Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

 

 

ISBN 978-3-492-97837-8

© Hannah Arendt Bluecher Literary Trust und Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Courtesy of the Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anne Weil

Einführung

Zur Geschichte der Freundschaft und ihrer Briefzeugnisse

»Beste Freundin«, aber in Grenzen

Die erhaltenen Briefe – »rapports« aus dem Hause Weil

Berufliches und privates Leben der Anne Weil

Der freundschaftliche Blick auf die Schriftstellerin Hannah Arendt

Wechselseitige Besorgtheiten

Was es heißt, »selbstverständlich« Jüdin zu sein

Die letzten Jahre

Die ausgewählten Briefe 1941 bis 1975

Hilde Fränkel

Einführung

Die Einzigartigkeit einer Freundschaft.

»… dass Du keine Intellektuelle bist«

Eine Intimität, die unverlierbar ist

Die erotische Genialität Hilde Fränkels

Amerika – Europa

Der Tod der Freundin

Die Briefe 1949 bis 1950

Charlotte Beradt

Einführung

Eine Ménage à trois, die nicht gelingen konnte

Ich bin froh, dass Lotte die Adressen hat …

Der eigene Weg der Journalistin Beradt

Eine Amerikanerin in der DDR. Eine Hommage an Heinrich Blücher

Das Dritte Reich des Traums und der indirekte Dialog mit Arendt

Der halbierte Nachlass

Die ausgewählten Briefe 1955 bis 1976

Rose Feitelson

Einführung

Rose Feitelson, die »eigentlich den Literaturpreis verdient hat«

Die politische Berichterstatterin

»Wirklich, eines Tages müssen wir zusammen reisen«

Die Briefe 1952 bis 1963

Helene (Helen) Wolff

Einführung

Freundschaft zu viert und zu dritt

Gemeinsame Arbeit – geteilte Sorgen

Das Du

Nachgedanken der überlebenden Freundin

Die ausgewählten Briefe 1954 bis 1975

Weitere Texte

 

Editorische Notiz

Allgemeines

Zu den Briefen Arendt–Beradt

Zu den Briefen Arendt–Feitelson

Zu den Briefen Arendt–Fränkel

Zu den Briefen Arendt–Weil

Zu den Briefen Arendt–Wolff

Sonstige benutzte Archivalien

Mitteilung zur vorliegenden Auflage

Abkürzungen

Abgekürzt zitierte Literatur

Vorwort

Es ist ein auffallendes kulturelles Phänomen unserer Zeit, dass zwar der Brief durch die E-Mail ersetzt worden ist, die Publikation von Briefen und Briefwechseln hingegen zugenommen hat. Das Interesse an der Lektüre von Briefen ist dabei nicht nur durch die Nähe zu lebensgeschichtlichen Kontexten zu erklären. Ein weiterer Grund liegt in der Adressierung der Briefe an ein Du in dem dialogischen Raum, den der Brief stiftet und der durch die Erweiterung auf ein drittes Du wie den Leser eine Art zweiter Gegenwart gewinnt. Diese dialogische Dimension ist in den Briefen Hannah Arendts deshalb so präsent, weil sie unbehelligt durch Konventionen nur der freien Einbildungskraft folgt.

Hannah Arendt hat neben ihrem philosophischen und politischen Werk eine so große Anzahl von Briefen hinterlassen, dass man von einem Briefwerk sprechen kann, welches in keiner Weise als zweitrangig abgetan werden sollte. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Briefe in vielfältiger Weise Fragen, die Arendt in ihren Büchern und Essays thematisiert hat, aufgreifen und weiterführen, sondern vor allem weil mit jedem Briefwechsel ein ganz eigenes Beziehungsgeflecht entsteht, das im Sinne ihrer Philosophie als »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« angesehen werden kann, das nur aus subjektiven Begegnungen, Wahrnehmungen und Urteilen zusammengesetzt ist. Dieses Bezugsgewebe, in dem sich Nähe und Ferne zu bestimmten Konstellationen formen und das man als eine bewohnbare Distanz bezeichnen kann, hat in Arendts philosophischem und politiktheoretischem Denken über das Miteinandersprechen und -handeln einen großen Stellenwert.

Für diejenigen, die »in keinem Besitz verwurzelt sind und darum ihr Milieu gewissermaßen immer mit sich herumtragen oder richtiger darauf angewiesen sind, es immer neu zu produzieren«, die als Emigranten in einem existenziellen Sinn unterwegs sein müssen, wird der Brief zu einem unverzichtbaren Mittel, Zusammenhänge stiften zu können. Diesen Zusammenhängen gibt Arendt den Namen Freundschaft. Die Freundschaft und der Brief zeichnen sich beide durch ihre Beweglichkeit aus, weil es nichts gibt, das ihnen von vornherein Dauer verbürgt. Jeder Brief ist ein neuer Anfang, der erst durch die Antwort entweder bestätigt oder infrage gestellt wird. Die Freundschaft existiert nur so lange, wie man sich ihr zuwendet, und jede Zuwendung muss mit Unwägbarkeiten rechnen. Freundschaft sei kaum noch anders als »auf des Messers Schneide« zu haben, schrieb Hannah Arendt an ihren langjährigen jüdischen Freund Kurt Blumenfeld in Israel. Dennoch: Wer sich auf diese Unwägbarkeiten einlässt, steht nach Arendt der Realität näher als alle, die sich irgendwelche künstlichen Identitäten anzudichten versuchen. Er kann erfahren, dass sich Freundschaft »wie ein Schal um die Schultern« legt.

Als wir uns dazu entschlossen, einen Band mit Briefen »Arendt und Freundinnen« (so der Arbeitstitel) herauszugeben, gab es nur einen veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und einer Freundin, der Schriftstellerin Mary McCarthy. Dem gegenüber standen zahlreiche veröffentlichte Briefwechsel mit männlichen Briefpartnern: mit den Philosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger, mit Arendts Ehemann Heinrich Blücher, mit dem jüdischen Freund Kurt Blumenfeld, mit den Schriftstellern Hermann Broch, Uwe Johnson und Alfred Kazin, mit den jüdischen Gelehrten Gershom Scholem und Walter Benjamin. In den Archiven, denen Arendt ihren Nachlass übereignet hat, der Library of Congress in Washington und dem Literaturarchiv in Marbach, befindet sich aber eine erstaunliche Anzahl Briefe von und an Freundinnen, die nicht so sehr im Licht der Öffentlichkeit gestanden haben. Diese Briefwechsel sind zu einem größeren Anteil auch weniger umfangreich als die bisher publizierten.

Aber im Reich des Privaten gelten andere Maßstäbe. Die Flüchtigkeit eines Briefes ist nicht gleichbedeutend mit Oberflächlichkeit, die Kürze eines Briefwechsels nicht mit mangelndem Interesse. Das Spezifische der Freundschaft zeigt sich hier in plötzlich entstehenden emotionalen Momenten, in denen das einander Zugewandtsein zum Ausdruck gebracht wird, oder in der Kontinuität einer unbefragbaren Selbstverständlichkeit und Verlässlichkeit, mit der das Schreiben und Empfangen von Briefen die Lebenszeit der Freundinnen begleitet hat.

Aufgrund der erhaltenen, meist von Hannah Arendt den Archiven überlassenen Briefe – nur im Fall von Helen Wolff gibt es einen weiteren nennenswerten Archivbestand: die »Helen and Kurt Wolff Papers« in der Beinecke Library der Yale University – und aufgrund unserer Recherchen können die Geschichten dieser Freundschaften erzählt werden. Zugleich wird der Versuch unternommen, diese Freundschaften in ihrer Bedeutung für jeweils beide Partnerinnen genauer zu bestimmen. Das geschieht in den einführenden Bemerkungen, die den abgedruckten Brieftexten vorangestellt sind.

In den Briefen zwischen Arendt und McCarthy oder auch Jaspers und Blumenfeld gab es gemeinsame Projekte. Mit Jaspers teilte Arendt das Nachdenken über die Philosophie und die Sorge um die politische Entwicklung der BRD, mit Mary McCarthy die diffizilen Erfahrungen im Umgang mit der literarischen und philosophischen Sprache und das politische Engagement in den USA, mit Blumenfeld die jüdischen politischen Erfahrungen. Durch diese Gemeinsamkeiten wurde immer wieder das Interesse aneinander entfacht und das Miteinandersprechen über komplexere Fragen und Antworten vertieft. Persönliche Zuneigung und Ähnlichkeit der Denkart waren so miteinander verwoben, dass sie gleichsam eine innere Energie bildeten, welche die Freundschaft trug und weitertrug.

Auch in den hier ausgewählten Freundschaften mit Annelise (Anne) Weil-Mendelsohn, Hilde Fränkel, Charlotte Beradt, Rose Feitelson und Helene (Helen) Wolff lassen sich gemeinsame Projekte ausmachen. Sie stehen jedoch nicht so im Mittelpunkt, als dass sie die Beziehungen in allen Facetten bestimmt hätten. Beispiele für derartige Projekte waren die Verenglischung von Arendts Texten, woran Rose Feitelson beteiligt war, oder die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche, die Arendt Charlotte Beradt übertragen hatte. Mit Helen Wolff gab es die Zusammenarbeit bei Publikationen des Wolff und später des Verlags Harcourt & Brace.

Daneben lassen sich aber weitere Aspekte nennen, welche die Freundschaften prägten. Mit einer Ausnahme (Rose Feitelson) waren alle Frauen gezwungen, in die Emigration zu gehen oder wie Anne Mendelsohn-Weil in die Illegalität. Sie mussten zumindest zeitweilig ihr bisheriges Leben vollständig aufgeben.

Anne Mendelsohn hatte bei Ernst Cassirer in Philosophie promoviert. Sie emigrierte nach Frankreich, heiratete dort den ehemaligen Studienkollegen und Philosophen Eric Weil. Sie erhielt die französische Staatsbürgerschaft und schloss sich während der deutschen Besatzung der Résistance an. In der Illegalität ging es um das nackte Überleben. Aber auch um die Erfahrung, dass Freiheit in neuen politischen Formen gesichert werden muss. Nach der Befreiung hat sie sich daher beruflich neu orientiert. Sie war von Anbeginn in den Aufbau europäischer Institutionen involviert, nicht nur weil eine philosophische Karriere eher unwahrscheinlich war, sondern weil sie diese Aufgabe unter politischen Gesichtspunkten als außerordentlich wichtig erachtete. Sie blieb aber eine Leserin der Bücher Arendts, die wusste, wie schwierig es ist, sich eigene Wege ins philosophische und politische Denken zu bahnen. Ihr Urteil war daher für Arendt von besonderer Bedeutung, zumal Anne Mendelsohn diejenige war, die Arendt am Beginn ihres Denkwegs einen entscheidenden Impuls vermittelt hatte, als sie ihr in den 1920er-Jahren Rahel Levin Varnhagens Buch des Andenkens schenkte. Dieses Geschenk bildete gleichsam den Höhepunkt und die Besiegelung einer Jugendfreundschaft, die keiner weiteren Gründe bedurfte und trotz aller späteren Entfernungen voneinander bei jedem neuen Zusammentreffen wie ein nur ihnen bekannter Schatz aus dem Verborgenen hervorgeholt werden konnte.

Eine Beziehung von außergewöhnlicher Art ist die Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Hilde Fränkel. Sie hatten sich in den 1930er-Jahren in Frankfurt am Main kennengelernt, sich dann aus den Augen verloren und als Emigrantinnen in New York wiedergetroffen. Hilde Fränkel erkrankte 1949 an Krebs. Dass ein Briefwechsel zwischen beiden überhaupt entstehen konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass Arendt 1949 im Auftrag der Organisation Jewish Cultural Reconstruction nach Europa reisen musste und sich dort für etwa drei Monate aufhielt. Ihre Aufgabe galt der Auffindung und Rückführung jüdischer Bücher, Manuskripte und religiöser Gegenstände, die unter der NS-Herrschaft geraubt worden waren. Die Freundinnen haben die Trennung als sehr schmerzhaft empfunden, zumal sich die Krankheit Fränkels bedrohlich zugespitzt hatte. Die Einzigartigkeit des Briefwechsels besteht darin, dass er allein aus dem Empfinden einer wechselseitigen großen Zuneigung geschrieben worden ist und daher zu einer Sprache gefunden hat, in der die Realität des Sterbens und des unwiederbringlichen Abschieds weder verschwiegen noch religiös überhöht werden musste. Was Sprache in dieser Grenzsituation vermag, dafür ist dieser Briefwechsel ein eindrückliches Dokument.

Charlotte Beradt war Journalistin. Sie konnte mit Beginn der Nazi-Diktatur nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Aber auch in den USA hat es lange gedauert, bis sie ihren Beruf wieder aufnehmen konnte. Sie lernte Hannah Arendt erst in den USA über Heinrich Blücher kennen, mit dem sie seit ihrem gemeinsamen politischen Engagement für die KPD befreundet war und mit dem sie eine Liebesbeziehung hatte. Auch hier sind die Europareisen Arendts, die ab 1949 alle ein bis zwei Jahre stattfanden, die Voraussetzung des Briefwechsels und die Entwicklung einer Ménage à trois, in der sich ein Geflecht wechselseitiger Beziehungen entspannte, die ebenso authentisch wie ambivalent waren und bis zu Blüchers Tod andauerten.

Während Arendts Europa-Aufenthalten hatte Charlotte Beradt die Aufgabe übernommen, Zeitungsausschnitte zu sammeln, die Rezensionen zu Arendts Publikationen enthielten oder Beiträge von politischer Bedeutung aus der New Yorker und weiteren amerikanischen Öffentlichkeit waren. Beradt schickte ebenso an alle Orte, an denen sich Arendt aufhielt, Begrüßungskarten, Zeichen der Verlässlichkeit des amerikanischen Zuhauses, an die Blücher immer wieder zu denken vergaß. In dem Briefwechsel Arendts mit Blücher wurden parallel laufend Grüße von und an Charlotte Beradt übermittelt. Die auf diese Weise zustande kommende Beschäftigung mit Arendts Gedankenwelt lässt sich aus dem Rückblick als Einstieg Beradts in ihren alten Beruf als Journalistin verstehen. Als Arendt ihr 1956 die Übersetzung amerikanisch geschriebener Essays ins Deutsche übertrug, war der Bann gebrochen. Charlotte Beradt nahm Anfang der 1960er-Jahre Kontakt auf zu verschiedenen deutschen Medien, für die sie von da an kontinuierlich Beiträge lieferte.

Rose Feitelson ist neben Anne Weil-Mendelsohn und Charlotte Beradt die dritte jüdische Freundin Arendts. Mit Anne Weil und Charlotte Beradt verband Arendt – ohne dass es ausgesprochen werden musste – das Wissen darum, was es heißt, von heute auf morgen verfolgt zu werden, und was es bedeutet, wenn sich dort, wo früher die vertraute Umwelt war, ein leerer Kreis bildet. Rose Feitelson kannte diese Erfahrung allein aus den Erzählungen ihrer Familie, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland in die USA eingewandert war. Die Welt, in der sie aufwuchs, war so selbstverständlich jüdisch, wie es die drei anderen schon nicht mehr gekannt und gelebt haben. Deshalb war Rose Feitelson für Arendt allein diejenige Freundin, die ihr am Ende ihres Lebens einen Weg zurück zeigen konnte in die Geborgenheit der jüdischen Welt, »to come home« dort, wo Anfang und Ende sich berühren.

Rose Feitelson hat nach ihrem Collegeabschluss in verschiedenen jüdischen Organisationen gearbeitet. Sie hat maßgebend an der Lektorierung des Englischen in Arendts ersten Publikationen, The Origins of Totalitarianism und The Human Condition, mitgewirkt. Aber ihr Traum, aufgrund dieser Erfahrungen und mit Unterstützung Arendts eine Lektorenstelle zu bekommen, hat sich nicht erfüllt. Sie war darüber hinaus für Arendt eine wichtige Diskussionspartnerin in den New Yorker Debatten der McCarthy-Ära. Angesichts des verwirrenden biografischen Durcheinanders amerikanischer Intellektueller war nicht einfach zu entscheiden, ob der Wandel vom Kommunisten zum Kritiker authentisch war oder nur die Fassade eines Antikommunisten, der als Kalter Krieger Karriere machen wollte. Rose Feitelson kannte sich bestens aus und war für Arendt eine verlässliche Stütze, um zu einem realitätsnahen eigenen Urteil zu kommen. Das politische Urteilen in schwierigen Situationen blieb der gemeinsame Boden, auf dem sie sich immer wieder trafen, auch in der Debatte um Arendts Eichmann-Buch.

Die Freundschaft zwischen Helen Wolff und Hannah Arendt begann mit »business meetings« vermutlich Mitte der 1940er-Jahre in New York. Am Anfang des ab 1954 erhaltenen Briefwechsels stand ein Eklat. Arendt sollte eine Rezension zu einem Autor des Wolff-Verlags schreiben und lehnte ab. Die daraufhin von Helen Wolff geäußerte Empörung über Arendts Indifferenz war wie ein reinigendes Gewitter, das beide Seiten zu einer direkteren Sprache ohne Vorbehalte befähigte. Die Beziehung zwischen beiden, die erst nach Kurt Wolffs plötzlichem Tod und der Übernahme des Verlags durch Helen Wolff eine eigene Richtung nahm, war von einer eigentümlichen Konventionalität, wie sie von Helen Wolff auf den Punkt gebracht wurde: »Ich wandte mich an sie um geistigen Rat, sie sich an mich um praktischen.«

Dass Konventionalität, die Regeln und Grenzen akzeptiert, durchaus einem Dialog nicht im Wege steht, sondern ihm einen Stil vermittelt, der von beiden Seiten akzeptiert werden kann, zeigt der Briefwechsel. Die gemeinsamen großen Buchprojekte, die Jaspers- und Benjamin-Ausgaben, konnten ohne die im Kulturbetrieb üblichen Selbstdarstellungsrituale und Rechthabereien auf den Weg gebracht werden. Hannah Arendt und Helen Wolff brachten das Kunststück fertig, sich wechselseitig als Weltbürgerinnen anzusprechen, obwohl die Welt mit ihren politischen Widersprüchen und sozialen Ungerechtigkeiten in ihrem Briefwechsel vollständig draußen blieb. Sie waren in einer altmodischen Weise Weltbürgerinnen, unabhängige Individuen, die sich allen Tendenzen der Massengesellschaft verweigerten und die zwar um die Unwiederbringlichkeit vergangener Vorstellungen wussten, aber sie deshalb noch lange nicht aufzugeben bereit waren, wie zum Beispiel ihre Vorstellung von Liebe: »Helen, wenn Du und ich einmal tot sind, weiß dann überhaupt noch jemand, was Liebe ist?«

Versucht man den Entwicklungsgang der Gemeinsamkeiten zwischen den Freundinnen, wie sie in den verschiedenen Briefwechseln sichtbar werden, zu einem Bogen zusammenzufügen, wird deutlich, dass zwei Haltungen ihn maßgeblich gestaltet haben: die Fähigkeit, etwas Unvorhersehbares und Neues zu beginnen wie im Briefwechsel mit Hilde Fränkel, und der Sinn für etwas unverlierbar Gegebenes, das allen geschichtlichen Wechselfällen widersteht, wie die Jugendfreundschaft mit Anne Mendelsohn, das Gefühl einer qua Geburt unverlierbaren Zugehörigkeit, wie sie Arendt durch Rose Feitelson nahegebracht wird, oder die verlässlichen Begrüßungskarten Beradts überall in der Fremde, wo Arendt hinkam, sowie das spontane Zusammenstimmen in einer vergangenen Vorstellung von Liebe, die sie mit Helen Wolff teilt.

Das Sicheinmischen in politische Debatten – ob in das Pro und Contra um den Kommunismus in der McCarthy-Ära, um die Banalität des Bösen oder um die Politik in Israel – hatte für die beteiligten Freundinnen die schmerzliche Erfahrung zur Folge, dass zumeist weniger das Verstehen der verschiedenen Positionen den offensichtlichen Sieg davontrug als das gängige Muster des Streits: die »Entscheidungsschlacht«. Mit ihrer Frage: Müssen wir »selbst Drachen gewesen sein, um Drachen zu bekämpfen«, gelang es Arendt jedoch, einen bleibenden Stolperstein in die glatte Bahn der Wiederkehr des Immergleichen einzufügen.

Obwohl sie sich seit 1933 bewusst war, dass man nicht mehr »einfach zusehen kann«, und in vielerlei Hinsicht politisch engagiert handelte, kehrte sie am Ende ihres Lebens zur Nachdenklichkeit zurück, zum Urteilen im einsamen Dialog mit sich selbst. Nicht im Sinne der Apologie des platonischen Philosophen, dem es nur um eines geht: unbehelligt von allen weltlichen Konflikten philosophieren zu können. Aber doch in dem Sinn, dass es verschiedene Existenzweisen gibt, die jeweils ihre Zeit haben.

Diese Einsicht dürfte nicht unbeeinflusst gewesen sein von den Erfahrungen des imaginären Dialogs, der jeder authentischen Philosophie immanent ist, wie auch von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Individuellen, wie es sich in Briefen zeigt. Mit jedem Brief werden Themen und Dialogformen differenziert, werden Unwägbarkeiten zu Versuchen, herauszufinden, wie der Dialog beginnen kann und wie man sich in ihm bewegt. Je nachdem, an wen der Brief adressiert wird, zeigt die Schreiberin, dass sie antwortet, und jeweils ist das Sprechen anders.

Damit entstehen neue Formen intersubjektiver Geschichtsschreibung, die nur im Medium des Briefs Gestalt annehmen können: die der Vielstimmigkeit. Was als konkrete Erfahrung in einem Brief festgehalten wird, erweitert sich zu einem Mosaik der vielen Erfahrungen und Sprachen. Die Leser und Leserinnen haben die Freiheit, eigene Verbindungen zu knüpfen, und jede Verknüpfung ist bereits ein weiteres Denkfragment. Lesen wird zu einer geformten Anschauung, an der viele beteiligt sind: die Schreibenden, die Freunde, an die die Briefe gerichtet sind, die Leser. Als Räume des Miteinandersprechens verkörpern Briefe und Freundschaften jeweils eine Welt »en miniature«. Sie verweisen aber auch auf größere Einheiten: die Polis, die Räte, die Salons. Denn Freundschaft, so Arendt in ihrem Denktagebuch, ist eine »eminent republikanische Tugend«.

Hannah Arendts hinterlassene Briefe mit Freunden und Freundinnen führen mitten hinein in die Gedankenwelt der politischen Philosophin, aber in ihrer unvoraussehbaren dialogischen Dynamik auch über sie hinaus.

Anne Weil