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Für Leyna, meine Enkelin

Inhalt

Reich oder arm?

Nichts wie weg

Irgendwie geheimnisvoll

Ich will eine Carmen sein

Eine von sechs

Wilder Westen

Meine erste Platte

Stufen ins Glück

Les und die Liebe auf den ersten Blick

Hochzeit mit Les

Bergfahrt

Leben und Sterben

Gespräche mit dem Berg

Nicht für 100000 Mark

Herzklopfen

Mike, mein Mann

Krieg in meiner Heimat

Vater und Sohn

Tara

Das größte Geschenk

Ich liebe das Leben

Vita

Danksagung

Bildteil

Reich oder arm?

Danny ist mein Ein und Alles. Er ist ein Kind der Liebe. Sein Vater heißt John Lesley Humphreys, von allen Les genannt. Und ich bin Dannys Mutter. Wir wohnen in einer 18-Zimmer-Villa mit Sauna und Swimmingpool in der besten Hamburger Gegend. Ein Abend im Frühjahr 1975 wird alles verändern.

Danny ist noch ein Baby. Knapp zwei Jahre nach einer traumhaften Hochzeit 1972 mit mehr als 1000 Gästen aus Prominenz und Politik ist er auf die Welt gekommen. Les ist ein Star, ein Popmusiker. Mit den Les Humphries Singers wird er Anfang der Siebzigerjahre bekannt und verkauft bis 1976 mehr als 48 Millionen Tonträger. Die Gruppe mischt die Charts auf mit Hits wie „Mama Loo“ und „Mexico“. Sie sind in so ziemlich jeder internationalen Unterhaltungs- und Musikfernsehsendung zu sehen. Einen Samstagabend im deutschen Fernsehen ohne Musik von den Les Humphries Singers gibt es eigentlich nicht. Entweder treten sie selbst auf oder die von ihnen gespielte Titelmelodie der Krimiserie Derrick dudelt aus dem Fernseher. Les hat sie komponiert.

Ich gelte in der Musik- und Fernsehwelt mit meinen dunklen Haaren als rassige und etwas geheimnisvolle Schönheit und als diejenige Sängerin und Schauspielerin, die einen der begehrtesten Junggesellen der Siebzigerjahre abbekommen hat. Es ist eine glamouröse Welt, in der wir uns bewegen, eine Welt, über die die Boulevardblätter gerne berichten: Wie wir uns kennengelernt haben, unsere Hochzeit, wie wir umgezogen sind aus der kleinen Wohnung in Eppendorf in die Luxusvilla mit Park am Elbestrand von Blankenese. Und wie wir dort leben. Wir verkörpern die perfekte Familie, schön, reich, berühmt, begehrt, immer strahlend – ein wahr gewordener Traum.

In diesem Traum sitzt Les abends auf dem großen cremefarbenen Sofa, schwenkt Whiskey in einem Glas, lehnt sich zurück und entspannt sich nach einer stressigen Arbeitswoche, die er vor Kameras und auf Bühnen verbracht hat. Danny schlummert in seinem Bettchen. Und ich sitze bei ihm, in diesem kleinen Kinderzimmer, neben der Wickelkommode, auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Die Tür habe ich abgeschlossen. Bis eben hat Les dagegengehämmert und mich aufgefordert herauszukommen. Jetzt ist es still. Les hat sich verzogen. Er ist betrunken, wie an jedem Abend. Immer wieder trinkt er, und an jedem Morgen beteuert er, dass er damit sofort aufhören wird. Dann tut er es doch wieder.

Der Hausarzt hat gesagt, wenn Les trinke, dann solle ich ihn in Ruhe lassen, weil er sonst aggressiv werde. Das tue ich. Aber Les lässt mich nicht in Ruhe. Ich schließe mich ein und warte.

Wenn Les betrunken ist, verliert er jede Kontrolle, und ich kann ihm nichts recht machen. Kleinste Bemerkungen bringen ihn auf die Palme. Wenn ich ihn bitte, das Glas wegzustellen und es gut sein zu lassen, dann erwidert er genervt: „Darf ich bitte austrinken?“ Und dann ist das Glas einen Moment später aufs Neue gefüllt. Ich lerne bald, dass ich dazu besser nichts sage. Denn es bewirkt nichts und bringt mich nur in Gefahr, wie sich eines Abends zeigte.

„Jetzt ist das Glas ja schon wieder voll. Du hast doch gesagt, du willst nur noch austrinken. Warum schenkst du denn jetzt nochmal ein?“, rede ich auf ihn ein, stehe auf und nehme ihm die Whiskeyflasche weg. Les dreht durch. Ehe ich mich versehe, fliegt das schwere Kristallglas, in dem er eben noch den Whiskey schwenkte, in meine Richtung, trifft den Wangenknochen. Die Wucht des Aufpralls ist so groß, dass das Glas in meinem Gesicht zerspringt.

Am nächsten Tag, bei der Fernsehaufzeichnung für Ilja Richters „Disco“, habe ich eine dicke Wange. Sie ist nicht zu übersehen und nicht wegzuschminken. Ich erzähle irgendetwas von Zahnschmerzen. Dann kommt die Wiedergutmachung: Les gibt seiner Assistentin Astrid ein paar Scheine in die Hand, sie soll losgehen und mir als Entschuldigung ein schönes Schmuckstück kaufen. Sie sucht einen Brillantring aus.

Mit der Zeit wird meine Schmuckschatulle immer voller. Les denkt, er kann seine aggressiven Ausfälle, seine Übergriffe, seine Alkoholexzesse und meine Verletzungen mit Schmuck und anderen teuren Geschenken wiedergutmachen. Aber nichts ist gut. Seitdem mir das Glas ins Gesicht geflogen ist, wage ich es auch nicht mehr, ihn zurechtzuweisen. Dennoch reichen die vielen unschönen Szenen für mich nicht, die Ehe wirklich infrage zu stellen und ihn zu verlassen. Ich hoffe immer noch, dass Les sich besinnt, dass er wieder der wird, den ich glaubte, in ihm gefunden zu haben – in den ich mich verliebt hatte.

Les hat, wie er mir erzählt, nie eine richtige Familie gehabt. Ich will, dass wir zusammenbleiben, denn Danny soll nicht ohne Vater aufwachsen.

Trennung, das war in den Siebzigerjahren anders als heute. Bei einer Scheidung wurde damals ein Schuldiger bestimmt. Und ich stellte mir die Frage, wie es als alleinerziehende Mutter wäre. Über sie wurde in der Gesellschaft die Nase gerümpft. Es gab sie quasi nicht, und auch keine weitreichenden Regelungen für sie. Es ist die Zeit, in der Frauen von ihren Männern noch eine Erlaubnis brauchen, wenn sie einer Arbeit nachgehen wollen. Und Männer können über ihre Frauen bestimmen, können für sie bei ihrem Arbeitgeber kündigen, ohne sie zu fragen – so steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Erst im Jahr 1977 wird dieses Gesetz abgeschafft. Nein, Frauen bleiben bei ihren Männern, so ist das eben, so ist es vorgesehen. Außerdem: Die paar Missstimmungen könne man doch aushalten, erst recht dann, wenn man dank des Mannes so ein luxuriöses Leben führen kann wie ich. Menschen, die ich um Rat frage, die ich in meine Überlegungen einbeziehe, Les vielleicht doch verlassen zu wollen, reagieren mit Unverständnis.

Eines Abends rufe ich den Konzertveranstalter Fritz Rau an, der mich nach Deutschland geholt hat, und teile meine Enttäuschung mit ihm: „Ich habe immer mehr den Eindruck, dass die Riesenhochzeit nur ein Spektakel für die Presse war. Alles ist eine große Inszenierung“, erzähle ich ihm.

„Les nimmt Danny seit einiger Zeit nur noch für Pressefotos auf den Arm. Ansonsten interessiert er sich anscheinend nicht für ihn – und auch nicht für mich. Es ist alles eine große Show, es ist unerträglich. Ich habe Angst, wenn Les abends nach Hause kommt, ich habe Angst um mich, und noch mehr um das Kind“, klage ich. Aber Fritz Rau versucht, mich zu beschwichtigen und zu beruhigen. Was würde die Presse aus unserer Trennung machen? Er ist nicht der Einzige, der mir zuredet zu bleiben: „Ach, Mädchen, es wird schon nicht so schlimm sein.“ Dass Männern gegenüber ihren Ehefrauen mal die Hand ausrutsche, das sei doch normal, erklärt er mir. Ich verstehe das nicht. Man schlägt weder die Frauen noch die Kinder.

Aber Fritz sieht das anders. Dass Stars Affären mit ihren Groupies haben, das sei schließlich auch normal. Les sagt zwar immer, er mache sich nichts aus Groupies, aber ich weiß es besser. Woher ich das weiß? Die Singers aus seiner Band erzählen es mir. Groupies geben den Portiers in den Hotels ein paar Mark, damit sie sie in die Zimmer der Stars lassen. Und wenn diese dann aufs Zimmer kommen, liegen die jungen Mädchen schon nackt bereit.

Ich bekomme Anrufe und Briefe von fremden Frauen: „Glaub nicht, dass dein Mann dir treu ist. Ich habe eben mit ihm geschlafen.“ Und das Armband mit der Namensgravur „Barbara“ auf Les’ Nachtisch, das habe angeblich sein Pressechef dort vergessen, erklärt Les, nachdem ich es gefunden habe. Der Pressechef … hat etwas neben unserem Ehebett liegengelassen … auf dem Nachtisch von Les, mit Barbara … Natürlich.

Aber ich hoffe immer noch, dass alles wieder gut wird. So wird meine größte Aufgabe, meinen Sohn Danny zu beschützen.

Manchmal hämmert und schreit Les so lange an die Tür, bis ich öffne. Heute Abend ist er überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Er ist zurückgekommen und er lässt nicht von mir ab: „Dunja, mach die Scheißtür auf!“, brüllt er und rüttelt an der Klinke. Ich fürchte, er wird nicht aufhören, vor der Tür zu toben, bis ich rauskomme. Immer noch sitze ich auf dem Teppichboden, halte mir die Ohren zu. Danny ist in seinem Bettchen wach geworden und weint. Er ist erst zwei Jahre alt. Ich stehe auf, gehe zu ihm, streiche ihm über die Wange, auf der eine kleine Träne entlanggelaufen ist. Danny verstummt, er blickt mich aus seinen Kulleraugen an, und sein Gesicht hellt sich sofort auf. Er strampelt die Decke ein wenig weg und rudert mit den Armen. Les poltert erneut gegen die Tür. „Mach auf“, schreit er. „Ach, du kleiner Junge, hast ja keine Ahnung – schlaf“, sage ich leise, gehe zur Tür, drehe den Schlüssel herum und drücke die Klinke herunter.

Les steht vor mir, wutschnaubend. Er schimpft irgendetwas Unverständliches, geht zum Kinderbettchen, beugt sich hinab und greift nach Danny. „Lass den Jungen, lass ihn schlafen!“, sage ich, aber das interessiert Les nicht. Nicht, dass ich denke, dass er Danny etwas tun wird, aber der Kleine soll schlafen. Mein Mann nimmt Danny dennoch auf den Arm und wankt an mir vorbei in Richtung Küche. Ich habe keine Ahnung, was Les mit dem Baby dort will. Vermutlich weiß er es selbst nicht. Ich gehe schnell hinterher, will den nächsten Moment abpassen, um ihm das Kind abzunehmen und es zurück ins Bett zu bringen.

Les schwankt, und es beginnt einer der längsten, ohnmächtigsten und schrecklichsten Momente in meinem Leben. Ich sehe, wie mein betrunkener Mann stolpert, wie er mit den Händen nach links und rechts greift, um sich abzufangen. Das Bündel, eben noch in seinem Arm, hängt für einen Augenblick förmlich in der Luft. Ich sehe, wie Danny fällt, und kann nichts tun. Les fängt sich ab, aber nicht das Baby. Es sind schreckliche Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen.

Danny schlägt hart auf dem Marmorboden auf. Mein Herz bleibt stehen.

Totenstille. Sekundenlang. Dann schreit das Kind.

„Was hast du getan?“, rufe ich.

„Danny, Danny!“ Ich renne zu meinem Baby, falle auf die Knie, greife nach ihm, hebe es vom Boden auf. Les starrt verwirrt in unsere Richtung. „Was hast du denn? Wird schon nichts sein“, lallt er. Danny weint fürchterlich. Ich rufe nach Astrid, die sofort den Arzt verständigt, während ich mich um das Kind kümmere.

Les lallt und lallt, es werde schon nichts sein, ich solle mich nicht so anstellen. „Dem Kind ist doch gar nichts passiert. Du immer mit deiner Angst, du mit deiner heilen Welt“, stammelt Les und schenkt sich erneut etwas ein.

Wenig später, nach bangen Minuten, trifft der Kinderarzt ein. Während er Danny abtastet, trinkt Les ungerührt weiter. Astrid steht stumm dabei. Sie ist bei uns Mädchen für alles, wohnt im kleinen Nebenhaus der Villa. Und sie weiß natürlich längst, was bei uns los ist.

Ich fühle mein Herz immer noch heftig klopfen. Les hängt auf dem Sofa, glotzt vor sich hin und lallt wirres Zeug.

Der Kinderarzt knöpft Dannys Strampler nach der Untersuchung zu: „Da haben sie noch mal Glück gehabt“, höre ich ihn sagen. Wie durch ein Wunder sei nichts passiert. „Kinder haben weiche Knochen, das hätte aber auch ins Auge gehen können.“

Ich nicke stumm, bin immer noch unter Schock. Astrid begleitet den Arzt zur Haustür. Er weiß, dass niemand erfahren darf, was er gesehen hat.

Astrid schließt die Tür, dreht sich um, wir schauen uns an. Jetzt ist es klar. Mein Entschluss steht fest: „Kannst du mir helfen?“, sage ich leise zu Astrid. „Kannst du mir helfen, dass ich hier wegkomme?“

Liebe Leyna,

Du darfst nicht schlecht über Deinen Großvater denken, nachdem Du das hier gelesen hast. Man darf niemanden für sein Verhalten einfach so verurteilen.

Ja, Dein Großvater hat sich Deinem Papa und mir gegenüber nicht gut verhalten. Aber es gibt immer Gründe, warum Menschen so sind, wie sie sind. Für Deinen Großvater ist wohl alles zu viel geworden, die viele Arbeit, der Druck – und dann kam der Alkohol ins Spiel. Es entschuldigt nichts, aber es erklärt vieles. Les ist so geworden. Er konnte alledem nicht standhalten und er konnte sich nicht gegen die bösen Einflüsse wehren. Und ich habe es nicht vermocht, ihm mit meiner Liebe zu helfen. Deshalb musste ich gehen. Aber glaube mir: Im Kern war Dein Großvater ein guter Mensch, der nur vom Weg abgekommen ist.

Kein Mensch ist von Natur aus böse.

Nichts wie weg

Astrid Kirchherr ist die rechte Hand von Les. Und ich kann mich ihr anvertrauen. Sie ist seit Jahren im Musikgeschäft, steht aber meist im Hintergrund. Im Alter von 17 Jahren war sie schon in Hamburger Musiklokalen unterwegs. Im Kaiserkeller auf der Hamburger Reeperbahn sah sie als Anfang-zwanzig-Jährige die Beatles und fotografierte sie. Damals waren sie noch zu fünft und hatten noch keine Pilzköpfe. Der Bassist der Gruppe, Stuart Sutcliffe, und Astrid werden ein Paar, bis er im April 1962 an einer Hirnblutung stirbt – in ihren Armen. Astrid ist es, die den Beatles die unverwechselbaren Frisuren geschnitten hat.

Später wird Astrid die Assistentin von Les. Sie hat unser Haus eingerichtet, den mauve-farbenen Teppichboden ausgesucht und den Marmorboden für die Küche; auch das Sofa und die Möbel – alles sehr geschmackvoll. Sie hat ein gutes Auge für die schönen Dinge. Nachdem wir in die Hamburger Villa einziehen, bewohnt sie mit ihrem Freund Gregor das kleine Nebengebäude. Tag und Nacht steht sie Les als Assistentin zur Verfügung, kümmert sich um das Büro, kauft ein, macht Frühstück, regelt, was zu regeln ist. Sie besorgt auch die Wiedergutmachungsgeschenke, wenn Les wieder mal durchgedreht ist. Nach einer Weile hat Les aufgehört, sich persönlich bei mir zu entschuldigen. Astrid macht das jetzt für ihn, überreicht mir stumm die Schmuckstücke der Entschuldigung und übt sich in Diskretion. Astrid bekommt natürlich stets hautnah mit, was sich in unserem Haus abspielt. Sie weiß auch von dem Verhältnis, das Les mit einer Moderatorin hat – wer weiß es nicht? Es stand ja schon in der Zeitung. Astrid ist klug genug, um sich zu alledem nicht ungefragt zu äußern. Aber sie tröstet mich und versucht immer wieder zwischen uns beiden zu vermitteln.

Auch Uwe, der Fahrer von Les, kennt die ganze Wahrheit. Er könnte etliche Geschichten erzählen, die ein gefundenes Fressen für die Presse wären. Und er zieht Les ständig aus dem Schlamassel. Uwe ist immer dabei und hat stets ein Bündel Geld in der Tasche, für den Fall, dass etwas geregelt werden muss. Er steht auch neben uns, als wir in Zürich im Hotel Baur Au Lac beim Nachtportier die Zimmerschlüssel abholen. Les hat nach seinem Auftritt in einem Club schon wieder eine gehörige Portion Alkohol getankt. Vor dem Auftritt trinkt er, weil er Lampenfieber hat, dann zwischendurch während des Konzerts und auch danach. Jetzt ist er voll. Les schwankt, er redet viel zu laut, benimmt sich ungehobelt, herrscht den Portier an. Mir ist das peinlich. Ein elegant gekleideter Herr steht hinter uns und lässt sich nichts anmerken. Ich stehe ein wenig beklommen neben Les an der Rezeption, als mir mein Pelz von den Schultern rutscht und zu Boden fällt. Der Unbekannte ist mir sofort behilflich. „Darf ich?“, fragt er, bückt sich, hebt den Pelz auf und reicht ihn mir. Im nächsten Moment hat er die Faust von Les im Gesicht: „Lassen Sie meine Frau in Ruhe!“ Der Unbekannte kippt um, schlägt hart auf dem Boden auf und bleibt ohnmächtig liegen. Les ist im Begriff, sich auf ihn zu stürzen. Uwe greift ihn an den Schultern, reißt ihn zurück: „Lass das, Les! Hör auf!“ Uwe schiebt Les und mich weg: „Los, geht aufs Zimmer. Ich mache das klar.“ Eine halbe Stunde später kommt Uwe nach. Nein, es wird keine Anzeige geben und auch keinen Presseskandal. Uwe hat sich um den Mann gekümmert, einen Arzt gerufen und auch dem Nachtportier 1000 Mark gegeben, damit der Vorfall keine Kreise zieht.

In einem anderen Fall ist mit Schweigegeld nichts zu regeln. Wir sind in Kiel. Les und die Singers bringen die Menge bei ihrem Konzert zum kochen. Die Fans stehen dicht gedrängt vor der Bühne, stimmen in den Gesang ein. Am Schluss der Show dürfen einige von ihnen sogar auf die Bühne kommen. Les trägt diese schicken, spitzen Stiefel mit dem Cowboyabsatz. Ein Fan, der es nicht auf die Bühne geschafft hat und seinem Idol trotzdem nah sein möchte, greift vom Bühnenrand aus nach einem Stiefel und hält Les fest. Und was tut Les? Er tritt zu. Er tritt dem Mann den Stiefelabsatz direkt ins Gesicht. Les ist derartig betrunken, dass er gar nicht merkt, was er tut. Der Fan wird schwer verletzt und verklagt Les wegen Körperverletzung. Der Versuch, den Mann mit Geld ruhigzustellen, scheitert, Les steht vor Gericht, aber zu einer Verurteilung kommt es nicht. Denn Uwe sagt aus, Les habe sich nur aus der Umklammerung lösen wollen, er habe nicht zugetreten, es handele sich um einen Unfall. Auch die Singers lügen für Les und bestätigen die Aussage. Was sollen sie auch sonst tun? Les zahlt ihnen zwar bei Weitem nicht den Anteil, der ihnen eigentlich zustehen würde, speist sie mit kleinem Geld ab, obwohl er Tausende scheffelt – aber immerhin ist er ihr Chef. Sie sind von ihm abhängig, er bringt sie auf die Bühne, bei ihm verdienen sie Geld.

Auch ich weiß, dass Les lügt, dass Uwe lügt, dass alle lügen. Aber was soll ich tun? Ich bin die Ehefrau. Ich werde zur Komplizin. Das ist eine widerwärtige Situation. Ich hasse Lügen und Ungerechtigkeiten. Niemand traut sich, gegen Les vorzugehen.

Jetzt weiß ich, dass ich verschwinden muss. Am Tag nachdem Danny auf den Küchenboden gestürzt ist, rufe ich Irmgard Weber an, sie ist meine Ansprechpartnerin im Konzertbüro, organisiert Auftritte, schreibt Verträge, beantwortet Anfragen, regelt meine Termine. Und sie ist zu einer Vertrauten geworden. Im Büro wird sie Irmchen oder „Weberin“ genannt – für mich ist und bleibt sie „Frau Weber“, auch wenn wir uns inzwischen duzen. Schon vor Monaten hat sie zu mir gesagt: „Wenn du mich brauchst, dann bin ich für dich da.“ Ich denke, sie hat alles kommen sehen. Erst vor Kurzem sagte sie zu mir: „Dunja, du wirst da nicht glücklich.“

Ich erzähle ihr, was geschehen ist und was ich mir überlegt habe: „Les reist morgen für ein paar Tage in die Niederlande, wo er mehrere Auftritte hat. Wo kann ich mit einem Baby hin, ohne dass gleich die ganze Welt mitbekommt, dass etwas nicht stimmt?“ Frau Weber denkt nach, sie ist sofort bereit, mir zu helfen. „Kann ich bei dir wohnen, oder kannst du für mich etwas anderes organisieren?“, frage ich sie. Denn ein Hotel kommt nicht infrage. Zum einen wäre es zu teuer, und zum anderen würde die Presse sich dort auf mich stürzen wie die Geier.

„Du kannst hierherkommen“, sagt Frau Weber. Das Büro der Agentur Weber ist in einem kleinen Apartment in Neu-Isenburg untergebracht, das auch dem von ihr betreuten deutschen Sänger Ivan Rebroff als Unterkunft dient, wenn er in Frankfurt zu tun hat. Es gibt dort neben dem Bürobereich ein Schlafzimmer, ein Bad, einen Kühlschrank und eine kleine Küchenecke. Aber Rebroff ist selten da.

„Am besten wäre es, wenn Uwe dich mit Danny hierherfahren würde“, schlägt Frau Weber vor. Tagsüber arbeiten zwei Sekretärinnen im Büro, Gisela und Gaby. Das ist praktisch, da sie vielleicht auch mal ein Auge auf Danny haben können, während ich mich nach einer dauerhaften Bleibe umschaue. Und mit Ivan Rebroff wird in nächster Zeit in Frankfurt nicht zu rechnen sein.

„Ja, das mache ich“, sagt Uwe, als ich ihn um die Fahrt nach Neu-Isenburg bitte. Ich weihe Astrid ein. Jetzt warte ich auf den nächsten Tag. Es ist der letzte Tag, den ich mit Les in diesem Haus verbringe. Ich bin ruhig, gefasst, und ich bin mir einhundertprozentig sicher, dass es der richtige Schritt ist. Niemand versucht mich von meinem Vorhaben abzubringen. Und Les hat keine Ahnung.

Für Les ist es ein ganz normaler Morgen nach dem üblichen Rausch. Vermutlich hat er nur wenig Erinnerung an den letzten Abend. Astrid macht ihm Frühstück. Heute joggt er nicht. Das macht er nur, wenn er nicht am gleichen Tag verreisen muss. Ich packe ihm im Schlafzimmer eine kleine Tasche mit dem Notwendigsten für die Übernachtung. Der Rest ist bereits im Tourbus der Singers. Es ist Donnerstag, und er wird über das Wochenende unterwegs sein. Ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen – was in dem großen Haus nicht sonderlich schwierig ist. Les telefoniert mit einem Produzenten: „Wann treffen wir uns wo? – Okay.“ Ich stelle seine Tasche in den Eingangsbereich des Hauses neben das Büro, in dem Astrid arbeitet. Vermutlich ist sie angespannter als ich. Ich habe keine Angst mehr, ich fühle mich sicher. Und ich weiß, dass ich das Richtige tue. Andere Frauen haben auch schon ihre Männer verlassen und es geschafft. Meine Großmutter hat über Nacht ihre Tasche gepackt, ihren damals etwa eineinhalb Jahre alten Jungen, meinen Vater, geschnappt und ist vor ihrem Mann in Graz weggelaufen. Wie sich die Ereignisse wiederholen … Oma hat mir und meiner Schwester zwar viel erzählt, wenn wir abends in ihren Armen im Bett lagen, aber darüber hat sie nie gesprochen. Wie sie sich wohl gefühlt haben mag?

Ich vertraue darauf, dass niemand mich heute verraten wird. Seit jeher glaube ich an die Gerechtigkeit und daran, dass alles gut wird. Dass die Liebe siegen wird, auch wenn Les sich immer darüber lustig gemacht hat: „Du immer mit deiner heilen Welt …“ Diesen Satz werde ich mein Leben lang in mir nachklingen hören … „Du immer mit deiner heilen Welt …“, aber es wird nichts in mir ändern. Ich glaube an das Gute.

Als Les geht, bin ich in Dannys Zimmer. Ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt. Er ist weg.

Ich werde ihn nie wieder sehen. Innerlich atme ich auf. Ich gehe in den Flur und blicke zur Haustür. Astrid kommt aus dem Büro und schaut mich an. Wir sind froh, dass wir nun freie Bahn haben für mein Vorhaben.

Drei Tage habe ich Zeit, um meine Sachen zu packen und nach Neu-Isenburg zu flüchten. Frau Weber weiß, dass ich komme. Ich habe ihr gesagt, wir rufen an, wenn wir da sind.

Es sind drei stille Tage in unserem großen Haus. Ich fühle mich erleichtert, aber auch leer. Mit meiner Liebe bin ich gescheitert, ich habe nicht bewirken können, dass Les zu sich selbst zurückfindet, wieder so wird, wie ich ihn anfangs geliebt habe. Der Erfolg hat ihn zu einem skrupellosen, egoistischen Menschen gemacht. Und ich habe es nicht verhindern können. All meine Liebe hat nicht gereicht.

Das britische Kindermädchen habe ich nach Hause zu seinen Eltern geschickt und ihm gesagt, dass es nicht mehr wiederkommen muss. Die letzte Nacht, alleine mit Danny im Haus, ist gespenstisch. So vieles geht mir durch den Kopf, der traumhafte Anfang unserer Liebe, das wundervolle erste Jahr, wie Les sich danach verändert hat. Eigentlich habe ich doch schon vor Monaten gespürt, dass mit Les und mir zwei Welten aufeinanderprallen, überlege ich. Ich komme aus einer behüteten, liebevollen Familie. Les ist bei einer verhärmten Frau aufgewachsen, die ihn auf eine Marineschule schickte, wo es nichts gab außer Disziplin und Drill. Er lebte in Kälte – ich in Liebe, Wärme und Geborgenheit. Das konnte nicht gut gehen.

Nein, Befreiung ist jetzt das Beste. Gerade wenn ein Kind da ist, muss man aus so einer Situation raus. Nur dann kann man frei denken, nur dann kann man ein Kind frei erziehen, ohne Gewissensbisse, ohne Ängste. Es ist immer besser, so etwas zu beenden, auch wenn man finanzielle Nachteile hat. Man darf nicht seelisch verkümmern, Danny braucht eine gesunde Mutter. Und diese Situation ist auch für ihn ungesund, ja gefährlich.

Kinder spüren schlechte Stimmungen. Schon Neugeborene bekommen das mit. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass das Kind im Bauch reagiert, wenn die Eltern sich streiten. Es zuckt. Besser ohne Vater aufwachsen als in einem Umfeld der Bedrohung und des Streits.

Ich weiß jedenfalls, dass ich das Richtige tue. Irgendwann schlafe ich über meine Gedanken ein, im kleinsten Zimmer des riesigen Hauses, bei Danny.

Am nächsten Morgen geht es los. „Wir machen eine Reise, mein Schatz, wir machen Urlaub“, sage ich zu dem Kleinen und hebe ihn auf den Arm. „Was meinst du, was sollen wir alles einpacken?“, frage ich ihn. Wir schauen in sein Spielzeugregal. Danny streckt den Arm nach seinem weißen Plüschhasen mit den langen Ohren aus, den er immer hinter sich herzieht. „Ja, der muss natürlich mit“, sage ich und nehme ihn aus dem Regal. Eigentlich will Danny alles einpacken, „aber das geht nicht, Schatz. Es ist doch nur für den Urlaub“, lüge ich ihn an. Ich hasse Lügen, aber er würde es nicht verstehen, wenn ich ihm jetzt erkläre, was wir vorhaben. Zwei Koffer passen in das Auto. Zwischen Kleidungsstücke packe ich Noten und Schallplatten, persönliche Erinnerungsstücke und ein paar Fotos von meinen Eltern und meiner Schwester Marija. Uwe trägt die Koffer ins Auto. Astrid steht in der Tür.

Es ist ein erstaunlich undramatischer Abschied: „Ich danke dir für alles“, sage ich und drücke Astrid ganz fest. Morgen wird Les nach Hause kommen und sehen, dass Danny und ich nicht mehr da sind.

Innerlich bin ich längst weg und ich weine diesem Haus und diesem Leben heute keine Träne nach. Ich nehme mit Danny auf dem Rücksitz Platz. Uwe steuert den weißen 600er auf die Straße. Astrid geht zurück ins Haus. Die Tür geht zu. Vorbei.

Liebe Leyna,

über Nacht einfach verschwinden, das macht man eigentlich nicht. Das ist dem anderen gegenüber nicht fair. Und ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, obwohl ich weiß, dass ich keine andere Möglichkeit gehabt hätte, wenn ich nicht weitere Konflikte mit Deinem Großvater hätte haben wollen. Da helfen alle eigenen guten Vorsätze nicht. Es geht nur darum, was einem selbst guttut oder eben nicht guttut. Und dann muss man auf sich aufpassen. Das ist wichtiger als alles andere.

Manchmal muss man sich selbst untreu werden, um sich letztlich treu bleiben zu können.

Irgendwie geheimnisvoll

Meine Oma sieht überhaupt nicht aus wie eine Oma. Normalerweise sind Omas dick, gemütlich, ein wenig buckelig, und sie leben mit einem brummeligen Opa zusammen, der vor dem Haus Holz hackt. Zumindest bei uns in Jugoslawien, zur Zeit meiner Kindheit. Aber unsere Oma sieht aus wie eine Gräfin. Sie geht aufrecht und stolz. Sie ist gertenschlank, hat ein schmales, spitzes Gesicht und einen sehr langen, geflochtenen grauen Zopf.

Zu ihr fahren wir heute. Papa hat unsere Sachen in Köfferchen gepackt, jetzt sitzen wir im Zug nach Ivanec im Nordwesten Kroatiens und die Landschaft zieht an unserem Fenster vorbei. Im Dorf meiner Oma hat es sich schon herumgesprochen: „Die Töchter Rudolf Rajters kommen. Marija, die große, und Dunja, die kleine.“ Marija ist dreieinhalb Jahre älter als ich.

Jedes Jahr in den Sommerferien sind wir bei Oma, zwei Monate im Juli und im August, das ist die beste Zeit des Jahres, vielleicht im Rückblick die beste meines Lebens. Es ist auf jeden Fall eine entscheidende Zeit, die mich deutlich geprägt hat. Als neun, zehn Jahre altes Mädchen ist mir das natürlich überhaupt nicht bewusst. Aber ich glaube inzwischen, alle Omas haben viel mehr Einfluss auf ihre Enkel, als man denkt. Während ich so darüber nachdenke, wird mir klar, ich habe von meiner Oma nicht nur ihre Art, zu denken und zu leben, verinnerlicht, ich bin ihr unbewusst wohl auch optisch ein wenig gefolgt … ich, heute, mit 72 Jahren, schlank, groß, schmal, langes Haar ….das lässt mich lächeln.

Oma wohnt in einem ganz kleinen Haus am Fuß des Ivančicas, des höchsten Gebirges im nordwestlichen Kroatien. Ein Zimmer, in dem sie den Tag verbringt, wenn sie nicht im Garten arbeitet oder in der Küche steht, eine winzige Speisekammer, ein Schlafzimmer und einen Korridor gibt es. Die Toilette ist draußen, in der Scheune, ein Plumpsklo. Eine halbe Stunde läuft man vom Bahnhof bis zu ihrem Haus. Oma hat wenig, aber wir würden sie niemals als arm bezeichnen. Sie ist reich an Geschichten und Phantasie, an Weisheit und Liebe. Sie hat den schönsten Garten der Welt, ein kleines Paradies, einen riesigen Kräuter- und Gemüsegarten, in dem sie reiche Ernte dessen macht, was sie selbst angebaut hat.

Ich komme mit meiner Schwester und meinem Vater den Berg hinaufgelaufen. Marija ruft: „Bako, Bako – Oma, Oma. Moja Milena.“ Milena, das sagen wir auf Kroatisch zu Menschen, die wir besonders lieben. Wörtlich übersetzt heißt es so etwas wie Liebling, aber das alleine reicht nicht für Oma. „Milena“ – das steht für etwas ganz Liebreizendes, Zartes, etwas Wunderbares, Herrliches, Unverwechselbares, Einzigartiges, Unbezahlbares. Milena eben.

Da steht sie, unsere Oma, im knöchellangen geblümten Kittelkleid, die Schürze darübergebunden, weil sie immer am Backen, Kochen, Schälen, Rühren und Arbeiten ist. Sie steht mitten in ihrem herrlichen Garten vor ihrem winzigen Haus. Das ist der Garten, in dem der Hibiskus wächst, dessen Blüten Oma trocknet, um uns daraus einen Tee aufzubrühen, der so gut schmeckt. Das ganze Haus ist eingerahmt von bunten Blumen. Oma wohnt alleine. In der Nachbarschaft gibt es nur eine rundliche Frau, eine richtige Bäuerin, die riesige Fässer schleppen kann, mit süßem Honiggebräu darin. Eine warmherzige, freundliche und hilfsbereite Frau. Wenn sie sich in ihrer Küche an die Arbeit macht, mischt sich in den Blumenduft aus Omas Garten der leckere Geruch von Honigkuchen. Die backt die Nachbarin für Feste und Kirmesveranstaltungen, und manchmal dürfen wir naschen. Sie hat unserer Oma noch nie abgeschlagen, ihren großen Ofen zum Backen zu benutzen. Für größere Brote ist der Ofen von Oma einfach zu klein.

Der kleine, gusseiserne Herd von Oma steht in der Küche. Sie feuert ihn mit Holz an, das beim Verbrennen gemütlich knistert. Abends sitzen wir Mädchen mit ihr am Tisch und essen den Käse, den Oma selbst gemacht hat, auf dem Brot, das sie selbst gebacken hat, und trinken den Hibiskus-Tee aus ihrem eigenen Garten – einfach himmlisch.

Die Tage enden und beginnen mit Ritualen, stets im Angesicht der steinernen Madonna in Omas Schlafzimmer. Oma ist eine sehr gläubige Frau. Die Madonnenstatue auf einer Kommode an der Wand ist so groß, dass wir Mädchen ihr vermutlich direkt in die Augen schauen könnten, würde sie mit uns auf einer Ebene stehen. Niemals aber würde die Madonna von ihrem altarartigen Platz genommen werden. So blicken wir zu dem Antlitz der Muttergottes auf – jeden Morgen und jeden Abend.