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Silvia Stolzenburg

Der Than von Cawdor

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Edition Aglaia, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2017

Lektorat: Dorothée Engel, Hamburg

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-080-8

www.bookspot.de

Widmung

Für Effan, der nie aufgehört hat, daran zu glauben, dass es nach dem ersten Schritt weitergeht.

Vorbemerkung der Autorin

Dies ist eine Geschichte über Macht, Verrat und Gewalt, die Geschichte eines Reiches, das im Dunkeln versinkt – kein Liebesroman. Wer Schwierigkeiten mit drastischen Szenen hat, dem sei vom Lesen abzuraten.

Liste der wichtigsten Akteure:

Mac Bethad: Than von Glamis, Than von Cawdor, König von Schottland

Gruoch: Seine Gemahlin

Beornwyn: Seine Geliebte

Duncan: Sohn eines Lairds

Gwynn: Eine Hofdame

Màiri: Eine Hofdame, Gwynns Vertraute

Gareth: Ein Jungritter

Effric: Ein Knappe

Leofric: Ein Novize

Banquo: Than von Lochaber und ein schottischer Heerführer

Fleance: Banquos Sohn

König Duncan: König von Schottland

Donalbain, Malcolm: Seine Söhne

MacDuff, Rosse, Angus, Lennox: Schottische Thane

König Edward: König von England

Earl von Siward: Englischer Heerführer, Bruder von König Duncan, Herzog von Northumberland

Drei Hexen

Kapitel 1

Schottland, eine Ebene in der Nähe von Fife, Oktober 1040

Duncan fror. Zitternd zog er sich den Wollmantel enger um die Schultern, dennoch kroch die feuchte Kälte des Oktobermorgens unaufhaltsam an ihm empor. Er kauerte mit dem Rücken am Stamm einer uralten Eiche. Immer wieder segelten tote Blätter zu Boden. Mit jedem Augenblick, der verstrich, schienen seine Glieder steifer zu werden, seine Hände klammer. Eine Verwünschung murmelnd verlagerte er die Stellung und sah dabei zu, wie sich sein Atem in kleine Dampfwolken verwandelte. Der Geruch feuchter Erde stach ihm in die Nase und vermischte sich mit dem Gestank des riesigen Lagers. Vor einigen Stunden hatte es begonnen, zu regnen, doch inzwischen nieselte es kaum noch. Der von den ersten schwachen Strahlen der Morgendämmerung blutrot gefärbte Himmel war mit schweren, bleigrauen Wolken verhangen. Ein schneidender Ostwind trug die Schreie von Möwen ins Lager. Sonst wurde die schläfrige Stille nur vom gelegentlichen Schnauben eines Schlachtrosses oder dem Huschen von Ratten unterbrochen. Duncan wollte gerade die Hände in den Taschen vergraben, als ihn ein Geräusch hinter seinem Rücken zusammenfahren ließ.

Was war das? Angespannt tastete er nach dem Kurzschwert an seinem Gürtel. Wer auch immer hinter ihm durch die Büsche schlich, würde es bereuen. Sein Herz schlug so heftig, dass er fürchtete, der Feind könnte es hören. Geduckt, zum Angriff bereit, tastete er sich hinter der Eiche hervor, um den Eindringling zu Fall zu bringen. Er machte gerade Anstalten, auf ein Dornengebüsch zuzukriechen, als er ein leises Plätschern und ein erleichtertes Stöhnen vernahm. Ein knatternder Furz folgte, dann stapften Schritte durch den Schlamm. Vor Erleichterung hätte Duncan um ein Haar seine Waffe fallen lassen. Röte schoss ihm in die Wangen.

Was bist du nur für ein Narr, schalt er sich und zog sich wieder unter das lichte Laubdach des Baumes zurück. Es dauerte nicht lange, bis er einen Hünen in einem Kettenhemd erspähte. Dieser trottete in einiger Entfernung an ihm vorbei und verschwand in einem Zelt, dessen Leinwand vor Dreck starrte. Duncan sah ihm nach, ehe er sich schließlich aufrappelte und kleine Zweige und Blätter aus seinem Umhang klopfte.

Es war Zeit, das Frühstück für seinen Herrn zu bereiten. Wenn der Than nach ihm rufen musste, würde er ihm sicher wieder das Fell gerben. Er reckte sich und scheuchte dabei eine Ratte auf. Diese hatte sich offenbar an einem Häuflein Erbrochenem in der Nähe eines Gebüsches gütlich getan.

»Verschwinde«, zischte er, hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit aller Kraft in Richtung des Tieres, das sich mit einem Quieken hinter einen Holzeimer flüchtete. Verfehlt! Nicht einmal einer Ratte konnte er etwas zuleide tun. Er biss die Zähne zusammen, als die wohlbekannte Bitterkeit in ihm aufsteigen wollte. Warum hatte ihn sein Vater nicht in den Dienst eines anderen Thans gestellt? Wütend trat er nach einer Eichel, die jedoch im Schlamm stecken blieb. Hätte das etwas geändert? Wäre er als Knappe eines anderen Herrn nicht in genau derselben Lage? Er sah sich in dem riesigen Feldlager um und schüttelte den Kopf. Nichts wäre anders! Selbst im Dienst seines eigenen Vaters wäre er heute an keinem anderen Ort als an diesem. Duncan seufzte. Als er daran dachte, was der Tag bringen würde, zog sich sein Magen zusammen.

Nachdem die Nordmänner in alle Teile des Landes eingefallen waren, hatte der schottische König seine Thane und Lairds zum Kampf aufgerufen. Viele Niederlagen hatten sie in den vergangenen Monaten hinnehmen müssen, doch seit Mac Bethad, der Than von Glamis, die Streitmacht anführte, zogen sich die Feinde immer weiter zurück. Bisher war Duncan zu jung gewesen, um seinem Dienstherrn in die Schlacht zu folgen. Vor zwei Wochen hatte er jedoch sein vierzehntes Lebensjahr vollendet ... Er verscheuchte den Gedanken und versuchte, die Furcht zu unterdrücken. Er war doch kein Feigling! Wie sein Vater und der Than es von ihm erwarteten, würde er sich als furchtlos und tapfer erweisen. Seit Tagen versuchte er, sich Mut einzureden, doch seine Knie wurden mit jedem Schritt weicher.

»Die Wikinger sind so stark, dass sie einen Mann mit einem einzigen Hieb in der Mitte spalten können«, hatte sein Freund Angus gestern gesagt.

»Red doch nicht so dummes Zeug«, war ihm Effric, ein weiterer Knappe, ins Wort gefallen.

»Das sind Heiden! Woher sollten die solche Kräfte nehmen?«

»Eben weil es Heiden sind«, hatte Angus dagegengehalten.

»Der Leibhaftige reitet mit ihnen«, hatte Colin, ein Junge von den Orkney Inseln, gewusst.

Wulf, der zierlichste der fünf Knaben, hatte mit einem Nicken zugestimmt.

»Sie opfern ihm die Neugeborenen ihrer Feinde«, hatte Angus weiter zum Besten gegeben.

Obwohl sich Duncan vorsorglich ein weiteres Kruzifix um den Hals gehängt und Gott um Schutz angefleht hatte, fürchtete er sich mehr als je zuvor in seinem Leben. Würden die heidnischen Dämonen seine Seele rauben, wenn einer der Nordmänner ihn erschlug? Und was, wenn sie ihn gefangen nahmen? Allein der Gedanke, von ihnen in ihr gottloses Land verschleppt zu werden, ließ ihn vor Angst schlottern.

Es ist eine Ehre, dem Than die Waffen zu tragen, redete er sich ein. Gleichzeitig fühlte er, dass ihn der Mut so unaufhaltsam verließ, wie der Regen seine Kleidung durchtränkte. Er konnte das Zittern, das seinen Körper durchlief, nicht unterdrücken. Er schob es auf die Kälte, doch im Innersten wusste er, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

Allmählich erwachte das Lager. Niemand sollte sehen, wie es ihm ging. Er setzte eine steinerne Mine auf und ging zur Unterkunft seines Dienstherrn. Duncan machte sich an der Feuerstelle zu schaffen. Nachdem er die feuchte Asche entfernt hatte, zog er Feuerstein, Schlageisen und Zunder aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel und entfachte ein neues Feuer. Sobald die Flammen über die frisch aufgeschichteten Holzscheite züngelten, nahm er den Kessel von dem Gestell über der Feuerstelle. Wie die anderen Knappen füllte er ihn mit Wasser aus dem Bach, der durch das Lager floss. Wortlos kehrte er zurück, hing den Kessel übers Feuer und ging vorsichtig auf das Zelt seines Herrn zu. Mit einem schüchternen Räuspern machte er sich bemerkbar.

»Worauf wartest du?«, erscholl die Stimme des Than aus dem Inneren.

»Muss ich dir Beine machen?«

Duncan zog den Kopf zwischen die Schultern. Offenbar war sein Herr auch an diesem Morgen in Gewitterstimmung. Er atmete tief ein und betrat das Zelt – in der Hoffnung, einem Donnerwetter zu entgehen.

»Hilf mir«, polterte Mac Bethad, als sein Blick auf Duncan fiel. Er zeigte auf ein Panzerhemd, das über einem Schemel lag. Sein Gesicht war gerötet, die blauen Augen funkelten zornig. Er richtete sich zu voller Größe auf und fuhr sich mit der Hand durch den kurzen blonden Bart. Sein Bettgestell war bereits zerlegt, die dicken Felle auf einem Handkarren aufgeschichtet. Wie es aussah, hatte Duncan soviel Zeit am Fluss vertrödelt, dass ein Trossknecht die Arbeiten hatte verrichten müssen.

»Faulheit ist eine Tugend des Teufels«, brummte der Than missfällig und einen Augenblick lang fürchtete Duncan, er wolle ihn züchtigen. Doch Mac Bethad ließ die erhobene Hand wieder sinken. Den Blick des Heerführers im Nacken bückte er sich nach dessen Kettenhemd und half ihm hinein.

»Bring mir was zu essen und sattle Ciar«, sagte der Than, als Duncan von ihm zurücktrat. Dann, ohne weiter auf den Jungen zu achten, wandte er sich ab und ging vor einem kleinen Altar auf die Knie.

Während Mac Bethad Gott um einen siegreichen Ausgang der Schlacht bat, verzog sich Duncan zurück ins Freie. Mit fliegenden Fingern bereitete er Haferbrei zu, schnitt ein Stück Brot von einem drei Tage alten Laib und füllte einen Tonbecher mit Met. Sein Herr betete immer noch, als er die karge Mahlzeit auf dem dreibeinigen Tisch neben dem zerlegten Bett abstellte. Draußen ließ er sich auf einen feuchten, moosbewachsenen Stein fallen und füllte seine Holzschale mit Haferschleim. Während er sich ein paar Löffel des viel zu faden Breis zwischen die klappernden Zähne zwang, starrte er vor sich hin und lauschte auf die Geräusche des Lagers. Knappen und Pagen liefen von Zelt zu Zelt, um ihren Herren Nachrichten zu überbringen. Überall rauchten Feuer. Befehle wurden gebrüllt und der Klang von klirrendem Eisen drang an Duncans Ohr, als der Schmied letzte Vorbereitungen für den schicksalhaften Tag traf. Soweit Duncans Augen sehen konnten, erstreckte sich ein Meer aus Zeltspitzen und bunten Bannern in den Farben der Clans. Pferde wieherten und die Ochsen des Trosses gaben lautstark ihren Protest kund, als die Knechte sie anschirrten. Eine Zeit lang verfolgte Duncan gebannt das Treiben, dann riss ihn ein ohrenbetäubendes Hornsignal aus der Träumerei.

Das Zeichen zur Versammlung! Hastig wischte er die Schale mit einem Kanten Brot aus, löschte das Feuer, sammelte alle Kessel, Töpfe, Becher und Eimer ein, schichtete sie auf einen Haufen und sah sich nach einem Knecht um. Nachdem er diesen herbeigewunken hatte, lief er zu dem Verschlag, in dem die Pferde der Thans untergebracht waren. Während die Männer aus allen Richtungen zum großen Platz in der Mitte des Feldlagers strömten, band er Mac Bethads Rappen los und klopfte ihm beruhigend den Hals.

»Bist ein Guter«, murmelte er. »Keine Angst, Gott wird nicht zulassen, dass die Heiden gewinnen.« Jedenfalls hoffte er das inständig. Sorgfältig bürstete er dem Tier Mähne und Schweif, entfernte das Stroh aus seinem Fell und striegelte es, bis es im Licht des frühen Morgens glänzte. Schließlich hievte er den Sattel auf seinen Rücken und flüsterte noch ein paar tröstende Worte in das nervös spielende Ohr. Als er dem Hengst die Trense ins Maul schob, erscholl Mac Bethads Stimme vom Versammlungsplatz.

»Diese Verräter werden den morgigen Tag nicht erleben!«, donnerte der Than. »Wer sich den Heiden anschließt, fährt direkt in die Hölle!«

Die Männer stimmten ihm jubelnd zu.

»Derjenige, der den Than von Cawdor, den größten aller Verräter, gefangen nimmt, wird von unserem Hochkönig reich belohnt!«

Erneuter Jubel, der jedoch nach kurzer Zeit in zorniges Stimmengewirr umschlug.

»Brennt seine Burg nieder!«, forderte ein Bass.

»Bringt uns seine Brut!«, brüllte ein zweiter.

»Verrotte in der Hölle, Cawdor!«, dröhnte es weiter vorn.

Duncan runzelte die Stirn. Hatte der Than von Cawdor nicht bis vor Kurzem noch dem Obersten Rat angehört? War er nicht gestern noch im Lager gewesen? Er schluckte. Wie wollte Mac Bethad die Wikinger besiegen, wenn einer der wichtigsten Verbündeten des schottischen Königs zu den Feinden übergelaufen war? Der Hengst schien seine Furcht zu spüren, denn er warf schnaubend den Kopf. Wussten die Feinde dann nicht ganz genau, was Mac Bethad vorhatte? Duncan spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Würden sie in eine Falle laufen, die der Than selbst gestellt hatte? Schwindel gesellte sich zu der Übelkeit und er griff haltsuchend nach der Wand des Unterstands. Du musst auf Gott vertrauen, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Leg dein Schicksal in die Hände des Herrn, dann wird er sich deiner Seele erbarmen. Duncan schlug ein Kreuz vor der Brust und versuchte, die Angst zu unterdrücken. Mit zitternden Händen führte er Ciar aus dem Unterstand und band ihn dort an, wo vor Kurzem noch das Zelt seines Dienstherrn gestanden hatte. Dieses war inzwischen abgebaut und auf einen Karren verladen worden – genau wie all die anderen Dinge, die in der Schlacht nicht benötigt wurden.

Mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend zog Duncan sein Kettenhemd an, stülpte sich den Helm auf den Kopf und legte die Waffen des Thans bereit. Dann erklang ein weiteres Hornsignal und die Männer strömten mit düsteren Mienen zu ihren Knappen.

»Es ist soweit«, sagte Mac Bethad.

Er ließ sich von Duncan in den Sattel helfen und gürtete sein Schwert. Dann wartete er, bis sich die Vorhut formiert hatte, während sein Hengst ungeduldig mit den Vorderhufen stampfte. Die ersten Krieger verschwanden bereits hinter einer Hügelkuppe, als Duncan und Mac Bethad in den trüben, grauen Morgen aufbrachen. Obschon er Speer, Schild und Streitaxt des Thans in den kalten Händen hielt, kam sich Duncan seltsam nackt und wehrlos vor, als er neben Ciar her trottete. Es würde ein blutiger Tag werden, dessen war er sich sicher.

***

Castle Mac Bethad, in der Nähe von Inverness, Oktober 1040

Während sie die Gewänder ihrer Herrin sorgfältig zusammenlegte, summte Gwynn eine alte keltische Weise, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Mit den schlanken Händen strich sie den Stoff glatt. Sie beneidete Gruoch um die fein gewobenen Kleider, von denen diese so viele besaß. Wie eine Königin, dachte sie und seufzte leise. Neidisch ließ sie den Blick über eine silberne Stickerei in Form eines Falken gleiten. Wenn sie doch auch nur irgendwann solche Kostbarkeiten ihr eigen nennen könnte! Ihre Mundwinkel stahlen sich nach oben, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte.

»Putzsucht ist eine Sünde, mein Kind«, wurde diese nicht müde, Gwynn zu belehren. »Sei stets gehorsam und bescheiden, dann wird die Herrin zufrieden mit dir sein.«

Gwynns Fingerkuppen fuhren die Umrisse des Falken nach. Warum konnte ihr Vater nicht so mächtig sein wie Mac Bethad, der Gemahl ihrer Herrin? Dann hätte ihre Mutter sie gewiss nicht an den Hof von Gruoch geschickt. Seit sie hier war, fühlte sich Gwynn einsam, obwohl auch ihre Freundin Màiri unter dem Dach der gestrengen Schlossherrin lebte. Sie drückte das Gewand an ihre Brust und sah sehnsüchtig zu dem kleinen, mit einem hölzernen Laden verschlossenen Fenster. Nicht einmal zehn Meilen trennten sie von ihrem Zuhause, von dem Gehöft ihres Vaters, der in Gruochs Augen nicht mehr als ein Bauer war. Hatte Gwynn ihre Herrin nicht erst vor Kurzem abfällig über die unbedeutenden Lairds, die kleinen Landbesitzer, reden hören? Mit einem Seufzen schüttelte sie die Gedanken an ihre Familie ab und kehrte dem Fenster den Rücken. Was nutzte es? Sie konnte ja doch nichts an ihrer Lage ändern.

Neben der mit Schnitzereien verzierten Birkenholztruhe, in der Gruoch ihre Gewänder aufbewahrte, hing ein großer Silberspiegel. Dieser nahm beinahe soviel Platz ein wie das Bett ihrer Herrin. Den hellen Holzrahmen zierten Gestalten aus alten Sagen – Drachen, Elfen und andere seltsame Wesen. Obgleich eine Stimme in ihrem Inneren sie für die Schwäche schalt, betrachtete Gwynn versonnen ihr Spiegelbild in der glatten Oberfläche. Das lockige rote Haar, das sich immer unter ihrer kleinen Haube hervorkräuselte, war ihr auch heute ein Dorn im Auge. Warum konnte es nicht glatt und seidig fallen wie Gruochs Haar es tat? Mit ärgerlich gerunzelten Brauen schob sie eine vorwitzige Strähne zurück an ihren Platz, drückte das Gewand ihrer Herrin an die Brust und drehte sich einmal um die eigene Achse. Wenn sie doch nur nicht ganz so dünn wäre. Trotz des sanften Schwungs ihrer Hüften wirkte Gwynn, im Gegensatz zu ihrer Freundin Màiri, beinahe noch kindlich. Der rechteckige Ausschnitt ihres schlichten erdfarbenen Kleides gab den Blick frei auf schneeweiße Haut, um die sie viele der älteren Frauen im Haushalt beneideten. Sie rümpfte die Nase und schnitt eine Grimasse. Die verhassten Sommersprossen in ihrem Gesicht erregten allerdings ganz sicher keine Bewunderung. Sie fuhr sich mit dem Finger über den Nasenrücken. Wie lange es wohl in diesem Jahr dauern würde, bis sie verblassten? Jeden Winter hoffte sie, dass sie verschwinden würden. Doch jedes Frühjahr wurde sie aufs Neue enttäuscht. Ein Gedanke stahl sich in ihren Kopf und überzog ihre Wangen mit Feuer. Ob sie ihm wohl gefiel? Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute geistesabwesend darauf herum. Noch immer spukte der Knappe, dessen spitzbübisches Grinsen ihr Herz im Sturm erobert hatte, durch ihre Träume. Als die Männer vor genau dreizehn Wochen mit dem Than die Festung verlassen hatten, war sie im Hof mit ihm zusammengestoßen. Seine atemberaubend blauen Augen hatten unter einem zerzausten Schopf weizenblonder Haare hervorgeblitzt, den er sich mit einer ungeduldigen Bewegung aus den Augen gewischt hatte.

»Entschuldige«, hatte er gemurmelt und den Eimer aufgehoben, den sie vor Schreck hatte fallen lassen. Dann war er davongestoben wie ein Wirbelwind und wenig später mit Mac Bethad über die Zugbrücke verschwunden. Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde? Gedankenverloren starrte sie auf ihr Spiegelbild und versuchte, sich seine Züge in Erinnerung zu rufen. Als sich plötzlich die Tür öffnete und ihre Herrin das Gemach betrat, fuhr Gwynn so heftig zusammen, dass ihr um ein Haar das Kleid aus der Hand geglitten wäre.

»Lauf in die Küche und sag der Köchin, sie soll drei Fasane rupfen«, befahl Gruoch.

Gwynn nickte.

»Wir bekommen Besuch«, setzte ihre Herrin hinzu.

Etwas in ihrem Ton verriet Gwynn, dass ihr dieser Umstand ganz und gar nicht zusagte. Während sie das Gewand sorgsam in der Truhe verstaute, fragte sie sich, um wen es sich wohl handelte.

»Richte mit Màiri die Gästekammern her.«

Bei diesen Worten sah Gruoch sich im Raum um, als ob sie in Erwägung zog, ihr eigenes Gemach für den Besuch zur Verfügung zu stellen. Eine steile Falte grub sich zwischen ihre Brauen. Als Gwynn den Deckel der Truhe schloss und einige Augenblicke unschlüssig auf der Stelle stand, winkte sie ungeduldig mit der Hand.

»Beeil dich! Steh hier nicht herum!«

»Ja, Herrin«, murmelte Gwynn. Dann drückte sie sich an Gruoch vorbei aus der Kammer und floh die Treppen hinab ins Erdgeschoss. Zum Glück schien ihre Herrin heute keinen ihrer launischen Tage zu haben. Erst neulich hatte ein anderes Mädchen versehentlich eine irdene Schale zerbrochen und war streng dafür bestraft worden. So schnell ihre Beine sie trugen, eilte sie in den Hof und betrat kurz darauf das Küchengebäude.

***

Schottland, eine Ebene in der Nähe von Fife, Oktober 1040

Duncan war eingehüllt vom Getöse der Kriegstrommeln. Am Horizont flatterten zahllose Banner im Ostwind und auf dem Hügel gegenüber erhob sich ein Wald aus Speeren und Helmen. Mac Bethads Befehl folgend hatten sich die schottischen Truppen auf den von Heidekraut bewachsenen Anhöhen verteilt. Diese schlossen ein enges, nach zwei Seiten offenes Tal ein, in dem schon bald die Falle hinter dem Feind zuschnappen würde. Während die Nordmänner gegen eine scheinbar unterlegene Streitmacht anstürmten, würden die Flügel der schottischen Armee sie umzingeln und ihnen in den Rücken fallen. Es war ein beinahe beleidigend einfacher Plan und Duncan befürchtete, die Wikinger würden den Hinterhalt erkennen – zumal der Verräter Cawdor zu ihnen übergelaufen war. Doch die Anführer der blonden Horde schienen keine Gefahr zu wittern. Es war als verließen sie sich blindlings auf den Heldenmut und die Tapferkeit ihrer Männer.

Dudelsäcke gesellten sich zu den Trommeln, wodurch ein solch infernalisches Getöse entstand, dass Duncan einen Moment lang glaubte, die Hölle habe ihre Pforten geöffnet und ihre Dämonen ausgespuckt. Grell und durchdringend durchschnitten die Töne die Luft, peitschten Mensch und Tier gleichermaßen auf.

»Vorwärts!«, brüllte Mac Bethad. Mit einem furchtbaren Kriegsschrei, der sein ohnehin nervöses Schlachtross auf die Hinterbeine steigen ließ, gab er das Zeichen zum Angriff. Augenblicklich spürte Duncan, wie die Masse an Leibern hinter ihnen sie vorwärts drängte. Ungeschickt stolperte er neben dem Pferd seines Herrn durch den Schlamm, glitt beinahe aus und verkniff sich einen Fluch. Der Regen der vergangenen Nacht machte den Boden tückisch, genau wie die zahlreichen Löcher im torfigen Untergrund. Die Zähne aufeinandergebissen, den Blick starr geradeaus gerichtet rutschte Duncan hinter dem Rappen seines Herrn den Abhang hinab. Der helle Klang von Eisen und das dumpfe Dröhnen stampfender Hufe hallte von den Hügeln wider, als sich Wikinger und Schotten einander näherten. Es stürmten so viele Nordmänner auf sie zu, dass Duncan dachte, der Strom der Krieger würde niemals abreißen. Dann plötzlich, als habe jemand ein unhörbares Kommando gegeben, kamen beide Armeen zum Halt. Heiser gebrüllte Befehle veranlassten die Vorhut der Bogenschützen, sich in den Schlamm zu knien und die Sehnen ihrer mächtigen Waffen zu spannen.

Dann begann der Schrecken.

Innerhalb weniger Sekunden war der Himmel über Duncans Kopf schwarz von gefährlich surrenden Pfeilen, die überall um ihn herum Männer fällten. Obwohl sich Duncan und Mac Bethad hinter den Fußsoldaten befanden, richteten die Geschosse auch in ihren Reihen Verheerendes an. Mit einem grauenhaften Geräusch durchbohrte einer der Bolzen die Kehle eines jungen Kriegers an Duncans Seite. Der Mann gurgelte heftig, als ein fingerdicker Blutstrahl aus der Wunde schoss. Ohne einen weiteren Ton von sich zu geben, glitt er aus dem Sattel und schlug direkt vor Duncans Füßen auf dem Boden auf.

Die toten Augen des Gefallenen starrten ihn an und für Duncan blieb die Zeit stehen. Das Nächste, das er wahrnahm, war das Furcht erregende Kriegsgeheul seines Volkes. Der Sluaghghairm, der Kampfruf der Highlander, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Während er, vor Entsetzen erstarrt, den schrillen Missklängen lauschte, schien um ihn herum alles auf einmal zu geschehen. Von derben Flüchen und Schreien begleitet, stießen die Fußsoldaten mit der vorrückenden Streitmacht der Norweger zusammen und attackierten die Feinde mit mächtigen Hieben. Das gesamte Schlachtfeld glich einem wogenden Meer aus Menschen, die brüllend aufeinander einhackten. Schwerter und Äxte sprühten Funken, als sie von Helmen und Kettenpanzern abprallten. Das Durcheinander war so gewaltig, dass Duncan kaum mit Mac Bethad Schritt halten konnte. Dieser hatte offenbar den norwegischen König im Schlachtgetümmel entdeckt.

»Sweno!«, schrie der Than und gab seinem Hengst die Sporen. Ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben bahnte er sich einen Weg durch die Knäuel kämpfender und sterbender Männer. Der Anblick der aufgebrochenen Leiber und verstümmelten Glieder brannte sich in Duncans Gedächtnis, als er Mac Bethads Rappen hinterherhastete.

Erneut stieg Übelkeit in ihm auf. Warum hatte ihn niemand auf dieses fürchterliche Schlachten vorbereitet? Die Ausbildung durch den Waffenmeister war schwer gewesen, aber keiner hatte ihn vor dem gewarnt, was in gerade auf ihn einstürmte.

Blut färbte den Boden rot und ein süßlicher, metallischer Geruch stieg ihm beißend in die Nase. Viele der schwerverletzten Kämpfer verloren die Kontrolle über ihre Gedärme, sodass es Ekel erregend nach Scheiße stank. Während Duncan Mac Bethad atemlos die Waffen reichte, nach denen dieser verlangte, schnürte sich seine Kehle immer weiter zu. Plötzlich, er hatte seinem Herrn gerade einen Streitkolben zugeworfen, legte sich etwas um seinen Knöchel. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei. Während sein Herz davongaloppierte, sah er voller Panik nach unten. Direkt über seinem Knöchel schloss sich die blutige Hand eines niedergestreckten dänischen Kriegers um sein Fußgelenk. Ein boshaftes Funkeln lag in den Augen des Nordmannes, als dieser den Griff verstärkte und versuchte, Duncan zu Fall zu bringen. Er stieß irgendetwas Unverständliches hervor. Eine tiefe Wunde klaffte in seiner Wange und ein Teil seines Ohrs fehlte. Seine Kraft war erschreckend. Duncan versuchte, sich zu befreien, musste aber erkennen, dass es ihm nicht gelingen würde, die stahlharte Umklammerung zu lösen. Seine Panik verstärkte sich. Was sollte er tun? Vor ihm rückte Mac Bethad unaufhaltsam in Richtung des norwegischen Königs vor, der deutlich sichtbar inmitten von Fahnenträgern stand. Er musste eine schnelle Entscheidung treffen! Ohne weiter nachzudenken, riss er das kurze Schwert aus der Scheide, holte einmal tief Luft und trennte die Hand des Mannes ab. Der Däne stieß einen markerschütternden Schrei aus, sein Blut spritzte auf Duncans Schuhe. Duncan musste eine Weile gegen die Übelkeit ankämpfen, bevor er Mac Bethad hinterhereilen konnte.

Kapitel 2

Castle Mac Bethad, in der Nähe von Inverness, Oktober 1040

Ein wundervoller Duft erfüllte die Küche. Auf einem alten dunklen Schneidebrett lagen frische Kräuter, Zwiebeln und verschiedene Gewürze. Eine junge Küchenmagd holte ein frisch gebackenes Brot aus dem riesigen Ofen, in dem noch mehrere weitere Laibe buken. Die Köchin Eurgain, eine mollige Frau mit einem frischen, rotwangigen Gesicht, gab ihren Helfern mit ruhiger Stimme Anweisungen. Ihr Haar steckte unter einer altmodischen Haube, die weit hinten auf ihrem geflochtenen Haar saß. Der Jäger hatte mehrere Fasane, Hasen und Rebhühner abgegeben und ein Küchenjunge war gerade dabei, eines der Rebhühner zu rupfen.

»Gwynn!« Das Gesicht der Köchin leuchtete, als sie das Mädchen erblickte. Gwynn schmuzelte, offensichtlich hatte Eurgain sie ins Herz geschlossen.

»Du bist sicher hungrig«, sie machte Anstalten, eine Schale mit Eintopf zu füllen. Gwynn winkte ab.

»Du brauchst dringend etwas mehr auf den Rippen!« Die Köchin stemmte die Hände in die ausladenden Hüften und musterte Gwynn. »Wenn du nicht bald ein wenig Speck ansetzt, findest du nie einen jungen Laird.« Sie lachte verschmitzt. »Männer lieben Rundungen.«

Ihr Augenzwinkern trieb Gwynn das Blut in die Wangen und sie lenkte hastig ab. »Die Herrin hat mir aufgetragen dir mitzuteilen, dass sie drei weitere Fasane benötigt.«

Eurgain runzelte die Stirn.

»Sie erwartet Besuch.«

Mit einem Nicken wischte sich die Köchin die Hände an der Schürze ab und nahm ein großes scharfes Messer aus dem Block auf dem Tisch.

»Erst die Hasen«, murmelte sie und begann, eines der Tiere zu häuten, während Gwynn hastig die Augen abwandte. »Es wird auch langsam Zeit, dass hier mal wieder etwas Leben einkehrt«, brummte Eurgain, in ihre Arbeit vertieft. »Seit die Männer fort sind, ist es viel zu düster und trübe.«

Gwynn fand, dass sie Recht hatte. Für gewöhnlich hallte die Festung wider vom Lärm unzähliger Soldaten, Krieger und Knechte. Bevor beinahe alle Männer zum Feldzug aufgebrochen waren, hatte sie sich nicht vorstellen können, wie still es ohne die Geräusche von klappernden Hufen und klirrendem Eisen sein würde. Doch nun klang selbst das Bellen der Hunde einsam und trostlos. Wie anders dagegen die sechs Monate vor dem Einfall der Nordmänner verlaufen waren. Trotz der vielen Arbeit hatte sich Gwynn nie so verloren gefühlt. Während der ersten Wochen im Dienst ihrer Herrin hatte sie oft geweint und sich gewünscht, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Doch irgendwann hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. Eurgains tiefe Stimme riss sie aus den Gedanken.

»Ich hoffe, die Gäste bleiben länger.« Sie drehte den gehäuteten Hasen mit dem Bauch nach oben, um ihn auszunehmen. »Das hellt ihre fürchterliche Stimmung vielleicht ein wenig auf.« Eine der Mägde kicherte hinter vorgehaltener Hand. Auch Gwynn schmunzelte, obwohl Gruochs Launen ganz und gar nicht zum Lachen waren. Sie verabschiedete sich von Eurgain und verließ die Küche mit einem bedauernden Seufzen. Wie warm und gemütlich es dort im Vergleich zum Rest des Haupthauses war. Jetzt, da der Herbst Einzug gehalten hatte, war es in den winzigen Kammern und engen Korridoren kalt und zugig. Wann wohl der erste Schnee fallen würde? Die Bäume rund um das stark befestigte Bollwerk waren fast kahl und der Regen, der seit Tagen unablässig fiel, hatte den Hof in eine schmutzige, schlammige Masse verwandelt. Wer nicht hinaus musste, hielt sich im Inneren auf; am Feuer in der Halle oder wie Eurgain in der Küche. Fröstelnd erklomm Gwynn die Stufen und begab sich in den Nordflügel, wo sie ihre Herrin verlassen hatte. Als sie eine der vielen verschlossenen Fensteröffnungen passierte, hielt sie an, um einen Laden zu öffnen und hinauszusehen. Sehnsüchtig suchte sie den bleiernen Himmel nach Anzeichen für besseres Wetter ab. Allerdings bot sich ihrem Blick nichts als trübes Grau in allen Schattierungen. Während sie den Horizont betrachtete, vernahm sie sich rasch nähernde Schritte. Hastig verriegelte sie den Fensterladen und eilte weiter, um Màiri ausfindig zu machen. Die Gästekammern mussten vorbereitet werden.

Nach einigem Suchen fand sie die Freundin in der Kinderstube – den zweijährigen Birk auf dem Schoß, dessen blondgelockten Schopf sie liebevoll lachend zerzauste. Mit glühenden Wangen und einem seligen Lächeln auf den Lippen schien der Knabe die Aufmerksamkeit in vollen Zügen zu genießen. Gwynn, die den Kleinen anbetete, ging vor den beiden in die Hocke und stupste ihm sanft auf die winzige Nase.

»Màiri, du musst mir helfen, ein paar Gästekammern auszufegen. Die Herrin erwartet Besuch.« Nur mühsam konnte sie sich von dem sonnigen Strahlen des Jungen losreißen. »Gleich«, gab Màiri zurück. »Ich bringe nur noch Birk ins Bett. Er ist schon wieder müde. Geh du vor, ich komme dann.«

Gwynn zog die Eichentür hinter sich ins Schloss, immer noch über den lautstarken Protest des Knaben lachend, und eilte die Treppe hinab, um frisches Stroh für die Bettkästen zu holen. Sie war gerade auf dem Weg zurück, beide Arme voller duftendem Stroh, als sie eine schrille Stimme aus der Kinderstube vernahm. Keifend erboste sich Gruoch über irgendetwas, aber Gwynn konnte nicht verstehen, was sie Màiri wutentbrannt an den Kopf warf. Plötzlich flog die Tür auf und Màiri stürmte auf den Gang – einen hässlichen flammend roten Striemen quer über dem Gesicht. Mit einem Schluchzen presste sie die Hand vor den Mund und stolperte hastig die Treppen ins nächste Stockwerk hinauf, ohne Gwynn zu bemerken. Diese sah ihr einen Augenblick entgeistert nach. Dann folgte sie der Freundin die Treppen hinauf zu einem Raum, dessen Tür nur angelehnt war. Das gedämpfte Geräusch unterdrückten Weinens drang an ihr Ohr. Als sie die Tür öffnete, sah sie die Freundin in einer Ecke kauern, das Gesicht in den Armen vergraben. Gwynn legte das Stroh ab und ging langsam auf Màiri zu, um ihr eine tröstende Hand auf die Schulter zu legen. Màiri erstarrte.

»Ich bin es«, beruhigte Gwynn die zitternde Freundin. »Was um alles in der Welt ist geschehen?«

Màiri wandte sich um. Ihre braunen Augen waren rot vom Weinen »Birk wollte seine Milch nicht mehr trinken und hat alles über seine Kleider verschüttet.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Gruoch kam rein, als es passierte.« In einer verzweifelten Geste der Hilflosigkeit hob sie die Hände. »Sie hat mich angeschrieen und gebrüllt, dass ich nutzlos sei. Dann«, sie schluchzte, »dann hat sie mich mit ihrem Lederriemen ins Gesicht geschlagen.« Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen. Durch den Schlag mit dem Riemen war die Haut an der linken Schläfe aufplatzt. Ein dünner Blutfaden rann die gerötete Wange hinab und wurde von den schwarzen Locken verschmiert.

Gwynn nahm sie in die Arme. »Es ist gut«, flüsterte sie beruhigend. »Sie wird es nicht wieder tun.« Sie wusste selbst, dass das eine Lüge war. Gruoch hatte schon viele ihrer Bediensteten misshandelt. Bereits mehr als einmal hatte Gwynn darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, ihrer Obhut zu entfliehen. Doch dann wäre ihre Mutter enttäuscht und ihr Vater sicherlich mehr als nur ärgerlich.

***

Schottland, eine Ebene in der Nähe von Fife, Oktober 1040

Chaos! Überall herrschte heilloses Durcheinander. Inzwischen standen so viele Krieger zwischen Duncan und Mac Bethad, dass es dem Jungen unmöglich war, seinem Than zur Seite zu stehen. Die meisten Männer waren in blutige Zweikämpfe mit dänischen oder norwegischen Kriegern verwickelt und mehr als einmal musste sich Duncan gegen feindliche Streitäxte und Morgensterne zur Wehr setzen.

Er war sich sicher, dass er diesen Tag nicht überleben würde.

Seit Kurzem prasselte Regen auf die schlachtenden Kämpfer nieder und ein eisiger Wind hatte begonnen, von der Küste her über das Land zu fegen. Fieberhaft bemühte sich Duncan, in Mac Bethads Nähe vorzudringen, doch der Than war inzwischen nahezu völlig aus seinem Blickfeld verschwunden. Mannshohe Leichenberge und Gruppen kämpfender Männer versperrten ihm den Weg, sodass er irgendwann vollkommen die Orientierung verlor. Er war über und über mit Blut besudelt – nicht sicher, ob es sein eigenes oder das seiner Feinde war.

Er ließ den Blick schweifen.

Dort! Inmitten der wild flatternden norwegischen Banner erspähte er den Helm seines Herrn. Aber wie sollte er dorthin gelangen? Vor ihm ragte eine Wand aus Kämpfern auf und auf der linken und rechten Seite war er von Reitern auf wütend trampelnden Schlachtrössern eingeschlossen. Was sollte er tun?

Pfeilschnell duckte er sich unter dem Bauch eines Schimmels hindurch, in dessen Steigbügeln die leblose Gestalt eines Dänen baumelte und ließ sich hinter einem entwurzelten Baum auf die Knie fallen. Plötzlich sauste eine Axt nur Zentimeter vor ihm in den Schlamm. Duncan schrie und spang auf. Gerade noch rechtzeitig wich er einem heftigen Schlag aus, den ein massiger Norweger mit soviel Kraft führte, dass er ins Straucheln geriet, als der Stahl sein Ziel verfehlte. In dem Bruchteil einer Sekunde, der ihm blieb, zog Duncan seinen Dolch und rammte ihn dem Angreifer in die Seite. Kaum hatte er die Klinge zurückgezogen, sah er aus dem Augenwinkel den vorschnellenden Schwertarm eines weiteren Kriegers. Der tödliche Hieb hätte ihm mit Sicherheit das Herz durchbohrt, wenn nicht ein schottischer Kämpfer dem Feind von hinten den Schädel gespalten hätte. Der Getroffene stieß einen schrillen Schrei aus, der Duncan das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann krachte er zu Boden.

Unbeirrt kämpfte sich Duncan zu der Stelle vor, wo sich der norwegische König Sweno und Mac Bethad einen erbitterten Kampf lieferten. Funken stoben, als die Klingen der Gegner aufeinandertrafen und einen erschreckenden Moment lang sah es so aus, als würde der Wikinger die Oberhand gewinnen. Doch Mac Bethad erwiderte die wütenden Hiebe seines Gegners mit unglaublicher Kraft. Während der Norweger versuchte, die Beine des Thans zu treffen, wich Mac Bethad mit blitzschnellen Bewegungen aus. Sweno hatte sich gerade unter einem Schlag weggeduckt, als ihn der folgende mit solcher Wucht traf, dass er seinen Schildarm nicht mehr bewegen konnte. Sein Kampfeswille war ungebrochen, obwohl die Wunde an seinem linken Arm stark blutete. Mit zornesroter Miene schrie er seinen Männern zu, ihm eine Lanze zuzuwerfen, fing sie geschickt auf und stach in wilder Wut nach seinem Angreifer.

Duncan hielt den Atem an.

Mehr als einmal kam der Speer dem Gesicht des Thans gefährlich nahe. Doch Mac Bethad gelang es immer wieder, die Attacken seines Gegners abzuwehren. Trotz der Kälte schwitzten die beiden Kämpfer heftig. Wie hungrige Raubtiere umkreisten sie einander, wobei sie sich keine Sekunde aus den Augen ließen. Plötzlich stürzte sich Mac Bethad mit dem Schwert auf Sweno. Obwohl der norwegische König auf den Angriff vorbereitet war, hatte er keinen solch selbstmörderischen Zug erwartet. Mac Bethad sprang direkt vor die Lanze des Norwegers. Als der versuchte, die Waffe hochzureißen, um den Than tödlich zu verletzen, durchbohrte die Klinge des Schotten seine Schulter. Mit einem Wutschrei versuchte Sweno, die Lanze in Mac Bethads Eingeweide zu stoßen.

Der ergriff den Schaft des Spießes und riss ihn seinem geschwächten Feind aus der Hand.

»Ergib dich!«, donnerte er. »Sonst werden weder du noch einer deiner Männer jemals wieder die Sonne aufgehen sehen!« Sweno starrte den Than keuchend an; dann ließ er die Lanze sinken und fiel auf die Knie.

Als seine Männer ihn vor Mac Bethad knien sahen, hörten auch sie auf zu kämpfen und sanken einer nach dem anderen zu Boden.

»Wo ist Cawdor?«, wollte Mac Bethad wissen.

»Irgendwo«, antwortete der Wikinger gleichgültig. »Er war hier als die Schlacht anfing. Vielleicht ist er unter den Gefallenen.« Der norwegische König wirkte immer noch stolz und stark, obwohl er vor Mac Bethad kniete. Duncan bewunderte seinen Mut.

»Geht und findet ihn!«, befahl Mac Bethad seinen Männern. »Tötet ihn nicht. Ich will ihn lebend.« Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen. »Er wird dem Hochkönig übergeben. Der soll entscheiden, was mit ihm geschieht.«

Es dauerte nicht lange, bis die schottischen Krieger die überlebenden Wikinger zusammengetrieben hatten. Nachdem alle entwaffnet und gefesselt worden waren, wurden sie in einen hastig errichteten Verschlag gesperrt. Den Anführer zerrten vier Männer in Mac Bethads Zelt, wo er gefesselt in eine Ecke gestoßen wurde.

Über dem Schlachtfeld verbreitete sich der Gestank der Toten und Verletzten. Während die Fußsoldaten ihre toten Kameraden begruben, kümmerte sich ein Feldscher um die Verletzten. Ihr furchtbares Gebrüll ließ Duncan das Blut in den Adern gefrieren. Die meisten von ihnen würden die Nacht vermutlich nicht überleben. Fäulnis und Wundbrand würden einen Großteil innerhalb der nächsten Stunden dahinraffen. Der Preis war hoch, doch die Schlacht war gewonnen und Schottland gerettet.

Langsam senkte sich die Dämmerung über das Schlachtfeld, die ersten Feuer wurden entzündet und Männer ausgeschickt, um Wild für die Siegesfeier zu erlegen. Auch für Weiber aus den Nachbardörfern würde gesorgt werden, hatte Duncan gehört. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, mit den anderen zu feiern oder etwas zu essen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er jemanden ernsthaft verletzt und heute hatte er zwei Menschen getötet! Eine scheußliche, bleierne Schwere bemächtigte sich seiner Glieder. Dennoch war er froh, als Mac Bethad ihm den Befehl gab, beim Aufschlagen der Zelte zu helfen. Das würde ihn ablenken und die grauenvollen Bilder des Tages wenigstens eine Zeit lang vergessen lassen. Irgendwann, es mussten Stunden vergangen sein, erspähte er zwischen Karren und Zugtieren seine Freunde Colin, Angus, Wulf und Effric. Welch eine Erleichterung! Auch sie hatten den Tag unbeschadet überstanden.

Später, als sich die Zeltspitzen vor dem vom Feuerschein beleuchteten Nachthimmel abzeichneten und die ausgelassene Feier in vollem Gange war, wurde Duncan von einem Aufruhr aufgeschreckt. Mit klopfendem Herzen rappelte er sich auf und sah sich um. Es dauerte etwas, bis er begriff, dass er offenbar vor dem Küchenzelt eingenickt war. Zornige Stimmen drangen an sein Ohr. Cawdor war gefangen worden!

»Dieser Feigling hat sich wie ein Waschweib versteckt«, spuckte jemand abfällig aus.

»Hast du gedacht, in diesem schäbigen Umhang erkennt dich niemand? Hast du ihn einem der Dorfbewohner abgenommen?«

»Halt doch dein Maul!«, war die wenig beeindruckte Antwort.

Ein Schlag hallte durch die Nacht. Duncan robbte sich näher ans Geschehen. Im Licht der Fackeln erhaschte er einen Blick auf das über und über mit blutverschmierte Gesicht des Verräters, mit dem die schottischen Soldaten offensichtlich alles andere als zimperlich umgegangen waren. Sein rechter Arm hing schlaff und verdreht herunter, die Nase war gebrochen. Überhaupt sah er aus, als hätten ihn die Männer mit Dreschflegeln bearbeitet. Duncan schüttelte auch den Rest Müdigkeit ab und folgte der Gruppe, die den Gefangenen zu Mac Bethads Unterkunft schleppte. Einer der Schergen betrat das Zelt, um den Than von der erfolgreichen Jagd in Kenntnis zu setzen. Als Mac Bethad schließlich ins Licht der Fackeln trat, schleuderten die Männer den Gefangenen vor ihm zu Boden.

»Bindet ihn!«, knurrte der Than. »Aber tut ihm nichts weiter. Der König wird ihn bestrafen.«

Er spuckte auf die am Boden liegende Gestalt und verschwand aus Duncans Blickfeld.

Kapitel 3

Schottland, ein Feldlager in der Nähe von Stirling, Oktober 1040

Mit ehrfürchtig gesenktem Haupt kniete Mac Bethad vor seinem Lehnsherrn. In der Mitte des Lagers, das er und sein Gefolge in der Nähe von Stirling aufgeschlagen hatten, thronte der König in einem prunkvollen Zelt. Mehr als hundert Menschen nahmen an diesem Tag darin Platz: die hochrangigen vorn, die Pagen und Knappen so weit hinten, dass Duncan den König nur aus der Ferne sah. Eine kostbare Rüstung bedeckte den gedrungenen Oberkörper des schottischen Hochkönigs; obwohl sein Bart bereits von ersten Silberfäden durchzogen war, flößte seine imposante Gestalt allen Respekt ein. Für den Fall, dass die Norweger einen Zweifrontenangriff gewagt hätten, war er mit einer Handvoll Männern in Stirling zurückgeblieben. Nach seiner Ankunft im Feldlager hatte Mac Bethad dem König die zehntausend Goldstücke, die Sweno für sein eigenes und das Leben seiner Männer hatte bezahlen müssen, übergeben. Dann war ein Bankett gefeiert worden.

Die zwei Dutzend eisenbeschlagenen Truhen standen nun in einer Ecke des prächtigen Zelts. Der Besiegte hatte auch einen Vertrag unterzeichnen müssen, in dem er schwor, Schottland nie wieder anzugreifen oder angreifen zu lassen. Eine Geisel, Swenos jüngster Sohn, kniete neben Mac Bethad.

»Steh auf!« Die Stimme des Königs war volltönend und warm. Er erhob sich vom Thron und nahm von einem der Pagen ein mit feinem Blattgold überzogenes Kästchen entgegen.

»Was ist da drin?«, tuschelte es neben Duncan.

»Ich kann es nicht sehen. Warte.«

Es dauerte nicht lange, bis die Antwort durch die Reihen lief. »Edelsteine und Goldmünzen«, zischte ein Knappe zwei Reihen vor Duncan. »Und Perlen.«

Einige der Ritter warfen den jungen Männern tadelnde Blicke zu, woraufhin das Geflüster verstummte.

»Ein Zeichen meiner Dankbarkeit«, hörte Duncan den König sagen.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Mac Bethad nahm den Lohn mit beiden Händen entgegen und murmelte etwas, das Duncan nicht verstand. Dann trat der König zurück und zog ein Schwert aus einer kostbar gearbeiteten Scheide. Einen Augenblick lang wog er die Waffe in den Händen, bevor er sie mit einer feierlichen Geste an Mac Bethads Gürtel befestigte. Als die Zeremonie zu Ende war, wandte sich der König den Versammelten zu.

»Da Cawdor noch heute hingerichtet wird, verliert das Land einen Than.« Er hielt einen Moment inne, um die Worte wirken zu lassen, und ließ seinen Blick über die erschöpften Mienen schweifen. »Aber dieser Verlust ist nicht von Dauer.« Der König sah Mac Bethad an. »Denn du bist der neue Than von Cawdor!«

Duncan war sich nicht sicher, doch er hatte den Eindruck, dass sein Herr blass geworden sei. Hastig senkte der neue Than von Cador den Kopf. Er schien sprachlos zu sein. Genau wie Duncan, der spürte, wie Unruhe Besitz von ihm ergriff.

»Das hat er verdient!«, rief ein graubärtiger Edler, dessen Kleidung ihn als einen Krieger der Insel Skye auswies.

»Gottes Segen!«, wünschten einige andere Männer.

«Mac Bethad, Than von Cawdor!« Es war wie ein Schlacht-ruf, der sich aus den Reihen der Versammelten erhob. »Mac Bethad, Than von Cawdor!«

»Ich danke Euch, Herr«, presste Mac Bethad mühsam beherrscht hervor. Die hohe Auszeichnung ließ ihn nicht unberührt.

»Du hast große Tapferkeit bewiesen«, erwiderte der König. »Ohne deine Treue und deinen Mut hätten Swenos Horden weiterhin unsere Dörfer verwüstet und unsere Frauen geschändet. Lass uns den Sieg auf deiner Festung in Inverness feiern.«

Mac Bethad starrte den König an, als habe dieser etwas Ungeheuerliches gesagt. Was für eine Ehre, schoss es Duncan durch den Kopf, dem König Gastfreundschaft gewähren zu dürfen!

»Außer dem Sieg über die Nordmänner«, unterbrach der König seine Gedanken, »gibt es einen weiteren Grund zum Feiern.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

Was meinte er? Duncan trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Auch die übrigen Anwesenden hörten gespannt zu.

»Ich habe beschlossen, meinen ältesten Sohn Malcolm zum Herzog von Cumberland und zu meinem Thronerben zu ernennen!«

Duncan entwich ein erstauntes »Oh!« Plötzlich befand er sich wieder auf der schlammigen Heide, viele Meilen vor der Stadt. Hatten nicht die drei unheimlichen Weiber, denen sie auf dem Weg nach Stirling begegnet waren, genau das vorhergesagt?

Wenige Tage nach der Schlacht war er mit Mac Bethad und Banquo, dem Than von Lochaber, der den zweiten Flügel der schottischen Streitmacht befehligt hatte, im Morgengrauen über die Heide geprescht, als sie plötzlich von drei aus dem Nichts auftauchenden Kräuterweibern aufgehalten worden waren. Dicke, undurchdringliche Nebelschleier waren von der Küste her aufgestiegen und die Erscheinung der zahnlosen alten Vetteln hatte Duncan einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt. Nur mit halbem Ohr hatte er dem wirren Gefasel von Thanen und Königen zugehört, da er alle Hände damit zu tun gehabt hatte, seine Stute im Zaum zu halten.

Duncan blinzelte und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Versammlung. War es das Werk des Teufels? Wie sonst konnte es möglich sein, dass die Weissagung der drei Weiber eingetroffen war? Er bekreuzigte sich unauffällig. Waren es Hexen gewesen? Allein bei dem Gedanken wurden ihm die Knie weich. Wie gut, dass er den Alten nicht zu nahe gekommen war! Bevor er sich weiter ausmalen konnte, was alles auf der Heide hätte passieren können, löste der König die Versammlung auf. Von draußen drang der Klang von Trommeln und Dudelsäcken in das Zelt.

Die Hinrichtung wurde vorbereitet.