. Jedoch hatte letztendlich niemand etwas einzuwenden. Somit verkündete Saibro zufrieden: »Fein. Dann werden wir Sydäns Hütte genau hier bauen. Ich habe bereits mit den Gehölzerinnen gesprochen, sie werden das notwendige Holz zurücklegen und es uns liefern, sobald wir mit der Planung fertig sind. Koremna hat den grundlegenden Plan auch schon nahezu fertiggestellt. Nur fehlt bisher das Spezifikum. Wer hat eine Idee?«

Natürlich hatte Saibro mit seiner gut drei Jahre älteren Schwester im Vorfeld darüber gesprochen und sich ein Spezifikum überlegt, welches jede neugebaute Hütte im Dorf zu etwas Einzigartigem machen sollte. So hatte zum Beispiel Saibros Hütte nur kreisrunde Fenster, Apaquias in der Mitte eine Wendeltreppe, die zu einem Ausguck über dem Dach führte und die Hütte von Saibros gutem Freund Raaisi eine zum Teil gläserne Rückwand, die ihm einen wunderbaren Blick in den dahinter aufgestauten Dorfbach und die darin schwimmenden Fische gewährte. Inzwischen hatte sich Raaisi jedoch Vorhänge schneidern lassen. Denn allzu oft hatten sich übermütige Heranwachsende einen Spaß damit erlaubt, vor die Scheibe zu tauchen und den armen Raaisi zu erschrecken.

Auf Saibros Frage nach dem Spezifikum setzte wieder ein allgemeines Gemurmel ein, woraus vereinzelt stichwortartig Anregungen in die Runde gerufen wurden. »Was mit Pflanzen«, rief einer und jemand anderes schlug vor, dass die Hütte keine Fenster, nur Türen haben könnte. Wie üblich empfahl Teyat, dass das Dach aus buntem Glas bestehen sollte.

Die Geschwister hörten sich alle Vorschläge mit interessierter Mimik und der dazu passenden Gestik an. Nachdem sie eine gebührend lange Zeit zugehört hatten, pustete sich Koremna eine ihrer dunkelblonden Strähnen aus dem Gesicht und sagte dann, als wenn sie soeben einen Geistesblitz gehabt hätte: »Wie wäre es mit einem Netz aus Tauen über der Hütte?«

»Also im Prinzip … einer sehr großen Hängematte?«, fragte Saibro gespielt verwundert.

»Genau! So meinte ich das.«

Kurz war es gänzlich ruhig. Doch dann wurde der Vorschlag leidenschaftlich diskutiert.


»Das ist gut gelaufen«, sagte Saibro zu seiner ihm so ähnlich sehenden Schwester, während sie einträchtig den sich im Dorf verteilenden Leuten nachschauten. »Machst du dich an die besprochenen Ergänzungen im Plan? Ich gehe und rede schon mal mit Kamba. Er macht einfach die besten Seile weit und breit.«

Koremna nickte und fragte: »Weißt du, was mich am meisten wundert?«

»Dass niemand vorgeschlagen hat, dass Sydän in die Hütte des alten Kyesi ziehen soll?«

Die große Frau mit den kurz gehaltenen Wuschelhaaren nickte erneut.

»Diese baufällige Bruchbude liegt am äußersten Ende des Dorfes und bis der Kleine dort wirklich wohnen könnte, wäre sie endgültig hinüber. Außerdem wurde Kyesi erst vergangene Woche beigesetzt, es wäre zu geschmacklos, bereits jetzt seine persönlichen Habseligkeiten unter die Leute zu bringen. Geschweige denn heute schon in großer Runde über die zukünftige Nutzung seiner Hütte zu sprechen.«

»Aber unter uns gesagt«, raunte Koremna, »wir sollten die Hütte am besten komplett abreißen.«

»Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, liebes Schwesterlein. Was führst du schon wieder im Schilde?«

»Nichts! Es ist doch aber so, dass …«

»Wusste ich es doch!«

Saibro musste schmunzeln. Koremna hingegen war nun in ihrem Element und sagte ganz ernsthaft: »Die Pflanzerinnen klagen schon länger, dass sie ein neues Gewächshaus brauchen und da auch einige ihrer Äcker in der Nähe von Kyesis Hütte liegen, wäre der Ort ideal. Zudem haben wir die Fenster des Alten erst vor zwei Wintern neu gebaut und wenn du dir mal die Fenster hier in dem Plan von Sydäns Hütte anschaust …«

Saibro musste lachen. »Jetzt weiß ich auch, warum mir die Fenster auf dem Plan derart bekannt vorkamen. Großartige Idee. Es ist eine wirklich gute Sache, Dinge wiederzuverwenden, die noch in Ordnung sind. Da fällt mir ein, dass der Kachelofen in Kyesis Hütte auch noch in einem wirklich guten Zustand ist.«

Lächelnd zog Koremna einen weiteren Bogen Papier aus ihrer Umhängetasche und hielt diesen ihrem Bruder unter die Nase. Nach einem kurzen Moment der Orientierung lachte dieser laut auf. Auf dem Papier war der fertige Plan von Sydäns Hütte zu sehen; inklusive dem Netz aus Tauen über dem Dach und einem Kachelofen im Inneren, der Saibro durchaus bekannt vorkam.


Auf dem Weg zu Kamba machte Saibro einen Umweg, der ihn an Apaquias Hütte vorbeiführte. Als er dort ankam, saß seine Liebste davor in der Sonne und strickte. Neben ihr lag Sydän in der Holzwiege, die sie einige Tage vor der Geburt gemeinsam in der Ausrüstungshöhle ausgesucht hatten.

»Ein schönes Bild«, sagte Saibro, als er Apaquias blühenden Vorgarten betrat.

»Das will ich aber schwer hoffen, dass dir der Anblick deines Sohns und seiner Mutter gut gefällt. Was führt dich her, mein Liebster?«

»Eben diese beiden. Aber eigentlich bin ich auf dem Weg zu Kamba.«

»Dann haben sie das Spezifikum gebilligt? Ich habe nur mitbekommen, dass ihr lautstark diskutiert habt.«

»Ja, das haben sie. Wie alles andere auch. Gleich morgen werde ich anfangen, die Sträucher zu roden, den Weg anzulegen und den Steg zu bauen.« Die Hütten von Apaquia und Sydän würden auf benachbarten Grundstücken stehen. Nur dass diese von dem Bach getrennt waren, der sich hinter Apaquias Häuschen entlang schlängelte. »Ich würde heute schon damit anfangen, aber ich muss noch das Plenum heute Abend vorbereiten.«

»Um was wird es heute gehen? Durch die Schwangerschaft und Sydäns Geburt bin ich derzeit nicht ganz auf dem Laufenden, was die inhaltliche Arbeit der Kleinrunden betrifft.«

»Zunächst müssen wir noch die Sache mit Sydäns Hütte abschließend abnicken lassen. Aber hauptsächlich wird es um das jährliche Treffen der Dorfgemeinschaften aus der Region gehen.«

Apaquia schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn. »Ach! Das hatte ich wirklich total verdrängt. In diesem Jahr findet das Treffen ja hier bei uns in Hainrod statt. Wann noch mal genau?«

»In zwei Wochen ist es so weit. Das Rahmenprogramm steht auch schon. Am Donnerstag ist Ankunftstag, da werden wir zum Mittagsmahl eine Schmierküche vorbereiten und den ganzen Tag im Dorfbau stehen lassen. Die Abgesandten lassen wir ihre Zelte unten in den Seeauen aufschlagen. Am Abend machen wir auf dem Dorfplatz ein Begrüßungsplenum und anschließend wollen Jescho und Teyat Spiele zum näheren Kennenlernen anbieten. Danach gibt es ein Feuer. Am Freitag werden wir nach dem Frühmahl ein Plenum machen, um dort die Dringlichkeiten und den diesjährigen Schwerpunkt für die Dörfer festzulegen.«

»Gibt es bereits Tendenzen, welchen Schwerpunkt wir aus Hainrod diesmal vorschlagen werden?«, fragte Apaquia nach.

»Nein, aber heute Abend werden wir dazu hoffentlich mehr wissen. Die entsprechende Liste zur Sammlung von Vorschlägen hing jetzt lange genug am Anschlagbrett. Jemand will jedoch aus Laisingen gehört haben, dass sie eine Idee vorstellen wollen, die sie Akademie nennen.«

»Was soll das sein?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das sowas wie unsere Schola. Nur dass es dort um das Zusammenbringen und Vertiefen des Wissens aus den einzelnen Dörfern gehen würde. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Das hört sich sehr spannend an«, sagte Apaquia. Sie war immer ungemein an allem interessiert, was sich um das Thema Wissen und dessen Vermittlung drehte. »Wie das große Treffen im Wesentlichen weitergehen wird, kann ich mir denken: Es wird viele Diskussionen in Kleinrunden, Essen und Tanz geben.«

Saibro musste grinsen. »Genau. Das ist das Programm für den Rest des Freitags und auch für Samstag und Sonntag. Nur dass es am Samstagabend Theater statt Tanz geben wird.«

»Theater?!« Apaquias Miene spiegelte ihre Freude über diese Nachricht wider.

»Ha! Wusste ich doch, dass du dich über diese Neuigkeit freuen würdest. Teyat hat ein paar Leute hier aus Hainrod und einige von unseren Nachbarn aus Fiskstedt überreden können, ein Stück von ihm einzustudieren. Jetzt fahren sie bereits seit einigen Wochen jeden Mittwochmorgen in der Früh mit zwei Booten den Fluss rauf und am Abend wieder runter. Ich bin schon wirklich sehr gespannt, was das wieder geben wird.«

»Du bist natürlich wieder skeptisch. Unseren Feingeist Teyat betrachtest du schließlich schon dein Leben lang mit einer gehörigen Portion Abneigung.«

Das wollte Saibro nicht auf sich sitzen lassen. »Nein! Wie kommst du da immer nur drauf? Ich finde es wichtig, dass sich jemand mit solchen Dingen auseinandersetzt wie Posse-Poesie und getanztem Trallala.«

Nach einem langen Augenblick, in dem sich die beiden mit Blicken duellierten, mussten beide lauthals losprusten. Damit erschreckten sie Sydän, der aus Leibeskräften zu schreien anfing. Saibro erhob sich von der Türschwelle, auf der er sich zwischenzeitlich niedergelassen hatte und eilte zu seinem Sohn. Er nahm ihn aus seiner Wiege, hob ihn vor sein Gesicht, roch genussvoll an ihm und machte versöhnliche Geräusche. Soeben wollte er ihn in seinen kräftigen Armen wiegen, da schritt Apaquia ein.

»Wenn er nicht in die Hose gemacht hat, dann gib ihn lieber mir. Er hat sicher Hunger. Außerdem solltest du dich auf den Weg machen. Es ist Mittagszeit und du weißt, dass Kamba sich nach dem Mittagsmahl gerne zu den Flachsfeldern aufmacht, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Da hast du mal wieder recht. Ich könnte ihm allerdings bei beidem Gesellschaft leisten: beim Essen und beim Spazierengehen. Zum Vorbereiten des Plenums bleibt auch danach noch genügend Zeit.«

»Mach das. Und könntest du bei dieser Gelegenheit eine große Rolle mittelstarkes Seil mitbringen?«

»Gerne. Wozu brauchst du das?«

»Ich brauche das nicht. Aber du willst doch Morgen eine Brücke bauen, oder?«

»Ah! Alles klar. Du hättest demnach nun doch lieber Halteseile am Steg statt eines Geländers aus Holz.«

»Nein, nein. Ich möchte keinen Steg. Ich will eine massive Holzbrücke mit allem drum und dran. Und zur Sicherheit unseres Sohnes sollen die Geländer an beiden Seiten mit Netzen ausgekleidet sein.«

»Fürs Netze machen fehlt mir aber wirklich die Geduld«, nörgelte Saibro.

»Also gut. Ich mache die Netze. Da wird mir in nächster Zeit auch nicht langweilig.«

»Dann weiß ich auch schon, wer das Spezifikum an Sydäns Hütte herstellen wird.«

»Du meinst: Wer dir bei dieser Arbeit zur Hand gehen kann?!«, konterte Apaquia mit einem Augenzwinkern.

Saibro nickte mit gespielt zerknirschtem Gesichtsausdruck, gab Mutter und Sohn je einen Kuss auf die Stirn und trollte sich in Richtung Dorfmitte.

Kapitel 3

»Da jetzt alle da sein sollten, die kommen wollten, begrüße ich euch recht herzlich zu unserem Wochenplenum. Nachdem ich vergangene Woche Protokoll geführt habe, werde ich das Plenum heute leiten.«

Saibro war die Aufregung deutlich anzumerken, die ihn auch nach so vielen Jahren bei dieser Aufgabe immer wieder überkam.

»Für das Protokoll ist heute zum ersten Mal Saja zuständig.«

Saibro schenkte der jungen Frau, die so zart wirkend neben ihm am Tisch saß, den Versuch eines aufmunternden Lächelns. Ein anerkennendes Raunen ging durch die gut einhundert auf dem Dorfplatz versammelten Menschen. Die Grüppchen, in denen sie saßen, bildeten alles in allem einen großen Kreis.

»Bevor es aber richtig losgehen kann, möchte ich heute jemanden besonders herzlich hier beim Plenum begrüßen. Es ist nämlich sein allererstes.«

Stolz und zufrieden blickte Saibro zu Apaquia hinüber, die in einer Gruppe von Frauen am Rande des Dorfplatzes saß und ein handliches Bündel in ihren Armen wiegte. Darin befand sich Sydän, der diesen großen Moment jedoch gebührend verschlief.

Nachdem sich das freudige Gemurmel schnell wieder gelegt hatte, fuhr Saibro mit der Leitung des Plenums fort. Zunächst fragte er ab, ob in der kommenden Woche ungewöhnliche Besucher oder Besucherinnen zu erwarten sein würden? Das war nicht der Fall. Danach arbeiteten die Anwesenden unter seiner Leitung die vor dem Plenum eingereichten Punkte ab. So erinnerte eine Gemüsebauerin daran, dass sie in den nächsten Tagen wieder verstärkt Hilfe auf den Feldern bräuchten. Ein Dorfbewohner erfragte bei den Gehölzerinnen Baumaterial für einen neuen Holzschuppen, da sein alter bei einem Sturm zusammengeklappt war.

Derart ging es eine Weile weiter, bis nach gut einer Stunde alle Punkte auf der Tagesordnung abgearbeitet waren. Das Plenum hatte auch alles rund um den Neubau der Hütte für Sydän genehmigt. Saibro erklärte daraufhin, dass wer wolle, nun noch dieses oder jenes mitteilen könne. Von dieser Möglichkeit wurde wie immer reichlich Gebrauch gemacht und als Saibro das Plenum erschöpft für beendet erklärte, war eine weitere halbe Stunde vergangen.


Nach einer wohl­ver­dienten Pause, in der sie gemeinsam mit den anderen das Nachtmahl eingenommen hatten, setzte sich Saibro zur Nachbereitung ein weiteres Mal mit Saja zusammen, welche das Plenum in der nächsten Woche leiten würde. Zunächst gingen sie Sajas Protokoll durch und schauten, ob sie darin alles Wichtige richtig festgehalten hatte. Im Anschluss sprachen sie die Planung für das nächste Plenum durch und legten abschließend fest, welche Ankündigungen sie am Mitteilungsbrett auszuhängen hätten.

Erschöpft ließen sich die beiden nach getaner Arbeit auf der Wiese am Dorfplatz nieder und genossen dabei eine Tasse heißen Gerstentee.

»Ich hätte nicht gedacht, dass das so anstrengend ist«, sagte die entkräftet im Gras liegende Saja.

Saibro quälte sich ein mitfühlendes Lächeln aufs Gesicht und pflichtete ihr bei. »Das kannst du laut sagen. Du hast dich aber wirklich sehr gut geschlagen. Das erste Mal ist immer am mühevollsten.«

Saja nickte gedankenverloren und nahm einen kräftigen Schluck vom Gerstentee.

Saibro hatte das Gefühl, dass er mit Saja zu plaudern habe. »Wie läuft es bei den Kontorinnen?«

»Och, ganz gut. Ich muss noch viel lernen, aber was will man nach ein paar Wochen im Kontor anderes erwarten? Jedenfalls macht es mir mehr Spaß als die Schola. Wie es aussieht, kann ich in der nächsten Woche zum ersten Mal mit auf eine Besorgungsfahrt, denn wir müssen für das jährliche Treffen noch viel herbeischaffen.«

»Erinnere mich nicht daran. In der Vorbereitungsgruppe haben wir auch noch mehr Unerledigtes auf unserer Liste, als mir lieb ist. Ich kann es kaum glauben, dass wir in gut zwei Wochen schon die ganzen Abgesandten hier im Dorf haben werden. Es ist noch viel zu tun. Und ich bin …«

Saibro unterbrach seinen Satz, da ihm ein Schatten ins Gesicht fiel. Als er aufblickte, sah er die Silhouette eines Mannes, der die tiefstehende Sonne verdeckte. Die Augen mit der Hand beschirmend, versuchte er herauszufinden, wer dort vor ihm stand. Der Mann machte einen Schritt zur Seite. Er stützte sich auf einen anspruchslos geschnitzten Wanderstab und war in einen langen, braunen Mantel von schlichter Machart gewandet. Die am Mantel befestigte Kapuze hatte er in den Nacken geschoben und über seiner Schulter trug er einen Sack. Um seinen Hals hing an einer langen Kette ein goldenes Schmuckstück. Es war ein Ring, der an der Seite eine nach unten zeigende Weiterführung hatte, die so wirkte, als wäre sie von diesem abgerollt worden. Saibro erkannte darin die Zahl Neun.

»Entschuldigt die Störung. Ich bin ein einfacher Monakh auf seiner Wanderschaft und möchte gerne für ein paar Nächte Obdach erbitten. Ein freundlicher Bootsführer hat mich von der Grenze auf dem Nagare bis direkt hierher ins Herz von Laakso mitgenommen.«

Saja sprang auf und auch Saibro mühte sich auf seine langen Beine. »Sei gegrüßt. Ich weiß zwar nicht, was ein Monakh ist, doch wer als Freund kommt, wird hier in Hainrod für zumindest eine Nacht ein Dach über dem Kopf sowie auch Nahrung finden. Mein Name ist Saibro … und dies ist Saja.«

Saja nickte dem Monakh freundlich lächelnd zu.

Der Monakh erwiderte dies mit einem huldvollen Nicken und wendete sich wieder an Saibro: »Mein Name ist Bruder Anaius und ich bin auf einer Reise zu den heidnischen Völkern, um ihnen die Botschaft Tuhans zu bringen.«

»Tuhan?«, fragte Saibro.

»Ja, unser Schöpfer und Lenker.«

»Hmm?! Das sagt mir nichts. Doch werden sich diese heidnischen Völker gewiss über die Botschaft freuen … wenn ihr Inhalt denn erfreulich ist.«

Nun musste der Fremde mit dem schütteren Haar schmunzeln.

Saibro wunderte sich darüber. »Habe ich was Unterhaltsames gesagt?«

»Nein, das ist es nicht. Es ist so, dass wir in meiner Heimat Majirani auch euch hier in Laakso zu den heidnischen Völkern zählen. Ich weiß aber auch, dass ihr euch selbst nicht als solche seht.«

Saibro fühlte sich bei diesem Mann nicht ganz wohl. Auch wenn er mit einem ungewöhnlichen Akzent sprach, verstand Saibro seine Worte zwar klar und deutlich, deren Bedeutung jedoch nur zum Teil. Er beschloss daher, diesen Gast flugs zum Gästehaus zu bringen, ihm dort das Nötigste zu zeigen und zu erläutern, dann aber möglichst schnell wieder seinen eigentlichen Aufgaben nachzugehen.

»Na schön, du bist sicher erschöpft von deiner Reise. Ich würde vorschlagen, dass ich dich zu unserem Gästehaus bringe.«

»Das hört sich wunderbar an. Also lass uns gehen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Saja.«

Bevor er mit dem fremden Mann aufbrach, sagte Saibro noch zu Saja: »Du kannst gerne schon mal die Aushänge vorbereiten. Ich bin gleich wieder zurück.«


»Wie viele Menschen leben hier in Hainrod?«, fragte der Monakh, als sie gemeinsam durch den Ort liefen.

»An die zwölf Dutzend«, antwortete Saibro kurzangebunden.

»Und wer ist euer Dorfoberster?«, fragte der Monakh unbeirrt weiter.

Verwundert antwortete Saibro mit einer Gegenfrage: »Was soll das sein? Ein Dorfoberster?«

»Nun ja. Jemand, der hier das Sagen hat, der die Entscheidungen trifft und alles überwacht.«

Nun war Saibro vollends verwirrt. »Nein, sowas haben wir nicht. Wozu soll so jemand gut sein?«

Der Monakh antwortete nicht direkt. »Dann habt ihr einen Rat?«

»Nein, wir haben ein Plenum.«

Der Monakh schien darüber nachzudenken, wobei er seine recht hohe Stirn in Falten legte. »Ob ich eure Gastfreundschaft unter Umständen auch länger als die eine Nacht in Anspruch nehmen könnte? Ich bin auch gerne bereit, dort mit anzupacken, wo es ein paar helfende Hände braucht.«

»Das kann ich nicht allein entscheiden«, antwortete Saibro. »Aber diese eine Nacht kannst du in jedem Fall unser Gast sein. Ich werde dein Ansinnen in der Früh gerne dem Morgenzirkel vortragen. Es wäre gut, wenn du dabei auch anwesend wärst. Der Morgenzirkel trifft sich gut eine Stunde nach Sonnenaufgang am Dorfplatz. Also dort wo du vorhin Saja und mich getroffen hast. Da gibt es in Sommernächten übrigens meist noch ein inoffizielles Spätessen. Du bist auch dazu herzlich eingeladen.«

»Gut, ich werde dort sein. Beim Morgenzirkel und auch beim Spätessen. Wie weiß ich, wann es nachher das Essen geben wird?«

»Einige Minuten bevor es fertig ist, wird am Dorfplatz ein Gong geschlagen. Du musst also nur deine Ohren offen halten.«

»Das werde ich, mein Sohn. Das werde ich ganz bestimmt.«

Saibro fragte sich, was diese Anrede zu bedeuten hatte? Er schätzte, dass es vom Alter her zwar hätte passen können, doch war er in keinerlei Hinsicht der Sohn dieses gedrungenen Mannes. Da sie allerdings gerade am Gästehaus angekommen waren, verdrängte Saibro diese Frage und zeigte ihrem Gast sein Zimmer.

Kapitel 4

Saibro rannte. Auf der Höhe der Hütte seines alten Jugendfreundes Gygoy sprang er kurzerhand über die ihm den Weg versperrenden Kisten mit Obst und Gemüse. Gygoy arbeitete als Pflanzer und zu seinen wiederkehrenden Aufgaben gehörte es, das in den Vortagen geerntete Obst und Gemüse zu sortieren. Die unachtsam auf und zum Teil auch vor seinem Grundstück umherstehenden Kisten enthielten die Bestellung einiger Nachbardörfer und würden im Laufe des Vormittags abgeholt oder verschifft werden. Heute stand Saibro jedoch nicht der Sinn danach, sich über Gygoys schlampige Art aufzuregen, wie er dies ansonsten häufig in einer Mischung aus Unverständnis und Zuneigung tat. Er hatte verschlafen. Dabei hatte er diesem seltsamen Fremden versprochen, ihn zum Morgenzirkel zu begleiten.

Außer Atem kam Saibro am Gästehaus an. Der Monakh war weder in seinem Zimmer, noch im Waschraum oder auf dem Abort zu finden. Wahrscheinlich war er bereits zum Dorfplatz gegangen und stellte sich dem Morgenzirkel ohne die ihm zugesagte Unterstützung Saibros vor. Er überlegte kurz, ob er sich nicht lieber wieder auf den Weg zu seiner Hütte machen sollte. Allerdings sprach sein Gewissen zu ihm und er rannte wieder los.


Als er auf dem Dorfplatz ankam, sah er den Monakh an der Versammlungsstelle auf dem Rand des Brunnens sitzen. Er sprach zu den Leuten, die derzeit den Morgenzirkel bildeten. Die Zusammensetzung dieses Gremiums wechselte jede Woche, doch immer bestand der Zirkel aus sieben fest in Hainrod lebenden Menschen. Sie waren berechtigt, einfache Entscheidungen selbst zu treffen und mussten einen Umgang für wichtige und dringende Angelegenheiten finden. Am Ende der Amtswoche berichtete jemand aus dem Zirkel im Wochenplenum über ihre Entscheidungen und die wichtigsten Ereignisse. Die getroffenen Beschlüsse warfen im Plenum nur selten Diskussionen auf, sondern wurden meist eher wohlwollend zur Kenntnis genommen. Hin und wieder kam es jedoch dazu, dass jemand mit diesem oder jenem nicht einverstanden war. Dann galt es die Beschlüsse des Morgenzirkels zu prüfen und zu schauen, ob sich nicht eine einvernehmliche Lösung finden ließ.


Auf den zweiten Blick erkannte Saibro, dass an diesem Morgen mehr Leute als üblich an der Versammlungsstelle am Brunnen hockten. Ohne weiter darüber nachzudenken, trat er an die Gruppe heran.

»Ah! Saibro«, sagte der Monakh, der ihn von seiner leicht erhöhten Sitzposition wohl als Erster wahrgenommen hatte.

»Entschuldigt meine Verspätung. Ich habe verschlafen.«

Der Monakh nickte huldvoll. »Wie du siehst, habe ich meinem Anliegen schon das nötige Gehör verschafft. Der Morgenzirkel hat mir auch schon zugesagt, dass ich zumindest bis zum nächsten Wochenplenum euer Gast sein darf.«

»Gut, dann ist meine Anwesenheit hier ja nicht weiter erforderlich.«

Saibro wollte sich bereits abwenden, als ihn der Monakh nochmals ansprach. »Du willst uns schon verlassen? Wenn du magst, kannst du dich gerne zu den anderen hinzugesellen. Ich berichte soeben von unserer Lehre.«

»Welcher Lehre?«, fragte Saibro.

»Der Lehre des Schöpfers.«

»Des Schöpfers?! Du hast ihn gestern bereits erwähnt. Wie war noch mal sein Name?«

»Tuhan.«

»Richtig! Tuhan. Was erschafft dieser Schöpfer? Ist er ein Künstler? Oder ein Handwerker?«

Der Monakh schmunzelte. »Nein, nein, mein lieber Saibro. Obwohl? Irgendwie hast du schon auch recht: Tuhan ist bestimmt sowohl Künstler als auch Handwerker. Sowie Gelehrter, Erzieher und auch Ratgeber.«

Saibro zog anerkennend die Augenbraue hoch. »Ein fleißiger Mann scheint er jedenfalls zu sein.«

Erneut lächelte der Monakh auf seine ganz eigene Art. »Und wie fleißig er ist! Niemand ist fleißiger als er. Aber willst du dich nicht zu uns gesellen? Was ich bisher erzählt habe, kann ich gerne noch einmal zusammenfassen. So könntest auch du voll und ganz meinem Bericht über Tuhans Lehre folgen.«

»Danke, aber ich habe bislang nichts im Magen und zudem heute einen Haufen Arbeit zu erledigen. Sei mir nicht böse, aber ich werde lieber rüber zum Morgenbuffet gehen und mich für den Tag stärken.«

Saibro hatte das Gefühl, sich richtiggehend aus der sprachlichen Umklammerung dieses Monakhs losreißen zu müssen. Während er in Richtung des Buffets ging, hörte er den Monakh zunächst nicht weitersprechen und fühlte sich richtiggehend hinterrücks von dessen Blicken durchbohrt.

Insgeheim fragte sich Saibro, ob es eine gute Idee war, diesem Fremden ihre Gastfreundschaft für mehr als die obligatorische Nacht angedeihen zu lassen? Dann schimpfte er sich selbst einen Narren. Natürlich gewährten sie jedem Reisenden ihre Gastfreundschaft; gerne auch für eine längere Zeit. Denn in aller Regel ließ dieser Besuch immer auch etwas von seinem Wissen, seinen Tricks und Kniffen bei ihnen zurück. Apaquia sprach dabei immer vom Teilen ohne zu zerteilen. Sie hatte eine besondere Vorliebe für solche Sinnsprüche.

Da er Apaquia gerade schon einmal im Sinn hatte, ließ er seinen Blick hoffnungsfroh über die Speisenden schweifen. Doch nirgends konnte er sie sehen. Stattdessen wurde er selbst von Gygoy erblickt, der daraufhin lautstark einforderte, dass sich Saibro zu ihm an den Tisch setzen solle.

Saibro tat ihm den Gefallen. Jedoch nicht ohne ihm einen Rüffel zu verpassen. »Sag mal? Wirst du es irgendwann einmal lernen, dass die Kisten mit dem Obst und dem Gemüse nicht wild verteilt mitten auf den Weg gehören? Da will vielleicht auch mal jemand mit einem Wagen durch?«

»Ich weiß ja, dass dich das stört. Aber sag mal ehrlich: Wer will schon mit dem Wagen dahinten in unsere Ecke, wenn nicht, um dort welche von meinen Kisten abzuholen?«

Saibro schüttelte seufzend den Kopf. Er mochte diesen Kerl zu sehr, um ihm wahrhaft böse zu sein. »Deiner Pflanzerschläue bin ich nicht gewachsen, mein lieber Gygoy. Vor allem nicht vor dem Morgenmahl. Kann ich dir noch was vom Buffet mitbringen?«

»Nein, danke. Ich habe alles was ich brauche.«

Saibro nickte und ging zum Buffet hinüber, wo er sich ein paar Scheiben Brot abschnitt und einen kleinen Teller mit Aufstrichen zusammenstellte. Er schöpfte sich aus dem Kessel heißes Wasser in die Kanne, in die er zuvor ein paar Teekräuter geworfen hatte und ging zurück. Jedoch nicht, ohne dabei abermals einen Blick zu der Gruppe am Brunnen zu werfen. Nach wie vor saß dort ein gutes dutzend Menschen und lauschte dem Monakh andächtig. Saibro runzelte die Stirn und setzte sich an den Tisch.

»Was ist das für ein Fremder, der dort drüben die Leute vom Morgenmahl abhält und dich derart nachdenklich wirken lässt?«, fragte Gygoy.

Den Blick weiterhin zum Morgenzirkel gewandt, antwortete Saibro: »Das wüsste ich auch gerne. Was er sagt, ist mir ein Rätsel. Ich habe irgendwie ein ganz komisches Gefühl im Bauch.«

»Ihm gegenüber oder hast du einfach nur Hunger?«

»Ihm gegenüber. Aber frag mich jetzt besser nicht wieso? Wenn ich darauf eine Antwort hätte, wäre mir mit Sicherheit wohler.«

»Ach, mach dir mal nicht zu viele Sorgen. Der Fremde reist doch bestimmt heute noch weiter, oder?«

»Von wegen! Er plant ein paar Tage hier zu bleiben und uns von einem Schöpfer namens Tuhan zu berichten.«

»Ein Schöpfer? Ist das ein Künstler oder ein Handwerker?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Aber anscheinend ist er beides. Und obendrein ist dieser Tuhan mit zahlreichen anderen Fähigkeiten beschlagen. So wie es der Fremde angedeutet hat, ist dieser Tuhan ein mächtig fleißiger Zeitgenosse.«

Gygoy winkte vielsagend ab und wechselte ganz unvermittelt das Thema. »Apropos fleißig. Was macht euer kleiner Racker? Hält er euch auch schön auf Trapp?«

Dankbar für den Themenwechsel lachte Saibro auf; nicht ohne Stolz in seiner Brust zu verspüren. »Und ob, mein Lieber, und ob. Die ersten beiden Nächte habe ich bei Apaquia geschlafen. Also mehr oder weniger. An einen erholsamen und durchgehenden Schlaf ist mit einem Kleinkind wahrlich nicht zu denken. Letzte Nacht habe ich deswegen zum ersten Mal wieder alleine in meiner Hütte gepennt und auch heute prompt verschlafen. Ein paar Monate noch wird er ausschließlich von Apaquia gestillt werden und somit ziemlich an sie gebunden sein. Solange habe ich das Privileg nach stressigen Tagen wie gestern eine Nacht in meiner Hütte und damit in Ruhe zu verbringen. Aber schon bald wird er dann auch immer häufiger bei mir sein. Apaquia ist schon ganz heiß darauf, zumindest stundenweise wieder in die Schola gehen zu können. Sie traut es den anderen natürlich nicht zu, dass sie den Kindern ihre Lehrgebiete gut genug vermitteln können.«

»Das glaub ich dir gerne. Sie ist wirklich anspruchsvoll. Und wahrscheinlich ist ihre Einschätzung nicht einmal falsch. Ich höre nur Gutes über ihre Arbeit mit unseren Kindern.«

Als Entgegnung auf Gygoys lobende Worte nickte Saibro nur und genoss die wohlige Wärme, die er oft verspürte, wenn er an Apaquia dachte. Es erschien ihm immer wieder wie ein Wunder, dass ausgerechnet er ihr Herz erobern konnte.