Robert Menasse

Schubumkehr

Roman

Suhrkamp

1. Kapitel

Wenn wir glauben, etwas

wiederzuerkennen, sind wir

nur besonders vergeßlich.

Franz Josef Czernin

1.

Ich will nur Dich. PAUSE.

Wer ist denn die?

Irgendein Mädchen, man erfährt ihren Namen nicht.

Sie scheint Angst zu haben. Wie sie da auf dem Bett sitzt, mit angezogenen Beinen, die Decke bis zum Hals. Und sehen Sie nur ihr Gesicht an, es wirkt

Es wirkt verzerrt. Das kann aber wegen des Standbilds sein. Das verzerrt immer etwas.

Hat er alle gefilmt, mit denen er

Er hat nicht alle gefilmt, er hat alles gefilmt.

Wo ist das denn aufgenommen worden?

In einem Hotel irgendwo in Brasilien. Aber schauen wir doch von Anfang an. REW.

2.

Rein sagt die Mutter, der Sohn will das nicht, er kann es nicht mehr hören, wie sie Rein sagt, so emphatisch, aber es klingt falsch und gekünstelt, warum sagt sie nicht so wie früher »Kasserolle«? Sie verkleidet sich mit diesem Wort, mit solchen Wörtern, so wie sie sich mit ihrer blauen Latzhose verkleidet, und mit ihrem hennarot gefärbten Haar. War ihr Haar nicht schon grau geworden? Jetzt ist es rot, kurz geschnitten und struppig. Was hat die Mutter angerichtet? Wieder viel zu viel auf diesem groben, pseudobäuerlichen, von einem schwedischen Designer entworfenen Holztisch, der zu massiv ist, um sich unter dem, was ihm aufgetragen wurde, sprichwörtlich biegen zu können. Es dampft, es trieft in Töpfen, Schüsseln, Kasserolle, Rein. Greif zu! Der Sohn will gar nicht hinschauen, er sieht nur den Dampf, durch den Dampf hindurch das glänzende Gesicht der Mutter, er kann ihre Sätze nicht mehr hören, daß dieses Tier hier in der Rein ein glückliches gewesen sei, weil es artgerecht gehalten, ausschließlich natürlich gefüttert worden sei, und das Gemüse und der Salat selbstverständlich alles eigene Ernte, ohne Kunstdünger, ungespritzt, biologisch, der Sohn bläst die Wangen auf, ganz fest, wie ein Trompetenspieler, nun sieht er sich selbst, sein Gesicht mit den beiden wie kleine Luftballons geblähten Wangen – so jung ist er gar nicht, wie er sich gerne sehen würde, er hat etwas Aufgedunsenes, Schwammiges, Verbrauchtes, auch er sieht verkleidet aus, die letzten Jahre haben ihn verkleidet, so entfernt ist er seinem Selbstbild, daß er einen Moment lang glaubt, nicht mehr zu wissen, wie er heißt. Greif zu, Ja greif! Lang zu! Faß und pack! Rein! Immer stärker dampft es vor seinen Augen, auf diesem Tisch, der wahrscheinlich »Lars« oder »Jan-Arge« heißt, auf seinem Teller, die Mutter beginnt jetzt mit animierenden Beiß-, Kau- und Schluckbewegungen zu essen, mit dem seligen Gesichtsausdruck einer gläubigen Anhängerin der Natur-Religion, die nun Das Gesunde empfängt, nämlich chemiefreie Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Ballaststoffe, Eiweiß, Kohlehydrate, kaltgepreßte Öle, Fettsäuren, selbstverständlich alles rechtsdrehend, er konnte den Satz Das schmeckt doch ganz anders als das Gekaufte nicht hören, aber der Satz war da, an ihren Lippen, nun öffnete er seine Lippen, fauchend entströmt die im Mund gestaute Luft, er springt auf, reißt den Tisch hoch, die Teller, Töpfe, Schüsseln und die »Rein« rutschen den Tisch hinunter, auf die Mutter zu, auf die Mutter drauf, die aufspringt, er stemmt den Tisch noch höher, kippt ihn auf die Mutter, kippt ihn wie einen Sargdeckel auf die nun auf dem Boden liegende Mutter. Sie schreit oder sie schreit nicht, sie müßte doch schreien, aber es ist ganz still, alles geschieht lautlos, vielleicht schreit sie nicht, weil sie so geschockt ist, vielleicht schreit sie doch, und er hört es nicht, weil er taub ist vor Haß, seitlich vom gekippten Tisch sieht er ihren Kopf, ihren offenen Mund, mit beiden Händen umfaßt er eines der aufragenden Tischbeine, reißt den Tisch zur Seite, stürzt sich auf die Mutter, er umfaßt mit beiden Händen ihren Hals, würgt sie und reißt gleichzeitig ununterbrochen ihren Kopf hoch und stößt ihn zu Boden, nicht zu Boden: auf die Kuhhaut, die da liegt, als eine Art Teppich, eine echte gegerbte Kuhhaut, das war unsere erste eigene Kuh, und während er immer wieder den Kopf der Mutter hochreißt und wieder auf diesen Kuhhautteppich schlägt, sagt er im selben Rhythmus dieser Auf-und-ab-Bewegung Ver-zeih-ver-zeih-ver-zeih, aber es ist nichts zu hören, fast nichts, nur ein raschelndes Geräusch, es klingt, als würde sich einer unter einem dicken erstickenden Federbett freistrampeln, sag-ver-zeih-verzeih, das war nicht zu hören, das schwang nur irgendwie mit in diesem Freistrampeln, nein, nein, es ist nichts, es ist gar nichts passiert.

3.

Am Abend des 29. Jänner 1989 war Oberlehrer Vinzenz Trisko zum ersten Mal auf die Natur und die Wunder, die sie vollbrachte, nicht gut zu sprechen. An jenem Abend wurde in Komprechts, einer Marktgemeinde in Niederösterreich knapp vor der tschechischen Grenze, sein Stück »Steinreich« aufgeführt, die dramatisierte Fassung einer bekannten lokalen Legende, die er selbst mit der von ihm gegründeten Laienspielgruppe des Ortes einstudiert hatte.

Die Mehrzweckhalle des Ortes war ausverkauft, was nicht anders zu erwarten gewesen war, aber Triskos Nervosität noch steigerte. Er stand, für das Publikum nicht sichtbar, seitlich von den Kulissen, starrte auf die Bühne und hatte ein Stimmengewirr im Kopf. Er sprach jeden Satz, der gesprochen wurde, unhörbar mit Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand? Wächst! Wääächst! Nicht waxt!, dachte so beschwörend, als ob die Schauspieler ihn dadurch hören könnten, seine Anweisungen Nicht so steif! Beweg dich ganz natürlich! und formulierte im Geist auch schon die Kritik Mit Franz Ableidinger entdeckte Trisko ein schauspielerisches Naturtalent.

So unerfreulich dieser grobe und hinterhältige Franz Ableidinger privat auch war, ihm die Rolle des Teufels zu geben erwies sich als Glücksgriff. Trisko war hingerissen, wie Franz mit seinem ganz natürlichen Grinsen, das man erst im Kontext dieses Stücks als wahrhaft diabolisches erkennt, den Landesherrn Graf Wenzel von Peugenstein fragt, was dieser denn aus einem Volk herauszupressen hoffe, das einen Boden bewirtschaften müsse, der ganz aus Stein sei. Geröll und Schotter, Findlinge und Restlinge, und unter einer nur dünnen Erdschicht ein Massiv aus Granit. Pflugscharen zerbrechen an dem Stein, über die Steine straucheln die erschöpften Rösser, für jeden Stein, aus dem Anger gegraben, wachsen zwei neue, noch größere nach. Und daß der Bürgermeister Adolf König selbst, noch dazu so übertrieben geschminkt mit glänzend roter Säufernase, die Rolle des versoffenen, protzsüchtigen, geld- und machtgierigen Grafen Wenzel spielte, löste Gelächter, Johlen und Füßetrampeln in der Mehrzweckhalle aus, wurden doch auch dem Bürgermeister entsprechende Eigenschaften nachgesagt. Aber als es zum Teufelspakt kam, war es still im Zuschauerraum, Eigentlich schön, wie ursprünglich die Menschen hier noch auf Theater reagieren, der Teufel versprach, allen rohen Stein, der sich auf den Besitztümern des Grafen befand, in pures Gold zu verwandeln, ihm also – bei diesem Satz gab es allerdings einen Lacher – unermeßlichen Reichtum bis ans Ende aller Tage seines Geschlechts zu schenken, wenn der Graf ihm seine Seele verschreibe und Auftrag gebe, alle Kirchen und Kapellen in seinem Herrschaftsbereich abzubrennen. Auch die problematische Szene ging gut, als dem Grafen Wenzel von der erfolgten Brandstiftung berichtet wird, aber auch davon, daß die Menschen mit allen Kräften die Flammen wieder zu löschen versuchten, worauf der Landesherr zu Boden sinkt, sein Herz hatte nicht standgehalten, die Gier, die Aufregungen waren zu groß, Sterben kann der Dolf nicht, er kann es einfach nicht! Der Abend schien gelaufen, jetzt würden die Szenen kommen, die Trisko bewußt so angelegt hatte, daß das Publikum Identifikationsorgien feiern konnte.

Seitlich hinter der Bühne stand nun Bürgermeister König und beobachtete die kleine Franzi, die sich für ihren Auftritt bereithielt. Sie spielte die Rolle jener Barbara Witty, der achtjährigen Tochter eines Komprechtser Kaufmanns im 17. Jahrhundert, der eines Nachts ihre Namenspatronin, die heilige Barbara, mit einem Bündel Weidenruten erschienen ist, um mit Hilfe des unschuldigen Kindes den Menschen zu verkünden, daß der Granit hier im Boden kein Fluch, sondern ein Segen sei, weil er Arbeit für viele Hände, Brot für viele Münder bedeute, ein Bodenschatz genauso wie das Gold, wenn man ihn zu heben verstünde. Der Legende zufolge habe die heilige Barbara dem Kind die damals hier unbekannte Technik erklärt, in genau angegebenen Abständen Löcher in das Gesteinsmassiv zu schlagen, diese mit scharf getrocknetem Weidenholz dicht auszukeilen, das Holz schließlich mit heißem Wasser zu begießen, so daß die Keile quellen und mit dieser Elementarkraft den Stein blockförmig sprengen. Dies soll zur Gründung des Komprechtser Steinbruchs geführt haben, und in der Folge, durch die damit verbundene Gewinnung von Quarzsand, auch zur Gründung der Glasfabrik, wodurch Komprechts schließlich eine wohlhabende und für die Region bedeutsame Gemeinde wurde.

Gerne hätte es der Bürgermeister König gesehen, wenn die Besetzung dieser für die weitere Geschichte des Gemeinwesens so wichtigen Rolle der kleinen Barbara gleichsam in der Familie geblieben wäre. Nun hatte er zwar ein achtjähriges Kind, allerdings einen Sohn, weshalb er sogar kurz überlegt hatte, den Buben einfach in Mädchenkleidern auftreten zu lassen. Hat er nicht ein hübsches, glattes Gesicht und eine helle Stimme? Er könnte in einem Kleidchen glatt als Mädchen angesehen werden. Aber ganz geheuer ist dem Bürgermeister die Idee dann doch nicht gewesen, weswegen er sich bei der Besetzung der Rolle nicht eingemischt hatte. Nun aber, nachdem er als Graf Wenzel seinen Theatertod gestorben und mit Gejohle und Geklatsche aus dem Stück ausgeschieden war, erschien selbst ihm, von der Magie des Theaterspielens verzaubert, all das, was nun kommen sollte, wieder aufs äußerste bedeutsam – und es wurde ihm schmerzhaft bewußt, daß ausgerechnet jetzt, da das Stück dem Aufbruch in die neue Zeit zustrebte, der Name König keine Rolle mehr spielen würde. Er beobachtete wie in Trance den Beleuchter Schandl Franz, der mit Hilfe mehrerer roter Filter und eines Lichtzerhackers den aufleuchtenden und wogenden Flammenschein der brennenden Kirche auf die Bühnenkulisse warf, dann wieder, fast schon verärgert, die kleine Franzi. War nicht alles, was Komprechts heute ist und hat, ihr zu verdanken? Selbst die Tatsache, daß diese Gemeinde, inmitten einer tiefschwarzen Region, einen roten Bürgermeister wählt, da die Komprechtser Frauen und Männer mehrheitlich in der Glasfabrik oder im Steinbruch beschäftigt sind und kaum mehr in der Landwirtschaft. Adolf König dachte, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, wenn sein Sohn, Mädchenkleider hin oder her, die Barbara Witty einstudiert hätte. War Franzi nicht die Tochter des schwarzen Vizebürgermeisters Macho? Hier war er zu wenig achtsam gewesen. Er wußte doch, wie die Menschen reagierten, wie sie nachhaltig lenkbar waren durch alles, was man ihnen vorspielte.

Das rote Scheinwerferlicht wogte über die Bühne, sein Widerschein flackerte in den Gesichtern der Zuschauer, als plötzlich die Komprechtser Kirchenglocken zu läuten begannen und bald darauf auch die Feuerwehrsirene einsetzte. Das Publikum, beeindruckt vom Anschein der brennenden Bühne, hielt dies für einen raffinierten Regieeinfall, ungeachtet des Anachronismus, den die Sirene in diesem Stück darstellte, und als plötzlich ein Flügel der Saaltür aufgerissen wurde, der Gendarm Janda hereinlief und kreidebleich Es brennt! Es brennt! rief, war das Publikum vollends baff wegen des überzeugenden Realismus der Inszenierung. Die Schauspieler allerdings, die weder mit dem wirklichen Kirchenglockengeläute noch mit der Feuerwehrsirene, und schon gar nicht mit dem Feuer schreienden Gendarmen gerechnet hatten, standen augenblicklich starr und stumm auf der Bühne. Erst als der Ableidinger, für das Publikum also der Teufel selbst, wieder auf die Bühne kam und verwundert fragte, wo es denn brenne, brach nach kurzer Stille, während der auch der Vorhang fiel, Panik aus, die Komprechtser drängten ins Freie, wo sie über einem tiefblauen Horizont orangerotes Licht in wechselnder Stärke glühen sahen. Dies mußte ihnen, nach dem vergleichsweise simplen Lichtspiel in der Halle, nun den Eindruck einer wirklichen Brandkatastrophe geben. Rasch verbreitete sich die Meinung, daß das Feuer in der Glashütte am Ortsende ausgebrochen sein müsse, wo zum Schmelzen des Quarzsandes die Ofenanlagen ununterbrochen auf hoher Temperatur gehalten wurden. Sofort liefen die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Komprechts mit dem Bürgermeister zum nahe gelegenen Feuerwehrhaus, von wo sie mit dem Spritzentransporter und dem Mannschaftswagen zur vermeintlichen Brandstelle losfuhren.

Dieser erste »Einsatz im Ernstfall« der beiden drei Jahre zuvor von der Gemeinde erworbenen Fahrzeuge endete mit einer Groteske, die sich zu einer peinlichen Staatsaffäre auswachsen hätte können. Es gelang aber dem österreichischen Außenministerium, die Affäre gutnachbarschaftlich zu regeln und sogar gegenüber den Medien zu vertuschen.

Nachdem die Komprechtser Feuerwehrmänner die Glasfabrik erreicht hatten und diese unversehrt vorfanden, rasten sie weiter, die Augen immer nur auf den vermeintlichen Flammenschein am Horizont gerichtet, passierten in Höllentempo die nur zwei Kilometer dahinter gelegene österreichische Staatsgrenze und kamen erst zu stehen, nachdem sie den tschechoslowakischen Grenzbalken durchbrochen hatten. Bürgermeister König sprang vom Beifahrersitz des Löschwagens auf die Straße und sah sich der Maschinenpistole eines tschechischen Grenzsoldaten gegenüber. Er riß die Hände hoch, immer noch im Kostüm des Grafen Wenzel, mit rotgeschminkter Nase, dazu jetzt auch noch mit Feuerwehrhelm, hinter sich hörte er die Sirene von Komprechts, neben sich das Folgetonhorn des Feuerwehrwagens, und vor sich das schrille Jaulen des tschechoslowakischen Grenzalarms. Er machte mit den erhobenen Händen winkende Bewegungen, sie sollten beruhigend, begütigend wirken, Ist eh nichts geschehen, sagte er immer wieder, Entwarnen! Ist eh nichts geschehen.

Davon wußten die Menschen nichts, die vor der Mehrzweckhalle standen und erregt disputierten, mit Rauchsäulen vor ihren Mündern, ohne aber die Kälte dieses Jännerabends zu spüren. Dem Oberlehrer Trisko war bald klar, daß der Lichtschein am Himmel nicht von einem Großbrand herrührte, sondern, wie er erklärte, ein in diesen Breiten äußerst seltenes Nordlicht war.

Ein Naturschauspiel, sagte er tonlos. Abergläubische Stimmen wurden laut, daß dieses Nordlicht ein Unglück ankündige, schlecht wirds werden, wir werden noch von den Steinen abbeißen müssen.

Ein Unglück, sagte Trisko, ja, ein Naturschauspiel.

4.

PLAY. Zeig mir deine verführerischste Pose!

Ich finde das peinlich. Warum macht er das? Das muß doch eine Qual sein für das Mädchen.

Ich weiß nicht. Andererseits spielt sie mit. Da ist einige Koketterie dabei.

Finden Sie?

Ja.

Wenn das wer sieht. Wenn da wer zuschaut.

Wir sind doch alleine. Keiner kann zuschauen.

Aber später einmal. Was gefilmt ist, kann abgespielt werden, das kann sich wer anschauen. Ich will das nicht.

Komm, gib die Decke weg, ich will dich sehen.

Gib die Kamera weg, du kannst mich ja sehen, alles darfst du sehen, aber gib die Kamera weg. Mußt du denn immer alles aufnehmen?

Ein Schwenk im Zimmer, es ist hauptsächlich in Rot gehalten, der plüschige Kopfteil des Bettes, die Tapeten, das viele Rot bewirkt einen Rotstich im Film, ein rotes Flimmern, ein mit rotem Samt überzogener Sessel, über den Kleidungsstücke geworfen sind, daneben eine rötlichbraune Truhe mit einer Tasche darauf.

Was hast du nur mit dieser Kamera?

Sag: Ich will nur dich.

Ich will nur dich.

Noch einmal. Überzeugender.

Ich will nur dich. Gibst du jetzt die Kamera weg?

Ein Zoom auf die roten Stöckelschuhe vor dem Sessel STOP.

Ich finde das unerträglich. Schalten wir ab? Vielleicht finden wir eine Kassette, auf der er selbst drauf ist.

Er ist auf keiner Aufnahme zu sehen. Er war immer hinter der Kamera. PLAY.

Plötzlich ein viel zu schneller Schwenk, das Mädchen steht neben dem Bett, immer noch preßt sie die Decke an ihren Körper, dann läßt sie sie fallen.

Sie ist ja gar nicht nackt!

Warum haben Sie gedacht, daß sie nackt ist?

Da läuft das Mädchen los, auf die Kamera zu, nichts mehr zu sehen, reine Bewegung, sonst nichts, dann das Mädchen von hinten, verwackelt und unscharf, die Kamera hat keine Zeit, sie präzis zu fokussieren, hinein ins Badezimmer, da steht das Mädchen schon in der Badewanne und schiebt den Duschvorhang zu. Rosa Plastik. Die Kamera filmt nun bedächtig den Duschvorhang, suchend, er ist blickdicht, kein Schatten dahinter zu sehen, plötzlich fliegt ein T-Shirt über den Duschvorhang, Büstenhalter, Jeans, Höschen, die Kamera geht zurück, filmt die nun auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke, man hört das Prasseln von Wasser. Ein Schwenk zu einem Badetuch, das auf einer Chromstange zwischen Wanne und Waschbecken hängt, Zoom, gleichzeitig ist ein Lachen zu hören. PAUSE. Bildfüllend das Badetuch. Unter der Schrift HOTEL REI MOMO ist auf dem Badetuch ein ungemein fetter Mann abgebildet, mit einer eigentümlichen, wegen der Verzerrung des Standbilds nicht eindeutig erkennbaren Kopfbedeckung.

Der Dicke auf dem Handtuch da sieht aus wie Buddha mit einer Narrenkappe.

Das ist Rei Momo, der König des Karnevals.

Kennen Sie das Hotel?

Nein. Könnte irgendein kleines Hotel in Rio sein.

5.

Zurück in São Paulo. Sie rief sofort eine Freundin an und erzählte vom Hotel, von den Stränden und den Ausflugsmöglichkeiten, so schwärmerisch, als wäre sie Angestellte in einem Reisebüro. Er ärgerte sich, daß er nicht zu Hause geblieben war. In seinem Zimmer, oder draußen in der Hängematte, hätte er unbehelligt einen Roman lesen können, oder die Augen schließen. Er war ein Wiederholungsopfer. Immer wieder wurde er von ihr zu fremden Kulissen geschleppt, die im glücklichsten Fall so aussahen wie deren Abbildungen in den Prospekten, die sie dorthin gelockt hatten. Er fragte sich, warum es Menschen Wollust bereitete, etwas wiederzuerkennen, das sie zum ersten Mal sahen. Oder warum sie glaubten, daß die Sonne an einem anderen Ort eine andere Sonne sei, nur weil man dort andere Umstände traf als zu Hause, um sich vor ihr zu schützen. Tatsächlich fragte er sich das nicht. Er erzählte später – Wie denn dieser Urlaub gewesen sei? –, daß er sich das nach der Rückkehr gefragt habe.

Wie sie lärmte. Es gibt den Ausdruck fröhlich lärmen, als ob es das gäbe. Er hörte, wie ihre Schritte auf das Parkett schlugen, er hörte das Schlagen von Zimmertüren und Schranktüren, hörte, wie ein harter Wasserstrahl in das Waschbecken schlug, er hörte sogar, wie sie im Nebenzimmer ihren Koffer öffnete, zwei kurze helle Schläge, als die Verschlüsse aufsprangen. Er wird erst wieder zu Hause sein, wenn sie bei der Arbeit ist. Er nahm ein Buch, das auf seinem Schreibtisch lag, hielt es knapp vor sein Gesicht und blies kräftig darauf, um zu sehen, ob Staub aufwirbelte. Kein Staub. Er schlug das Buch irgendwo auf. Der Satz Dummheit, fuhr ich fort, sei ja nichts anderes als blinde Übereinstimmung mit dem äußeren Schein der Welt, und schon wollte er nicht mehr weiterlesen. In seinem Zimmer hing, mit Reißnägeln befestigt, ein großer Stadtplan von São Paulo an der Wand. Er stand davor und betrachtete den Schatten, der auf dem Plan lag, ein schwacher, undeutlich konturierter Schatten. Er mußte den Kopf ein paar Mal schütteln, bis er sicher war, daß es der Schatten seines Kopfes war. Dann spielte er drei Stunden mit seinem Camcorder. Er filmte alle Räume seines kleinen Hauses, mit bedächtigen Schwenks und sorgsam überlegten Zooms, dann den Garten hinter dem Haus, die Orchideen, die Hängematte, die er an zwei Kokospalmen befestigt hatte, am Ende filmte er auch die Straße, in der er wohnte. Er steckte den Camcorder am Fernsehapparat an, betrachtete den Film auf dem Bildschirm, dann überspielte er ihn auf eine Videokassette, die er zu den anderen ins Regal stellte.

6.

Lieber Romy! Nein, er haßte sie nicht mehr, er hatte es aufgegeben, sie zu hassen, diese Anrede, die seine Mutter sich einfach nicht abgewöhnen konnte, nicht, wenn er sie bat, nicht, wenn er flehte, nicht, wenn er sie beschimpfte, nicht, wenn er vorübergehend mit ihr brach. Mit vierzehn Jahren hatte er es zum ersten Mal versucht, Mama, ich bin doch kein Mädchen, sag doch nicht immer Romy zu mir! Mit sechsundzwanzig Jahren zum letzten Mal, Mein Sohn ein Herr Doktor, ich bin so stolz auf dich, Romy, sag, was wünschst du dir zur Promotion? Nichts, Mama, nur eins: hör bitte endlich auf, mich Romy zu nennen, das klingt so infantil, ich halte das nicht mehr aus! Aber es war aussichtslos, drei oder viermal hatte sie ihn dann Roman gerufen, so, daß allzu deutlich war, daß sie eigentlich Romy hätte sagen wollen, aber gerade noch vor dem y einhielt, gerade noch, aber doch zu spät, man hörte es einfach, Romm-an, das klang vollends blöd, er gab es auf und blieb ihr lieber Romy, jetzt war er fünfunddreißig, und es war belanglos geworden, nach all den Jahren, die er diese Anrede wenigstens nicht mehr hören hatte müssen, sondern nur noch lesen, in den Briefen, die sie ihm schrieb. Briefe, die ihm im Lauf der Zeit immer fremder wurden, nicht mehr Botschaften von zu Hause, sondern aus einer mittlerweile untergegangenen Welt. Berichte von Sorgen und Freuden, die es in dieser Form in seiner Welt nicht gab, pathetische Liebesbezeugungen gegenüber einem Kind, das nicht mehr existierte, Sehnsuchtsdemonstrationen, die er nicht mehr beantworten konnte und die ihm, in ihren sich wiederholenden Formulierungen, schließlich nur noch als Floskeln erschienen, die er irritiert überlas. Es fällt mir sehr schwer, Dir diesen Brief zu schreiben, weil ich mir sehr unsicher bin, wie Du ihn aufnehmen wirst. Wenn sie diese Skrupel doch bei allen ihren Briefen hätte, vielleicht wäre mancher nie fertiggeschrieben oder abgeschickt worden. Zunächst muß ich mich bei Dir entschuldigen, weil ich Dir etwas verschwiegen habe, aber ich will es Dir so gut es geht erklären. Entschuldige dich doch nicht, du bist mir doch in nichts Rechenschaft schuldig, jetzt nicht mehr, verschweige mir alles, alles, das würde mich glücklich machen. Also, was ist es? Ich habe vor einiger Zeit einen Mann kennengelernt, na endlich, mit dem ich mich sehr gut verstehe, von dem ich Dir aber bisher nicht berichtet habe, weil ich Dich nicht mit etwas belasten wollte, von dem ich selbst noch nicht wußte, welche Bedeutung es für mich hat. Belasten! Nur das war der Grund, warum ich bisher geschwiegen habe, das mußt Du mir glauben. Geschwiegen! So viele Worte und Sätze, allein im vergangenen Jahr sicher eine ganze Flugzeugladung von beschriebenem Luftpostpapier! Wir sind uns sehr nahe gekommen, auf eine sehr schöne Weise, und schließlich hat er mir einen Heiratsantrag gemacht. – – – Trotzdem war ich die längste Zeit unsicher ob ich ihn mir nehmen soll. Mir nehmen! Nun drängt er mich immer mehr, weil er mich offenbar wirklich sehr liebt – Ich will Dir ein Beispiel geben. Es ist gestern passiert, und das ist auch der Grund, warum ich Dir heute gleich schreibe. Ich war gestern abend mit Richard, so heißt er, Bitte schreibe jetzt nicht, daß du ihn Ricky nennst! Was ist passiert, was? essen, und schließlich hat er seinen Antrag noch einmal ganz eindringlich wiederholt. Dabei hat er seinen Autoschlüssel aus der Tasche genommen, in der Hand so hin- und herbaumeln lassen und gesagt: Wenn ich nicht Ja sage, dann steigt er jetzt in sein Auto ein und fährt mit Vollgas auf der Ringstraße gegen den nächsten Baum. – – – Wir waren in diesem neuen vegetarischen Restaurant im ersten Bezirk, von dem ich Dir ja schon einmal geschrieben habe, wo es dieses köstliche biologische Essen gibt, und haben die ganze Zeit nur Mineralwasser und Tee getrunken, Romy, ich schwöre Dir, er war wirklich nicht betrunken. Schnaps, sofort einen Schnaps. Noch einen. Was ist das für ein Verrückter, was ist er, was macht er im Leben, außer drohend seinen Autoschlüssel baumeln zu lassen? Es war eindeutig, daß er es wirklich ernst meinte, daß er, wie er sagte, ohne mich nicht mehr leben wolle. Die alte Schule, das liebt sie, immer schon hatte sie die rührseligen Romane und die alten Filme geliebt, in denen diese Sätze vorkommen, abends fernsehen, einen solchen Film, und sie erfing sich nicht mehr vor Wollust, Rotz und Wasser. Ich habe ihm noch einmal ganz ruhig und sachlich alle Gründe auseinandergesetzt, die gegen eine feste Bindung sprechen und die ich auch Dir nicht verheimlichen kann. Er ist vor allem sehr jung, vielleicht viel zu jung, nämlich fünfzehn Jahre jünger als ich, also nur fünf Jahre älter als Du, mein Schatz. Ist sie verrückt geworden? Ist er ein Verrückter? Übrigens, stell Dir vor, er hat sogar am selben Tag Geburtstag wie Du! – – – Vielleicht ist übrigens auch das ein Grund dafür, warum ich mich mit ihm so gut verstehe, und daß er mir so rasch so vertraut werden konnte, ich bin sicher, daß der Einfluß der Sterne da eine große Rolle spielt! Noch einen Schnaps. Als sehr großes Problem sehe ich es auch, daß er sich erst unlängst von seiner ersten Frau hat scheiden lassen, mit der er zwei kleine Kinder hat. Diese Scheidung hat zwar nichts mit mir zu tun, er ist einfach viel zu jung gleich in diese Ehe hineingeschlittert, die nicht gutgehen konnte und unter der er sehr gelitten hat, die aber noch sehr lange eine enorme Belastung für ihn darstellen wird, auch wenn er als Mechaniker Mechaniker? sehr schön verdient: denn diese Frau preßt ihn nach Strich und Faden mit ihren Alimentationsforderungen aus, und Richard hat zu allem Ja und Amen gesagt, nur um erst einmal von ihr freizukommen. Ja, sicher, aber was hast du gesagt? Ja? Oder Baum? Ich habe ihm gestern gesagt, daß ich keinesfalls ohne Deine Einwilligung – O Gott, noch einen Schnaps! – einfacher und rascher gewesen, Dich in diesem Fall anzurufen – schreiben, weil ich mir dann doch gedacht habe, daß Du dann in größerer Ruhe, als es am Telefon möglich ist, darüber nachdenken kannst – mir versprochen, Zeit zu lassen, bis ich Deine Antwort – sehr verständnisvoll – aber Dich bitte, bei Deiner Entscheidung nicht meine Gefühle für Richard, sondern nur Deine eigenen Gefühle zu berücksichtigen – Du mußt mir glauben, daß mir am wichtigsten – so oder so – nicht leicht – sehr wichtig. Lieber Romy, sonst gibt es, vor allem gemessen an dieser für Dich sicher sehr überraschenden Neuigkeit, nichts Wichtiges zu berichten. Wir haben einen sehr kalten Winter, minus 25 Grad!!! Aber Dir in Brasilien muß ich zum Glück nicht sagen, daß Du Dich immer schön warmhalten sollst. Zum Glück.

Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, rauchte Roman eine Zigarette, schließlich zog er sich aus, ging ins Badezimmer, betrachtete sich lange im Spiegel, so starr, als betrachtete er eine Fotografie. Dann nahm er eine Dusche, auf eine, wie ihm selbst auffiel, sehr eigentümliche Weise, nämlich so, daß er jede Berührung mit sich selbst vermied. Naß legte er sich ins Bett.

7.

War das schon das Unglück, das auch von Frau Nemec seit dem Abend des Nordlichts erwartet wurde, oder war es nur ein weiterer Vorbote? In ihrer Stube war es eigentümlich hell, was aber nicht der Tatsache zu verdanken war, daß es draußen einen der hier so seltenen klaren Wintertage gab, an denen die schnee- oder reifbedeckte Landschaft gleißend unter einem wolkenlosen Himmel lag. Immer wieder stand Frau Nemec vor dem Fenster und blickte hinaus, immer wieder sagte sie sich, daß sie das, was sie sah, nicht hätte erleben mögen, obwohl sie doch, was Leib und Besitz betrifft, unbeschadet davongekommen war. Nur wenige Meter hinter dem Fenster, gleich nach dem Zaun ihres Grundstücks, war ein Wald, der sich bis nach Peugen erstreckte und der dortigen Grafschaft gehörte. Dieser Wald, so nahe am Fenster, dazu noch die Wald- und Moordämpfe und die Nebel waren dafür verantwortlich gewesen, daß in ihrer Stube immer ein recht trübes Licht geherrscht hatte. Nun war während der vergangenen drei Tage etwas passiert, das sie in ihrem ganzen Leben nie erlebt hatte, das sie nicht einmal vom Hörensagen kannte, das im Erzählenhören unglaublich klingen mußte – die Augenzeugen aber entsetzte.

Frau Nemec nannte das, was sie beobachtet hatte, »angfrorenen Nebel«, und er hatte fürchterliche Wirkung gezeigt. Während eines plötzlichen Temperatursturzes wogte, von scharfem Nordostwind getrieben, ein sehr dichter Nebel her – und kristallisierte sich an den Bäumen. Die Eiskruste, mit der er Stämme und Aste umzog, hängte sich immer schwerer an, und der wachsende Druck der Last nötigte die Bäume zur Beugung, Brechung, Niederlage. Hundertfünfzigjährige Tannen wurden mit ihrer sonst nur durch schwerste Hebemaschinerie bezwingbaren Herzwurzel und den an ihr hängenden fünfzig Zentnern Erd- und Steinklumpen in einem Nu herausgerissen und lagen entästet, zerstückelt auf dem Boden, der im Augenblick vorher noch so viele Riesenstämme, nun so viele Riesengruben zeigte. Es sah aus, als hätten unzählige Bomben eingeschlagen, ein Schlachtfeld, ein Trümmerhaufen.