Fünftes Buch: Mai – Windstärke 5

Windstärke 5: frischer Wind, deutlich hörbar. Selbst größere Zweige und Bäume bewegen sich, auf dem Meer überall Schaumköpfe. Mittlere Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 30–41 km/h.
Beaufort-Skala

Vielleicht sollte ich einfach liegen bleiben. Es gibt an diesem Mittwochmorgen wirklich keinen guten Grund aufzustehen. Keinen!

„Mama?“ Mein verschlafener Sohn kommt aus dem Nebenzimmer und reibt sich die Augen. Also gut, es gibt doch einen Grund, Lebenszeichen von sich zu geben. In der Hand hält Mäxchen sein Lieblings-Kuscheltier, das ich ihm vor Kurzem bei einem Ausflug in den Tierpark geschenkt habe. Es ist ein ziemlich dickes Hängebauchschwein. Wo die Liebe hinfällt …! Und irgendwie hat es mich gerührt, dass seine Liebe nicht auf eines dieser knallbunten Tiere mit den riesigen Glubschaugen gefallen ist. Nein, er wollte ein seltsames dunkelgraues Tier mit liebevoll herausgearbeiteten Speckfalten. Ich schlage meine Bettdecke zur Seite, damit Mäxchen und sein Freund „Digga“ mir Gesellschaft leisten können.

„Ich habe Hunger“, sagt Mäxchen, kuschelt sich aber dennoch für einen Moment an mich.

„Lass uns noch ein paar Minuten einkuscheln“, sage ich. „Komm, ich lese dir ‚Jim Knopf‘ vor.“

Das zieht immer.

„Ich habe Hunger.“

Außer wenn Mäxchen Hunger hat.

„Okay. Was möchtest du denn essen? Müsli oder Toast?“

„Toast.“

„Mit Salami oder Erdnussbutter?“

Bevor jemand das Jugendamt alarmiert: Die Salami ist vegetarisch, zu 98 Prozent sogar vegan. Und die Erdnussbutter stammt aus dem Bio-Laden und ist ungezuckert. Eine seltsame Masse, die im Mund ganz trocken wird und sich zu vermehren scheint. Aber wir haben uns daran gewöhnt.

„Beides“, sagt er. „Können wir jetzt in die Küche gehen?“

„Was möchtest du denn dazu trinken? Milch oder O-Saft?“

„Mama.“ Sein vierjähriges Kinderstimmchen klingt äußerst missbilligend. Ich kann ihn verstehen. Schlaftrunken mit diesem sinnlosen Fragefeuerwerk konfrontiert zu werden, muss die Hölle sein. Aber ich habe keine andere Wahl oder besser: keine andere Idee, um Zeit zu schinden. Auf keinen Fall möchte ich meinem Mitbewohner Paul über den Weg laufen, der in … ein Blick auf die Uhr verrät es … genau in drei Minuten das Haus verlassen müsste. Er geht immer gegen 7.30 Uhr.

Bis gestern haben Mäxchen und ich ein verlängertes Wochenende bei meinen Eltern verbracht. Man kann es nicht direkt einen Kurzurlaub nennen, denn der Aufenthalt dort ist alles andere als erholsam verlaufen. Aber Wochenende und Erster-Mai-Feiertag – das wären ja drei Tage gewesen, in denen Paul und ich in dieser Wohnung aufeinanderhocken. Mein Sohn wittert ein Problem, das sich ausnutzen lässt, und revanchiert sich mit einer Gegenfrage.

„Mama, darf ich Nutella?“

Ich muss leider zugeben, dass wir hier von dem stark gezuckerten Original sprechen. Es ist Krisenzeiten vorbehalten und es hat sich ja auch herausgestellt, dass das darin verwendete Palmöl nachhaltig produziert wird. Und Haselnüsse enthalten so viel gutes Zink und … weiß ich gerade nicht. Also ehrlich, was rechtfertige ich mich überhaupt? Früher als Studentin habe ich mich tagelang von paniertem Mist ernährt und es genossen! Aber als ich Mutter geworden bin, war es damit schlagartig vorbei. Es lastet nun der bisweilen brutale Druck auf mir, einen Jungen zu einem anständigen Mann heranzuziehen. Hier ein bisschen Zucker zu viel, dort ein pädagogisch wertloses Buch vorgelesen und an anderer Stelle keine Grenzen gesetzt – und schon hat man so einen degenerierten Typen geschaffen, der im Stile von Trump mit orange gefärbter Haut und blondem Toupet irgendwelche Pornostars durch Hotelzimmer verfolgt.

„Nutella ist in Ordnung“, gebe ich trotzdem nach. Und ärgere mich, denn ich hätte meine Antwort nur ein paar Sekunden hinauszögern müssen: Mit einem lauten Knall fällt die Tür ins Schloss und es herrscht Stille, wo gerade noch ein verzweifelter Vater mit vierjähriger Tochter und dreizehnjährigem Sohn über die angemessene Bekleidung an einem eher bedeckten Tag diskutiert hat. Die Luft ist rein. Erleichtert springe ich aus den Federn.

„Na los“, rufe ich fröhlich, „lass uns frühstücken.“

Ich kitzle seine nackten Fußsohlen und nachdem er sich mir kreischend entwunden hat, gehen Mäxchen und ich in die Küche und ich schmiere ihm dort eine dicke Schicht Nutella aufs Brot. Ich ruiniere die Zähne meines Kindes, weil ich das Unbehagen vermeiden wollte, das ich neuerdings in Pauls Nähe empfinde. Ich sollte vielleicht noch erzählen, was vorgefallen ist. Ich habe betrunken mit ihm geknutscht, was keine schlechte Art ist, seinen dreißigsten Geburtstag zu verbringen. Und eigentlich sollte ich auch aus dem Alter raus sein, an dem mich so etwas aus der Bahn wirft – schließlich habe ich mit Männern schon ganz andere Sachen angestellt. Aber Knutschen mit diesem ganz speziellen Mann macht mein Leben komplizierter, als es ohnehin schon ist. Dabei hatte der Abend vor gut einer Woche so nett angefangen. Gemeinsam mit ein paar meiner Freunde haben wir einen entspannten Abend in der Küche verbracht. Irgendwann kam meiner besten Freundin Kessie und mir die Idee, eine nostalgische „Schlamm-Bowle“ herzustellen, wie sie uns durch unsere Studentenzeit begleitet hat. Die anderen Gäste kannten sie nämlich nicht und wir wollten unbedingt beweisen, wie großartig Wodka, Sekt und Weißwein gemischt mit einem Glas Kirschen und Vanilleeis schmecken. Leider hatte ich vergessen, dass der süße, sahnige Geschmack darüber hinwegtäuscht, wie sehr das Zeug knallt. Anfangs war es ziemlich lustig. Wir haben viel gekichert und die Kinder rannten quietschend umher – obwohl sie längst im Bett hätten liegen sollen –, als hätten sie ebenfalls an der Bowle genippt. Sogar Pauls pubertierender Sohn, der sonst eher eine Null-Bock-Haltung an den Tag legt, ist aus seinem Zimmer gekommen. Und meine mindestens siebzig Jahre alte Lieblingsnachbarin Frau Holle legte mit meinem Bruder Roman einen Luftballon-Tanz hin, während sein Mann Martin „Up where we belong“ schmetterte.

Leon schien es zu freuen, dass sich angetrunkene Erwachsene kein bisschen um seinen Tic scheren. Egal, wie oft er gebellt hat, war das nichts gegen den Lärm, den ein Haufen Erwachsener an einer Playstation beim Karaokesingen fabriziert.

„Voll peinlich“, fand auch meine sechzehnjährige Schwester.

„Echt“, bestätigte Leon. Die beiden verbindet die Liebe zu Krav Maga und der Farbe Schwarz. Letzteres ist mir erst seit Kurzem bewusst. Die seltsam zusammengewürfelte Kleidung, die er anfangs immer getragen hatte, war wohl auf dem Mist seiner Mutter gewachsen. Er legte sie ab, wie er auch ihre Globuli nicht mehr nahm, die seinen Tic nicht verschlimmerten, ihn aber auch nicht gerade verbesserten. Jetzt trägt er nur noch schwarze Kleidung und es ist ganz offensichtlich, dass er meine Schwester megacool findet. Ich denke nicht, dass sie das Gleiche über ihn denkt. Doch wenn keiner zusieht, verstehen sie sich auf irgendeiner Teenager-Ebene, die ich nicht mehr kapiere, blendend. Außerhalb dieser Wohnung allerdings tut sie so, als würde sie ihn nicht kennen. Schließlich ist er drei Jahre jünger und dann ist da ja noch dieser irre Tic. Wäre ja echt peinlich, wenn er mit ihr abhängen wollte. Doch egal, wie boshaft sie manchmal ist, scheint Leon zu denken, dass sie ihn insgeheim ganz gut findet. Das ist wohl meine Schuld. Ich habe sie mit schnöder Erpressung dazu gebracht, ihm einen Flyer für ihren Krav-Maga-Kurs in den Schulranzen zu stecken. Er brauchte dringend ein wenig Anschluss und sollte lernen, sich besser zur Wehr zu setzen.

Was ich nicht bedacht hatte: Natürlich wusste Leon sofort, wer ihm den Flyer in den Rucksack gesteckt hat, als er tatsächlich dort aufgekreuzt ist und plötzlich Zoe vor ihm stand. Er konnte ja gar nicht anders, als zu glauben, dass sie irgendetwas an ihm findet. Wenn ich die beiden so ansehe, liegt er aber gar nicht so falsch, wie sie tut. Sie tuscheln und kichern und Leon wirkt viel weniger angespannt, wenn sein Körper mal wieder gegen seinen Willen komische Dinge tut, wie in die Hocke zu springen oder Geräusche von sich zu geben. Kurz gesagt: Wir hatten einen schönen Abend. Löwe und Lamm lagen friedlich beieinander. Veganer und Burger-Vernichter haben friedlich aus einem Topf tierfreier Mousse au Chocolat genascht. Nachdem alle aufgebrochen waren und die Kinder in ihren Betten lagen, hat Paul mir netterweise mit dem Aufräumen geholfen. Einer von uns hatte die bescheuerte Idee, mit den Resten der Bowle eine Runde „Circle of Death“ zu spielen. Dabei zückt man ein Kartenspiel und egal, ob man ein As, eine Zehn oder einen König zieht, eigentlich muss man immer trinken. So ist es dann passiert. Ich habe die gute alte Regel „Never fuck the company“ vergessen, die auf eine funktionierende Wohngemeinschaft genauso zutrifft. Vielleicht sogar noch mehr. Es sei denn natürlich, man wohnt in der Hamburger Wohngemeinschaft des Schauspielers Mathieu Carrière, der laut Klatschmagazin jede WG-Party mit den Worten „Kein ungeschützter Geschlechtsverkehr, keine harten Drogen, nicht hauen und nicht klauen“ einläutet. Vielleicht hat er das im Dschungelcamp gelernt. Wobei die Sache mit dem geschützten Geschlechtsverkehr dort wohl eher schwierig ist. Außer natürlich den Insassen wird Schafsdarm zur Verfügung gestellt für eine natürliche DIY-Variante des Kondoms, die gut in das Konzept der Sendung passen würde.

Doch meine WG ist ein Konstrukt, das auf einem feineren, eher unausgesprochenen Regelwerk basiert. Dazu gehört etwa, dass wir eben gerade nicht scharf aufeinander sind. Eigentlich. Vielleicht sollte ich behaupten, es sei einfach so passiert. Doch wenn niemand die Entscheidung trifft, etwas zu tun, passiert auch nichts. Deswegen fand ich die Ausrede immer schon lahm. Ebenso die Sache mit dem Alkohol. Auch der dient oft nur als Vorwand, Dinge zu tun, die man will, aber für die man sonst zu feige wäre. Als wir uns also geküsst haben, wollte ich es wirklich. Es hatte immer schon Momente gegeben, in denen er mir anziehend vorkam, doch es war leicht, sie zu ignorieren. Und je häufiger man im Pyjama nebeneinander vor dem Fernseher sitzt, den Mund voll Popcorn gestopft, desto seltener werden diese Momente dankenswerterweise. Doch an diesem Abend … tja, es hatte irgendetwas damit zu tun, dass er seinen Pulli ausgezogen hat, weil ihm beim Aufräumen so warm wurde. Dabei ist sein T-Shirt hochgerutscht. Nicht dass dort ein mordsmäßiger Waschbrettbauch zum Vorschein gekommen wäre. Dort wuchsen sogar Haare, die den Bauchnabel umschlossen und wie ein Pfeil auf den Hosenbund zeigten, was mir wie eine unanständige Einladung vorkam. Ich weiß, dass selbst Männer inzwischen ins Waxing-Studio gehen müssen, doch ich persönlich ziehe es vor, wenn man einem Männerbauch ansieht, dass er nicht einer Frau oder einem Teenager gehören könnte. Plötzlich konnte ich meine Augen nicht mehr davor verschließen, dass seine Oberarme in dem schlichten weißen T-Shirt so kräftig aussahen. Tischler müssen eben mehr tragen als nur einen Bleistift. Und plötzlich konnte ich mich selbst dabei beobachten, wie ich ihn aufgezogen und provoziert und ihm am Ende sogar mein Gesicht auffordernd entgegengestreckt habe.

Er hat die Einladung seufzend angenommen. Und es war wirklich schön – bis mein umnebeltes Gehirn doch noch die Information freigab, dass Paul vergeben ist oder zumindest gerade mit einer anderen anbandelt. Ich weiß, dass er kein notorischer Fremdküsser ist. Als die Mutter seiner Kinder ihn betrogen hat, litt er noch ein Jahr später darunter. Nicht nur deswegen spielt er selbst immer fair, soweit ich weiß. Deshalb ist zu befürchten, dass er mich aus Mitleid geküsst hat. Oder nicht?

„Wie geht es denn deiner Freundin?“

Die Worte waren mir einfach so rausgeschlüpft. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht wie ein Vorwurf klangen, nachdem ich es gewesen war, die ihn beinahe genötigt hatte.

Erschrocken sah er mich an. „Meiner Freundin?“

„Das Mädel, mit dem du dich triffst.“

„Ach so. Meinst du Conny? Ganz okay, denke ich.“ Er raufte sich die Haare, wie er es immer tut, wenn er überfordert ist.

„Ach so“, sagte ich.

„Wir sollten dann wohl aufhören. Nicht dass alles aus dem Ruder läuft, oder?“, fragte er zögernd.

Typisch Mann – setzt ein Fragezeichen hinter seine Aussage und schiebt mir damit die Verantwortung zu. Aber was wollte er hören? Wollte er, dass ich ihn überrede, sich nicht an seinen Moralkodex zu halten, weil er mich insgeheim weiter küssen wollte? Oder wollte er genau das nicht und mir nur die Gelegenheit geben, die vernünftige Entscheidung zu treffen, damit er mich nicht vor den Kopf stoßen musste?

Wie auch immer. Der schwarze Peter der Entscheidung lag nun bei mir. Und dann wollte ich lieber dafür die Verantwortung übernehmen, etwas nicht zu tun, als womöglich ein Desaster zu verursachen. Es war ja nicht so, als hätte ich zu wenig Trubel in meinem Alltag.

„Du hast recht. Wir lassen das lieber“, murmelte ich. Als ich mein Gesicht aus seiner Reichweite entfernte, drückte mehr als nur ein kleiner Anflug von Bedauern auf meinem Brustkorb. Was natürlich logisch war. Als Naturwissenschaftlerin kann ich mir nichts vormachen. Durch die Knutscherei war ein biologischer Mechanismus in Gang gesetzt geworden, der auf Vollendung abzielte – sprich: auf Vermehrung, die das Leben auf dem Planeten erhalten würde. Nichts weiter war es, was mich nun so schlagartig zu ihm hinzog. Wie beruhigend!

Als wir uns am nächsten Morgen in der Küche begegneten, gelang es uns, nach einem verlegenen Moment die Befangenheit wegzulachen. Danach fühlte ich mich leichter. Doch dieses Gefühl hielt nicht an, egal, wie oft ich mir sagte, dass es doch nur der gute alte Paul war. Das war er eben nicht mehr.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.