Inhaltsverzeichnis

 

Originaltitel: La aventura de los bustos de Eva

© 2004 by Carlos Gamerro

 

Dieses Werk wurde im Rahmen des »Sur«-Programms des Außenministeriums der Republik Argentinien zur Förderung von Übersetzungen verlegt.

Obra editada en el marco del Programa »Sur« de Apoyo a las Traducciones del Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto de la República Argentina.

 

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds mit einem Johann-Joachim-Christoph-Bode-Stipendium gefördert und in diesem Rahmen von Luis Ruby begleitet.

 

© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Umschlag: Jürgen Schütz

EPUB-Konvertierung:

ISBN: 978-3-903061-59-0

 

 

Printausgabe: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-73-1

 

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Carlos Gamerro

geboren 1962 in Buenos Aires, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des heutigen Argentiniens. Neben fünf Romanen und einem Erzählband veröffentlichte er auch Essays und übersetzte u.a. Werke von Graham Greene und William Shakespeare. Darüber hinaus schrieb er das Drehbuch zu dem Film Tres de Corazones. Ein Teil seiner Romane wurde ins Englische und Französische übertragen sowie für das Theater adaptiert. Mit Das offene Geheimns erschien 2013 einer seiner Romane erstmals auf Deutsch. 2015 folgte sein Roman Der Traum des Richters.

 

Klappentext

Der Generaldirektor einer argentinischen Baufirma ist von linksperonistischen Rebellen entführt worden, was im Argentinien der Siebzigerjahre tatsächlich häufiger vorkam. Allerdings fordern die Rebellen für seine Freilassung diesmal, dass in der Firmenzentrale 92 Evita-Büsten aufgestellt werden müssen. Besorgen soll diese Ernesto Marroné, der karrieregeile Einkaufsleiter der Firma und begeisterte Leser von Wirtschaftsratgebern à la Wie man Freunde gewinnt, Samurai-Prinzipien für Manager oder Don Quijote – Der fahrende Manager von der Mancha. Natürlich wittert er vor allem eine Beförderung, jedoch gestaltet sich die Suche nach den Büsten schwieriger als gedacht: Zuerst besetzen Arbeiter die Gipsfabrik, die sie produzieren sollte. Dann geht es Schlag auf Schlag und er gerät mitten in den gesellschaftlichen Aufruhr in einem Argentinien, in dem tagtäglich der nächste Militärputsch oder die nächste Guerilla-Aktion droht; in dem aber auch die ärmere Bevölkerungsschicht nach wie vor ihrer »Evita« und der ersten Perón-Regierung nachtrauert. 

Das Buch ist nicht nur ein satirischer Bildungsroman, in dem Marroné seine Sozialisierung in der Oberschicht und sein bisheriges Leben zu hinterfragen beginnt, es hält trotz aller Groteske eine international verständliche Botschaft bereit: Die historische Verklärung der Vergangenheit, oder auch mancher umstrittener Führerfiguren, führt zuweilen schwerstens in die Irre. 

»Wie auch Borges und Julio Cortázar tendiert Gamerro dazu, die Gutgläubigkeit seiner Leser auf die Probe zu stellen. Er katapultiert den Leser aus der fiktiven Welt, indem er die What-the-fuck-Momente der menschlichen Geschichte nutzt, um ihren befremdlichen Charakter zu entlarven.«
The Guardian

»Manche mögen vielleicht meinen, der bewaffnete Kampfgeist sei kein geeignetes Thema für eine Slapstick-Komödie, andere wiederum Eva Peron kein geeignetes Ziel für Satire. Doch Die 92 Büsten der Eva Perón erfüllen diesen Zweck durch die Effektivität ihrer literarischen Sprache.«
La Nación

 

 

 

Carlos Gamerro

Die 92 Büsten der Eva Perón

Roman | Septime Verlag

 

Aus dem argentinischen Spanisch von Birgit Weilguny

 

 

 

 

 

 

Für Paula

 

Prolog

 

 

 

Als Ernesto Marroné nach einem herrlichen Golfnachmittag im Country-Club Los Ceibales nach Hause kam und im Zimmer seines pubertierenden Sohnes ein Che-Guevara-Poster an der Wand sah, wurde ihm klar, dass er nicht länger über seine Vergangenheit bei der Guerilla schweigen durfte.

Nicht, dass das ein streng gehütetes Geheimnis gewesen wäre: Selbstverständlich war seine Frau bis zu einem gewissen Grad im Bilde – schließlich waren sie zu der Zeit schon verheiratet gewesen und so etwas war schwieriger zu verheimlichen als ein Seitensprung –, doch hatte Mabel nie nachgefragt, mehr noch, sie hatte jeden seiner zaghaften Versuche, sich zu offenbaren, mit einem barschen »Ich will es nicht wissen!« abgewürgt. Seine Schwiegereltern hatten wohl eine leise Ahnung und seine Eltern eine noch leisere; wie viel sie aber wirklich wussten, hatte er nie so recht ergründet. In der Arbeit war es natürlich ein offenes Geheimnis. Wie hätte jemandem entgehen können, dass Marroné mit der geschichtsträchtigen Extremistenorganisation zu tun gehabt hatte, in deren Gewalt sich damals der Generaldirektor der Firma höchstpersönlich befand? Nur seine Kinder waren bisher zum Glück oder Unglück von diesem Wissen verschont geblieben.

»So ist es eben«, dachte Marroné, während er sich resigniert die Jack-Nicklaus-Schuhe aufschnürte. »Davonlaufen ist auch keine Lösung. Irgendwann holt einen die Vergangenheit ein. Uns alle.« Denn die Geschichte, die Marroné erlebt hatte, war nicht ungewöhnlich, stand sie doch für eine ganze Generation, die nun ebenso vehement ihre beschämende Vergangenheit vergessen machen wollte, wie sie früher nach einer utopischen Zukunft getrachtet hatte. Wer sollte den ersten Stein werfen, wer mit dem Finger auf ihn zeigen? Man brauchte sich bloß umzusehen: Wie viele von den Leuten, die jetzt mit der größten Selbstverständlichkeit in ihren prächtigen, halb hinter üppigen Baumkronen versteckten Häusern residierten, hatten früher statt des gekonnt geführten Slazenger-Tennisschlägers eine Waffe in der Hand gehalten und gegen Privilegien gekämpft, die weit weniger ungerechtfertigt gewesen waren als ihre eigenen heute.

Beim Duschen kehrte die Wärme in seinen Körper zurück, die das kalte Juniwetter und die aufkeimende Erinnerung vertrieben hatten, und er fand die nötige Ruhe, um seinen Vorsatz in einen festen Entschluss zu verwandeln. Es war an der Zeit, dass sein Sohn alles erfuhr. Mit Mabel würde er das, anders als sonst, nicht im Vorfeld besprechen, um sich nicht in letzter Minute umstimmen zu lassen. Denn in einer Paarbeziehung mochte man es umschiffen können, wenn sich Schweigen einstellte und sich gelegentlich Türen schlossen, doch Kinder waren da anders. Für sie enthielten die Geheimniskrämerei, das Schweigen oder die Gleichgültigkeit von Vater oder Mutter eine Botschaft, eine Weisung, ja geradezu ein Urteil, das umso tückischer war, je unterschwelliger es vermittelt wurde. Wenn es um seine Tochter Cynthia gegangen wäre, nach wie vor Papas verwöhnte kleine Prinzessin, hätte die Zeit nicht ganz so gedrängt. Was würde sie schon verstehen, sie hatte gestern noch mit Barbiepuppen gespielt und jetzt nahmen Frisuren, samstägliche Tanzabende, Schlankheitsdiäten und harmlose Flirts mit Jungen aus ihrer Schicht fast die ganze Freizeit in Anspruch, die ihr der Unterricht in einer Schule in der unmittelbaren Umgebung des Country-Clubs ließ. Auch wenn während der Aufbruchszeit Tausende Frauen von der Guerilla rekrutiert worden waren, hatte sich das mittlerweile totgelaufen. Bei Jungen hingegen konnte man nie ganz sicher sein. Sie waren stets das erste Ziel: Ihr Idealismus, ihre romantische Abenteuerlust, ihre Risikobereitschaft, ihre überschießende Energie erleichterten das Zündeln und konnten von der Gesellschaft nicht immer in vernünftige Bahnen gelenkt werden. Zwar vertraute er seinem Sohn, einem brillanten jungen Mann, dem der Erfolg bereits in die Wiege gelegt schien, einem echten Leader und zugleich hervorragenden Kameraden, der vor allem ein wahrhaft edles Gemüt besaß. Aber gerade diese Eigenschaften machten ihn für den Sirenengesang der Gewaltbereiten und Ungeduldigen empfänglich. Marroné konnte das selbst am besten beurteilen. Hatten sie mit ihren Taktiken nicht auch bei ihm Erfolg gehabt? Warum sollte sich sein Sohn also nicht verführen lassen?

Bereits im legeren Hausanzug, den er vor dem Zubettgehen nicht mehr abzulegen gedachte, kam er abermals an der offenen Tür zum Zimmer seines Sohnes vorbei und stieß wieder auf die Umrisse Che Guevaras, ein Schwarz-Weiß-Poster (wie stets ohne Graubereiche, ohne Zwischentöne). Sein Blick traf auf jenen seines viel zu bekannten Landsmanns, der ihn herausfordernd anstarrte, doch anders als bei früheren Gelegenheiten hielt er ihm diesmal stand. »Mich hast du vielleicht gekriegt«, sagte er im Geist zu Che Guevara, »aber bei meinem Sohn wird es dir nicht so leicht gelingen. Weil er nicht allein ist, weil ich für ihn da bin und … weil ich dich durchschaut habe!« Beim Gedanken daran, wie viele Leben gerettet worden wären, wenn die Eltern nur rechtzeitig mit ihren Kindern gesprochen hätten, fühlte Marroné einen Stich in der Brust. »Wir haben nie etwas bemerkt«, sagten hinterher alle, als sei der flackernde Blick des Revolutionärs und Träumers an Hunderten Jugendzimmerwänden kein deutliches Alarmzeichen gewesen. Eine ganze Generation, auf dem Altar eines zweifelhaften Idols geopfert, und er, Ernesto Marroné, war ein Überlebender. Aber wofür das alles, wofür sein Überleben, wenn nicht, um davon zu erzählen und die lästigen Geister der Vergangenheit zu bannen, bevor alles von vorn losging?

Vorerst konnte er jedoch wenig unternehmen, denn Tommy war nicht zu Hause. Das Training im Club Atlético de San Isidro musste zwar bald zu Ende sein, doch selbst wenn er danach gleich heimkäme, wären bis dahin seine Mutter und Schwester wieder da, denn sie waren wie an jedem Sonntag ins Shoppingcenter gefahren und kamen bestimmt bald zurück, und das würde die Gesprächsatmosphäre stören, die Intimität zwischen Vater und Sohn. Damit seine Worte wirkten, musste er unter vier Augen mit Tomás reden. Am besten morgen, wenn sie wie an jedem Montag zusammen die fast siebzig Kilometer Autobahn bis zu seinem Büroturm in Puerto Madero im Zentrum von Buenos Aires und Tommys Universität zurücklegten. Bis dahin hatte er die ganze Nacht Zeit, um sich seine Worte zurechtzulegen.

Eines beunruhigte ihn besonders: Würde sein Sohn ihm glauben? Wie sollte sein Kind oder sonst wer, der nur den Ernesto Marroné von heute kannte, den Finanzchef des am schnellsten expandierenden Bau- und Immobilienkonzerns Argentiniens, sich vorstellen können, dass er einst untergetaucht war und, aus dem Schatten heraus, gerade jener Gesellschaft den Krieg erklärt hatte, in der er heute lebte wie die Made im Speck? Dass er nicht nur die Stimme erhoben, sondern mit der Waffe in der Hand gegen vermeintliche Ungerechtigkeiten gekämpft hatte, wobei seine Taten freilich alles nur noch schlimmer gemacht hatten?

In dieser Nacht fand Ernesto Marroné keinen Schlaf.

Er lag da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Zimmerdecke, wo im Licht der Laternen ein paar gekreuzigte Äste ihre geisterhaften Schatten warfen, während immer mehr Erinnerungen in ihm aufstiegen. Seine Vergangenheit als Revolutionär zog wie auf einer weißen Leinwand vor seinen Augen vorbei und er betrachtete sie wach und ehrlich, vom Anfang bis zum Ende. Die Handlung setzte an jenem Nachmittag vor sechzehn Jahren ein, als man ihn zum ersten Mal in seinem Leben ins Untergeschoss des Gebäudes an der Colón-Promenade Nummer 300 geholt hatte, in einen Komplex unter der Erde, der vom Firmendirektor auf den so walkürenhaften wie klangvollen Namen »Nibelheim« getauft worden war, für den die Angestellten aber die profanere Bezeichnung »Tamerláns Bunker« verwendeten.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Tamerláns Finger

 

 

»Herrn Tamerláns Entführer stellen neue Forderungen, Herr Marroné.«

Ernesto Marroné saß vor dem Schreibtisch und ließ den Blick über die spiegelnde Schädeloberfläche des Buchhalters Govianus wandern, der ihn während des Gesprächs kaum anblickte, sondern lieber die vagen Gesten seiner eigenen Hände im Auge behielt, mit denen er das Gesagte saft- und kraftlos begleitete. Den imposanten Metallschreibtisch, der wie ein liegender Tresor aussah, und das riesige, abgeschottete Gewölbe, in dem er stand, hatte Govianus binnen weniger Stunden nach Bekanntwerden von Herrn Tamerláns Entführung durch die linksperonistische Montonero-Bewegung in Beschlag genommen und er führte fortan von hier aus und in enger Absprache mit dessen Familie die Verhandlungen – doch auch wenn das nun schon sechs Monate her war, schien er immer noch nicht so recht hierher zu passen. Das Büro und der Schreibtisch waren zu groß für ihn und auch der goldene Füllfederhalter mit dem säuberlich gravierten Monogramm FT sah zwischen seinen Fingern geradezu riesig aus. Der Buchhalter Govianus wirkte wie ein Zwerg; ein kahlköpfiger, bebrillter Zwerg, der sich auf den Thron eines Riesen gesetzt hatte.

»Was wollen sie jetzt schon wieder? Mehr Geld?«

»Ach, Marroné, wenn es nur das wäre! Manchmal bedauere ich regelrecht, dass in unserem Land nicht die Mafia die Leute entführt. Bei denen weiß man wenigstens, woran man ist. Wir sprechen in mancher Hinsicht dieselbe Sprache. Aber dieses Gerede von den besseren Bedingungen für die Arbeiter im Haus – übrigens immer nur für die Arbeiter, aufs Verwaltungspersonal pfeifen die, als ob nicht auch wir zu leiden hätten –, und dann sollen wir auch noch die Betriebsräte wieder zurücknehmen, die wir eben erst hochkant hinausgeworfen haben, am besten mit Handkuss, und in den Elendsvierteln Essen verteilen … Haben die keine anderen Sorgen? Raten Sie mal, was ihnen jetzt wieder eingefallen ist. Stellen Sie sich vor, wir sollen im Firmengebäude in jedem Raum eine Büste von Eva Perón aufstellen, auch hier. Können Sie sich etwas Lächerlicheres vorstellen?«

Marroné antwortete nicht, weil er im Geist schon zusammenzählte, wie viele Büsten nötig wären, um die Forderung zu erfüllen. In der achten Etage gab es »Walhalla«, einen Sitzungssaal und zwei Büroräume; in der siebenten neun Büros und einen zentralen Korridor …

»Auch auf den Korridoren?«

»Was weiß denn ich? Sagen wir sicherheitshalber ja. Vielleicht wollen sie auch auf den Klos welche haben, damit Evita uns beim Pinkeln über die Schulter schauen kann. Glauben Sie mir, Marroné, ich bin am Ende meiner Kräfte. Zuerst Herr Fuchs, möge er in Frieden ruhen; und jetzt auch noch Herr Tamerlán … Sind wir denn die einzige Firma im Land, deren Direktoren man entführen kann? Die sollten sich mal mit den Vorteilen der Wechselwirtschaft auseinandersetzen. Sie haben es auf uns abgesehen, das sage ich Ihnen … Dabei stammt unser Personal zu hundert Prozent aus Argentinien! Herr Fuchs hatte längst die Staatsbürgerschaft angenommen, und Sie werden wissen, dass Herr Tamerlán als Zehnjähriger, ausgerechnet am 17. Oktober 1945, nach Argentinien gekommen ist … Aber diese Burschen haben keinen blassen Schimmer von Geschichte. Tja … wenigstens haben sie uns noch nicht die Firma abgefackelt, wie sie es bei ausländischen Unternehmen machen …«

Dem Buchhalter Govianus tat es sichtlich gut, sich das von der Seele zu reden, und Marroné kam sofort die vierte der »sechs verschiedenen Arten, sich beliebt zu machen« aus seinem Lieblingsbuch – Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst – in den Sinn. Sie lautete: »Seien Sie ein guter Zuhörer. Lassen Sie den andern von sich selbst erzählen!«

»Aber Sie und Ihre Familie werden gut genug beschützt?«

»Leider ja! Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, von früh bis spät Leibwächter in seinem Wohnzimmer zu haben? Einer von ihnen weiß nicht, was eine Klospülung ist. Und sie nehmen alles in Beschlag. Auch die Fernbedienung. Wir sehen nichts als Twen-Police, Make-up und Pistolen oder Starsky & Hutch, stellen Sie sich das einmal vor … Verschont bleibe ich nur, wenn ein Spiel übertragen wird. Meine Frau und ich mussten uns ein Zweitgerät fürs Schlafzimmer anschaffen. Und niemand traut sich mehr, an der Tür zu klingeln. Erst kürzlich haben sie den Soda-Lieferanten mit vorgehaltener Waffe gezwungen, einen Schluck aus jeder Siphonflasche zu nehmen, könnte ja sein, dass man uns vergiften will. Sein Rülpsen war bis nach Burzaco zu hören. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich dazu, was Herr Tamerlán durchmachen muss. Uns läuft die Zeit davon, Marroné. Es sind schon sechs Monate vergangen. Den Entführern geht die Geduld aus. Sehen Sie sich das an!«

Govianus hielt ihm eine längliche Box aus rostfreiem Stahl hin, wie man sie zur Sterilisation und Aufbewahrung von Spritzen benutzt. Allerdings war sie von einer dünnen Schicht Eis überzogen. Marroné nahm sie ihm aus der Hand. Sie fühlte sich an, als käme sie direkt aus der Tiefkühltruhe.

»Nur zu, machen Sie sie auf!«

Marroné versuchte es, aber seine Finger glitten von der Eisschicht ab, und es gelang ihm zunächst nicht, den Metalldeckel zu lösen. Schließlich kam er aber doch mit dem Fingernagel in eine Ritze. Beim Anblick des Inhalts schrie er laut auf und die Box flog in hohem Bogen durch die Luft.

»Ein Finger! Das ist ja ein Finger!«

»Natürlich ist das ein Finger, Marroné! Und zwar der von Herrn Tamerlán! Seien Sie froh, dass er nicht da ist – wenn er sehen würde, wie Sie damit umgehen! Und jetzt machen Sie den Mund zu und helfen Sie mir suchen!«

Beim Versuch, Ober- und Unterteil des Behälters sowie seinen Inhalt wiederzufinden, mussten sie sich zwischen rollenden Bürostuhlbeinen durchzwängen und durch einen Kabelsalat wühlen. Marroné hatte das Pech, den Finger zuerst zu sehen. Seine Färbung war fahl bis gelblich-grau marmoriert, und obwohl der Nagel akkurat gekürzt und manikürt war (»Wie für den Anlass zurechtgemacht«, schoss es Marroné abscheulicherweise durch den Kopf), wirkte er bedrohlich – wie ein Amulett aus einer Tierklaue. Beklommen sah er sich nach etwas um, mit dem er den Finger packen konnte. Als Govianus kurz wegsah, angelte er ein zusammengeknülltes Blatt Papier aus dem Abfalleimer, strich es glatt und benutzte es als Griffschutz. Er konnte die Kälte des toten Fleisches durchs Papier hindurch fühlen, sie lief ihm die Wirbelsäule hinunter wie auf einer Klaviatur. Umständlich verstaute er den Finger wieder in seinem Wattebettchen und stellte die Box auf den Schreibtisch. Eine wichtige Frage kam ihm in den Sinn.

»Kann man überhaupt mit Sicherheit sagen, dass es Herrn Tamerláns Finger ist?«

»Uns liegt ein positives polizeiliches Gutachten vor – nicht, dass das in unserem Land für irgendetwas garantieren würde, aber ich wage zu behaupten, dass die Leute in der Firma seinen Finger gut kennen. Widersprechen Sie mir ruhig!«

Govianus neigte leicht den Kopf und schob sich herausfordernd die Brille auf die Nasenspitze, um ihn über den Rahmen hinweg anzusehen. Er hatte völlig recht. In diesem Moment wurde Marroné erst bewusst, wie roh und radikal die Männer, mit denen sie es hier zu tun hatten, tatsächlich vorgingen. Herrn Tamerlán den Zeigefinger abzuschneiden, das war, wie Samson seiner Haare oder Kleopatra ihrer Nase zu berauben, Caruso seiner Zunge oder Pelé seiner Beine; als würde man Oberst Perón die strahlend weißen Zähne einschlagen oder Casanova kastrieren. Diese Leute waren zu allem fähig! Ihnen war nichts heilig! Und sie wussten zweifellos Bescheid, welche Bedeutung Herrn Tamerláns Finger für die gesamte Belegschaft hatte, und zielten mit diesem brutalen Akt auf ihr Innerstes ab. Kein Geheimnis wurde in der Firma so gut gehütet wie dieses, und doch hatten sie es gelüftet. Aber jeder wusste ja, dass subversive Kräfte die Regierung, die Gewerkschaftsorganisationen, sogar das Militär unterwanderten. Warum also nicht auch die Firma? »Sie sind überall«, dachte Marroné fröstelnd, »man weiß nie, wen man vor sich hat.« Während Govianus mit einem eingehenden Telefonanruf beschäftigt war, betrachtete Marroné mit einer Mischung aus Schadenfreude und Rührseligkeit das Ding, das reglos in seinem Metallsarg ruhte, und während er darüber nachdachte, wie vergänglich doch das Leben war, stiegen ihm fast Tränen in die Augen. Das war sein Finger, eindeutig; wie hatte er nur daran zweifeln können?

Er würde den Tag, an dem er diesen Finger und seinen früheren Träger kennengelernt hatte, niemals vergessen, auch weil ihn seitdem eine hartnäckige Verstopfung plagte: An jenem Tag hatte Herr Tamerlán ihm am Ende eines persönlichen Bewerbungsgesprächs die Stelle als Einkaufsleiter angeboten, die er noch immer bekleidete. Diese Begegnung hatte bei Marroné tiefen Eindruck hinterlassen; sie hatte sein Leben verändert. In den ersten Auswahlrunden war es für ihn, mit seinem postgradualen Marketingstudium an der Stanford-Universität und seinen familiären Verbindungen, wie geschmiert gelaufen. Doch galt es in Wirtschaftskreisen als allgemein bekannt, dass die entscheidende Hürde für den Eintritt in ein Unternehmen der Tamerlán-Gruppe das Vier-Augen-Gespräch mit dem Big Boss war. Wie man hörte, verfügte dieser über eine unfehlbare Methode, um bei der Wahl seiner Manager die Spreu vom Weizen zu trennen, nur schien niemand, egal ob eingestellt oder abgelehnt, bereit zu sein, etwas darüber zu verraten. Das einhellige Stillschweigen heizte die Gerüchteküche erst recht an und machte alles nur noch mysteriöser. Bekanntlich hatte Herr Tamerlán die Unternehmensgruppe nach der Entführung und Ermordung des früheren Generaldirektors umstrukturiert und dabei alle leitenden Angestellten durch das Prüfverfahren geschickt, wobei manche aufgestiegen, eine Reihe anderer aber entlassen worden waren, denen es offenbar an bedingungsloser Loyalität zum neuen Chef fehlte. Eine der freigewordenen Stellen wollte Marroné ergattern.

In der Woche vor dem Bewerbungsgespräch hatte er mit steigender Aufregung auf das Zusammentreffen gewartet, diesen möglichen Meilenstein in seinem Leben – natürlich nur, falls alles gut ging und er zur rechten Zeit die passenden, tausendmal einstudierten Worte sagte, Herrn Tamerlán aufmerksam zuhörte, ausdauernd lächelte und im richtigen Moment sein Beileid wegen des ermordeten Partners bekundete. Die Woche nahm kein Ende und er konnte an nichts anderes mehr denken: Bei jedem Abendessen belagerte er seine Frau mit Anekdoten, die man sich in den einschlägigen Kreisen über die legendäre Tamerlán-Familie erzählte; er nahm seinen Kleinen auf den Schoß und sang statt »Hoppe, hoppe Reiter« »Tam, Tam Tamerlán« und auch im Bett redeten er und seine Frau über nichts anderes, spekulierten über die Fallen, die Herr Tamerlán ihm bei dem geheimnisvollen Gespräch stellen konnte und derentwegen er Warren P. Jonas’ Wie gut sind Sie auf Ihr Vorstellungsgespräch vorbereitet? las, bis die Seiten herausfielen. Angeblich nahmen viele die ersten Hürden des Auswahlverfahrens mit dem Rorschachtest und den grafologischen sowie psychologischen Gutachten mit Bravour, nur um dann auf der Zielgeraden zu scheitern. Bei jedem dieser Gespräche zitterte Marroné vor Neugierde und Besorgnis wie Espenlaub, und seine Frau goss Öl ins Feuer, indem sie jeden greifbaren Artikel ausschnitt, der in der Klatschpresse über Herrn Tamerlán erschien. In den kurzen Pausen zwischen den nächtlichen Albträumen ihres Sohnes ging es auch im Bett so leidenschaftlich zu wie noch nie, ihre ersten Begegnungen mit eingeschlossen, allerdings kam Marroné, so wie meistens, wenn er Stress hatte, zu früh zum Samenerguss. Einmal musste er aber doch ins Schwarze getroffen haben, weil Mabel exakt neun Monate später die kleine Cynthia zur Welt brachte. Marroné glaubte sofort, Herrn Tamerláns Züge in ihrem zarten Gesicht zu erkennen, als hätte er ihn im heiklen Augenblick der Zeugung vor Augen gehabt und so den formbaren Zellverband für immer geprägt.

In jenen unruhigen Zeiten half ihm die Triebabfuhr nicht beim Einschlafen: Er lag die ganze Nacht wach, spielte das bevorstehende Gespräch mit dem Big Boss immer wieder durch, überlegte sich Strategien und analysierte die möglichen Ergebnisse verschiedener Gesprächsverläufe. Das Geheimnis bestand darin, die begangenen Wege zu verlassen und Neues zu wagen; mit einem Wort, kreativ zu sein. Für einen so geistvollen, umtriebigen Mann wie Herrn Tamerlán konnte es nichts Langweiligeres geben als ein routinemäßiges Bewerbungsgespräch. Marroné wollte daher für unvergessliche Momente sorgen, indem er die Initiative ergriff und sich etwas im Büro aussuchte, das er offen und frei heraus bewundern konnte: ein Gemälde, eine antike Lampe, die Täfelung der Wände – ganz wie es James Adamson, der Geschäftsführer der Superior Seating Company, bei seinem Gespräch mit George Eastman getan hatte. So stand es zumindest in Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst, Marronés Lieblingsbuch. Da würde sich Herrn Tamerláns finstere Miene augenblicklich aufhellen und er würde ihm bereitwillig etwas über diesen Gegenstand erzählen. »Das befindet sich seit Generationen im Familienbesitz. Bei Ausbruch des Weltkriegs hat mein Vater …« Mit einem Mal wäre das Gespräch nicht mehr so förmlich: Erfreut würden sie entdecken, dass sie sich beide für die Hochjagd und für Wagner-Opern begeisterten, auch wenn Marroné das zugegebenermaßen erst seit Kurzem tat; seit dem eingehenden Studium von Herrn Tamerláns Vorlieben, weshalb er ein paar alte Ausgaben von Landleben gelesen und bis zur Erschöpfung Die Walküre gehört hatte. Sein offenes Lächeln und sein aufrichtiges Interesse würden Herrn Tamerlán für den Bewerber um die Stelle des Einkaufsleiters einnehmen und er würde immer offener über seine geheimsten Seelennöte und Befürchtungen sprechen: den Zweifel daran, ob er tüchtig genug sei, die Unternehmensflotte sicher durch die wechselhafte Wetterlage der argentinischen Wirtschaft zu steuern; die Möglichkeit, dass er trotz tatkräftiger Führungsarbeit an der Spitze des verschachtelten Konzerns ewig im Schatten seines verblichenen Kompagnons und Vorgängers stehen könnte; und die (wie sich zeigen sollte, nicht ganz unberechtigte) Furcht, das nächste Opfer derjenigen zu werden, die schon seinen Partner entführt und ermordet hatten. Neben diesen persönlichen Themen würde man auch auf Geschäftliches zu sprechen kommen: Hier konnte Marroné dann taktvoll Verbesserungsvorschläge auf der Managementebene einbringen, die er aus Gründen der Vorsicht als Herrn Tamerláns Ideen ausgeben musste, er würde sie nur herausgreifen und explizit machen, wie Raymond Schneck es in Sit Your Boss on Your Knees empfahl. Als Nächstes würde Tamerlán ihm die Stelle anbieten, auf die er eigentlich aus war, jene des Marketingleiters, und die Position des Vizedirektors in Aussicht stellen, die durch Herrn Tamerláns Aufstieg vakant geworden war – Marroné schien sie zum Greifen nahe wie der goldene Ring bei einer Fahrt mit dem Karussell. Da war Marroné in seinem imaginären Frage-und-Antwort-Spiel ganz oben angelangt und stürzte von der letzten Stufe auf der Wendeltreppe seiner Fantasie ungebremst in die Niederungen der Wirklichkeit zurück, in der die Begegnung noch vor ihm lag und er sich schweißgebadet auf der Matratze wälzte, während seine schlafende Frau ihn ständig mit dem Ellbogen in die Seite stieß, bis irgendwann der Mechanismus aus Wunschdenken und Fantasie erneut Fahrt aufnahm und Marroné wieder Stufe für Stufe seinen Wachträumen folgte und in luftige Höhen entschwand. Sein Hirn lief heiß, als befänden sich in seinem Schädel nur glühende Kohlen, und ein ums andere Mal wendete er sein Kissen, um sich abzukühlen. Welche Ironie des Schicksals: Seine Eingeweide behielten in jener Woche weniger denn je, zu jeder Tages- und, je näher der D-Day rückte, auch Nachtzeit musste er aufs Klo rennen, als ahnte sein Körper, dass es mit diesen hemmungslosen Freiheiten nach dem so ersehnten wie gefürchteten Gespräch vorbei sein würde.

Einem Gespräch, das nicht im zu jener Zeit noch gar nicht vorhandenen Bunker stattfand, der erst später das Archiv und das Materiallager aus dem Keller des Firmengebäudes verdrängen sollte, sondern an einer diametral entgegengesetzten Ecke, unter der großen Kuppel aus bernsteinfarbenem Glas, die auf der letzten Etage des feudalen Jahrhundertwendebaus thronte und der Herr Tamerlán persönlich den klangvollen Namen »Walhalla« gegeben hatte.

Seinen Schreibtisch, einen wuchtigen Mahagoniblock, hatte Herr Tamerlán so unter die Kuppel stellen lassen, dass Ernesto Marroné an diesem sonnigen Tag seinen potenziellen Arbeitgeber in sphärisch goldenes Licht getaucht sah, so entrückt, als befänden sie sich nicht in derselben Wirklichkeit – alles schien aus Licht und Gold gemacht, jenen edelsten aller Materialien, und zwar sowohl die Gegenstände auf dem Schreibtisch als auch Herr Tamerlán selbst auf seinem leuchtenden Thron mit den geschwungenen Armlehnen.

»Was für ein schöner Schreibtisch …«, fing Marroné an, wie er es eingeübt hatte.

»Lassen Sie bitte die Hosen hinunter.« Herr Tamerlán hob nicht einmal den Blick von der Mappe, die er gerade durchsah und in der sich wohl eine Ausschreibung befand. Und weil die Aufforderung so ungewöhnlich war, sah Marroné sich verwundert um, ob er denn jemand andern damit meine. Doch sie waren allein. Marroné lockerte den Gürtel und öffnete den Innenknopf seiner Hose, die er sich, wie den ganzen Markenanzug von James Smart, extra für diesen Anlass gekauft hatte. Er konnte aus der weit geschnittenen Hose schlüpfen, ohne die Schuhe auszuziehen, blieb aber mit dem linken Absatz hängen, weshalb er sekundenlang auf einem Bein hüpfen musste. Dann faltete er die Hose säuberlich zusammen, und weil er nicht wusste, wohin damit, nahm er den linken Arm als Kleiderhaken. Seine Unterhose war aus dem Abverkauf und nicht ganz neu, weshalb er froh war, dass die Hemdschöße sie verdeckten.

»Die Unterhose auch«, sagte Herr Tamerlán, ohne überhaupt nachzusehen, was Marroné tat, ganz als rechne er schon mit einer gewissen Zurückhaltung.

Marroné gehorchte und musste an den rätselhaften Spruch denken, den eine kundige Quelle Tamerlán zuschrieb: »Wer Karriere machen will, sollte die Unterhose der Firma tragen.« Was auch immer damit gemeint war, es hatte bestimmt etwas mit dem zu tun, was nun käme. Herr Tamerlán klappte die Mappe zu, erhob sich und ging um den Schreibtisch herum auf Marroné zu, während er ihn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, eingehend musterte. Einen Augenblick lang fürchtete Marroné, er könnte gleich die Hand ausstrecken und seine Zähne prüfen. Außerhalb des magischen Lichtkreises wirkte Herr Tamerlán wie ein Normalsterblicher, bis er ihm in die Augen sah. Da sprang ihn etwas an wie ein Hund, dem man den Maulkorb abgenommen hat, etwas, das ihm im bernsteinfarbenen Licht nicht aufgefallen war: kühle Pupillen und ringsum scharf abgegrenztes Blau, wie ein Eisberg. Erst nach einem Blick auf Herrn Tamerláns Hände fand Marroné, der verblüfft geschwiegen hatte, vor Schreck die Sprache wieder. Herr Tamerlán war dabei, sich mit der Linken einen Gummifingerling über den rechten Zeigefinger zu rollen, einen, wie ihn Proktologen benutzten.

»Ich bin aber schon untersucht worden«, stammelte Marroné entgeistert.

»Stellen Sie sich nicht so an, Marroné! Oder soll ich es mir noch einmal überlegen, Sie einzustellen? Ich interessiere mich nicht für Ihre Prostata oder dafür, ob Sie Hämorrhoiden haben, meine besten Manager haben welche, das macht sie schön umtriebig und angriffslustig. Bei Magengeschwüren ist es dasselbe. Nein, lieber Marroné, ich würde in Ihnen gern etwas anderes finden. Treten Sie ein paar Schritte vor. So ist es gut. Stützen Sie jetzt beide Hände auf dem Schreibtisch ab. Legen Sie das weg; keine Sorge, Sie bekommen es vor dem Gehen wieder.«

Ernesto Marroné legte Hose und Unterhose auf die Glasplatte des Mahagonischreibtisches. Das goldene Licht fiel ihm warm und sanft aufs Gesicht und die Hände, es war so hell, dass er blinzeln musste. Durch den Lidspalt konnte er gerade noch erkennen, worin Herr Tamerlán geblättert hatte: nicht wie vermutet in einem Ausschreibungstext, sondern in einem Heftchen mit dem Namen Queen Studs. Auf dem Titelblatt war ein glatt rasierter, splitternackter Bodybuilder zu sehen, der aufreizend in die Kamera blickte, während er locker und nachlässig mit einer Hand sein Glied verdeckte. Marronés Pupillen weiteten sich im selben Maß, in dem sich sein Schließmuskel zusammenzog, als hinge beides am selben straff gespannten Faden.

»Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, mein lieber Marroné, haben Ärzte und Philosophen jahrhundertelang den Sitz der Seele im Körper gesucht. Pythagoras vertrat die Auffassung, die Seele sei aus Luft gemacht oder, anders gesagt, ein Hauch, und somit in der Lunge zu verorten. Demokrit fügte diesem Gedanken diverse weitschweifige, atomistische Ausführungen hinzu, um zu erklären, warum wir sie dann nicht mit jedem Atemzug aushauchen. Die Stoiker ließen die Seele mal im Herzen, mal im Kopf zu Hause sein; einig waren sie sich nur darüber, dass sie von ihrem Sitz aus siebenfach in den Körper ausstrahle. Wie ein Polyp mit seinen Fangarmen lenke sie die fünf Sinne, das Sprachvermögen und die Sexualität. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zur Behauptung, dass die Seele durch das Sperma vom Vater auf den Sohn übergeht und im Hodensack wohnt, eine Theorie, die unter anderen der britische Arzt Sir Thomas Browne vertrat. In den Überlieferungen der Mystik, der Theosophie und des Spiritismus wird hingegen traditionell die Herzgegend bevorzugt. In den Upanishaden wird als Sitz der Seele sehr präzise und ansprechend ein kleiner Schrein in der Herzensmitte genannt, der die Form einer Lotosblüte hat. Die Assyrer wiederum hielten die Leber für den Sitz der Seele. Dämliches Volk! Allein dafür verdienen sie es, ausgestorben zu sein. Andere Kulturen sprachen von mehreren Seelen, etwa die alten Ägypter, die ihrer sieben kannten, welche sich über den ganzen Körper verteilten. Platon zählte, etwas bescheidener, drei wesensverschiedene Teile zur Seele: den vernünftig lenkenden Teil mit Sitz im Kopf, den tatkräftigen mit Sitz in der Brust und den begehrenden mit Sitz im Unterleib, zwischen Zwerchfell und Nabel. Mit Letzterem war er bereits nahe dran. Descartes dagegen folgte einer anderen Spur: Er meinte, die Seele befände sich in der Zirbeldrüse in der Mitte unseres Hirns, weil diese als einziger Teil von Hirn und Sinnesorganen nur einmal vorhanden sei. Daher verbindet man sie auch mit dem dritten Auge im Buddhismus. Obwohl diese Vorstellung falsch ist, hat sie mich der Wahrheit einen Schritt nähergebracht. Wie Sie sehen, haben in der Geschichte der Menschheit zahlreiche Weise, Dichter und Denker aus Orient und Okzident diese Frage gewälzt, sie gar wissenschaftlich zu erforschen gesucht. Diese unfähigen Penner! Fünftausend Jahre menschlicher Kultur, und am Ende muss ich wieder alles allein machen. Nun gut: Vielleicht sind ihre Mühen doch zu etwas nützlich gewesen. Denn ehrlich gesagt bedarf es häufig vor einem echten Qualitätssprung erst einmal einer kritischen Menge an Fehleinschätzungen. Lieber Marroné, das dritte Auge, das Auge der Seele, existiert, wir alle tragen es in uns. Es wartet nur darauf, geweckt zu werden. Aber es befindet sich nicht auf unserer Stirn. Wo dann, möchten Sie wissen? Nun, in aller Bescheidenheit darf ich Ihnen sagen, dass ich der Sache auf den Grund gekommen bin. Bitte die Beine etwas weiter auseinander!«

Marroné fühlte zwischen seinen Hinterbacken eine erste, vorsichtige Kontaktaufnahme, bevor sich der Druck verstärkte und sich etwas mit Gummi Überzogenes seinen Weg bahnte. Alles, was er sich im Lauf der Woche so sorgfältig zurechtgelegt hatte, war aus seinem Gedächtnis verschwunden. Wäre er danach gefragt worden, er hätte nicht einmal seinen eigenen Namen gewusst.

»Die Lösung ist eigentlich offensichtlich – und nicht so sehr anatomischer wie sprachlicher Natur. Warum, meinen Sie, spricht man vom ›Sitz‹ der Seele? Wenn jemand mit Leib und Seele dabei ist, dann ›reißt er sich den Arsch auf‹, nicht wahr? Und wenn nicht, geht ihm die Sache ›am Arsch vorbei‹. Interessant, was? ›Integrität‹ vermuten wir also nicht im Kopf oder in der Herzgegend, sondern ein Stück weiter unten. Und woher kommt Integrität, wenn nicht aus der Seele, Marroné? Deshalb ist es auch so schlimm, wenn einem jemand anderer ›den Arsch aufreißt‹. Denn nur wer über sein Hintertürchen bestimmt, ist Herr seiner selbst. Wenn Sie für mich arbeiten möchten, sollten Sie sich über eines im Klaren sein: Wir schätzen unabhängiges Urteilsvermögen, wir schätzen Kreativität und eigenständiges Denken. Also werden Ihre Gedanken und Gefühle in unserem Unternehmen frei sein – aber Ihr Arsch gehört uns. Das ist wohl nicht zu viel verlangt. In Ihren Kopf ist es schwieriger hineinzukommen als in Ihren Hintern, Sie dürfen also weiterhin denken, was Sie wollen. Dieses kleine Loch hier ist ein sehr feines Organ, um Fehler frühzeitig wahrzunehmen: Nichts kann Sie besser vor der Versuchung bewahren, den Aufstand zu proben, Alleingänge zu wagen, als wenn Sie den Arsch ordentlich zusammenkneifen. Von heute an, Marroné, befragen Sie Ihren Arsch, wenn Sie irgendwelche Zweifel hegen, der sagt Ihnen dann schon, was zu tun ist. Denken Sie immer daran: Ihr Arsch ist Ihr bester Freund.«

Während seiner Ansprache hatte Herr Tamerlán den Finger nicht bewegt, ihn jedoch in Position gehalten. Nun zog er ihn langsam heraus, und für Ernesto Marroné wurde das der vielleicht erniedrigendste Augenblick: Sein Schließmuskel zog sich reflexartig um Herrn Tamerláns Finger zusammen, wie um ihn wenigstens eine Sekunde länger hierzuhalten. Das war der endgültige Beweis. Herr Tamerlán hatte recht, er war nicht mehr Herr über seinen Arsch. Als der Finger herausgezogen war, füllte eine weiße, wattige Leere Marronés Kopf, in der Verblüffung lag, aber kein so komplexes Gefühl wie das, erniedrigt oder beleidigt worden zu sein, nicht einmal, als Herr Tamerlán das Bewerbungsgespräch für beendet erklärte, indem er den Latex-Fingerling wie ein benutztes Kondom in den Papierkorb warf.

»Marroné, ich setze große Erwartungen in Sie. Seien Sie am Montag pünktlich da!«

Beim Rausgehen war ihm, als unterdrückten die Mitarbeiter ein Grinsen und lachten leise hinter seinem Rücken; als er am Abend nach Hause kam und seine Frau, die vor lauter Ungeduld ganz ekzematös aussah, noch an der Tür fragte: »Und? Wie ist es gelaufen? Hast du Herrn Tamerlán wirklich kennengelernt?«, machte Marroné den Mund auf um zu antworten, schloss ihn aber gleich wieder und brütete vor sich hin, während er nach Worten suchte, um seine Begegnung mit dem Big Boss zu leugnen. »Ich hab den Job« war schließlich alles, was er herausbrachte.

»Also, was sagen Sie? Können Sie das?«, holte ihn nun die matte Stimme des Buchhalters Govianus, der den Hörer aufgelegt hatte, in die Niederungen der Wirklichkeit zurück, aus der Glaskuppel in den Keller, vom lang erloschenen Bernsteinlicht ins schummrige Hier und Jetzt. Er blinzelte, als müsste sein inneres Auge sich erst wieder an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Das Büro in der letzten Etage des Gebäudes war ihm mit seiner exponierten Lage, dem hellen Licht und dem Wind, der vom Fluss heraufblies, immer wie eine prächtige Galeone mit gesetzten Segeln erschienen, das Büro hier unten hingegen, mit dem allgegenwärtigen Ultramarinblau und Smaragdgrün seiner schmuck- und fensterlosen Wände und dem kränklichen Aquariumlicht, den kugelsicheren Möbeln und der Klimaanlage, die aus ihren vielen Schlünden gleichmäßig Luft von der kahlen Decke blies, gemahnte eher an ein U-Boot, das in Zeiten von Kriegswirren abtauchen konnte. Und solche Zeiten erlebten sie zweifellos, sonst müssten stolze Männer wie Herr Tamerlán, die früher einmal das Steuerrad fest in der Hand hielten und die wirtschaftlichen Geschicke Argentiniens lenkten, sich nicht in einem unterirdischen Maulwurfsbau vor ihren Häschern verkriechen. Der Bunker war kurz nach Marronés Firmeneintritt fertiggestellt worden, und den verantwortlichen Ingenieur hatte man noch am selben Tag nebst den Arbeitern in die UdSSR zurückgeschickt, aus der Herr Tamerlán sie eingeflogen hatte, damit niemand vor Ort die Details der Konstruktion kannte. Nebenbei hatte er dadurch die Antinukleartechnik zum Bestpreis bekommen. Das Büro war sozusagen nur ein kleiner Teil, der öffentliche Bereich des weitläufigen unterirdischen Komplexes. An irgendeiner Stelle gaben die verschwiegenen Wände bei Berührung nach und eröffneten den Zugang zu geheimen Gemächern, die nur wenige Auserwählte je betreten hatten, wenngleich im Unternehmen wilde Gerüchte darüber kursierten: die Reichtümer im Tresorraum, um Leute bestechen und Sabotageakte finanzieren zu können; die Kommunikationsausrüstung, mit der sich angeblich die Sendemasten sämtlicher Radio- und Fernsehsender des Landes blockieren ließen, um in Dauerschleife eigene Botschaften zu senden; und das kleine Kraftwerk, das die autonome Versorgung monatelang sicherstellte; zudem ein Waffenlager mit diversen Sprengstoffen; Vorratskammern und Gefrierschränke, gefüllt mit den feinsten Köstlichkeiten aus aller Herren Länder; und vor allem die Executive Suites, mit Spiegeln ausgekleidet und mit drehbaren Wasserbetten, Whirlpools und allen erdenklichen Luxusartikeln aus Europa und dem Fernen Osten ausgestattet. Der Bunker bot dem Vernehmen nach Platz für die wichtigsten Führungskräfte der Firma und ihre männlichen oder weiblichen Sexpartner (Ehefrauen und Kinder hingegen waren, weil sie echte Machtausübung behinderten, streng verboten). Falls sich also in Argentinien die revolutionären Kräfte durchsetzten, konnte sich der Kapitalismus unter die Erde zurückziehen und monatelang Widerstand leisten. Monatelang. Leider hatte Herr Tamerlán die Fertigstellung des ausgeklügelten Maulwurfsbaus nicht miterlebt, weil ihn am helllichten Tag die Guerilla entführt hatte, und nun sinnierte er vielleicht gerade in einem ähnlichen unterirdischen Bau bei seinen Entführern, wie vergänglich doch das menschliche Streben nach Sicherheit nur allzu oft war.

»Wir können einfach unseren Lieferanten kontaktieren und ihm die Dringlichkeit bewusst machen«, antwortete Marroné auf die Frage des Buchhalters. »Nichts leichter als das! Dafür bin ich ja Einkaufsleiter. Obwohl ich, wie Sie wissen, natürlich noch mehr …«

»Fangen Sie nicht wieder damit an, Marroné. Sie wissen so gut wie ich, dass Beförderungen bis zu Herrn Tamerláns Rückkehr warten müssen. Helfen Sie mir, unseren Direktor zurückzuholen, und ich versichere Ihnen: Sobald das alles vorbei ist, spreche ich ihn persönlich auf Ihren Wechsel in die Abteilung für Marketing und Vertrieb an.«

»Sobald das alles vorbei ist«, drohte Marroné innerlich diesem ungehobelten Menschen (der sich schon wieder in seine Papiere vergrub, als wäre Marroné bereits gegangen), »brauche ich vielleicht keinen Mittelsmann mehr, weil Herr Tamerlán mir dann nichts mehr abschlagen wird.« Während er auf den Fahrstuhl wartete, um in sein Büro in der sechsten Etage zurückzukehren, warf er einen Blick hinauf zur Statue des Arbeiters, der mit stolzer Stirn, das Hemd bis zum Nabel aufgeknöpft, die Rechte vor der Brust und die erhobene Linke zur Faust geballt, dass die Adern hervortraten, von der Spitze des Denkmals für die Descamisados, die »hemdlosen« Taglöhner, auf ihn herabschaute. Dieses war noch zu Lebzeiten des alten Herrn Tamerlán in Auftrag gegeben worden und hätte mit 137 Metern das höchste Denkmal der Welt werden sollen, doch als die Regierung der Peronisten stürzte, hatte man mit seinem Bau noch nicht einmal begonnen, und so war das Modell irgendwo im Keller verstaubt, bis vor zwei Jahren, anlässlich ihrer Rückkehr an die Macht, jemand beschlossen hatte, es abzustauben und ins Foyer zu stellen. Unbewusst imitierte Marroné die herkulische, herausfordernde Haltung seines plebejischen Gegenübers, wie sie jemandem zukam, der das Schicksal anklopfen hörte. Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, dachte er bei sich. Jetzt würde er Herrn Tamerlán seine Ergebenheit beweisen, er war ja nicht nur irgendein Angestellter (»irgendein Arsch«, formulierte eine innere Stimme das hinterhältig neu, bis er sie wütend schweigen hieß), er würde in den inneren Kreis aufsteigen, den Kreis der »Tataren«, wie der Boss seine Leibgarde ihn verteidigender Samurai-Manager nannte. »Sie und diese Büsten, Marroné«, würde Herr Tamerlán sagen, wenn das alles vorbei wäre und sie einträchtig auf weichen, weißen Polstermöbeln in dem Wohnzimmer säßen, das er nur von Mabels Zeitungsausschnitten kannte, »hat der Himmel geschickt. Das Urteil über mich war gefällt und ein Vollstrecker ausgelost – um diese Ehre prügeln sich die blutrünstigen Kerle, Marroné –, der mir schon den tödlichen Pistolenlauf vor die Stirn hielt. Sagen Sie … hatte wirklich die Polizei die Idee, den Peilsender in der Büste zu verstecken, die Sie den Entführern zur Ansicht übergaben, oder war das vielleicht Ihre …? Das dachte ich mir schon! Wieso versauert ein so fähiger Mann wie Sie in der Einkaufsabteilung? Marketing? Seien Sie doch nicht so bescheiden! Wissen Sie, ich muss mich erst einmal erholen, ich brauche eine Auszeit, muss mit meiner Frau auf eine kleine Weltreise gehen. Govianus hat nicht das Zeug dazu, da werden Sie mir recht geben, auch wenn man ihm zugutehalten muss, wie sehr er sich in diesen langen Monaten bemüht hat. Aber er hat nicht diese Energie, diesen Biss, diesen Drive … Wäre es auf ihn angekommen, hätte ich jetzt nicht mehr genügend Finger an dieser Hand, um das Glas zu wärmen. Und in der Zwischenzeit fühl dich bei uns wie zu Hause, selbstverständlich, Ernesto, ich darf dich doch Ernesto nennen? Dann ist unsere Tochter während unserer Abwesenheit nicht so allein – was, Clara?«

Gerade als der Tag seiner Hochzeit mit Clara Tamerlán bevorstand, hielt der Fahrstuhl in der sechsten Etage, und die Seifenblase zerplatzte, weil in der umliegenden Realität die Luft zu dünn wurde: Herr Tamerlán hatte keine weiblichen Nachkommen, und er selbst war schon verheiratet. Während die rechte Hemisphäre seines Hirns sich, ihrer Neigung gemäß, in Tagträume flüchtete, fiel der linken auf, dass jetzt kein guter Zeitpunkt dafür war, er sollte lieber seiner Berufsbezeichnung Ehre machen und die Sache managen:

»Büsten? Von Eva Perón? Überhaupt kein Problem«, versicherte ihm der Eigentümer ihres wichtigsten Lieferanten, des Gipswerks Sansimón, frohgemut, als er ihn endlich am Hörer hatte. »Vor ein paar Jahren wäre das noch anders gewesen … aber jetzt gehen sie weg wie warme Semmeln. Wie viele, sagst du? Nein, so viele haben wir nicht auf Lager. Aber ich werde mich persönlich darum kümmern, dass eine nach der andern gefertigt wird. Komm gleich morgen früh vorbei, dann zeige ich dir die Muster. Und den alten Oberst Perón brauchst du nicht?«

Samurai-Prinzipien für Manager