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Martina Kempff

Umwege

Ihr Leben war ein einziger Irrtum. Falsche Männer, falscher Beruf, falsche Schuhe. Und jetzt hatte sie auch noch den falschen Zug genommen. Cleo Vivianis warf einen bösen Blick auf die Fenster der Werbeagentur im zweiten Stock und schickte dann das winzige Steinchen hinterher, das schon seit Stunden ihren linken kleinen Zeh malträtiert hatte. Sie hatte sich in der Zeit geirrt. Zwei Stunden Verspätung hatten der Agentur genügt, um die freie Stelle mit einer anderen Kandidatin zu besetzen.

Eine Woche lang hatte Cleo an ihrer Mappe gearbeitet. Acht Stunden hatte die Anreise gedauert. Als sie in der Agentur eingetroffen war, hatte man ihr weder Stuhl noch Kaffee angeboten. Während sie mit gekrümmten Zehen das Steinchen im Schuh umzulagern versucht hatte, war sie von der Sekretärin mit ein paar dürren Worten abgefertigt worden.

Im Internetcafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite bestellte sie einen Kaffee und rief ihre E-Mails ab. Jetzt, da sich der Traum von der Festanstellung in der Werbeagentur als ebensolcher erwiesen hatte, durften ihr keine Aufträge durch die Lappen gehen. Bloß nicht wieder aus Versehen ein Angebot als Spam wegklicken!

Der Irrtum bestimmt mein Leben, dachte Cleo. Es hatte achtunddreißig Jahre zuvor ja schon mit einem begonnen. Ihre Eltern, damals gerade erst aus Griechenland nach Lübeck gezogen, sprachen kein Wort Deutsch und waren auf die Übersetzerdienste eines griechischen Studenten in der Nachbarschaft angewiesen. Dieser war ins Stottern geraten, als er seinen Landsleuten die Diagnose des Arztes mitgeteilt hatte: Zoe Vivianis werde nur dieses eine Kind bekommen können, kein weiteres mehr. Aus eigenem Antrieb fügte der junge Grieche einen Satz hinzu: »Der Arzt ist sicher, dass es ein Junge sein wird.«

»Selbstverständlich!«, nickte der werdende Vater.

Als die Geburtshelferin nach dem Kaiserschnitt den Säugling hochhielt, rief die Mutter: »Klaiw!«, und brach in Tränen aus.

Die Geburtshelferin nickte, trug in die Akte den Vornamen Cleo ein und war nicht überrascht, dass auch der Vater wenig später die gleichen Laute von sich gab und ebenfalls herzzerreißend weinte. Gefühlsausbrüche bei Geburten waren normal und im Süden vielleicht ein wenig heftiger, dachte die Hebamme. Sie bedauerte, dem Paar nicht in seiner eigenen Sprache gratulieren zu können. Hätte sie diese aber verstanden, wäre Cleo mit einem anderen Namen durchs Leben gegangen.

Der Ausruf ihrer Mutter bedeutete schlicht »Ich weine!«, und die Tränen galten dem Geschlecht des einzigen Sprösslings, der ihr je vergönnt sein würde. Als wenig später der griechische Student erschien, bat ihn der untröstliche Vater, die mit der Geburt eines Kindes verbundenen Behördengänge zu übernehmen, und unterschrieb tränenblind die entsprechenden Papiere.

Zum Eklat kam es, als die Eltern wenige Tage später dem Studenten mitteilten, das Kind solle zu Ehren der Mutter des Mannes Efrossini genannt werden. Dem Studenten dämmerte die Entstehungsgeschichte des Namens, den er beim Standesamt angegeben hatte. Eilig wies er darauf hin, dass Cleo – mit Epsilon geschrieben – ein ausgezeichneter Name für ein Einzelkind sei, da dies ruhmreich bedeute. Er zitierte Cicero: »Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch, wenn der Leib zu Staub zerfallen, lebt der große Name noch«, und setzte leise hinzu: »Denken Sie an Cleopatra!«

»Sie wird Efrossini heißen!«, schrie der Vater.

»Dieser Name ist in Deutschland nicht zugelassen«, gab der Student zu bedenken, dem vor weiterem Warten in deutschen Amtsstuben graute.

»Was? In Deutschland ist es nicht zugelassen, die eigene Mutter zu ehren? Ich rufe sofort die griechische Botschaft an!« Fluchend verließ er das Gebäude.

»Eigentlich gefällt mir Cleo ganz gut«, sagte Zoe Vivianis. Der Student nickte zustimmend. Er hatte bisher keine griechische Frau getroffen, die am Namen ihrer Schwiegermutter hing.

»Es wird für Ihren Mann nicht leicht sein, die Papiere zu ändern. Wir sind schließlich in Deutschland«, sagte er. »Nur wenn sich die Botschaft einschaltet …«

Zoe winkte ab.

»Der ruft doch nicht die Botschaft an! Er ist in die Kneipe gegangen, um sich zu betrinken. Und wenn ihn morgen Kopfschmerzen plagen, wird ihm egal sein, wie seine Tochter heißt.«

Noch Jahre später schloss Cleo die Geburtshelferin und den Studenten in ihre Nachtgebete ein, dabei jedes Mal leicht erschauernd, dass sie um Haaresbreite dem Schicksal entgangen war, als Efrossini, oder schlimmer und wahrscheinlicher als Frosso in der norddeutschen Kleinstadt leben zu müssen, in die ihre Familie wenig später gezogen war.

Der Irrtum, mit dem ihr eigenes Leben begonnen hatte, war längst nicht der einzige, der die Familiengeschichte kennzeichnete. Über den ersten und größten Irrtum wurde bei den Vivianis so laut geschwiegen, dass er nie der Vergessenheit anheimfallen konnte. Dimitri Vivianis, letzter Sohn einer kinderreichen Familie in einem kleinen griechischen Dorf, wurde nach dem Tod seines Vaters das uninteressanteste Stück Land zugeteilt: Acht Hektar direkt am Meer – eine kleine Katastrophe. Ein vernünftiger Mensch konnte gar nicht auf die Idee kommen, dort etwas anzubauen oder gar ein Haus zu errichten. Alles im Dunstkreis der salzhaltigen Luft war der Zerstörung ausgesetzt. Dimitri weinte vor Glück, als ihn ein deutscher Gast für ein paar Tausend Mark von dem wertlosen Stück Land befreite. Er weinte zwei Jahre später wieder, als das Touristenzentrum Form anzunehmen begann.

Wegen seiner Dummheit hatte er im Dorf das Gesicht verloren. Im Wechsel schmiedete er Rache- und Auswanderungspläne, beschloss beide miteinander zu verbinden, nach Deutschland zu gehen und dort den Deutschen das Geld abzunehmen. Wie leicht das ging, hatte er von Nachbarn gehört, die stolz Waschmaschine, Fernseher und Kühlschrank vorzeigten, finanziert vom in Germania arbeitenden Sohn Jorgos. Das Glück winkte Dimitri. Die Fabrik, in der Jorgos arbeitete, wollte auch ihn einstellen. Er regelte seine Angelegenheiten in Griechenland, heiratete Zoe und zog mit ihr in das Land jener Leute, die aus ihm unerfindlichen Gründen ihre Sommerhäuser am Mittelmeer ausgerechnet zur kalten und windigen Seeseite hin mit riesigen Fenstern ausstatteten.

Cleos Vater wäre an den vielen Irrtümern, denen er bereits erlegen war, wahrscheinlich zerbrochen, hätte ihre Mutter nicht all die Kraft aufgeboten, zu der nach Cleos Ansicht nur Frauen fähig waren, denen man nichts zutraute. Zoe beschloss, die Familie zu ernähren. Sie überredete Dimitri, die schlecht bezahlte und eines freien Mannes unwürdige Arbeit in der Fabrik aufzugeben und mit dem letzten Rest des Geldes aus dem nie wieder erwähnten Tauschhandel die Pacht für eine griechische Taverne zwischen Lübeck und Kiel anzuzahlen.

Zoes Moussaka rettete die Familie und Dimitris Stolz. Und schon bald lockten seine Tanzkapriolen zu später Stunde sogar noch mehr Gäste ins Lokal als die Kochkünste seiner Frau. Die Deutschen, die sich auf seinem einstigen griechischen Eigentum in der Sonne aalten, sehnten sich nämlich in der nördlichen Kälte nach der entspannenden Atmosphäre ihres Urlaubslandes. Endlich konnte auch Dimitri fern der Heimat aus dem Tourismus Kapital schlagen. Jede Mark, die in die Kasse floss, stillte etwas von seiner Rache.

Hoch erhobenen Hauptes kehrte er mit seiner Frau ein Vierteljahrhundert nach seiner Auswanderung in sein Heimatdorf zurück, kaufte die Strandtaverne auf seinem ehemaligen Grundstück und ließ sich gefallen, dass ihn die Dorfbewohner nur noch O Germanos – der Deutsche – nannten. Ein Irrtum, mit dem er leben konnte.

»Halte fest, was dir gehört!«, war seitdem einer der Lieblingsaussprüche von Cleos Vater. Natürlich erwähnte er nie, weshalb sich seiner Meinung nach die meisten Entscheidungen als Irrtümer entpuppten und man dem Leben daher besser einfach seinen Lauf lassen sollte. Abwarten und Ouzo trinken. Das vermeide irrende Umwege.

Sie sollte ihren Eltern schreiben, dachte Cleo. Sie überprüfte ihre Privatmails und klickte auf die Nachricht einer alten Schulkameradin: die seitenlange Schilderung einer Trekkingtour ins Innere Asiens, die einem Scheidungskrieg gefolgt war und der Schreiberin endlich das Glück der Ungebundenheit vor Augen geführt hatte.

»Umwege«, murmelte Cleo befriedigt, und beim nächsten Satz blieb ihr Herz stehen.

Stell dir vor, Cleo, Viktor Damian ist jetzt berühmt geworden! Wer hätte das von dem mickrigen Kerlchen erwartet. Du kanntest ihn damals doch besser, oder?

Viktor Damian.

Cleos Herz schlug schneller. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf ihren Atem. »Nur ein Name, nur ein Name«, murmelte sie leise vor sich hin. Sie drückte die Hände an die Brust. Wie konnte das Eisengitter, das sie vor so vielen Jahren um ihr Herz gelegt hatte, beim bloßen Anblick eines Namens zu zerspringen drohen? Jenes Eisengitter, das ihre Hoffnungen, ihren Lebenstraum fest umschlossen hielt? Mit ihrem Atem verankerte sie es wieder und öffnete die Augen. Verwirrt starrte sie auf die große Uhr des Internetcafés. Unmöglich, dass sie sich eine halbe Stunde lang mit der Lektüre des Urlaubsberichts beschäftigt hatte, und unmöglich, dass sie so lange mit geschlossenen Augen vor dem Bildschirm gesessen haben sollte.

»Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?«

Der Betreiber des Internetcafés legte eine Hand auf ihre Schulter. Cleo zuckte zusammen.

»Alles in Ordnung«, sagte sie.

»Schlechte Nachrichten bekommen? Shit happens.«

»Ein Glas Wasser wäre gut«, sagte Cleo, um ihn loszuwerden.

Er hat gerade einen Preis für den besten Videoclip des Jahres erhalten, las Cleo weiter, eine tolle Laudatio! Schau sie dir mal selber an!

Cleo klickte auf die angegebene Website. Als kreativster Kopf der Videoclip-Branche habe Viktor Damian diesen Preis eigentlich schon lange verdient, hieß es dort. Auch seine schwarz-weiß gedrehten Kurzfilme mit ihren geheimnisvollen Botschaften und der unheilschwangeren Atmosphäre haben schon seit Jahren Kultstatus. Vergänglichkeit ist sein Thema, der vergebliche Versuch des Menschen, auch nur einem Aspekt seines Lebens – sei es Liebe, Nahrung, Körper, Gegenstand oder Gefühl – Haltbarkeit abzugewinnen.

Er hatte sich also nicht geändert. Wehmütig lächelnd entsann sich Cleo der Fotos von zerrupften Vögeln, verrottetem Obst, Schlachtabfällen und Eiterpickeln in Großaufnahme. Er ist seinen Weg konsequent weitergegangen, hat keine Umwege gemacht und ist wahrscheinlich nie zu spät gekommen. Trauer stieg in ihr auf. Doch dann dachte sie an die Verbitterung ihres Vaters, der sich mit den Verlusten, die durch seine Irrtümer entstanden waren, nie gut hatte arrangieren können. Das durfte ihr nicht passieren. Sie selbst hatte Viktor damals fortgeschickt und zugelassen, dass er etwas Unwiederbringliches mitgenommen hatte.

Links zu weiteren Websites waren angegeben. Sie besuchte eine nach der anderen. Überall wurde das Werk des Künstlers gelobt. Seltsamerweise gab es nicht einmal auf seiner Homepage ein Foto von ihm selbst. Sie hätte gern gewusst, wie er heute aussah.

Damals war er mickrig gewesen, wie die Schulkameradin geschrieben hatte. Ein untersetzter Junge, der als Folge eines Unfalls das linke Bein etwas nachzog. Bücher hatten ihm im Krankenhaus die Welt geöffnet, vor allem Lyrik- und Fotobände. Als er an seinem fünfzehnten Geburtstag aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schenkten ihm seine Eltern einen Fotoapparat. Von da an antwortete er auf die Frage, was er später einmal werden wolle: »Ich bin Fotograf.«

Allerdings keiner, den man zweimal um eine Porträtaufnahme bat, erinnerte sich Cleo. Er hatte sogar die Klassenschönheit Lydia als Wesen abgelichtet, dem man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen wollte.

Als Folge des Krankenhausaufenthalts musste Viktor eine Klasse wiederholen. Die Lehrerin setzte den stillen neuen Außenseiter neben Cleo, die stille alte Außenseiterin, die nach dem Unterricht nicht mit den anderen herumlungerte, sondern immer schnell nach Hause eilte. Dort gab es viel zu tun.

Solange sie zurückdenken konnte, hatte Cleo im Restaurant mitgeholfen. Schon als Fünfjährige hatte sie Gläser, Besteck und Servietten zu den Tischen gebracht, und dies hatte ihrem Vater eine Nacht auf dem Polizeirevier eingebracht.

»Kinderarbeit!«, tobte er, als er am nächsten Morgen zurückkehrte. »Von Familienleben haben die Deutschen wohl noch nie etwas gehört! Wo soll ich meine Tochter denn sehen, wenn nicht im Restaurant? Und wieso ist sie gefährdet, wenn sie ein paar Gläser auf die Tische stellt? Ich habe mit sechs schon auf dem Feld gearbeitet, und das hat mir auch nicht geschadet, ganz im Gegenteil!«

Cleo war auch nicht gut auf die Polizei zu sprechen, die ihr die schönen Stunden im Gastraum geraubt und dafür gesorgt hatte, dass sie fortan in der Küche mithelfen musste. Das war weit weniger spannend und viel anstrengender. Zoe entwickelte von da an einen Extra-Sinn für Gefahren. Mitarbeiter der Gewerbeaufsicht, des Gesundheitsamts, der Fremdenpolizei oder einer anderen Behörde roch sie, lange bevor diese den Weg in die Küche fanden, und scheuchte ihre Tochter immer rechtzeitig die Hintertreppe hinauf. Mit zwölf übernahm Cleo die gesamte Buchhaltung des Familienunternehmens, gestaltete Menükarten, kümmerte sich um alle Behördengänge und die entsprechende Korrespondenz. Ihr Vater hatte in seinen Fabrikmonaten ein paar Brocken Deutsch gelernt, und bei diesen blieb es, bis er fünfundzwanzig Jahre später wieder in die Heimat zurückkehrte. Zoe gab sich mehr Mühe, sprach auch einigermaßen flüssig Deutsch, führte aber einen aussichtslosen Kampf gegen die Buchstaben.

Cleo sah auf die Uhr. Ihr Zug würde erst in drei Stunden fahren. Genug Zeit, um Viktor zu seiner Auszeichnung zu gratulieren. Sie klickte auf die E-Mail-Adresse seiner Homepage.

Hallo, lieber Viktor,

Wie meldet man sich nach mehr als zwanzig Jahren zurück?

Gratuliere zu deinem Preis. Den hast du ja schon seit Längerem verdient.

War das jetzt ein Kompliment? Sie kannte seine Werke gar nicht, also konnte sie sich ein solches Urteil nicht erlauben. Sie strich den letzten Satz und schüttelte wütend über sich selbst den Kopf. Sie war Texterin, Werbetexterin, da sollte es doch ein Klacks sein, einem alten Schulfreund Guten Tag zu sagen! Aber Viktor war nicht nur ein alter Schulfreund, sondern ihr Verbündeter gewesen. Er hatte mit seinen düsteren Fotos einst ihr Leben erhellt. Sie angeregt, Worte für Unbeschreibliches zu finden. Ob gereimte oder ungereimte, schnell herausgeschossene oder schwer erarbeitete; es waren immer Worte, die sie stolz und glücklich gemacht, ihr eine Bestimmung jenseits des elterlichen Gastraumes gegeben hatten. Viktor hatte die Dichterin in ihr erweckt. Sie in ihm etwas anderes. Daran war die Freundschaft zerbrochen.

Wie ich höre, hast du ihn dir redlich verdient. Sie strich redlich. Kein Wort, das zu jenem Viktor passte, den sie einmal gekannt hatte. Aber ohne redlich sah der Satz reichlich banal aus. Wieder betätigte sie die Löschtaste.

Nach was für Kriterien wurden Videoclip-Preise eigentlich verliehen? Sie kehrte auf eine der Websites zurück und fand einen Link, über den sie sich den preisgekrönten Clip ansehen konnte.

Die Köpfe der anderen Internetcafé-Besucher fuhren hoch, als Klänge einsetzten, die Erinnerungen an quietschende Kreide auf der Klassentafel weckten. Entschuldigend blickte sich Cleo um und stellte den Ton leiser. Schwarze Schemen hüpften über den Bildschirm, schienen eine Art Tanz aufzuführen. Aus einem drohend dunklen Himmel stürzten Gestalten, die entfernt an Fallschirmspringer erinnerten, sich bei näherem Hinsehen aber als Schildkröten entpuppten. Als sie den Grund berührten, zerbarsten die Panzer und entließen eine Schar von Würmern. Diese schlängelten sich in den Vordergrund, griffen die Tanzenden an und wanden sich blitzschnell um sie herum, bis diese, in steife Stöcke verwandelt, einen Zaun bildeten, hinter dem die Sonne aufging. Das kann nichts Gutes verheißen, dachte Cleo, und natürlich hatte sie recht. Das heiße Licht der Sonne trocknete die Würmerstöcke aus. Sie fielen in kleinen, immer schneller regnenden Stücken wie Kleiebrocken auf die Erde. Als die Sonne hoch am Himmel stand, beschien sie kleine weiße Hügel. Die zuvor von den Kriechtieren umschlungenen Figuren waren verschwunden.

»Den Himmel geschaut und von Würmern verdaut«, sagte Cleo laut. Sie zoomte auf einen der Hügel. Viktor, ihr Viktor von früher, würde aus dem vertrockneten Würmerberg bestimmt ein Kunstgebiss oder eine Brille lugen lassen. Sie fand tatsächlich einen wurmfremden Gegenstand, konnte ihn aber nicht identifizieren und rief den Internetcafé-Betreiber zu sich. Der wurde rot, wand sich und erklärte, er wisse es auch nicht.

»Ein Penis-Ring!«, hörte sie neben sich eine Stimme, die zu einem etwa Zwölfjährigen mit Pickelgesicht gehörte, der sie nun anstrahlte.

»Danke«, murmelte Cleo, verließ die Website und kehrte zu ihrer Mail zurück.

Ein sehr expressives Werk. Aber etwas anderes hätte ich von dir auch nicht erwartet. Ich würde mich sehr freuen, von dir zu hören.

Hören? Wohl kaum. Sie löschte das Wort. … erfahren, wie es dir geht und wie es dir in den vergangenen zwanzig Jahren ergangen ist. Ich wohne inzwischen in Süddeutschland und arbeite freiberuflich. Natürlich mit Texten. Dich haben eben die Bilder und mich die Worte nicht losgelassen. Ich denke gern an unsere ersten Gehversuche in das, was unsere Zukunft werden sollte, zurück.

Zu gespreizt. Locker bleiben. Sie löschte die zweite Hälfte des Satzes und schrieb: … Gehversuche ins kreative Leben zurück. Es wäre schön, wenn du dich mal melden würdest. Herzlichst, Cleo

Wie gut, dass ich nicht Sabine oder Sandra heiße, dachte sie, dann müsste ich wohl meinen Nachnamen dahinter schreiben. Wie gut, dass ich nicht Frosso heiße, danke, liebe Geburtshelferin, danke, lieber Student.

Kreatives Leben, welch ein Witz! Sollte er doch denken, dass auch sie ihrem Weg unbeirrt gefolgt und Dichterin geworden war. Als ob man sich davon ernähren könnte. Heute dienten ihr Worte zum Geldverdienen. Aus der Leidenschaft zur Lyrik hatte das Leben ein Werkzeug gemacht, das für die Wirtschaft verlogene Sätze schmiedete. Nie wieder hatte sie nach Viktors Weggang ein Gedicht geschrieben – und als Erwachsene Verse nur fürs Marketing. Jetzt bitte nicht an Broll denken, dachte sie, und dachte an Broll.

Dieses Unternehmen hatte eine Agentur beauftragt, für ein Fitnessgerät zum Abbau von Wohlstandsbäuchen einen verkaufsträchtigen Spruch zu finden. Cleo hatte mit dem Slogan Am Bauch sitzt zu viel Speck? Brollen Sie ihn weg! einen Megahit gelandet. Die Agentur konnte sich endlich ihren Anbau leisten, das Fitnessgeräteunternehmen seinen Werbeetat vervielfachen, und Cleo war um dreihundert Euro reicher.

An die Träume ihrer Jugend hatte sie lange keinen Gedanken mehr verschwendet, auch nicht an das Hochgefühl, das sich damals durch gelungene Verse und Viktors anerkennenden Blick eingestellt hatte. Erst sein Name auf dem Monitor brachte alles wieder zurück. Bilder, Gedichte, Hoffnungen – sie dachte mit Groll an Broll und drückte rasch auf Senden. Kurzes Aufleuchten, und die Mail an Viktor war weg.

Ihr brach der Schweiß aus. Was hatte sie nur getan? Ihre Hände zitterten. Sie musste sie beschäftigen. Sie griff zu einem Stift und begann, auf dem kleinen weißen Block neben sich herumzukritzeln. Irgendwann wurden daraus Schriftzeichen, ein Satz entstand wie von selbst: Mit dem aufbrechenden Licht treibe ich zurück in das Dunkel meiner sinnlosen Tage.

Sie riss das Blatt ab und zerknüllte es. So ein Quatsch! Was hatte dieses scheußliche, wenn auch preisgekrönte Filmchen nur mit ihr angestellt? Warum melde ich mich überhaupt bei einem Menschen zurück, den ich vor Jahrzehnten in die Wüste geschickt habe? Wahrscheinlich bin ich nach der soeben erlittenen Niederlage in der Werbeagentur nur prominentengeil. Viktor hat Karriere gemacht, und ich will mich jetzt in seinem Glanz sonnen und dichte ihm eine Bedeutung an, die er gar nicht hat. Sie trank einen Schluck Wasser. Augenblicklich fühlte sie sich besser.

Viktor hat mit meinem Leben nichts zu tun, er kommt gar nicht darin vor. Ich sollte den Staub der verlorenen Jugend abschütteln, ins Hier und Jetzt zurückkehren und meine E-Mails checken.

Es war tatsächlich eine neue eingetroffen. Endlich ein Auftrag. Eigentlich sollte der ihr Herz höher schlagen lassen. Die Caran-Agentur brauchte einen griffigen Slogan für den Miniaturwald im Wohnstudio. Desinteressiert betrachtete Cleo den Bonsaiwald im Anhang. Winzige, vergreiste Bäume, war ihr erster Gedanke. Verwitterte Zeugen längst vergangener Zeiten. Wurzeln, die sich nach oben schoben, der Schwerkraft zu trotzen schienen wie die gefurchten Baumstämme den Stürmen. Alles Lüge, alles künstlich, lebendig zwar, aber der Natur gestohlen, in eine Form gezwängt und am Wachstum gehindert.

Rasch aktivierte Cleo die Schere in ihrem Kopf und schnitt diese wirtschaftlich sehr uneinträglichen Gedanken weg. Bäume in der Wohnung sorgen für Sauerstoff, schmücken die Fensterbank und regen zu Träumen an.

Träume sind Schäume sind Bäume. Nein, da musste ihr schon was Besseres einfallen.

Sie kehrte zum Posteingang zurück und erstarrte. Viktor Damian hatte bereits geantwortet.

Mit einer Grafik. Auch er kam ihr mit einem Baum, welch ein Zufall. Kein Bonsai, sondern eine Eiche. In deren Rumpf eine Axt geschlagen war, sodass der Stamm jeden Augenblick umzufallen drohte. Vor Eichen sollst du weichen, murmelte sie und schämte sich dieser Einfallslosigkeit. Hätte sie sich früher selbst nie durchgehen lassen. Ihre Mutter hatte sie im letzten Monat angeschrieben und sie gebeten, sich zu erkundigen, ob Eichen auch auf griechischem Boden gedeihen könnten und wie lange es dauern würde, bis so ein Baum ein bisschen Eindruck machte. Wer seine Taverne O Germanos nannte, sollte schließlich eine deutsche Eiche vor der Tür stehen haben. So wie es aussah, würde sich Cleo in der nächsten Zeit mit Bäumen beschäftigen müssen. Es gab Schlimmeres.

Sie musterte Viktors Baum. Ein knorriges Gebilde, wie es sich für eine Eiche gehört. Es wäre bezeichnend für Viktor, wenn er eine Botschaft in die ansonsten wortlose Nachricht verpackt hätte. Sie betrachtete den verwundeten Stamm. Kein Spinnennetz. Das hätte auf die verstrichene Zeit hindeuten können. Die Baumkrone sah intakt aus, die Blätter waren grün, aber was war das da unten am Wurzelwerk?

Sie zoomte auf die rätselhafte Stelle. Es waren Ameisen. Sie mussten tot sein, denn welches Ameisenvolk hätte sich schon freiwillig zu einem lesbaren Wort gruppieren lassen? Die Ameisenleichen buchstabierten ein einziges Wort: FREUDE.

Schön, dass er sich freut, dachte Cleo, aber ein bisschen mehr Text hätte es schon sein dürfen. Wie reagiert man auf so ein Foto? Als ihr die Antwort dämmerte, durchfuhr sie ein gewaltiger Schreck. Viktor erwartete natürlich ein Gedicht. Er hatte die Bilder, sie die Worte. So war es vor über zwanzig Jahren gewesen, und daran hatte er angeknüpft. Sie durfte ihn nicht enttäuschen, nicht sich selbst enttäuschen.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Aber war Dichten denn eins? Ich weiß nicht mehr, ob's mir noch liegt; die Quelle ist doch längst versiegt. Erst musste sie der Agentur zusagen. Ratlos klickte Cleo zwischen den beiden Mails hin und her. Schließlich gab sie der Agentur kurz Antwort: Ich würde am liebsten heute Abend vorbeikommen, um die Details zu besprechen. Ist das in Ordnung?

Nicht zu lange über Viktors Mail nachdenken, das verkrampft nur. Schreib einfach, was dir einfällt. Sie tippte:

Träume sind Bäume,

die in den Himmel wachsen,

wenn man ihnen

nicht rechtzeitig

die Wurzeln abschlägt.

Sie hatte keine Ahnung, was sie Viktor damit sagen wollte, weshalb gerade diese Worte aus ihr herausgeflossen waren. Sie schienen gut und passend zu sein. Sie hatte die Mail kaum abgesandt, als ihr aufging, dass er gerade diesen Text als Beleidigung auffassen könnte. Ihr wurde heiß. Aber vielleicht legte ja Viktor als gestandener Karrieremann weniger Wert auf seine Wurzeln als damals, als er sie vor ihr bloßgelegt hatte.

Damals machte die Bundesstraße einen scharfen Knick vor dem Haus, in dem die Vivianis wohnten und arbeiteten, und dies war dem Geschäft förderlich. Bei verlangsamtem Tempo konnten Autofahrer das Schild Taverne nicht übersehen. Aus Sicherheitsgründen hatten Vivianis keine Ausschankgenehmigung für den kleinen Vorplatz am Eingang erhalten. Das hinderte Dimitri aber nicht daran, zwei blau gestrichene Stühle und einen Tisch unter die Esche vor der Tür zu stellen.

»Nur zur Dekoration, reine Werbung«, übersetzte Cleo, wenn ein Behördenmensch anklagend den Finger erhob. Gelegentlich übertönte das Quietschen von Reifen die Musik im Lokal. Mancher Fahrer, der die Kurve falsch eingeschätzt oder diese zu spät registriert hatte, hielt an, um sich von seinem Schreck zu erholen, und wurde Stammgast bei Vivianis.

»Das wären tolle Aufnahmen, wenn's einer mal nicht schafft und bei euch ins Haus kracht«, sagte Viktor, als er das erste Mal in die Taverne kam, um mit Cleo ein gemeinsames Schulprojekt zu besprechen.

Entsetzt starrte sie ihn an. »Wer würde in so einer Situation ans Fotografieren denken?«

»Ich«, erwiderte Viktor.

»Wozu sollte das gut sein? Als Beweismaterial vor Gericht?«

»Mir geht es mehr um die Ästhetik«, sagte Viktor. »Ich würde Details festhalten, vielleicht das Bein eines aus dem Wagen geschleuderten Beifahrers, das von der Theke runterbaumelt, oder den Daumen des Fahrers, der in einem Salatteller gelandet ist, eine Radkappe auf einem Gesicht …«

»Über so etwas Scheußliches«, sagte Cleo und knallte eine Limonade auf den Tisch, »darf niemand Witze machen.«

»Oh doch«, widersprach Viktor fröhlich, »jemand, der selbst einmal mittenmang war, schon.«

Cleo zog einen Stuhl heran, ließ sich drauffallen und starrte auf Viktors Bein.

»Wie ist denn der Unfall passiert?«, fragte sie leise und legte eine Hand auf sein linkes Knie.

Viktor griff statt einer Antwort zum Fotoapparat und richtete ihn auf Cleo.

»Nicht«, sagte sie hastig und verdeckte ihr Kinn. »Ich habe da doch einen riesigen Pickel.«

»Mach ich eine Großaufnahme von«, sagte er und machte eine Großaufnahme von zwei wunderschönen dunkelbraunen Augen. Über den Unfall wurde nicht geredet.

Stattdessen zeigte er ihr zum ersten Mal eines seiner Fotos.

»Eine Fliege auf einem Scheißhaufen?«, fragte sie ungläubig.

»Was könnte man damit ausdrücken?«, gab er zurück.

Cleo dachte kurz nach. »Vielleicht sollte man die Fliege sprechen lassen. In etwa so: Ich halte mich für den Mittelpunkt der Welt. Wer findet das vermessen? Ich nicht. Ich kann diese Haltung jederzeit aufgeben. Wer aber ist bereit, einen neuen zu finden? Oder ist das nur blöd?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, im Gegenteil, ganz toll. Genau so etwas habe ich gespürt. Der Triumph der Fliege. Und was fällt dir hierzu ein?«

Cleo betrachtete die Kakerlake auf dem Veilchenblatt und schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht so schnell«, sagte sie. »Lass mir das Bild da.«

Seine Augen weiteten sich, als er am nächsten Mittag Cleos Antwort las:

In meinem nächsten Leben

möchte ich

ein Falter werden,

ein flatterndes Verfliegen

zwischen Orchideen.

Und in der aufziehenden Dämmerung

stürze ich

– schon todestrunken –

aus den Lianen ab

in die Veilchenfelder.

»Woher hast du das?«, fragte er.

Nervös streichelte Cleo die Kakerlake auf dem Veilchenblatt.

»Keine Ahnung«, flüsterte sie. »Es schrieb sich irgendwie von selbst. Wer möchte schon eine Kakerlake sein? Zu kitschig?«

So hatte es mit ihnen angefangen. Viktor wurde zum Stammgast in der Taverne, wo Cleo zwischen Servieren, Abräumen und Abwasch Texte zu seinen Fotos dichtete. Seine obskur arrangierten Stillleben ekelten oder schockierten sie nie. Immer konnte sie ihnen eine Botschaft abgewinnen, die sie, wie bei einem Computerspiel, auf eine höhere Ebene zu bringen schien. Bis er ihr einen seltsam verwackelten Schnappschuss vorlegte. Entsetzt starrte sie auf das Bild.

»Wer ist das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das kann ich nicht«, sagte sie und sah weg.

»Bitte«, flehte er sie an und hielt ihr das Foto wieder unter die Nase. »Gib dem Ganzen Worte. Vielleicht verstehe ich dann mehr.«

Sie sah noch einmal hin. Ein Mann in Jeans und Tanktop mit verzerrtem Gesicht und weit geöffnetem Mund. Vor ihm auf dem Boden lag eine zusammengekrümmte Frau, die mit einer Hand vergeblich versuchte, ihr übel zugerichtetes Gesicht zu verbergen.

»Ich muss arbeiten«, sagte Cleo und verschwand in der Küche. Am nächsten Tag kam er ohne Foto in die Taverne, ging zu ihr an die Theke, wo sie Gläser spülte, und sah sie erwartungsvoll an. Mit gesenktem Haupt murmelte Cleo:

Wenn du mir deine Liebe

nicht geben kannst,

gib mir deinen Hass.

Ich will von dir

nur irgendwas.

Zum ersten Mal hatte sie das Wort Liebe verwendet. In Zusammenhang mit Gewalt.

Wochen später brachte ein anderes Foto Cleos Vater Dimitri aus der Fassung. Es war eine Postkarte aus der Heimat – mit einem Panoramabild der weitläufigen Hotelanlage am Strand. Dies stimmte ihn so melancholisch, dass er am liebsten das Lokal geschlossen und sich ins Bett gelegt hätte. Da Zoe die Postkarte ebenfalls gesehen hatte, fürchtete er, sie könnte ihre Schlussfolgerung in Worte fassen. Also entschied er sich für die einzige Alternative: für Zeibekiko.

»Das«, flüsterte Cleo Viktor zu, »ist etwas ganz Besonderes. Der Tanz aus den Slums von Smyrna, der Tanz der Unterdrückten, der Tanz der Vertriebenen in den Hafenkneipen von Piräus …«

Musik setzte ein. Dimitri räumte einen Tisch zur Seite, stellte ein gefülltes Weinglas auf den Boden und kreiste mit gesenktem Haupt in abgemessenen, verhaltenen Schritten um das Glas. Sein Rücken schien wie von einer Last gebeugt, eine Last, so ließen seine Bewegungen ahnen, die er nicht mehr lange zu tragen bereit war, derer er sich jeden Augenblick in einer Kraftexplosion befreien würde. Die lang gezogenen orientalischen Klänge verstärkten die Spannung, Dimitris Schritte wurden fast unmerklich schneller. Eine Frau rief: »Das ist aber ganz anders als sonst! Da fängt es wilder an, dann hebt er den Tisch mit den Zähnen hoch, das sollten Sie mal sehen!«

Viktor hob den Fotoapparat, als wollte er die Frau fotografieren. Schnell wandte sie sich ab. Wie ein Adler seine Schwingen breitete Dimitri langsam die Arme aus. Ein einziges Schnipsen seiner Finger hallte wie ein Peitschenschlag durchs Lokal. Dimitri stieß die ausgestreckten Beine schnell nach vorn, berührte mit einer Hand erst den Boden, dann seine Hacken und stieg behutsam übers Glas. Cleo hatte unzählige junge Griechen zirkusreife akrobatische Sprünge zur gleichen Rebetiko-Musik ausführen sehen, doch nichts traf sie so ins Herz wie ihr Vater mit seinen steinernen Schritten.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich am Tisch neben der Theke etwas rührte. Viktor war aufgestanden. Er näherte sich Dimitri, hockte sich vor ihn hin, begann im Takt die Hände zusammenzuschlagen und blickte auf den Tänzer, als sei er der Mittelpunkt der Welt. Cleo vergaß, das Weinglas in ihrer Hand zu polieren. Ihr blieb der Mund offen stehen.

Zoe stupste ihre Tochter befriedigt an und sagte auf Griechisch: »Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Freund Grieche ist?«

Ungläubig blickte Cleo zu Viktor, auf sein dünnes dunkelbraunes Haar, die leicht gebogene Nase und die dichten Augenbrauen. Sie hätte nicht sagen könne, ob sich darunter braune, dunkelgraue oder olivfarbene Augen befanden, sie hatte sich den Jungen selbst nie so genau angesehen wie seine Fotos.

Dimitri beendete seinen Tanz, reichte Viktor die Hand, zog ihn hoch, legte einen Arm um ihn und führte ihn zu den Frauen an die Theke.

»Er ist Grieche!«, verkündete er stolz auf Deutsch.

Viktor vermied es, Cleo anzusehen. »Aber nicht spricht Griechisch«, tadelte Dimitri, »nicht ein Wort. Skandal!«

»Jassu«, meldete sich Viktor verlegen.

»Ein Wort«, verbesserte sich Dimitri, drückte seiner Tochter den Zeigefinger auf die Stirn und erklärte in seiner eigenen Sprache: »Du bringst es ihm bei!«

Cleo setzte sich mit Viktor an einen Tisch. »Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte sie.

»Mein Vater war Grieche«, sagte Viktor, »mein richtiger Vater. Nach der Scheidung und ihrer erneuten Heirat hat meine Mutter meinen Nachnamen um zwei Buchstaben gekürzt. Auf offiziellen Dokumenten heiße ich Damianos. Sie will nicht daran erinnert werden, dass sie mal mit einem Griechen verheiratet war.«

»Und wo ist dein Vater?«, fragte Cleo.

Er zuckte mit den Schultern, musterte Cleo finster und erklärte: »Du hast ja keine Ahnung, wie gut du es hast.«

Sie schüttelte ratlos den Kopf. Viktor rückte näher an Cleo heran und flüsterte: »Um Wurzeln, Cleo, darum geht es. Du siehst deine und lebst zwischen ihnen. Ich aber muss meine ausgraben. Und meine Mutter und mein Stiefvater werfen immer neue Erde drauf und verstecken den Spaten. Ich weiß von meinem Vater nur, dass er aus Griechenland stammt, sonst nichts. Niemand, auch nicht meine Mutter, darf Wurzeln abhacken. So etwas sollte verboten sein.«

Und jetzt hatte sie in ihrem Gedicht an ihn die Wurzeln abgehackt. Baum, Stamm, Stammbaum. Wie stand er heute zu seinen griechischen Wurzeln? War er in den vergangenen zwanzig Jahren seinem Vater auf die Spur gekommen? Sie fühlte sich gründlich unbehaglich und überlegte, ob sie einen erklärenden Text hinterher schicken sollte. Nein, Erklärungen hatten ihnen nie gutgetan, hatten letztendlich alles zerstört.

Und zwar genau an jenem Sonnabend, an dem er von seinen Wurzeln gesprochen hatte. Nach dem Tanz ihres Vaters ging Cleo in den Hof, um den Mülleimer in die Tonne zu leeren. Sie hasste diese Aufgabe. Nicht wegen des stinkenden Unrats. Sie fürchtete sich vor betrunkenen Gästen, die ihr nachsteigen und im dunklen Hof über sie herfallen könnten. Als sie ein Geräusch hörte, wirbelte sie herum. Ihre Angst hatte Gestalt angenommen. Vor ihr stand ein bedrohlich wirkender Schatten. Der Eimer polterte zu Boden. Sie öffnete den Mund zum Schrei. Dieser wurde in einer Umklammerung erstickt, die ihr die Luft zu nehmen schien. Sie erschlaffte, spürte Arme um ihren Leib und feuchte Küsse.

Ihre Angst verpuffte augenblicklich, als sie erkannte, wer sich da so voller Leidenschaft auf sie gestürzt hatte.

Sie riss sich los. Und versetzte Viktor eine Ohrfeige.

»Spinnst du? Was willst du von mir?«

»Nur irgendwas«, zitierte er stotternd und wich zwei Schritte zurück.

Cleo lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie konnte den Gedanken nicht mehr verdrängen, dass Viktor mit dem schrecklichen Schnappschuss sein eigenes Familiendrama abgelichtet hatte. Sie erschauerte im dunklen Hof vor dem Fotografen, vor seinen häuslichen Zuständen, vor der ungestümen Umarmung, vor ihrem eigenen Vers.

»Ich liebe dich, Cleo«, setzte er hinzu.

»Ich dich nicht. Du ekelst mich an. Hau ab. Ich will dich nie wieder sehen.«

Sie sah ihn nie wieder. Auch nicht in der Schule. Am nächsten Tag war er krank- und am übernächsten Tag abgemeldet. Es hieß, seine Mutter habe ihn wegen seiner schwachen schulischen Leistungen auf ein strenges Internat geschickt. Cleo wusste es besser.

Noch in der Nacht des Vorfalls bereute sie ihre Schreckhaftigkeit und ihre Heftigkeit. Warum hatte sie wie ein nasser Sack in seinen Armen gehangen? Sie hätte Viktor mühelos wegschieben können. Ihn nicht fortscheuchen, sondern mit ihm reden sollen. Ihm sagen, dass er sich keine Hoffnungen machen dürfe. Warum eigentlich nicht?

Nur, weil ihn andere für mickrig hielten? Er war ihr bester, ihr einziger Freund. Sie hatten gemeinsam eine neue Welt aufgebaut, in der alle anderen Außenseiter waren. Er trug die Heimat ihres Vaters in sich. Sie ergänzten einander wie die berühmten beiden Hälften Platons. Diese Gedanken wärmten sie. Viktor hatte nicht versucht, sie zu vergewaltigen; er hatte sie überrumpelt und geküsst. Sie hätte seine Küsse erwidern, ihrer gemeinsamen Welt eine neue Dimension geben können.

Warum hatte sie nicht gemerkt, dass er sich in sie verliebt hatte? Weil sie blind gewesen war, gab sie sich selbst die Antwort. Betroffen gestand sie sich ein, Viktor benutzt zu haben, um sich selbst wohlzufühlen, um auf die nächste Ebene zu gelangen. Aber sie hatte nicht nur seine Gefühle ignoriert, sondern auch ihre eigenen unterdrückt. Der Mensch, der selbst so vieles sichtbar machen konnte, war für sie unsichtbar gewesen. Sogar sein Schatten hatte sie schon erschreckt.

Seine Bilder hatten ihren Geist geöffnet, ihre Lyrik hingegen sein Herz. In ihr eigenes hatte sie nie geschaut. Ihr dämmerte, wie viel sie verpasst hatte. Liebe und Lyrik gehörten zusammen. Sie ergänzten einander wie Cleo und Viktor. Der Junge hatte recht gehabt: Es wäre an der Zeit gewesen, ihre Beziehung auf eine neue Ebene zu heben. Um dadurch zu einer einfühlsamen Lyrikerin werden zu können. Sie blieb die ganze Nacht wach und bastelte an ihrem Versöhnungsgedicht.

Der Glanz des Dunklen,

die Abgrundtiefe dieser Helligkeit –

wen wird's vernichten,

was gebären?

Was sagen denn die Sterne

zum Untergang der Planeten?

Unfall, Unfall!

Flüstert es auf den kosmischen Straßen.

Der Hunger dieser endlosen Weite

ist nicht mit einem Liebeskuss zu stillen.

Ihr erstes Werk ohne Fotovorlage. Sie war stolz auf sich und konnte es kaum erwarten, ihm diese Liebeserklärung vorzulegen. Doch er war für immer verschwunden. Und hatte etwas Unwiederbringliches mitgenommen. Cleo verschloss ihr Herz und schrieb nie wieder ein Gedicht.

Bis heute, dachte sie. Er hat meine alte Liebe wieder erweckt. Und dann komme ich ihm mit den Wurzeln, mit denen alles geendet hat. Ich muss noch etwas hinzusetzen.

Zu spät, wie sie mit einem Blick auf den Posteingang erkannte. Er hatte bereits geantwortet.

Wieder ein Bild. Zur Abwechslung mal nichts Ekeliges oder Abstruses. Herbstlaub. Natürlich unnatürlich arrangiert.

Die bunten Blätter beschrieben eine Hamburger Adresse. Cleo war gerade in Hamburg. Welch ein Zufall!

Sie scrollte nach unten und erschrak, als sie ihre erste Antwort an ihn las.

Ich würde am liebsten heute Abend vorbeikommen, um die Details zu besprechen. Ist das in Ordnung?

Was für ein Irrtum! Sie hatte ihre Antworten auf die beiden Mails vertauscht. Ihr wurde heiß und kalt. Viktor blieb zwar jetzt die Beleidigung durch die Formulierung mit den abgeschlagenen Wurzeln erspart, aber dafür konnte sie bestimmt den Bonsaiwald-Auftrag in den Wind schießen. Die Agentur würde ihr mit einem solchen Werbespruch die Hölle heißmachen.

Cleo bestellte sich noch einen Kaffee. Sie sah auf die Uhr. Man muss den Zug der Zeit nicht unbedingt erreichen, dachte sie, man kann sich auch des Zufalls bedienen und ein Taxi zur Hamburger Adresse nehmen.

Ein böser Wind hat uns verweht,

weil wir wie Blätter treiben,

vergilbt, verdorrt, ist es zu spät

zusammen zu verbleiben?

Nein, so durfte sie ihn nicht überrumpeln. Der letzte Satz war besitzergreifender als eine unvermittelte Umarmung im dunklen Hof einer griechischen Taverne. Irgendwas muss der Mensch über die Jahre ja gelernt haben. Und sei es nur, dem anderen Luft zum Atmen zu lassen. Sie sandte den Vers nicht ab.

Eine weitere Nachricht im Posteingang. Von der Agentur. Na fein, dachte sie, die lassen sich mit ihrer Schelte keine Zeit, auch egal. Sie öffnete die Mail. Und erschrak. Ihr Text, der Spruch, der ursprünglich für Viktor bestimmt war, sollte ordentlich honoriert werden – allerdings mit einer kleinen, dringend erforderlichen Modifikation, wie man ihr mitteilte:

Bäume sind Träume,

die in den Himmel wachsen,

wenn man ihnen

nicht rechtzeitig

die Wurzeln kuriert.

Der Irrtum hatte sich ausgezahlt. Aber ein Monster in die Welt gesetzt. Die, wie sie spontan entschloss, nicht mehr ihre sein sollte. Wer an Wurzeln herumschnippeln und sich einen Bonsaiwald ins Wohnstudio setzen will, ist selbst schuld. Für mich ist mit umgedrehten Worten und euphemistischen Verballhornungen jetzt endgültig Schluss. Ich werde zu meinen lyrischen Wurzeln zurückkehren. Und meinen Eltern eine Eiche schenken.

Ihr wurde leicht ums Herz, als sie die vier Worte an Viktor absandte:

»Bin auf dem Weg.«

Nicola Förg

Abgetaucht

Anette hob die Hand zu einem nachlässigen Winken. Dann blickte sie wieder auf die konzentrischen Kreise, die allmählich größer wurden, bis die Wasserfläche sich vollkommen geglättet hatte. Wie ein Spiegel lag der See vor ihr, kein Blättchen regte sich, nicht mal die Pappeln wisperten. Nur ein Blesshuhn fräste eine schnurgerade Spur.

Wenig später erfuhr der Wasserspiegel erneut eine leise Irritation: Einer der beiden Angler an der etwas entfernten Bucht hatte seinen Köder ausgeworfen. Anette sah kurz zu ihm hinüber. Er lächelte. Man kannte sich vom Sehen, der Angler und die Malerin. Schließlich verbrachte Anette viel Lebenszeit am See und an Meeresgestaden.

Genau genommen war sie erst seit fünfzehn Jahren eine Ufersitzerin, eine Böschungsbewohnerin, Strandanbeterin, Kieselzählerin … Vor fünfzehn Jahren hatte sie Matthias geheiratet, den »Hias«, Schwarm aller Frauen im Heimatstädtchen. Dabei war sie gar nicht sonderlich hübsch. Durchschnittlich groß, mittelmäßig gebaut, mittellange Haare. Immerhin mit Mutterwitz gesegnet und kreativ.