Der Siebenschläfer

Der Siebenschläfer

Dagmar Formann

Für dich, Papa.

Inhalt

1. Kapitel 1

2. Kapitel 2

3. Kapitel 3

4. Kapitel 4

5. Kapitel 5

6. Kapitel 6

7. Kapitel 7

8. Kapitel 8

9. Kapitel 9

10. Kapitel 10

11. Kapitel 11

12. Kapitel 12

13. Kapitel 13

14. Kapitel 14

15. Kapitel 15

16. Kapitel 16

17. Kapitel 17

18. Kapitel 18

19. Kapitel 19

20. Kapitel 20

21. Kapitel 21

1

Kapitel 1

Der Doktor wohnt auf Stiege 13.

Er war vor vielen Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in den Gemeindebau am Rand der Stadt gezogen, um hier zu leben und zu arbeiten.

»Facharzt für Kinderheilkunde«, stand auf dem Messingschild, das damals neben dem Haustor glänzte.

Die Wohnung war im ersten Stock, die Praxis gleich daneben. Zwei Wartezimmer und ein Untersuchungsraum. Eine blitzblanke Ordination, in der es nach Pfefferminz und Bodenwachs, Sterilium und Kampfer roch. Der Schreibtisch des Herrn Doktor war immer aufgeräumt, die Kartei stets auf den letzten Stand gebracht. Das Säckchen mit den Süßigkeiten für tapfere Patienten war niemals leer. Die Heilmittel im Ärzteschrank waren sorgfältig gestapelt und geschlichtet. Die Instrumente blitzten. Selbst in der Abstellkammer herrschte Ordnung. Der Doktor liebte seine Ordnung. Sie gab ihm ein Gefühl von Sicherheit.

Dreißig Jahre lang sollte er die Praxis zur Mittagszeit für seine Patienten öffnen und erst spätabends wieder schließen. Den Mittwoch hielt er sich nach Maßgabe der Möglichkeiten frei. Zweimal im Jahr machte er Urlaub. Sperrtage aus Krankheitsgründen gab es nicht.

Der Doktor war kein Arzt aus Leidenschaft, doch er war pflichtbewusst und sehr gewissenhaft, fleißig und korrekt. Seine Umgangsformen waren herb. Er war nicht unbedingt beliebt, doch angesehen, bisweilen umschwärmt und von den meisten seiner kleinen Patienten tief ins Herz geschlossen.

Er sollte nie Karriere machen. Hohe Ämter, leitende Funktionen strebte er nicht an. Er schrieb kein Buch, hielt keine Vorträge, widmete sich nicht der Wissenschaft und Forschung. Er scheute öffentliche Auftritte, fühlte sich wohler im Abseits. Er brachte es nie zu Ruhm und Ehren, machte sich keinen großen Namen. Doch er war ein guter Arzt. Einer, der wirklich helfen wollte.

Die Ordination war für den Doktor jahrzehntelanger Lebensmittelpunkt. Sie war sein Reich. Dort herrschte er. Dort hatte er das Sagen. Sie war aber auch ein Ort der Enge und Kleinheit, an dem er manchmal wie gefangen saß, ausgeliefert seinen Ängsten, Zweifeln und Gewissensnöten. Angst hatte er oft und immer schon. Angst vor den Menschen, vor sich selbst und vor dem großen, rätselhaften, bedrohten und bedrohlichen Leben.

Über die Jahre gingen zahllose Kinder allen Alters auf Stiege 13 ein und aus. Getrappel, Geplapper, Lachen, Weinen, Lärmen. Kinderwagenchaos im Treppenhaus, überfüllte Warteräume, schreiende Säuglinge, besorgte Mütter, das enervierende Telefon. All der Trubel war nicht im Sinne des Herrn Doktor, denn der liebte eigentlich die Stille. Ganz besonders liebte er die Stille.

Inzwischen ist es tatsächlich ruhig geworden um ihn her.

Die Töchter haben die elterliche Wohnung längst verlassen. In den Räumen der ehemaligen Ordination wohnt ein junges Paar aus Serbien. Der pensionierte Doktor lebt allein mit seiner Frau hinter der einbruchsicheren Tür mit dem Spion. Nichts ist mehr wie früher. Nur das Namensschild, auf dem in blass gewordenen Buchstaben das Wort »Medizinalrat« steht, verweist auf jene Zeit, in der er noch ein Mann von Ansehen und Bedeutung war.

Seit drei Jahren bewohnt der Doktor nur noch das Balkonzimmer. Dort steht sein Krankenbett. Es hat hochziehbare Seitenteile, ein durch Knopfdruck verstellbares Kopf- und Fußende, eine Spezialmatratze, die das Wundliegen verhindern soll, und einen Galgen, von dem ein trapezförmiger Griff und ein elektrischer Signalruf baumeln. Die beiden Tischchen rechts und links vom Bett sind mit Pillen, Salben, Tropfen und Tinkturen beladen. Jede Dose, jede Tube hat ihren exakten Platz. Andere wichtige Dinge wie Blutdruckmesser, Taschenlampe, Handspiegel und Nagelfeile, Wattestäbchen, Kamm, Brillenetui und massenhaft Papiertaschentücher befinden sich auf dem eigens unterhalb der Tischplatte angebrachten Ablagebrett. Am Bettgestänge befestigt der Doktor seinen Harnbeutel aus transparentem Kunststoff und sein altes Fernglas.

Der Raum ist eng, meist überheizt und stickig, und vollgeräumt mit Möbeln, Pflegeutensilien und sogenannten ›schönen Dingen‹.

Vis à vis vom Krankenbett baut sich ein monströser Wandverbau aus weißem Schleiflack auf. Er reicht bis an die Decke. Unmengen von Zeug lagern dort hinter verschlossenen Türen. Viel weggesperrte Vergangenheit und ein Fernsehgerät, das kaum noch eingeschaltet wird.

Rechts vom Bett steht eine Lampe und daneben ein Fauteuil. Auf seiner Sitzfläche liegt stapelweise Lesestoff. Heilmittelverzeichnisse und Fachzeitschriften, Tier- und Pflanzenführer und obenauf ein zerfleddertes Buch über den Krieg. Betteinlagen, Windelhosen und Klistiere sind in Plastiksäcken und Kartons unter dem Fauteuil verstaut.

Die Bücherwand neben der Tür quillt über. Zwischen Weltliteratur, die niemand mehr liest, verbirgt sich eine Spenderbox mit hautfreundlichem Feuchtklopapier. Der mobile Leibstuhl in der Ecke ist raffiniert getarnt. An seiner Rückenlehne hängt ein Stoffsack, vollgestopft mit Socken aus Frottee.

Vor der Balkontür steht ein geblümtes Sofa, Lagerplatz für Kissen, Kleidungsstücke, Decken, Handtücher und Laken. Dahinter lehnt versteckt und staubig der Klapprollstuhl.

Spitzendeckchen, Plüschtiere, üppig bunte Seidenblumen­arrangements und Aquarelle, von der Frau des Doktors selbst gemalt, dekorieren den Raum. Doch in der Krankenzimmerlandschaft wirken diese Dinge wie Zuckerguss auf ranzigem Gebäck. Es lässt sich hier in Wahrheit nichts behübschen. Die Wirklichkeit beherrscht das Feld. Und die ist denkbar trist.

2

Kapitel 2

Mutter!«

Der Doktor wartet. Es bleibt still. Hat sie ihn nicht gehört?

Er drückt auf den Signalknopf des Elektrogongs über seinem Bett.

Ding-dong, ding-dong!

»Mutter!«, ruft er noch einmal, so laut er kann, und diesmal mit Erfolg.

»Was ist denn los?«, fragt die Frau des Doktors, als sie ins Krankenzimmer tritt. »Hast du mich gerufen

»Ja, hab ich. Seit zehn Minuten schrei ich mir die Seele aus dem Leib

»Was willst du denn

»Massier mir meine Füße. Ich fleh dich an! Ich halte dieses Brennen nicht mehr aus

»Wie bitte? Was sagst du

Die Frau des Doktors will ihre Hörgeräte nicht verwenden.

»Die Füße. Bitte creme mir die Füße ein. Die kleine, violette Tube dort neben den Augentropfen

Er artikuliert jetzt undeutlich und leise. Das Sprechen strengt ihn an. Wortlos krempelt sich die Frau des Doktors ihre Ärmel auf und schlägt die Decke hoch. Was sie soeben tut, hat sie davor schon hundert Mal getan. Sie beugt sich über das Gestänge am Fußende des Bettes und ergreift das dünne Bein, das man ihr erwartungsvoll entgegenstreckt. Sie zieht den Socken ab, cremt und massiert den Fuß und zieht den Socken wieder über. Dann schnappt sie sich das andere Bein.

Der Doktor heftet seinen Blick auf seine Frau. Er fühlt, es ist kein Liebesdienst, den sie ihm hier erweist. Es ist Routine. Ihre Hände sind eher zupackend als sanft anfassend, mehr flüchtend als verweilend. Doch es sind vertraute, warme Hände, und er schließt die Augen.

›Gut‹, denkt er. ›Wie gut das tut.‹

Er spürt Erleichterung, Entspannung. Kostbare Augenblicke wohligen Befindens. Die anästhesierende Salbe vertreibt im Nu das Brennen aus den Füßen, dämpft ihm den quälend heißen Nervenschmerz, der ihn aushöhlt und mürbe macht, der ihm bei Tag die Lebensfreude nimmt und nachts das Schlafen boykottiert.

»So. Brauchst du noch etwas

»Nein, danke«, flüstert er.

Sie verlässt das Krankenzimmer, und er bleibt allein. Er hätte gerne noch mehr gehabt von ihr und ihren Händen …

Er öffnet seine Augen. Die weiße Schleiflackwand ihm gegenüber glotzt ihn an. Stupide, feindselig und kalt steht sie und glotzt. Er hasst die immergleiche weiße Fläche vor den Augen. Große und kleine, quadratische und rechteckige Vierecke, versehen mit Schlüsseln und Griffen aus Messing. Was für ein Anblick! Tagein, tagaus das gleiche Bild. Man könnte den Verstand verlieren.

Der Doktor ist nicht gerne allein. Er denkt an seine Frau. Sie sollte bei ihm sein. An seinem Bett. Sie sollte ihn anhören, ansehen und anfassen. Öfter, länger und anders, als sie es tut.

Er lauscht hinaus in die Stille der angrenzenden Räume und lauert auf ein Geräusch, das ihm ihre Nähe verraten würde.

Da hört er ihre Stimme. Sie telefoniert schon wieder! Warum, zum Teufel, macht sie das immer in der Küche? Sie hat ein Schnurlostelefon! Sie könnte doch genauso gut bei ihm im Zimmer bleiben und hier ihre Gespräche führen. Er versucht herauszufinden, mit wem sie sich da draußen unterhält, indem er ihren Tonfall interpretiert, ihr Lachen deutet, die Längen ihrer Sprechpausen prüft und das Ausmaß ihres Mitteilungsbedürfnisses analysiert.

Bestimmt redet sie jetzt auch von ihm. Sie wird sich über ihn beklagen, wie schon so oft. Sie wird erzählen, dass sie es schwer hat neben ihm. Dass er sie ständig braucht, bei Tag und Nacht, und das seit Jahren. Man wird ihr voller Mitleid zuhören, sie trösten und bedauern. Die Ärmste! Nach ihm fragt sicher niemand. Wer interessiert sich schon für ihn?

Missstimmung macht sich in ihm breit. Er schaut auf seine Uhr. Sie telefoniert seit einer Viertelstunde. Was das kostet! Ihm hat sie nie so viel zu sagen wie all den Leuten dort am Telefon.

Er tastet nach der Wasserflasche. Sie steht seit Neuestem in einem weißen Plastikeimer neben seinem Bett. So soll verhindert werden, dass sie umfällt, ausrinnt und sich Wasserflecken auf dem Teppichboden bilden, sollte er in seiner Unbeholfenheit dagegen stoßen. Sein Trinkwasser im Plastik­eimer! Eine aus ›Umsichtigkeit‹ geborene Schikane seiner Frau.

Er dehnt und streckt sich nach der Flasche. Nach langem Mühen bekommt er sie zu fassen, führt sie zittrig an den Mund und spürt im gleichen Augenblick, wie ein Gerinnsel kalt sein Kinn und seinen Hals entlangläuft. Er setzt die Flasche ab und ringt nach Luft. Die Pyjamajacke ist durchnässt. Der Stoff am Halsausschnitt klebt ihm nasskalt auf der Haut. Verdammt! Sein Missgeschick treibt ihm die Hitze ins Gesicht.

»Mutter!«

Sie lacht laut auf am Telefon, da draußen in der Küche, und er spürt seine Wut. Ding-dong! Ding-dong, ding-dong!

»Also leb wohl. Wir telefonieren wieder«, hört er sie sagen. Dann steht sie neben seinem Bett.

»Du meine Güte!«, ruft sie aus. »Du bist ja nass. Was ist denn da wieder passiert

Sie nimmt ihm seine Wasserflasche aus der Hand.

Er schickt ihr einen scharfen Blick.

»Ich habe Durst! Mit wem hast du so lange telefoniert? Kein Mensch kümmert sich hier um mich

Seine Empörung lässt ihn laut und deutlich sprechen.

»Tröpfel mir die Nase ein. Merkst du denn nicht, dass ich kaum Luft bekomme

Er schnauft und schnaubt, um ihr zu zeigen, wie es um ihn steht.

Die Vorführung ist überzeugend. Sie senkt das Kopfende des Bettes per Knopfdruck ab, sodass der Doktor flach zu liegen kommt. Dann führt sie die Pipette mit den Tropfen in die Nase ein. Erst rechts, dann links, etwas zu tief, ein wenig fahrig.

»Au!«, protestiert er lautstark.

Er entwendet ihr das Fläschchen und probiert, sich selbst zu helfen. Während er mit der Pipette seinen Naseneingang sucht, rinnt aus der kleinen, in Schräglage geratenen Glasflasche Öl auf sein Schlafgewand.

»Großartig!«, ruft die Frau des Doktors. »Jetzt müssen wir dich umziehen

Sie schält ihn aus dem nassen, fettfleckigen Ding, das noch vor Kurzem eine saubere Pyjamajacke war.

»Komm, setz dich auf. Nein, nicht zur Seite kippen. Streck die Arme hoch. Heb deinen Kopf …«

Zwischen den Kommandos stöhnt und seufzt sie immer wieder. Es ist Schwerarbeit, den Mann in seinem Bett zu heben und zu stützen. Er ist so starr und steif, so ungelenk und gliederlahm. Sie spürt ihr Kreuz, die rechte Schulter schmerzt, Schweißperlen bilden sich an ihrer Oberlippe.

»So hilf doch auch ein bisschen mit«, klagt sie.

»Ich kann nicht«, wimmert er.

Er steckt im engen Halsausschnitt der neuen Pyjamajacke fest und stochert blind mit seinen Händen nach den Ärmellöchern. Sie zieht und zerrt an ihm, und er stößt wilde Flüche aus.

Dann, irgendwann, ist die Aktion beendet. Beide sind erschöpft, aber der Doktor ist noch nicht wunschlos glücklich.

»Kratzt du mir bitte meinen Rücken?«, fragt er seine Frau. »Der verdammte Juckreiz bringt mich zur Verzweiflung

Er greift nach seinem Galgen und hält ihn fest umklammert, während sie kratzt.

»Weiter oben. Weiter links. Weiter unten. Nicht so fest …«

»So, jetzt ist Schluss«, sagt sie nach einer Weile. »Ich kann nicht mehr

Der Doktor lässt sich ermattet in die Kissen fallen.

»Ich brauche andere Socken«, erklärt er ihr Sekunden später.

Er reibt die Füße aneinander.

»Die hier sind eng und kratzig. Die scheuern auf der Haut wie Sandpapier

Sie wühlt nervös im Sockensäckchen, hält ein Paar nach dem anderen hoch, hört immer wieder »Nein, die nicht«, bis endlich etwas Passendes gefunden ist.

»Die willst du wirklich haben?«, fragt sie ungläubig. »Schau dir die an, die sind uralt

Sie zeigt auf die verschlissenen Fersenteile und auf den schlappen Gummizug.

»Ja, die«, bestätigt ihr der Doktor. »Genau die will ich. Die sind mir immer noch am allerliebsten

Sie wechselt seine Socken.

»Jetzt gib mir bitte die Tablette«, sagt er mit leiser Stimme.

»Wie bitte

Er winkt sie nah zu sich heran.

»Meine Tablette, bitte«, flüstert er ihr zu.

»Welche Tablette

»Du weißt schon

Oh ja, sie weiß Bescheid.

»Ich geb dir eine halbe«, sagt sie. »Du hattest heute bereits drei davon

Die Frau des Doktors geht und kommt mit einer halben Schlaftablette ans Krankenbett zurück. Er steckt das Krümelchen in seinen Mund und lässt es auf der Zunge schmelzen. Dann dreht er seinen Kopf zur Seite. Er schaut durch die Balkontür in die Krone der Platane vor dem Haus. Die Blätter tanzen dort im Wind. Die Sonne zaubert Lichtspiele ins Geäst. Ein Anblick, den er liebt, doch es kommt Wehmut auf.

Der Baum da draußen ist das letzte Stück Natur, das ihm geblieben ist. Nach all der Fülle lang vergangener Jahre nur noch der eine Baum.

Der Doktor atmet schwer, und irgendwann schließt er die Augen. Er fühlt die Spannung langsam aus dem Körper weichen. Die Chemie entfaltet gnädig ihre Wirkung. Sie nimmt den quälenden Gedanken ihre Schärfe, macht sie mild und flüchtig und vertreibt das Denken schließlich ganz.

3

Kapitel 3

Der Auwald trägt Septemberfarben.

Der Doktor wandert auf einsamen, vertrauten Wegen. Er geht über Laubteppiche und sumpfige Wiesen, vorüber an der Lichtung mit den Silberpappeln und den alten Weiden. Das Federgras wogt elegant im Wind, die dichten Hecken aus wilden Rosen und Sanddorn tragen leuchtend rote Früchte. Der Wassertümpel liegt wie ein dunkles Auge tief im Wald. Dort gleitet eine Natter lautlos über Steine, die Krabbenspinne wippt in ihrem Netz, eine Libelle schnarrt blau schillernd durch die Luft. Am Tümpel wohnen Unken, Kröten, Salamander. Kleine, scheue Ungeheuer, aber dem Doktor sind sie wohl vertraut. Er liebt die Au mit all ihren Geschöpfen.

Jetzt kommt er an den großen Steindamm. Es ist ganz still, nur das Schilf rauscht sanft im Wind. Er bleibt stehen und betrachtet die Umgebung durch sein Fernglas. Auf einer Schotterbank steht regungslos ein Reiher, ein Teichhuhn paddelt auf dem Wasser, im Röhricht duckt sich eine Schnepfe und hoch oben zieht der Schwarze Milan seine Kreise. Plötzlich hält der Doktor inne. Eine dunkle, wabernde Wolke steigt aus dem Ufer­dickicht und surrt über das Wasser auf ihn zu. Innerhalb weniger Augenblicke ist er eingeschlossen in einen dichten Schwarm von Mücken. Die winzigen Insekten kleben sekundenschnell an seinen Wimpern, seinen Lippen, seiner Haut. Sie verfangen sich in seinen Haaren, schwirren ihm in den Ohren, krabbeln unter seine Kleidung. Er schlägt um sich, versucht, die Mücken abzuwehren. Sie stechen ihn. Es juckt. Er kratzt …

»Seit wann plagt Ihren Mann der Juckreiz?«, fragt der Hausarzt.

»Sie wissen doch, das kommt und geht«, antwortet die Frau des Doktors. »Zur Zeit ist es besonders arg. Da, selbst im Schlaf kratzt er sich bis aufs Blut

Während der Hausarzt die wunden Stellen an Armen und Beinen seines Patienten betrachtet, öffnet der Doktor die Augen einen Spalt breit und murmelt vor sich hin:

»Verdammte Viecher … Jetzt ist er fort … Der Milan ist verschwunden

Ganz allmählich erst erkennt er, wie hinter Nebeln, seinen Arzt am Krankenbett. Schlaftrunken flüstert er:

»Ich bin gewandert … meine Füße … ein unbeschreibliches Gefühl …«

»Ich habe mir inzwischen Ihre Wunden angesehen. Die sehen schrecklich aus. Die Haut ist ausgetrocknet. Trinken Sie genug

Langsam wird der Doktor wach. Er hebt den Kopf ein wenig aus den Kissen und ergreift die Hand des Arztes.

»Kennen Sie die Au

Der Hausarzt schüttelt seinen Kopf.

»Ein Paradies! Wir waren früher an fast jedem Wochenende dort

Er blickt kurz hin zu seiner Frau. Die nickt und lächelt.

»Zwanzig Jahre lang und mehr, an fast jedem Wochenende. Zu jeder Jahreszeit. Bei jedem Wetter

Er reibt sich seine Augen.

»Ich hab die Au gekannt wie meine Westentasche. Jede Blume, jeden Vogel konnte ich bestimmen. Kleiber, Stieglitz, Goldammer … Wissen Sie, wie der Pirol ruft? Kennen Sie das Lied der Nachtigall

Schweigen füllt den Raum.

»Das ist vorbei. Alles aus. Ich sehe die Au nie wieder

»Sie dürfen nicht so pessimistisch sein«, versucht der Hausarzt zu beschwichtigen und tätschelt die Hand, die die seine immer noch umklammert hält.

Augenblicklich entzieht sie ihm der Doktor. Er lässt die Schultern sinken.

»Ich soll nicht pessimistisch sein? Das sagen ausgerechnet Sie? Sie kennen doch meine Befunde

Er greift nach dem trapezförmigen Griff über seinem Bett, um sich daran hochzuziehen, aber er schafft es nicht.

»Ich bin ein Wrack. Wissen Sie, wohin mich meine Wanderungen heute führen? An guten Tagen ins Zimmer nebenan! Und selbst für die zehn Meter brauche ich Hilfe. Nach ein paar Schritten wird mir übel, die Füße brennen wie die Hölle, und ich habe Angst, die Beine könnten mir versagen

Er spricht aufgeregt und kurzatmig.

»Dann sitze ich endlich draußen, bin erschöpft und ringe nach Luft. Der Rücken schmerzt. Die Hüften fangen an zu stechen. Die Muskeln an den Beinen krampfen, und es graut mir vor dem Weg zurück ins Bett

Er nickt dem Hausarzt zu.

»Gelungener Ausflug, was! Kein Grund zum Trübsal­blasen, oder?!«

Er wendet seine Blicke ab.

»Der Mann hat keine Ahnung«, sagt er kopfschüttelnd wie zu sich selbst.

Dann versucht er noch einmal, sich im Bett ein wenig aufzurichten. Es gelingt ihm nicht.

»So hilf mir doch!«, wendet er sich aufgebracht an seine Frau, die mittlerweile, ein wenig verlegen, begonnen hat, das Medikamententischchen aufzuräumen. »Und lass das hier alles, wie es ist! Du bringst mir meine Ordnung durcheinander

Während sie bemüht ist, ihn im Bett ein Stück in Richtung Kopfende zu rücken, bezieht der Hausarzt am Fußende des Krankenlagers Stellung. Dort steht er immer, wenn er Eindruck machen möchte, und allem Anschein nach ist es wieder einmal so weit.

›Oh nein! Nicht jetzt‹, beschwört der Doktor in Gedanken seinen Arzt und fixiert ihn grimmig, mit bannendem Blick, als wolle er ihn so zum Schweigen zwingen. Doch die Magie versagt. Der Arzt beginnt, ganz unbeeindruckt, seine Rede:

»Herr Kollege«, eröffnet er wie immer, wenn er Wichtiges zu sagen hat. »Herr Kollege, betrachten wir doch endlich mal die Dinge, wie sie wirklich sind. Dass Sie seinerzeit von einer Wirbelsäulenoperation nichts wissen wollten, konnte ich gut nachvollziehen. Der wochenlange Aufenthalt im Krankenhaus, das Gipskorsett, das hohe Risiko der Operation und wenig Aussicht auf Erfolg. Ich hab Ihre Entscheidung damals absolut verstanden. Aber war denn der Rückzug in das Bett wirklich die einzige Alternative

»Wollen Sie behaupten, ich läge grundlos hier herum?«, fährt der Doktor herb dazwischen. »Unterstellen Sie mir am Ende Hypochondrie?!« Er hebt mahnend seinen Zeigefinger. »Überlegen Sie sich gut, was Sie da sagen

»Ach was! Sie brauchen Therapie, das will ich sagen. Heilgymnastik, physikalische Behandlung, Massagen, was weiß ich. Das würde Sie schon wieder auf die Beine bringen

Der Doktor macht nervöse, abweisende Handbewegungen in die Richtung seines Arztes.

»Kommen Sie mir ja nicht damit. Nicht schon wieder. Ich hatte sechzig Stunden Physiotherapie. Sechzig Stunden Quälerei ohne jeglichen Erfolg. Ich habe es satt …«

»Ich weiß, Sie haben es satt, sich schikanieren zu lassen. Ich kenne Ihre Argumente: Die Therapeuten sind saugrob, die Übungen für nichts und wieder nichts, alles Zeit- und Geldverschwendung … Fadenscheinige Ausreden, Kollege! Wenn Sie mich fragen …«

»Ich frag Sie aber nicht

In den Augen des Doktors blitzt Feindseligkeit.

»Ersparen Sie mir die Zwangsbeglückung«, herrscht er den Hausarzt an. »Es ist doch jedes Mal das Gleiche, wenn Sie mich besuchen. Sie sehen mich hier liegen, stellen Ihre Diagnosen und quälen mich mit Therapievorschlägen. Vorgeschobener Eifer und Wichtigtuerei! In Wahrheit sind Sie ganz genau so hilflos wie ich selbst. Wir wissen beide, dass mir nicht zu helfen ist. Lassen wir es doch dabei

»Ach kommen Sie, was soll denn diese Resignation und all das Selbstmitleid? Nehmen Sie Ihr Schicksal in die Hand. Raus aus dem Bett! Tun Sie etwas! Sie haben längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Sie waren doch Sportler! Ski fahren, Bergsteigen, Leichtathletik. Wo bleibt Ihr Trainingsgeist? Ihr Ehrgeiz? Was ist los mit Ihnen

Der Doktor presst die Lippen aufeinander, als müsse er den Schmerz verbeißen.

»Benützen Sie doch wenigstens den Rollstuhl«, setzt der Hausarzt unbeirrbar fort. »Der lehnt seit einem halben Jahr hier hinter dieser Bank. Ein hochmodernes, sündteures Gerät. Klein, leicht und wendig. Damit könnten Sie in Ihrer Au spazieren fahren und die Natur genießen

Die Blicke des Doktors flüchten hinaus in das Astwerk der Platane.

Der Hausarzt hat sich warm geredet. Jetzt streicht er sich mit allen fünf Fingern durch das Haar und hebt dann an zum wortgewaltigen Finale:

»Ich werde Ihnen etwas sagen: Ich hab schon lange Zeit den Eindruck, dass Sie sich gar nicht helfen lassen wollen. Aus welchem Grund auch immer, Ihr Zustand darf sich offenbar nicht bessern. Sie kultivieren Ihr Leid! Nehmen Sie nur Ihre Schüttellähmung, das zweite Übel, das Sie quält …«

»Schüttellähmung! Lächerlich!«, knurrt der Doktor, ohne seinen Blick zu wenden. »›Morbus Parkinson‹ heißt das. Noch verstehe ich die Fachsprache der Medizin

»Na schön, die Parkinsonerkrankung, wenn Sie so wollen. Sie ist, das wissen Sie genau, seit Langem unbehandelt, weil Sie behaupten, das Medikament nicht zu vertragen, das der Neurologe Ihnen angeboten hat. Es hat bisher all meinen Patienten gut getan, nur Ihnen wird von den Tabletten schlecht. Sie lehnen alles ab, was helfen könnte. Auch das Antidepressivum, das ich Ihnen gern verschreiben würde …«

Da zuckt der Doktor plötzlich hoch, so wie ein Tier, das sich zu lang hat reizen lassen.

»Schluss jetzt!«, zischt er den Arzt respektlos an. »Schluss mit den Belehrungen! Ich höre mir den Schwachsinn nicht mehr länger an. Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben keine Ahnung! Sie haben sich in all den Jahren noch keine fünf Minuten mit mir und meinem ›Zustand‹ wirklich abgegeben. Verschreiben Sie mir meine Schlaftabletten, ein schmerzstillendes Medikament, irgendetwas gegen den verfluchten Juckreiz, und lassen Sie mich dann allein

Der Hausarzt, eben noch eloquent und gestenreich, steht jetzt stumm am Fußende des Krankenbettes. Er kennt die Art seines Patienten, frei von der Leber weg zu sagen, was er denkt, hat dessen rüde Ausdrucksweise und ungebührliche Manieren bereits des Öfteren erlebt, und trotzdem – er zeigt immer noch Wirkung, wenn der alte Mann sein Gift versprüht.

»Ach, machen Sie doch, was Sie wollen«, wirft er, als er seine Fassung wieder hat, dem Doktor hin, zückt seinen Block und schreibt.

Dann sagt er, mehr zu sich selbst als sonst zu jemandem: »Derartigen Starrsinn habe ich noch nie erlebt. So kann das hier nicht weitergehen. Der Mann gehört ins Krankenhaus. Dort hat man andere Möglichkeiten …«

Und wieder fährt der Doktor hoch:

»Ins Krankenhaus? Nie wieder!! Hören Sie, es reicht endgültig! Sie geben mir jetzt die Rezepte und lassen mir dann endlich meine Ruh

Als er Minuten später die Zettelchen in Händen hält und sich bedankt, klingt seine Stimme milder.

»Wir reden weiter in vier Wochen«, sagt er. »Nach Ihrer Rückkehr aus der Südsee

»Indischer Ozean«, korrigiert ihn vorsichtig die Ehefrau. »Er segelt über den Indischen Ozean

»Aha. Soso. Du bist ja bestens informiert

Der Doktor ist gleich wieder irritiert, wirft prüfende Blicke nach seinem Arzt und seiner Frau und schüttelt ärgerlich den Kopf. Dann streckt er unvermittelt dem Kollegen die Hand zum Abschied hin, zieht sie jedoch, noch ehe der sie hätte fassen können, wieder zurück und sagt:

»Also, auf Wiedersehen und Schiff ahoi. Schönen Urlaub in der Südsee, im Pazifik oder wo auch immer. Und saufen Sie mir ja nicht ab mit Ihrer Luxusjacht. Es kann schon sein, dass ich Sie irgendwann nochmal für irgendetwas brauche

Als dann der Arzt, kopfschüttelnd und einen Gruß hinbrummend, aus dem Zimmer geht, beginnt der Doktor augenblicklich, sein Medikamententischchen abzusuchen. Zum Glück findet er rasch, was er jetzt dringend braucht, denn sie steht fix an ihrem Platz, die etikettenlose weiße Dose mit der handgekritzelten Aufschrift »SCH« – für Schlaf.