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Bernd Köstering

Falkentod

Ein Literaturkrimi

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1. Auflage 2018

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

unter Verwendung eines Fotos von: © Svitlana Unuchko –istock.com und ©kazy –fotolia.com

ISBN 978-3-7349-9460-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog –
ein Montag im April

Die schlanke, blonde Frau saß mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen in einem Café mit Blick auf den Río de la Plata und las das Argentinische Tageblatt, die einzige deutschsprachige Zeitung in Buenos Aires. Sie blätterte um. »Ist Karin F. aus Deutschland eine Mörderin?«

Ihr Fuß schlug reflexartig gegen das Tischbein, der Kaffee kippte um. Sie griff sich an den Hals, sah sich verstohlen um. Über zehn Jahre hielt sie sich schon in Argentinien versteckt. Sollte alles umsonst gewesen sein?

Montag –
zwölf Tage vor Take-off

Franziska Falke hatte sich im Café Brotzeit ganz hinten an einen Ecktisch gesetzt. Wenn im Sommer draußen an der Richard-Wagner-Straße Sitzgruppen und gelbe Sonnenschirme standen, war das Café auch als solches zu erkennen. Heute, bei dem schmuddeligen Aprilwetter in Offenbach, sah es eher aus wie das Ladengeschäft einer Bäckerei. Nur wenige Kaffeetrinker verirrten sich hierher. Das war Franziska nur recht, denn sie wollte ihre Ruhe haben, eine halbe Stunde wenigstens, mitten im Abiturstress. Sie hatte Virginia Woolfs Werk auf den Knien liegen und meinte, vom dauernden Lernzwang getrieben, noch einmal in das Buch schauen zu müssen, aber bisher hatte sie sich nicht dazu durchringen können. Morgen um 8 Uhr würde es losgehen. Abiturarbeit in Englisch, an den folgenden Tagen dann Deutsch und Mathematik, später eine mündliche Prüfung in Biologie.

Der Kaffee war passabel, der Kuchen gut. Ihre Hände suchten Halt, etwas zu greifen. Eine Zeitung: das BLATT. Ihr Vater würde Ganzkörperausschlag bekommen, wenn er diese »sogenannte Zeitung«, wie er sich auszudrücken pflegte, in die Finger bekäme. Als Deutschlehrer hatte er eine andere Vorstellung von seriösem Journalismus. Franziska betrachtete die Titelseite, ließ ihre Gedanken treiben, ohne wirklich etwas zu lesen, geschweige denn inhaltlich zu verstehen. Die Frau hinter der Theke lächelte. Dann fiel ihr Blick auf eine rote Schlagzeile: »Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?«

Karin F.? Karin Falke? Ihre Mutter, die seit elf Jahren verschwunden war? Nein, das war nicht möglich. Sie wollte das nicht lesen. Und schon gar nicht jetzt. Sie drehte das BLATT um, sodass sie den Artikel nicht mehr sehen konnte. Stattdessen leuchtete ihr nun eine Frau mit blankem Busen entgegen. Einen Moment überlegte sie, die Zeitung in Stücke zu reißen, dann änderte sie ihre Meinung, schielte nach der Frau hinter der Theke – sie bediente gerade einen Kunden –, ließ das BLATT in ihrer Jackentasche verschwinden, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Café.

*

In einem Moment, der nicht wirklich dafür geeignet schien, bemerkte Herbert Falke, dass sich all seine Gefühle auf einen einzigen Menschen konzentrierten.

Es war der Augenblick, in dem er früh am Montagmorgen das Offenbacher Finanzamt betrat. Den Zusammenhang konnte er sich nicht erklären, aber er fuhr fort, über das Problem nachzudenken, denn sicher würde er wieder lange vor dem Zimmer seiner Sachbearbeiterin warten müssen. Gudrun Bender-Berger war die Frau, die für seine Steuerangelegenheiten als Selbstständiger zuständig war.

Auch wenn seine Gefühle mit grenzenloser Liebe verbunden waren und somit grundsätzlich etwas Positives darstellten, bereitete es ihm Sorgen, diesen einen Menschen damit zu überfrachten, zuzudecken, ja sogar zu bedrohen. Seine verstorbene Frau Christel hatte ihm das mehrmals vorgeworfen. Sie hatte sich an solchen Tagen in den Garten geflüchtet. Auch sein Sohn Andreas war geflüchtet, in eine selbst gewählte Isolation. Äußerlich ließ er seinen Vater zwar an sich heran, hatte aber einen emotionalen Grenzzaun gezogen. Das konnte mit den durch seine Frau Karin verursachten inneren Narben zu tun haben. Vor elf Jahren hatte sie ihre Familie verlassen. »Seid mir bitte nicht böse, ich muss los!« Das war alles, was sie auf einem kleinen Zettel hinterlassen hatte. Nach Jahren des Zweifelns hatte Andreas im vergangenen Juli entschieden, seine Frau zu vergessen, aus seinem Gedächtnis zu streichen. Und Herbert wusste, wenn sein Sohn einmal einen Entschluss gefasst hatte, dann war er nur sehr schwer davon abzubringen.

Seine Enkelin Franziska war nicht vor ihm geflüchtet. Sie genoss seine großväterliche Liebe und Fürsorge. Herbert lächelte. Dennoch musste er aufpassen, nicht »übergriffig« zu werden, wie die Jugendlichen das nannten. Viele Jahre lang hatte Franziska nichts über ihre Mutter hören wollen, hatte sich eine sogenannte Muttersperre auferlegt. Doch vor ein paar Monaten hatte Herbert bemerkt, dass sich das Blatt gewendet hatte. Sie benutzte immer häufiger das Wort »Mutter« statt des jahrelang verwendeten Ausdrucks »Erzeugerin«. Herbert hatte seine Enkeltochter an einem ruhigen Januarabend vorsichtig darauf angesprochen. Ja, es stimme, sagte sie damals, sie wolle endlich Klarheit, wie eine erwachsene Frau den Tatsachen ins Auge sehen, wolle wissen, wo ihre Mutter sei und warum sie ihre Familie verlassen habe. Konkrete Maßnahmen hatte Franziska zu dieser Zeit noch nicht vor Augen und wollte sich erst nach dem Abitur Gedanken darüber machen. Die Prüfungsvorbereitungen standen über allem, und Herbert akzeptierte das. Einerseits war ihm natürlich klar, dass eine gute Abiturnote die besten Voraussetzungen für das Erwachsenenleben bot. Anderseits wollte Herbert das Verhältnis zu seinem Sohn Andreas nicht belasten, der – selbst als Lehrer tätig – versuchte, Franziska in dieser Phase von allen Belastungen außerhalb der Schule abzuschirmen.

Direkt nach ihrem Gespräch im Januar hatte sich Herbert Falke fiebernd auf diese neue Aufgabe gestürzt. Er musste nicht bis nach dem Abitur warten, er konnte vorarbeiten und sein Freund Gianni half ihm dabei. Karin Falke zu finden war sein bisher schwierigster Fall.

Eine graue Tür öffnete sich und brachte ihn in die Gegenwart zurück. »Herr Falke?«

Er sah Frau Bender-Berger erstaunt an und warf einen Blick auf die Uhr. Keine Wartezeit. Nicht eine einzige Minute. Er schob die Unterlippe anerkennend vor und erhob sich. »Guten Morgen!«

»Immer noch als Privatdetektiv tätig?«, fragte sie statt einer Begrüßung. Ihr Tonfall ließ Zweifel erkennen, ob man mit solch einem Gewerbe überhaupt Geld verdienen könne.

»Ja«, sagte Herbert Falke. »Und das wird auch so bleiben!«

*

»Papa?«

Es war bereits kurz vor 23 Uhr, im Fernsehen lief ein Fußballspiel. Champions League.

»Ja, Franzi?«

»Du hast mir doch versprochen, dass ich nach dem Abitur eine schöne Reise machen darf.«

Ihr Vater drehte sich um, sah Franziska an und lächelte. Dann nahm er die Fernbedienung und schaltete den Ton aus. »Ja, das habe ich. Und dabei bleibt es auch. Wohin soll’s denn gehen?«

Franziska zögerte. »Na ja, also … ich dachte an New York.«

Lange hatte sie darüber nachgedacht. Immer wieder waren ihre Gedanken um Amerika gekreist, die USA, New York, die großen Seen, San Francisco und Arizona. Aber sie hatte sich nicht getraut, diesen Wunsch zu äußern. Sie wusste, das würde viel Geld kosten, und sie hatten nie teuren Urlaub gemacht, immer an der Nordsee, einmal in Italien. Sie war sich nicht sicher, ob der Verlust des Einkommens ihrer Erzeugerin den Vater vor große Probleme stellte, ob sein Gehalt als Lehrer an der Albert-Schweitzer-Schule für sie beide ausreichte. Sie kannte sich ein wenig aus mit Geld und wusste, wie hoch die Lebenshaltungskosten für eine einzelne Person ungefähr waren, aber sie hatte noch nie einen eigenen Haushalt geführt. Opa Herbert hatte ihr das alles einmal vorgerechnet, eine richtige Einnahmen- und Ausgabenrechnung, da hatte ihr der Kopf gebrummt, und irgendwann hatte sie den Durchblick verloren. Aber die Sehnsucht nach Amerika war größer als ihre Bedenken.

Ihr Vater nickte. »Ist okay!«

»Wie? Also, du meinst …«

»Ja, meine ich. Du hast schon so oft von Amerika geschwärmt, jede Menge Bücher gelesen über New York und den Grand Canyon und so weiter. Ich kenne doch meine Tochter. Und ich habe Geld gespart!«

Franziska kamen fast die Tränen, aber mit 18 Jahren heult man natürlich nicht einfach so drauflos, das ist uncool. Sie umarmte ihren Vater. Endlich! Endlich kam sie raus aus Offenbach, aus dieser Enge, diesen Straßen und Häuserblocks, die sie alle kannte, in- und auswendig. Etwas Neues musste her, etwas Großes!

»Und was ist mit Alex?«, fragte ihr Vater.

Sie riss die Augen auf. »Woher weißt du von Alex?«

Er grinste. »Ich weiß nichts, ich ahne nur. Jedenfalls ist er ein netter Junge, du solltest ihn besuchen. Er ist doch jetzt in New York, oder?«

Sie lachte. »Du hast recht. Und ja … ich werde ihn treffen. Danke, Papa!«

»Kann ich jetzt weiter Fußball schauen?«

»Na ja, da wäre noch etwas.«

»Ja?«

Sie reichte ihm das BLATT. »Schau mal bitte, hier, auf der Titelseite!«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«

»Bitte! Ausnahmsweise.«

Er angelte mit zwei Fingern nach der Zeitung, so als sei sie infektiös. Die rote Schlagzeile war nicht zu übersehen: »Ist Karin F. aus Offenbach eine Mörderin?«

Er ließ das BLATT fallen und schaltete den Ton wieder ein, ohne Franziska anzusehen. »Du weißt, dass ich mit dem Thema Karin abgeschlossen habe.«

»Ich weiß, aber …«

»Was ist los, Franzi? Jahrelang hast du dir selbst eine Muttersperre verordnet, und jetzt?«

»Das stimmt, ich … also, ich will ja nur endlich wissen, warum sie einfach abgehauen ist und ob das etwas mit mir zu tun hat.«

»Wie kommst du denn auf die Idee, es könnte etwas mit dir zu tun haben?«

Franziska hob ihre Stimme, sie musste gegen die Fußballfans und ihre eigene Angespanntheit anreden. »Ach tatsächlich? Bisher hast du immer gesagt, du kennst den Grund nicht!«

»Stimmt ja auch, ich kenne ihn nicht. Aber es lag garantiert nicht an dir.«

»Okay, ich will es aber trotzdem wissen!«

Er wandte seinen Blick wieder zum Fernseher. »Na gut. Das hat aber Zeit bis nach den Abiturprüfungen. Und ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Selbst wenn sie eine Mörderin sein sollte. Mir egal.«

Der Lärm aus dem Fernseher schwoll erneut an. Tor. Soweit Franziska erkennen konnte, war es ein Eigentor. »Ich gehe ins Bett, morgen schreiben wir Englisch.«

Ihr Vater nickte.