Das Phänomen „Jugendgewalt“
Fast alle Regeln, die früher bei Heranwachsenden für körperliche Auseinandersetzungen galten, scheinen aufgelöst. Geschützte Körperzonen gibt es nicht mehr. Schläge, Tritte und Waffen werden rücksichtslos eingesetzt, und selbst auf den Kopf eines wehrlos am Boden liegenden Opfers wird noch eingetreten.
Früher regulierten natürliche Hemmschwellen das Konfliktgeschehen, man hielt sich an bestimmte unausgesprochene Regeln. Wer am Boden lag, galt als besiegt. Man ließ von ihm ab, der Kampf war damit beendet. Heute ist die innere Hemmung, einem Unterlegenden schwere oder gar tödliche Verletzungen zuzufügen, bei Jugendlichen nahezu ausgelöscht. Die Schwere der Verletzungen und das Leid des Opfers lösen bei der Mehrheit junger Gewalttäter keinerlei Regung oder Mitgefühl mehr aus. Selbst der Tod des Gegners wird in Kauf genommen.
Nie zuvor hat es unter Jugendlichen eine derart erschreckende Enthemmung gegeben. Wir nennen es Jugendgewalt, doch was verbirgt sich dahinter? Ist sie ein Irrtum der Evolution, ein Zufall oder schlichtweg das Resultat unserer modernen Gesellschaft, und wenn ja, warum? Wir gehen davon aus, dass soziale Missstände, Gewalt in den Familien, Migrationshintergrund oder fehlende Perspektiven der jungen Täter dafür verantwortlich sind, dass sie gewalttätig und sogar zu Mördern werden. Auf diese so genannte Randgruppenproblematik zielt die Mehrheit der staatlich verordneten Präventionsmaßnahmen ab. Doch sichtbare Erfolge bleiben aus. Stattdessen weitet sich das Phänomen Jugendgewalt auf alle sozialen Schichten aus.
Die weniger Privilegierten prügeln und stechen aufeinander ein, während der Gymnasiast mit einer Schnellfeuerwaffe im Kampfanzug Amok läuft und gleich dutzendfach tötet. In Schulen und Kindergärten ist aggressives Verhalten für Kinder und Jugendliche zu einer alltäglichen Konfliktlöse- und Zielerreichungsstrategie geworden. Natürliche moralische Hemmschwellen oder Mitgefühl für das Leid des Opfers haben ihre regulierende Kraft verloren.
Wir haben es versäumt, das Wissen der Hirnforschung auf unser tägliches Unterhaltungsprogramm anzuwenden. Wir blicken auf soziale und ökonomische Missstände unserer Gesellschaft, übersehen aber die Wirkung, die mediale Gewalt auf jene Prozesse im Gehirn hat, die unser Mitgefühl und unsere moralischen Hemmschwellen regulieren.
Es geht nicht darum, dass Jugendliche ihre pubertären Konflikte mit Gewalt lösen, es geht darum, wie sie es tun, wie entmenschlicht und unverhältnismäßig sie Gewalt einsetzen. Ein falscher Blick allein kann heute schon für einen Heranwachsenden ein ausreichender Grund sein, um ein Messer zu zücken und zuzustechen.
In der Pubertät sind Jugendliche durch die hormonellen Wechselbäder empfindlich und neigen zu Überreaktionen. Das war schon immer so. Jungen schlagen über die Stränge und wollen ihre Kräfte messen, während Mädchen in Melancholie versinken und schön und beliebt sein wollen. Das sind die psychischen Begleiterscheinungen der hormonellen Umstellung und des natürlichen sexuellen Reifeprozesses. Nicht natürlich sind die Brutalität und die Rücksichtslosigkeit, mit der Pubertierende im 21. Jahrhundert ihre Konflikte lösen und Kräfte messen und ihre aufkeimende Sexualität auszuleben versuchen. Der Einsatz roher Gewalt ist für Kinder des Medienzeitalters normal geworden.
In Niedersachsen verliert der 25-Jährige Daniel S. im März 2013 sein Leben, weil er versucht, einen Streit zu schlichten.(1) Daniel ist mit Freunden in einem gemieteten Bus auf einer Diskotour. Die freien Plätze werden an fünf Unbekannte vergeben. Auf dem Rückweg bricht ein Streit aus. Die fünf Mitfahrer rufen mit ihren Handys weitere Jugendliche zur Verstärkung. Am Halteplatz steigt Daniel aus dem Bus, um alle Beteiligten zu beruhigen und eine Auseinandersetzung zu verhindern. Cihan A. (20) schleudert Daniel mit einem Tritt gegen den Bus. Er prallt mit dem Kopf auf den Asphalt und bleibt regungslos liegen. Chian lässt aber nicht ab, sondern tritt weiter mit roher Gewalt auf das regungslos am Boden liegende Opfer ein. Einige Tage später verstirbt Daniel an den schweren Kopfverletzungen.
Der Polizeisprecher bezeichnet die Tat als Einzelfall, der eine selten dagewesene Qualität von Brutalität zeige. Doch Fälle wie dieser sind schon lange keine Einzelfälle mehr, sie geschehen täglich – rund um den Erdball.
Im Oktober 2012 wird der 20-Jährige Jonny K. auf dem Alexanderplatz in Berlin Opfer einer brutalen Prügelattacke.(2) Eine Gruppe junger Männer tritt und schlägt ohne Grund auf das zufällig ausgewählte Opfer ein. Jonny K. stirbt an den schweren Hirnblutungen im Krankenhaus. Die sechs Täter zwischen 19 und 24 Jahren werden wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Alle weisen jede Verantwortung für den Tod von Jonny K. weit von sich. Der Prozess zieht sich über mehrere Monate hin, doch Schuldgefühle, Scham oder Reue zeigen die Täter nicht. Nach der Verurteilung und dem Verbüßen von Bewährungsstrafen verhöhnen sie das Todesopfer und die trauernden Hinterbliebenen in den sozialen Netzwerken – sie stellen ihr Verbrechen als Heldentat und Jonny als Looser dar.
Jeden Tag werden in Deutschland 200 Bürger Opfer einer Prügelattacke in U-Bahnhöfen und auf der Straße. Mehr als die Hälfte der Tatverdächtigen sind Jugendliche.(3)
In Norddeutschland sticht im Juli 2011 ein 15-Jähriger auf seinen Vater ein, Dutzende Male, bis dieser im Hausflur tödlich zusammenbricht. Nachbarn sagen, der Junge habe seinen Vater regelrecht geschlachtet. Die Pressebilder zeigen ein über und über mit Blut verschmiertes Treppenhaus.
Im März des Jahres 2013 wird ein 22-Jähriger Heizungsmonteur vom Landshuter Landgericht zu lebenslanger Haft wegen des Doppelmordes an den Eltern seiner Ex-Verlobten verurteilt.
Der junge Mann hatte begonnen, ein Haus für sich und seine Verlobte zu bauen. Als die Beziehung zerbricht, sieht er die Schuld bei den Eltern des Mädchens. Im März 2012 dringt der damals 21-Jährige in das Elternhaus seiner Ex-Freundin ein, bewaffnet sich mit einem Messer und ersticht den 60-Jährigen Vater. Die Leiche schafft er in den Keller. Als die 54-Jährige Mutter eintrifft, sticht er über 30 Mal auf ihren Kopf und ihr Gesicht ein. Dann schleppt er die nahezu leblose Frau in den Partykeller und schlägt mit Axt, Schürhaken und Wetzstahl auf sie ein, bis sie stirbt. Die heimkehrende Ex-Verlobte zwingt er, bei der Beseitigung der Leichen zu helfen, andernfalls, so droht er, gebe es eine dritte Leiche. Die Eltern werden gemeinsam im Blumenbeet am Haus verscharrt. Seine Wut und seine Enttäuschung hat der junge Mann in tödlicher Horrofilm-Manier vergolten.
Im Februar 2013 steigt die 19-Jährige Elly S. zu einem Freund (23) ins Auto. Als sie ihm während der Fahrt droht, seine Drogengeschäfte anzuzeigen, schlägt ihr der junge Mann ins Gesicht, erwürgt sie und wirft ihre Leiche in einen Baggersee.
Wir fassen diese erschütternden Gewalttaten junger Menschen unter dem Begriff „Jugendgewalt“ zusammen, was uns suggeriert, dass sie irgendwie zur Jugend dazugehörten. Doch ist das wirklich so? Blenden wir nicht aus, dass sich mit der immer intensiver gewordenen Mediennutzung das Phänomen Jugendgewalt überhaupt erst entwickelt hat?
Wir haben uns an Amokläufe, Morde und Sexualstraftaten von Jugendlichen gewöhnt und die gängige Ursachenzuschreibung akzeptiert und verinnerlicht. Viele der von Jugendlichen begangenen Gewalttaten sind Abbilder von verstörenden Filmszenen, Internet-
angeboten und Computerspielen, doch das bemerken wir nicht. Unser Blick ist auf soziale Missstände, Gewalt in den Familien, Migrationshintergrund oder fehlende Perspektiven der jungen Täter gerichtet; die Berichterstattung der Medien hat uns fest im Griff. Wir glauben, was Nachrichten und Expertenrunden vermitteln, und hinterfragen die Deutungsmuster nicht.
Die Medienindustrie hat kein Interesse daran, sich selbst in Verruf zu bringen, und so wird weiter über soziale Missstände und die Problematik von Randgruppen diskutiert. Dass täglich grausame Gewaltdarstellungen auf Knopfdruck in die Gehirne von Kindern und Jugendlichen gelangen, bleibt in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeblendet. Dabei ist es mehr als offensichtlich, dass sich mit dem Einzug des Privatfernsehens und der permanenten Unterhaltung das Sozial- und Konfliktverhalten von Heranwachsenden verändert hat.
Die tägliche und selbstverständliche Mediennutzung ist für Kinder und Jugendliche zur Hauptfreizeitaktivität geworden. In Deutschland schauen Kinder mehr als drei Stunden täglich fern, hinzu kommen Internetangebote und Computerspiele, die das Fernsehen als Hauptfreizeitaktivität zunehmend ablösen.
Das Magazin Geo Wissen berichtet 2008 über eine unveröffentlichte Studie des Münchner Schulpsychologen Werner Hopf. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurde der Konsum von Mediengewalt und das Verhalten von 653 Schülern beobachtet und ausgewertet. Die Studie ergab, dass PC-Spiele noch vor der Gewalt in Film und Fernsehen die Hauptursache für Jugenddelikte wie Prügeleien, Vandalismus, Mobbing und Automatenaufbrüche sind. Brutale Computerspiele stellen demnach den größten Risikofaktor für jugendliche Gewalt dar. Zu demselben Ergebnis kommt auch der amerikanische Agressionsforscher Craig A. Anderson in seiner Studie.(4)
Studienergebnisse wie diese gelangen kaum in den Blick der Öffentlichkeit oder ins Zentrum der politischen Diskussion. Jugendgewalt wird politisch fast nie mit dem Gewaltangebot der Medien in Verbindung gebracht. Die Gewaltproblematik wird mit Überwachung und Bestrafung bekämpft, und erschreckende Taten werden als Einzelfälle abgetan.
In den USA strebt die Waffenlobby ernsthaft an, Schulkinder an der Waffe auszubilden, um sich vor Amokläufern und Gewalttätern schützen zu können. Eine solche Gruppe ist die „North Florida Survial Group“ mit 200 Milizen.(5) Sie bildet bereits Neunjährige an der Kalaschnikow aus. „Lerne, wie du jede Katastrophe überleben kannst“ verspricht die Gruppe, die eine von den unzähligen, unerkannt operierenden Privatarmeen in den USA ist.
Alle Versuche aber, mit Waffengewalt, Überwachungstechnologie und Strafrechtverschärfungen gegen die Gewalt vorzugehen, die täglich aufs Neue in die Gehirne von Kindern und Jugendlichen ausgesät wird, bleiben wirkungslos. Filme und Fernsehen, brutale Computerspielanimationen und Porno sind mehr als nur Zeitvertreib. Die Inhalte brennen sich in die Hirnstrukturen ein und liefern jungen und frustrierten Zuschauern entmenschlichte Vorbilder, die sie nachahmen, um Konflikte zu lösen oder sich stark zu fühlen.
Da das menschliche Gehirn keine eigenständige Intelligenz besitzt, sondern lediglich über eine Logik verfügt, die sich an unseren Emotionen orientiert, kann der Biocomputer auf unseren Schultern nicht unterscheiden zwischen den Daten aus der Scheinwelt der Bildschirme und den Daten, die wir im realen Leben aufnehmen. Das Gehirn operiert im Automatikbetrieb und nutzt alle gespeicherten Erfahrungsdaten, unabhängig davon, ob sie fiktional oder real erworben wurden. Wie wir denken oder fühlen und wie wir handeln, all das schöpft unser Gehirn aus Daten, die völlig unbewusst und automatisch von unserer geistigen Festplatte zur Verfügung gestellt werden.
Die geistigen Programme, die uns lenken, stammen nicht nur aus unseren Erfahrungen in der Realität, sie entwickeln sich auch beim Konsum von eindringlichen Filmen und Animationen, die Gefühle auslösen. Wir können bewusst nicht beeinflussen, welche unbewusst abgerufenen Inhalte unser Verhalten lenken. Täglich konsumierte Mediengewalt wird von jungen und empfänglichen Konsumenten in unser reales Leben übertragen, ungeachtet der gesellschaftlichen Konsequenzen.
Anti-Aggressionstrainings, Konfliktschlichtungskurse, Freizeit- und Bildungsangebote und die Überwachung von öffentlichen Plätzen können die Gewalt nicht verhindern, die tagtäglich in unsere Kinder- und Wohnzimmer gesendet und dort im Gehirn verankert wird. Solange mit der Flut von Mediengewalt Öl ins Feuer der neuronalen Gewaltenthemmung gegossen wird, sind alle bisherigen Präventionsmaßnahmen zur Jugendgewaltbekämpfung sinnlos.
2015 wurden an Hamburger Schulen 167 Fälle von schwerer Körperverletzung gegen Mitschüler gemeldet, 68 Fälle an Grundschulen. Sexualdelikte, Raub, Erpressung und schwere Körperverletzung sind Alltag an deutschen Schulen. Erschreckend ist der rasante Anstieg von sexuellen Gewalttaten die heute bereits Grundschüler begehen.(6)
Jugendliche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind 2015 im Vergleich zum Vorjahr um 7.80% gestiegen.(7) Aus dem Jahresbericht Jugenddelinquenz und Jugendgefährdung in Niedersachsen 2015 geht hervor, dass von Jugendlichen verübte Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 2.85% und die Zahl der Tatverdächtigen um 5.12% gestiegen sind. Die Zunahme minderjähriger, nichtdeutscher Tatverdächtiger ist zum Vorjahr um 38.48% gestiegen.(8)
Ein Blick in die Statistiken der letzten Jahre zeigt zunächst einen Rückgang der Jugendgewalt. Allerdings sind folgende Entwicklungen zu berücksichtigen: dder Bevölkerungsanteil Jugendlicher unterliegt einem Wandel, seit den Neunzigern verzeichnen wir einen deutlichen Rückgang von Heranwachsenden an der Gesamtbevölkerung; Aussagen über das Dunkelfeld der Jugendkriminalität können nicht getroffen werden; das Freizeitverhalten verändert sich – ein Jugendlicher vor dem Bildschirm hat weniger Möglichkeiten, straffällig zu werden, als ein Jugendlicher, der mit seiner Clique unterwegs ist; die Aufklärungsquote unterliegt Veränderungen; die organisierte Kriminalität von Jugendgangs, wie es sie in den Anfangsjahren der Jugendgewalt gab, ist von der Bildfläche verschwunden; Gewalt ist zunehmend geächtet; es wird verstärkt in Maßnahmen zur Gewaltprävention investiert. Alle Faktoren zusammen scheinen zu einem Rückgang zu führen. In den Medien kommen üblicherweise Stimmen zu Wort, die äußern, dass für eine Dramatisierung der Jugendkriminalität keinen Anlass bestehe oder es keinen empirischen Beleg für eine zunehmende Brutalisierung gebe.(9) (10)
Doch das Wesen der Jugendgewalt hat sich tiefgreifend verändert; bei gewalttätigen Auseinandersetzungen wird auch der Tod des Opfers ungerührt in Kauf genommen. Die Hemmschwelle, brutalste Gewalt einzusetzen, ist gesunken. Vor allem die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wächst bei Kindern und Jugendlichen im Medienzeitalter rasant an – und dafür gibt es Gründe.(11)
Abschließende Klarheit lässt sich in die Auswertung der Statistiken nicht bringen. Auffallend ist jedoch die Veränderung von Jugendgewalt – einhergehend mit der Mediennutzung. Überall auf der Welt, wo Fernsehen und Internet zur Hauptfreizeitaktivität von Heranwachsenden geworden sind, häufen sich brutale und entmenschlichte Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen.
Im ostfranzösischen Besancon dringt im Dezember 2010 ein 17-Jähriger mit zwei Schwertern bewaffnet in eine Vorschule ein.(12) Er nimmt 19 Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren sowie die Lehrerin als Geisel. Für seine Tat kann er keine Gründe nennen. Vorbilder hätte er sicher nennen können, wenn man ihn gefragt hätte.
Es erweist sich als sinnlos, bei der Suche nach den Ursachen von Jugendgewalt die Motive der Täter zu hinterfragen oder das soziale Umfeld zu analysieren. Die meisten Täter können ihre Motive nicht benennen, und die Mehrzahl hat in irgendeiner Form familiäre oder schulische Probleme, ist frustriert und aggressiv. Das ist aber kein ausschließliches Randgruppenproblem.
Frustrierte Menschen sind generell gewaltbereiter als zufriedene. Das ist zu allen Zeiten so. Doch im Gegensatz zu jenen Zeiten, als wir noch nicht permanent den Medien ausgesetzt waren, kompensieren heute viele junge Menschen ihre Frustrationen wie selbstverständlich mit roher Gewalt. Zu neuen Erkenntnissen gelangen wir also erst, wenn wir untersuchen, was junge Gewalttäter psychisch in die Lage versetzt, rohe Gewalt völlig enthemmt und ohne Mitgefühl einzusetzen.
Der Mensch ist von Natur aus ein mitfühlendes Wesen, doch junge Gewalttäter zeigen keine natürlichen Reaktionen hinsichtlich ihrer Taten. Sie empfinden in der Regel kein Mitgefühl für das Leid des Opfers und zeigen bei ihrer Verhaftung nur selten Scham oder Reue.
Die Unverhältnismäßigkeit, mit der Gewalt ausgeübt wird, macht betroffen. Doch wirkungsvolle Gewalt-Präventionsmaßnahmen werden wir erst entwickeln, wenn wir die Ursachen dieser Gewaltenthemmung anerkennen und angehen. In der Vergangenheit wurde Jugendgewalt mehrheitlich Heranwachsenden mit Migrationshintergrund aus den sozialen Brennpunkten zugeschrieben. Interessanterweise findet sich in dieser Gruppe aber nicht nur die höchste Gewaltrate, sondern auch die stärkste Mediennutzung.
Mittlerweile sind immer häufiger auch Heranwachsende auffällig, die weder einer sozialen Randgruppe angehören, noch einen Migrationshintergrund haben. Der Gewaltvirus der Medien breitet sich unabhängig vom Sozialstatus aus, einhergehend mit der Intensität der Mediennutzung. Kinder und Jugendliche mit einem höheren Bildungsniveau nutzen verstärkt Internetangebote und Computerspiele. Im Zuge dieser Entwicklung werden nun auch Kinder aus geordneten und gut situierten Familienverhältnissen gewalttätig und verhaltensauffällig.
Auf einer Schulreise im Sommer 2010 vergewaltigen zwei 19-Jährige Lübecker Gymnasiasten ein 15-Jähriges Mädchen und filmen die Tat mit ihren Handys.(13) Die ungewöhnlich jungen Vergewaltiger stammen aus guten Familienverhältnissen, haben Zukunftsperspektiven, sind sozial integriert und haben keine Vorstrafen. Sie passen nicht in das gängige Täterprofil – die bisherige Ursachenzuschreibung hat ausgedient.
Steht das Klischee des gewalttätigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund als Erklärung für die Öffentlichkeit nicht zur Verfügung, berichten die Medien über nicht näher spezifizierte psychische Störungen oder eine Verletzung der Aufsichtspflicht. Erklärungen, die im Grunde keine sind, denn sie erklären nicht, wie es zu der unverhältnismäßigen Brutalität und Hemmungslosigkeit kommt, mit der Gewalt eingesetzt wird.
Jeder, der rohe Gewalt ausübt, hat eine verzerrte Wahrnehmung und in diesem Sinne eine psychische Störung. Die untypischen Täterprofile weisen vielmehr darauf hin, dass das Phänomen Jugendgewalt heute eine neue Dimension erreicht hat – unabhängig von Sozialstatus und Bildung.
Der alarmierende Anstieg von Sexualstraftaten, die Minderjährige und sogar Grundschüler begehen, ist ein weiteres Indiz dafür, welche Wirkung die Mediennutzung auf das Gehirn von Kindern und Jugendlichen hat. In Deutschland kann seit einigen Jahren jedes Kind rund um die Uhr und kostenfrei harte Pornographie im Internet und auf dem Smartphone konsumieren.
Jugendgewalt ist ein Produkt des Medienzeitalters. Sie wird sich nicht von allein erledigen und kann mit den bisherigen Präventionsmaßnahmen nicht eingedämmt werden. Daher gilt:
Solange wir zulassen, dass sich unsere Kinder täglich mit Gewalt und Pornographie unterhalten, wird sich die Welle der Jugendgewalt weiter wie ein Virus über den gesamten Erdball ausbreiten. Dabei sind heute Mädchen und Frauen mehr denn je gefährdet, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Der „Gewalt-Virus“ entfaltete zuerst seine Wirkung in den sozialen Randgruppen, hier kommen verschiedene Faktoren verstärkend zusammen: Soziale Benachteiligung, Ausgrenzung und häusliche Gewalt sind ein fruchtbarer Nährboden für die Saat brutaler Vorbilder.
Doch nun ist eine Zeit angebrochen, in der vor unseren Augen sichtbar wird, dass jedes Kindergehirn die optimalen biochemischen Voraussetzungen für die Verankerung gewalttätiger Handlungsvorbilder bietet. Die Saat der medialen Gewalt trägt inzwischen – ganz unabhängig von Sozialstatus und Bildung – hässliche Früchte in unser Leben. Erst, wenn wir dort anzsetzen, wo Gewalt beginnt – und das ist im Kopf der potentiellen, jungen Täter – können wir wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen entwickeln.
Bevor ein Jugendlicher gewalttätig wird, hat er eine Vorstellung von Gewalt und entsprechende Phantasien. Das kaltblütige Massaker, das Anders Breivik am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Ferieninsel Utöya begeht, ist ein Paradebeispiel für die Verwirklichung von Gewaltphantasien: Ein seriös wirkender 32-Jähriger Mann im Polizeipullover fährt mit einem Boot zur Jugendferieninsel Utöya und gibt vor, wegen eines Bombenanschlags in Oslo nach dem Rechten sehen zu wollen. Tatsächlich befinden sich in seinem Gepäck ein Schnellfeuergewehr und Munition. Er feuert neunzig Minuten lang wahllos auf fliehende und weinende Jugendliche. Einige winkt er zu sich heran und erschießt sie aus nächster Nähe.
Insgesamt tötet Anders B. Breivik an diesem Tag
77 Menschen – bis er von einer Spezialeinheit überwältigt wird. Eine entsetzliche und zunächst unerklärliche Tat, die Welt ist im Schockzustand. Breivik ist zwar kein jugendlicher Amokläufer, aber er setzt nach eigenen Angaben einen jahrelang vorbereiteten Anschlag um.
Die Idee zu diesem Massaker keimt bereits in seiner Jugend in ihm. Der schockierende Massenmord geht als wahnsinniger, politisch motivierter Doppelanschlag in unsere Geschichte ein, doch Andres Breivik gibt auch zu Protokoll, dass er seit seinem 15. Lebensjahr mit Begeisterung das brutale Computerspiel Warcraft spielt, das er als das beste Vorbereitungstraining für sein Massaker auf der Ferieninsel Utöya beschreibt. Dieser wichtige Aspekt seiner Entwicklung zum Massenmörder bleibt in der öffentlichen und politischen Diskussion seiner Tat jedoch weitestgehend ausgeblendet.
1 http://www.sueddeutsche.de/panorama/pruegelattacke-nach-schlichtungsversuch-einfach-totgetreten-1.1624707 (08.11.2017)
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Todesfall_Jonny_K. (11.11.2017)
3 https://www.youtube.com/watch?v=QKEwAyp7mms (08.11.2017)
4 Craig A. Anderson et al. (2003) The influence of media violence on youth. In: Psychological Science in the Public Interest, Volume 4, Issue 3, S.81-110.
5 http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/waffenrecht-in-den-usa-uebung-der-miliz-north-florida-survival-group-a-885349.html, 10.04.2017.
6 https://www.gew-hamburg.de/themen/schule/die-gewalt-an-schulen-steigt-und-der-senat-verschleiert-es
7 Hrsg. Landeskriminalamt Niedersachsen, Dezernat 32, Am Waterlooplatz 11, 30169 Hannover: Jahresbericht Jugenddelinquenz und Jugendgefährdung in Niedersachsen 2015
8 Landeskriminalamt Niedersachsen, Zentralstelle Jugendsachen, www.Ika.polizei-nds.de
9 https://kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/3360/12907.pdf?sequence=1
10 http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gangsterlaeufer/203562/zahlen-und-fakten?p=all
11 http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/jugendgewalt_in_deutschland/index.html#Wachsende_Gewaltbereitschaft
12 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/besancon-geiselnahme-in-kindergarten-unblutig-beendet-11084168.html. 07.11.2017
13 https://www.welt.de/vermischtes/article7598640/Luebecker-Gymnasiasten-aus-U-Haft-entlassen.html (10.11.2017)